prinzessinnengarten zeit 02052011
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LEBENSART
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P R I N Z E S S I N N E N G Ä R T E N
Der Garten als MarkeDie Berliner Prinzessinnengärten starten ihre dritte Saison. DieMacher des urbanen Gartenprojekts haben nur ein Problem: Siesind zu erfolgreich.VON Anne Haeming | 02. Mai 2011 - 10:05 Uhr
Nach Garten sieht es hier noch nicht aus. Ein paar Säcke mit ersten Grasbüscheln stapeln
sich zu einem Berg, eine Schaufel steckt arbeitslos in einem Erdhaufen. Immerhin: Der
Rhabarber in den roten Kunststoffkisten breitet schon seine fleischigen Blätter aus. Ein paar
weiße Pollen fliegen durch die Luft.
Im Prinzessinnengarten in Berlin, dem Vorzeigeprojekt der deutschen Urban-Gardening
-Bewegung, kommt der Frühling erst langsam in Gang. Anfang April erst zogen Marco
Clausen, Robert Shaw und ihre Helfer vom Winterquartier in der alten Markthalle wieder
auf die knapp 6000-Quadratmeter-Brache direkt an einem zweispurigen Kreisverkehr in
Kreuzberg. Im November kam das O.K. von der Stadt Berlin, dem Vermieter, sie bekamen
einen Vertrag für einen dritten Sommer.
Nun wird gewerkelt. Überall auf dem Gelände sind ein, zwei, drei Freiwillige dabei, das
kahle Grau durch saftiges Erdbraun zu ersetzen. Das Grün kommt dann schon. Die Blumen,
die Kartoffeln, die Radieschen und die Kräuter. In dem Container, der als Café-Ausschank
dient, wird rumgeräumt, die Küche soll in diesem Jahr größer werden. Zur offiziellen
Eröffnungsfeier im Mai, pünktlich zu den Eisheiligen, soll alles fertig sein. Aber Kaffee
und Limonade gibt es auch jetzt schon.
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© Anne Haeming
In Säcken gelagertes Gras wartet darauf, gepflanzt zu werden.
Und Besuch. Christa Müller, die Geschäftsführerin der Stiftung Interkultur mit Sitz in
München, die unter anderem das bundesweite "Netzwerk Interkulturelle Gärten" betreut.
Sie reist gerade durch Deutschland und stellt ihren neuen Sammelband Urban Gardening
vor, nun sitzt sie mit den beiden Prinzessinnengärtnern in der Samstagmittagsonne, um die
neuesten Pläne zu besprechen. "Wir überlegen, wie wir in Zukunft kooperieren können",
sagt Marco Clausen und zupft an seiner Schiebermütze.
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"Wir wollen unsere Kompetenzen verbinden", sagt Müller. Die Workshops, die die
Stiftung Interkultur anbietet, richtet sich in erster Linie an soziale Projekte, also geförderte
Initiativen. "Was die beiden hier machen, ist neu: Sie denken ihren Garten als Gewerbe,
sie müssen sich selbst finanzieren." Wie dieses Modell von anderen adaptiert werden kann,
welches Modell eines urbanen Gartens sie überhaupt übernehmen können, darum soll es in
den Workshops gehen: eine Art Garten-Start-up-Beratung. Aber bei Müller rufen viele an
und fragen nur nach dem einen: Sie wollen auch einen Prinzessinnengarten.
URBAN GARDENINGHolt das Grün in die Stadt! Urban Gardening ist die Neuinterpretation eines traditionellenLebensstils: des Gärtnerns.
Doch die neuen Gärtner wollen mehr, als nur Rosen züchten. Mit illegalen Pflanzaktionen,wilden Dachgärten, individuellen Balkonbeeten und offenen Gemeinschaftsgärten versuchen sie,der Natur mehr Spielraum zu geben. Vergessene Areale werden zu Lehr- und Versuchsgärtenfür Jung und Alt. Hässliche Straßen werden schöner, Nachbarn finden zusammen. Und: Es darfgepflückt werden!
In unserem Schwerpunkt geht es um die unterschiedlichen Auswüchse des Urban Gardening .
UNSERE GESCHICHTEN ZUM THEMADas Buch zum Thema: Urban Gardening – Alles, was man wissen muss
Grüne Seiten: Gartentipps aus dem Netz
Die Prinzessinnengärten in Berlin gehen in die dritte Saison
Richard Reynolds, der Guru des Guerilla Gardening, führt durch das grüne London
Firmengärten: Wo Mitarbeiter und Chef gemeinsam graben
Sind Gärtner automatisch die Guten? Unsere Autorin und unser Autor sind sich uneinig
Streitfall Gartenzaun: Was Mieter wissen müssen
Sound-Kolumne: Gärten als akustische Oasen
In Detroit wächst die Hoffnung: Können Gemeinschaftsgärten die marode Stadt retten?
Eine Liebeserklärung an die Datscha
Wie Dachgärten das Stadtklima positiv beeinflussen
Imkern in der Stadt: 3000 Königinnen machen eine Menge Arbeit
Warum der Blogger Henry Steinbock sich ausschließlich Tomaten widmet
Blumen werden überschätzt. Glaubt der Landschaftsarchitekt Peter Wirtz
Koblenz blüht auf, mit der Bundesgartenschau
Alle Texte, Fotos und Videos finden Sie auch auf der Themenseite Urban Gardening
Im vergangenen Jahr sind die Prinzessinnengärten zu einer veritablen Marke geworden.
Alle wollen die beiden haben, sie werden um Vorträge gebeten, sogar zu einem
Kunstprojekt im Theater "Hebbel am Ufer" waren sie im Herbst für einige Wochen mit
ihren grünwuchernden Kisten eingeladen. Und auch Christa Müllers Buchcover ziert eines
jener paradigmatischen Fotos mit der Graffiti-besprühten Wand im Prinzessinnengarten.
20 Anfragen aus Leipzig, Köln, ganz Europa liegen bei den beiden Machern gerade auf
dem Tisch, von Privatleuten und Stadtverwaltungen: Sie mögen ihr Stadtgartenkonzept
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doch bitte exportieren, beraten, gleich einen neuen Garten, eine Art Filiale, aufbauen. "Wir
wollen hier keine königliche Gartenakademie aufmachen", sagt Robert Shaw. "Es gibt kein
Patentrezept, als Franchise-Unternehmen funktioniert das nicht." Dafür sei der Ort selbst,
die Menschen, die den Garten leiten und pflegen, zu entscheidend.
Gärtner ist keiner der beiden, der eine Filmemacher, der andere Historiker. Sie trafen sich
vor zweieinhalb Jahren, dann entstand die Idee, diesen Nachbarschaftsgarten in der Stadt
aufzuziehen, als Begegnungsstätte. "Uns ging es nie ums Landleben", erklärte Shaw im
vergangenen Jahr , "es war Stadtsehnsucht".
© Anne Haeming
Saatgut vor Hochhaussilhouetten: in den roten Kästen ist genau vermerkt, was dort bald blühen soll.
Ein paar kleinere Ableger dieser ländlichen Stadtsehnsucht haben sie dennoch
schon aufgezogen: So haben sie für ein Jugendzentrum, einen Kindergarten, die
Berliner Universität der Künste, eine Schule und eine WG für Demenzkranke einen
Gemeinschaftsgarten angelegt, mit Leuten aus Hamburg sind sie gerade im Gespräch. "Als
nächstes kommt noch ein Mietergarten", sagt Clausen und deutet auf einen Häuserblock
gegenüber, "dort drüben, im Hof. Das soll da dauerhaft sein, bleiben. Auch wenn wir längst
weg sind."
Denn das Prinzip des Prinzessinnengartens ist die absolute Mobilität: Die Container, die
Kunststoffkisten, die Säcke, auf die der Garten verteilt ist, lassen sich zusammenpacken
und woanders wieder aufbauen. In dem "wenn wir längst weg sind" schwingt noch etwas
anderes mit: Ob der Mietvertrag für den nächsten Sommer verlängert wird, wissen sie wie
immer erst im Spätjahr; vielleicht gibt es dann einen Investor, der das Gelände kauft, um
es zuzubauen. Dann müssen sie sich eine neue Brache suchen. Und dann ist da noch die
prekäre finanzielle Situation jeder Start-up-Firma in den Anfangsjahren. "Das Problem ist,
dass medialer Erfolg oft mit finanziellem Erfolg gleichgesetzt wird", sagt Clausen. Hinzu
kommt, dass viele annehmen, die Prinzessinnengärten seien ein soziales Projekt. Und kein
Wirtschaftsunternehmen. "Viele denken, wir würden umsonst arbeiten", sagt Robert Shaw.
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Einer schiebt eine Schubkarre, eine andere steht mit einem Schlauch und gießt die ersten
Setzlinge an. Der Imker in seiner weißen Kluft läuft vorbei. Der feste Stamm von 30
Freiwilligen ist auch in diesem Jahr wieder dabei, im vergangenen packten insgesamt
gut 700 Helfer mit an. Ein paar Neue gibt es auch schon, Elena zum Beispiel, eigentlich
Diplomförsterin. Sie sät gerade Bohnenkraut und Studentenpolsterblumen aus, sie hilft seit
ein paar Monaten regelmäßig.
Clausen und Shaw könnten ein bundesweites Gartenimperium aufbauen, das zeigt allein
die Nachfrage nach der Marke "Prinzessinnengärten". Das wollen sie gar nicht. Wichtiger
ist ihnen, dass ihr eigenes Projekt rund läuft. "Wir wollen klarere Strukturen schaffen in
diesem Jahr", sagt Clausen. "Weg von dem Selbstverständnis als Projekt, hin zu einer
Unternehmenslogik." Dazu gehört auch, dass mehr Beete zahlende Paten bekommen,
dass der Verkauf der hier geernteten Produkte noch besser läuft. Und dass noch mehr
Eigeninitiative möglich ist. Und noch mehr Ideen verwirklicht werden können.
"Wir haben es mit einem selbstbewussteren Bürgertum zu tun", sagt auch Christa Müller.
Spätestens seit dem Atomunfall in Fukushima seien die Leute nun sensibilisierter, sie
wollen selbst bestimmen. Und in der Freiheit des Gartens können sie gestalten. Auch
deshalb wird es in diesem Jahr auch einen eigenen Werkstattcontainer geben. Wenn nun
jemand fragt: Warum gibt es kein Regenwassersammelsystem? Warum züchtet keiner
Pilze?, dann können die beiden Prinzessinnengärtner auf die Werkstatt zeigen und sagen:
"Mach doch!".
Am 15. Mai 2011 ist die offizielle Garteneröffnung in den Prinzessinnengärten
Wann hatten Sie zuletzt Dreck unter den Nägeln? Schreiben Sie uns einen Leserartikel
über Ihre Erfahrungen .
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