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THINK TANK DEMOGRAFIE - DISKUSSION, Forum Nachhaltiges Österreich
Projekt LLL und seine missing links:
Lebenslanges Lernen in einer alternden Gesellschaft
im Kontext „Nachhaltige Entwicklung“
Gerhild Schutti
Wien 2006
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 1
INHALT
1. EINLEITUNG............................................................................................................2
Lebenslanges Lernen – die klassische Botschaft ........................................................................... 2
Lebenslanges Lernen – eine strategische Antwort auf den demografischen Wandel ................ 2
Beigeschmack des Unbehagens ....................................................................................................... 4
2. DIE LLL-AGENDA DER EU: WO STEHT ÖSTERREICH? .....................................4
LLL-Status in Österreich .................................................................................................................... 6
Reformprioritäten der österreichischen Bildungspolitik .............................................................. 10
Zentrale Forderungen der Wirtschaft für eine LLL-Strategie ....................................................... 11
3. PROJEKTVORHABEN „LLL-STRATEGIE“: GIBT ES MISSING LINKS ?..........11
4. LLL BEGINNT NICHT ERST MIT FÜNFZIG! ........................................................13
5. DIE „VERSCHENKTEN HUMANRESSOURCEN“................................................16
Wie kann der frühe LLL-Ausschluss verhindert werden? ............................................................ 21
Beurteilung erster eingeleiteter Schritte......................................................................................... 24
6. BILDUNG – AUSLÖSER UND LÖSUNG FÜR DIE HERAUSFORDERUNG „DEMOGRAFISCHER WANDEL“................................................................................26
Wie attraktiv ist das zeitgenössische Plädoyer für LLL?.............................................................. 26
„Nicht mehr vom Gleichen“ ............................................................................................................. 29
7. LLL: PLÄDOYER FÜR EIN ERWEITERTES BEGRIFFSVERSTÄNDNIS ............29
Das Nachhaltigkeitsverständnis der Lissabonstrategie ............................................................... 29
Was darf man sich unter „Nachhaltigkeit“ im Bereich Bildung und Schule vorstellen? .......... 30
BINE und LLL..................................................................................................................................... 31
Wie kann die geplante LLL-Strategie mit Leben erfüllt werden? ................................................. 33
8. FAZIT .....................................................................................................................35
9. LITERATUR ...........................................................................................................37
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 2
Abstract
Das klassische Plädoyer für Lebenslanges Lernen (LLL) präsentiert sich primär als
strategische Antwort auf die Herausforderungen „beschleunigter Strukturwandel“ und
„demografische Alterung“. Im Rahmen dieser Arbeit wird der aktuelle LLL-Diskurs im Hinblick
auf „missing links“ hinterfragt: Wo steht Österreich bei der Entwicklung einer kohärenten LLL-
Strategie? Steht die LLL-Welt allen offen oder gibt es versteckte Ausschlussmechanismen? Ist
das zeitgenössische Plädoyer für LLL attraktiv genug? Ist LLL die adäquate Antwort auf
drängende Zukunftsfragen wie etwa die Herausforderung „demografischer Wandel“? In der
Folge findet keine „Entzauberung“ des LLL-Paradigmas statt. Vielmehr wird an die
ArchitektInnen der LLL-Strategie appelliert, durch verstärkte Integrationspolitik und gezielte
Investitionen in die frühkindliche Förderung das unausgeschöpfte Bildungspotenzial von
MigrantInnen zu erschließen, reale Chancengleichheit im Bildungsbereich herzustellen und die
Weiterbildung in der Lebensmitte zu fördern. Schließlich wird für eine zeitgemäße
Bildungsoffensive plädiert, die nicht „mehr vom Gleichen“, sondern eine strukturelle und
substanzielle Erneuerung des Bildungssystems vorsieht. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die
Bildungsstrategie „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, die in die geplante LLL-Strategie und
somit in alle Ebenen des Bildungssystems zu integrieren ist.
1. Einleitung
Lebenslanges Lernen – die klassische Botschaft Das Plädoyer für LLL ist heute allgegenwärtig und erinnert zunächst an das schlichte
Sprichwort, das vielen seit der Kindheit vertraut ist: „Lernen ist wie Rudern gegen dem Strom.
Sobald man damit aufhört, treibt man zurück.“ Allerdings lautet die ungleich eindringlichere
Botschaft nun: Einer weiterbildungsabstinenten Gesellschaft droht Wohlstands- und
Stabilitätsverlust, sprich der Niedergang schlechthin. In Zeiten der Globalisierung wird uns LLL
als künftiger Lebensstil und Überlebensstrategie dringend nahegelegt: Der verschärfte
internationale Standortwettbewerb und der rasante technologische Fortschritt beschleunigen
den Strukturwandel und verändern dadurch laufend die Arbeitswelt. LLL spielt angesichts dieser
revolutionären Entwicklungen eine Schlüsselrolle beim Erhalt der individuellen
Beschäftigungsfähigkeit (Employability).
Lebenslanges Lernen – eine strategische Antwort auf den demografischen Wandel Das klassische Employability-Argument, das ArbeitnehmerInnen die ständige Bereitschaft zum
Umlernen abverlangt, erfährt mittlerweile in steigendem Maße zusätzliche Legitimation durch
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die Problemwahrnehmung „demografischen Herausforderung“. Demnach wird LLL bereits durch
die Bevölkerungsentwicklung zu einer Art „Sachzwang“. Der entsprechende Problemdruck wird
wie folgt beschrieben:
Fortgeschrittene Industrieländer weisen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – sinkende
Fertilitätsraten auf. Eine Frau in Österreich bekommt heute (2005) durchschnittlich 1,41 Kinder
und damit nur etwa halb so viele wie im „Babyboom“-Jahr 1963.1 Der Geburtenrückgang
(dessen vielschichtige Ursachen bereits hinreichend analysiert wurden und der hier nicht per se
als Problem betrachtet wird) und die gleichzeitig steigende Lebenserwartung führen zum
sogenannten „demografischen Wandel“. Konkret bedeutet dies, dass sich im Zeitraum 2000 bis
2050 der Anteil der über 65-Jährigen an der österreichischen Bevölkerung verdoppeln wird und
in dieser sich abzeichnenden „Greying Society“ einem sinkenden Anteil junger qualifizierter
Arbeitskräfte ein steigender Anteil Älterer (bei Fortschreibung des Status quo handelt es sich
dabei um vergleichsweise weniger Qualifizierte oder bereits aus dem Erwerbsleben
Ausgeschiedene) gegenüberstehen wird.2 Es steht folglich nicht das „Ende der Arbeit“ bevor,
das Jeremy Rifkin noch im Jahr 1995 proklamierte, sondern vielmehr das Problem eines
manifesten Arbeitskräfteengpasses bei gleichzeitigem Vorliegen von Strukturarbeitslosigkeit.
Vorläufig ist zwar noch keine Knappheit des Arbeitskräfteangebots in Folge des
demografischen Wandels in Sicht: Laut WIFO nimmt in Österreich zumindest bis zum Jahr 2014
das Arbeitskräfteangebot durch Zuwanderung, steigende Frauenerwerbsbeteiligung und die
erschwerte Frühpensionierung jährlich um mehr als 1% zu. ExpertInnen betonen allerdings,
dass Zuwanderung und monetäre Anreize für mehr Kinder den demografischen Wandel zwar
hinauszögern, aber nicht dauerhaft verhindern können. Das vielfach unterschätzte
Hauptproblem des demografischen Wandels heißt jedoch „zunehmende durchschnittliche
Dequalifizierung der gesamten (Erwerbs-) Bevölkerung“: Durch den veränderten Altersaufbau
sinkt das durchschnittliche Qualifikationsniveau des Erwerbstätigenpotenzials und damit die
Produktivität der Volkswirtschaft. Brisant in diesem Zusammenhang ist v.a., dass die
Geschwindigkeit des technischen Fortschritts mit der Entwertung des Humankapitals von
älteren ArbeitnehmerInnen korreliert. Da letztere einen wachsenden Anteil der Bevölkerung
stellen, droht in Abwesenheit von ausreichenden und adäquaten Bildungsmaßnahmen eine
Abnahme der gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (vgl. Federico, 2006, Aiginger, 2006,
6).
1 Ein kürzlich vom Institut für Demografie und der Statistik Austria neu entwickeltes (nationales) „Geburtenbarometer“ ermittelt für das Jahr 2006 allerdings eine durchschnittliche höhere Kinderzahl von 1,60. (Es werden externe Effekte wie z.B. das höhere Durchschnittsalter der Frauen bei Erstgeburten berücksichtigt.) 2 Gemäß der aktuellen Prognose der Statistik Austria wird die Zahl der 20 - unter 65jährigen von 5 010 000 im Jahr 2000 auf 4 862 000 im Jahr 2050 sinken, während die Zahl der über 65jährigen in diesem Zeitraum von 1256 000 auf 2 458 000 ansteigt. Derzeit stehen noch 22% der Wohnbevölkerung im Pensionsalter von 60 und mehr Jahren. Mittelfristig (2020) wird diese Gruppe bereits 26% und langfristig (ab 2050) rund 30% der Wohnbevölkerung stellen (Statistik Austria, 2006).
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Beigeschmack des Unbehagens Sowohl die Botschaft als auch die abgeleiteten Forderung sind unmissverständlich: Um mittel-
bis langfristig einen spürbaren Wohlstandsverlust zu vermeiden, muss verstärkt in die Aus- und
Weiterbildung investiert werden. Der Bedarf und die Notwendigkeit für LLL ist daher heute auch
weitgehend unumstritten. Viele akzeptieren das Prinzip LLL und sind für den damit
verbundenen künftigen Lebensstil bereit. Andere nehmen die LLL-Future mit
schicksalsergebener Gleichmut als gegeben hin. Und schließlich gibt es auch jene, die im Sinne
von „die Botschaft hör´ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube / Wille“ reagieren. Der langen Rede
kurzer Sinn: Von einer enthusiastischen Aufbruchstimmung, die man angesichts eines
gesellschaftlichen Konsenses für eine neue Lernkultur und den damit verbundenen Optionen für
die Erschließung persönlicher und gesellschaftlicher Potenziale erwarten könnte, ist jedenfalls
noch wenig zu spüren. Dafür aber eine Art subtiles Unbehagen aufgrund unbeantworteter
Fragen wie: Kann LLL tatsächlich die ungelösten Zukunftsfragen des demografischen und
Strukturwandels lösen? Hält das Konzept, was es verspricht? Oder schlicht: Wo ist das
Konzept?
2. Die LLL-Agenda der EU: Wo steht Österreich?
„Bessere Bildung ist gleichbedeutend mit besserer Arbeit und stabileren gesellschaftlichen
Verhältnissen.“ Aufbauend auf diesem Credo beschäftigen sich westliche Industriestaaten
bereits seit den 1970er Jahren mit dem Thema LLL. Spätestens aber seit dem steigenden
globalen Wettbewerb in den 1990er Jahren erfreut sich die bildungspolitische Diskussion über
LLL einer ungebrochenen Aktualität. Der Begriff LLL erfährt seither eine kontinuierliche
Erweiterung: War zunächst primär die Erwachsenbildung, insbesondere die berufliche
Weiterbildung gemeint, so ist es mittlerweile common sense, dass alle Bildungseinrichtungen,
beginnend von den Kindergärten bis zu den Hochschulen für eine erfolgreiche Umsetzung des
Prinzips LLL verantwortlich sind. Aber auch die Konzentration auf das rein formale Lernen ist im
Sinne eines zeitgenössischen LLL-Verständnis mittlerweile überholt.
Mit dem legendären Lissabonziel, das die EU bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten,
dynamischsten und wissensbasierten Wirtschaftsraum machen soll, wurde schließlich der
Grundstein für eine strategische Umsetzung des Prinzips LLL gelegt: Erstmals formuliert die EU
konkreten Bedarf für eine umfassende bildungspolitische Offensive einschließlich der
Entwicklung nationaler LLL-Strategien: Im März 2000 verfasste die Europäische Kommission
(EK) im Anschluss an den Europäischen Rat von Lissabon das „Memorandum über
lebenslanges Lernen“ mit dem Ziel, eine kohärente Gesamtstrategie für die Bildung und das
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lebenslange Lernen in Europa zu entwerfen. Die Mitgliedstaaten werden in der Folge
angehalten, bis Jahresende 2006 kohärente Strategien und praktischen Maßnahmen zur
Ermöglichung einer lebenslangen Weiterbildung für alle zu entwickeln. Das Memorandum
enthält sechs Grundforderungen für eine Umsetzung in der Praxis:
• Neue Basisqualifikationen als Voraussetzung für eine dauerhafte Teilhabe an der
Wissensgesellschaft (IT-Fertigkeiten, Fremdsprachen, Technologische Kultur,
Unternehmensgeist, soziale Fähigkeiten)
• Höhere Investitionen in die Humanressourcen
• Innovation in den Lehr- und Lernmethoden
• Bewertung des Lernens (Verständnis und Bewertung für Lernbeteiligung und Lernerfolg
verbessern) – insbesondere im Bereich des nicht-formalen und des informellen Lernens
• Berufsberatung und Berufsorientierung: Zugang zu hochwertiger Beratung
(Lernangebot) für alle Altersklassen
• das Lernen den Lernenden räumlich näher bringen (Möglichkeiten für LLL in
unmittelbarer Nähe des Wohnortes für Lernende schaffen)
Im LLL-Verständnis dieses Memorandums wird bereits der erweiterte Lernbegriff des
Europarates zu Grunde gelegt: Konventionelles formales Lernen wird um das nicht formale und
informelle Lernen ergänzt.3 Demzufolge soll LLL künftig sämtliches Lernen in allen Lebensaltern
umfassen. Die UNESCO rückt in seinem Konzept diesen umfassenden Lernbegriff sowie die
Ziele „weitest mögliche Persönlichkeitsentwicklung und Chancengleichheit für die politische
Teilhabe“ ins Zentrum. Die Europäische Kommission hingegen fokussiert zunächst - analog zu
entsprechenden OECD-Konzepten - in ihrer inhaltlich strategischen Ausrichtung primär die
Beschäftigungsfähigkeit und in diesem Zusammenhang die berufliche Weiterbildung. So wird
beispielsweise ein eigener regelmäßig erhobener LLL-Strukturindikator entwickelt, mit dem in
der gesamten EU die Teilnahme der 25-64jährigen an Aus- und Weiterbildung in den jeweils
vier letzten Wochen vor der Befragung gemessen wird. Bis zum Jahr 2010 wird EU-weit ein
Zielwert von 12,5% angepeilt. Schließlich betont der Rat der Europäischen Union in seiner
Entschließung zum LLL (2002) den Bedarf für echte Chancengleichheit der Lernenden sowie
die notwendige Integration von Schul- und Weiterbildung zu einem Gesamtkonzept. Im Herbst
2005 bekennt sich auch die EK zu einem klaren integrativen Ansatz und fordert
• die verstärkte Förderung der Zusammenarbeit von Bildungseinrichtungen auf regionaler
und lokaler Ebene
• schnellere Reformen der Bildungs- und Ausbildungssysteme auf nationaler Ebene 3 Formales Lernen erfolgt in schulischen oder außerschulischen Bildungsinstitutionen oder durch Training am Arbeitsplatz. Lernende erwerben damit gemeinhin eine anerkannte Qualifikation / Zertifikat. Nicht formales Lernen hingegen folgt zwar einem Programm, gewöhnlich wird diese Form des Lernens aber nicht evaluiert oder zertifiziert. Informelles Lernen bezieht sich wiederum auf Lernen durch regelmäßige Aktivitäten in Beruf, Familie und Freizeit („learning by doing“).
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• die Festlegung von Schlüsselkompetenzen für LLL Derzeit forciert die EK die Schaffung eines sogenannten europäischen Qualifikationsrahmens
(EQF), an dessen Stufen sich die zu schaffenden nationalen Qualifikationsrahmen orientieren
sollen: Zum einen soll damit die Vergleichbarkeit von europäischen Bildungsabschlüssen in
einer europäischen Wissensgesellschaft gewährleistet werden. Zum anderen wird damit dem
erweiterten Lernbegriff im Kontext des LLL Rechnung getragen und in der Praxis nutzbar
gemacht: Da in der Berufswelt nicht formale und informell erworbene Fähigkeiten meist nicht
anerkannt werden und sich der Fokus allzu sehr auf Lernergebnisse der formalen Bildung
richtet, sollten diese versteckten Potenziale künftig für den Arbeitsmarkt durch die Anerkennung
von informell erworbene Qualifikationen sichtbar und nutzbar gemacht
(vgl.www.erwachsenenbildung.at).
LLL-Status in Österreich Die OECD attestiert Österreich in ihrer Länderprüfung 2003 ein komplexes und vielfältiges
Angebot an beruflicher Weiterbildung, ortet aber primär Handlungsbedarf
• in der Grundbildung, wo grundsätzlich zu wenig Aktivitäten gesetzt werden
• zugunsten einer Erhöhung der Tertiärquote
• in der Weiterbildung, wo Allgemeinbildung und e-learning tendenziell noch ein
Schattendasein führen
• aufgrund eines generellen Mangels an einer kohärenten Erwachsenenbildungspolitik
und „Culture of Evaluation“
Beteiligung an kontinuierlicher Weiterbildung
Österreich kennzeichnet grundsätzlich eine überdurchschnittliche Weiterbildungsbeteiligung
innerhalb der EU154: Der LLL-Indikator der EK lag im Jahr 2003 mit 12,5% über dem EU-
Durchschnitt (10%). Da der nur vierwöchige Bezugszeitraum der EK empirisch fragwürdig
erscheint, verwendet die Statistik Austria einen analogen LLL-Indikator, berücksichtigt dabei
aber die Teilnahmebeteiligung in den letzten 12 Monaten vor der Erhebung: Demnach
beteiligen sich 27% der österreichischen Wohnbevölkerung und 32% der Erwerbstätigen im
Haupterwerbsalter zw. 25 und 64 an formaler und non-formaler Aus- und Weiterbildung.5
Grundsätzlich korreliert die kontinuierliche Beteiligung an Weiterbildung mit dem Grad der
erreichten formalen Bildung und Umfeldkomponenten (beruflicher Bedarf und Zugang zur
Bildung). Auch der Anteil der weiterbildungsaktiven Unternehmen liegt in Österreich über dem
EU-Durchschnitt, allerdings wird betriebliche Weiterbildung in Österreich in vergleichsweise
4 Die Beteiligung an nicht-beruflicher Weiterbildung ist eher durchschnittlich. 5 Die OECD ermittelte in einer analogen Erhebung allerdings nur 26% Beteiligung bei den Erwerbstätigen für Österreich. Top-Performer mit mehr als 40% beruflicher Weiterbildungsbeteiligung bei den Erwerbstätigen sind Dänemark, Finnland, Schweden, die Schweiz und das Vereinigte Königreich.
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geringerem Ausmaß von Unternehmen finanziert6. Der „internationale Benchmarking-Blick“
lässt aber hier Unterschiede in der Erstausbildung außer Betracht: Im dualen Bildungssystem
finanzieren Betriebe bereits die Lehrlingsausbildung. Der berufliche Weiterbildungsbedarf im
Hinblick auf fachliche, betriebsrelevante Skills ist daher für LehrabsolventInnen später nicht im
selben Ausmaß gegeben wie in anderen Ländern, die über kein duales Ausbildungssystem
verfügen und wo der Übergang von der Erstausbildung zur Berufsausbildung länger dauert.
Trotz seiner Berufsbildungstradition und der relativ guten österreichischen Wirtschaftslage muss
es allerdings Ziel sein, in der Weiterbildungsbeteiligung zu den Top-Performern aufzuschließen,
denn es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Wissensintensität und
Weiterbildungsquote: Die weiterbildungsintensiven Länder Schweden, Dänemark und Finnland
haben nicht nur den Strukturwandel besser bewältigt, sie verfügen neben einer höhere
Erwerbsbeteiligung der über 55-Jährigen auch über günstigere Werte im Vergleich zentraler
Innovationsindikatoren (vgl. OECD 2004, 2005; ibw, 2004).
Defizite in der Grundbildung
Von beträchtlichen Defiziten in der Grundbildung zeugen neben der Pisa-Studie 2003
schließlich auch nationale Expertenbefunde: Die österreichische Schulkultur ist demnach von
einem pädagogischen Ansatz, der auf life skills (allgemeine Grundbildung) aufbaut, relativ weit
entfernt. Dies wird u.a. darauf zurückgeführt, dass die in den 1990er Jahren eingeleitete
Modernisierung des Hochschulsystems losgelöst von einer vergleichbaren Anpassung der
vorgelagerten Bildungsstufen erfolgte. Grundsätzlich werden veraltete Methoden, zu große
Stoffmengen sowie eine fehlende Output-Orientierung im Zusammenhang mit einer „Phobie“
gegenüber Leistungstests diagnostiziert (auch die OECD-Prüfer kamen bei ihren
stichprobenartigen Schulbesuchen zu ähnlichen Befunden).
Schließlich wird auch die relativ frühe Spezialisierung problematisiert: Die Top-Performer in
Sachen Lesekompetenz unter den PISA-Ländern würde eine relativ späte Spezialisierung
kennzeichnen. (Laut der PISA-Studie 2003 haben rund 40% der österreichischen Jugendlichen
schwache Lesefähigkeiten.) Die Bildungsforschung betont schließlich den Bedarf für zwei
strategische Ansätze:
• Für eine möglichst breite Teilhabe an der Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft
müsste in der Grundbildung der Fokus künftig v.a. auf die Stärkung der
Basisqualifikationen (prägen und begrenzen den Verwertungshorizont erworbener
6 Der Continuing Vocational Training Survey 2 ermittelte für 1999 einen Anteil von 71% weiterbildungsaktiven Unternehmen (gegenüber 51% im EU-Durchschnitt), allerdings lag der Anteil jener Unternehmen, die betriebliche Weiterbildung auch finanzieren, nur bei 31,5% (gegenüber 40% im EU-Durchschnitt.) Die Quote liegt generell niedriger bei Unternehmen mit weniger als 50 MitarbeiterInnen, jedoch höher bei Unternehmen mit weniger als 20 MitarbeiterInnen.
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Fachbildung) gerichtet werden. V.a. auch die Zunahme der einfachen
Dienstleistungsberufe im Zuge der steigenden Tertiärisierung der Beschäftigung
erfordert relativ breite Grundkenntnisse (z.B. Kunden- und Serviceorientierung, EDV-
Kenntnisse etc.) erforderlich. Nachholbedarf für Basisqualifikationen besteht aber auch
bei den Erwachsenen: Geschätzte 30% (es wurden dazu bisher keine Daten erhoben)
verfügen über eine (tendenziell unterforderungs-, nicht altersbedingte) schwache
Lesekompetenz. Die OECD konstatierte grundsätzlich ernsthafte Mängel im
Erwachsenenbildungsangebot für bildungsferne Schichten. Zugunsten einer höheren
Weiterbildungsbeteiligung aller fordert sie daher die Förderung nicht beruflicher
Erwachsenenbildung. (Der Zugang zu beruflicher Weiterbildung wird gemeinhin durch
die Berufsstruktur bestimmt. Personen aus bildungsferne Schichten sind häufig gering
qualifiziert und / oder nicht erwerbstätig und sind dadurch häufig bereits strukturbedingt
von lebenslanger Weiterbildung ausgeschlossen. Der Zugang zu allgemeiner Bildung
kann dazu beitragen, diese Gruppe für das Prinzip LLL, mitunter sogar für das
Nachholen von Bildungsabschlüssen zu gewinnen.)
• Aufgrund des beschleunigten Strukturwandels gibt es seit etwa Mitte der 90er Jahre
zuwenig Lehrstellen. Gleichzeitig stehen für die knappen Lehrstellen zuwenig
qualifizierte BewerberInnen zur Verfügung (hier ist bei der Stärkung der
Baisqualifikationen anzusetzen). Für die verbleibenden Fälle mit Übergangsproblemen
nach der Pflichtschule müssen aber auch niederschwellige Ausbildungsangebote für
einfache Berufe geschaffen werden (vgl. Schneeberger, 2005; ibw, 2004).
Life skills, die in der Grundbildung vermittelt werden, sollten im Sinne der antiken Weisheit „Non
scholae sed vitae discimus“ auf das Leben vorbereiten. Im zeitgenössischen Kontext ist daher
nicht zuletzt die Vorbereitung auf die Berufsfähigkeit ein wesentliches Bildungsziel für die
Grundschulen. So betont beispielsweise der Bildungsexperte Klaus Schedler, dass der
Rucksack der Erstausbildung, der auf das (Berufs-)Leben vorbereiten soll, nicht bis zur
Unbeweglichkeit mit Wissen vollgestopft werden dürfe: „Wer alles was man unterwegs auch nur
brauchen könnte in seinen Rucksack packt, braucht länger zum Packen und der Rucksack ist
schließlich so schwer, dass er bei der Tour mehr hinderlich als praktisch ist.“ Als tragfähige
Grundlage sei der Rucksack daher mit einer gesunden Mischung aus „haltbaren
Grundfertigkeiten“ und unmittelbaren (alterungsanfälligen) Anwendungswissen zu bepacken.
Letzteres kann im Rahmen von „Weiterbildungsstationen“ während des Berufslebens rasch und
bedarfsgerecht nachgefüllt werden. Schedler spricht sich schließlich grundsätzlich gegen ein
(Stoffumfang-bedingtes) zu langes Verweilen in der Grundausbildung aus: Nachdem 50% des
einmal Gelernten in vielen Disziplinen nach kurzer Zeit nicht mehr aktuell ist („Halbwertszeit des
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Wissens“) und das Durchschnittsalter der MitarbeiterInnen in Unternehmen demografiebedingt
steigen wird, kann auch das wichtige Bildungsziel „Wissenstransfer von den
Bildungseinrichtungen zur Wirtschaft“ immer weniger von der Grundausbildung (sondern eher
von der berufsbegleitenden Weiterbildung) erfüllt werden (vgl. Schedler, 1994).
Reformen, jedoch mangelnde LLL-Orientierung bei den Hochschulen
Mit Blick auf die Strukturreformaktivitäten der vergangenen 10 bis 15 Jahre lässt sich
feststellen: Die primären und sekundären Strukturen des österreichischen Bildungssystems
litten an Stillstand und bedürfen offensichtlich einer Generalüberholung. Im Hochschulbereich
hingegen kann auf Reformen verwiesen werden, die einen Beitrag zu einer künftigen Erhöhung
der Akademikerquote sowie zu einer beginnenden Internationalisierung des österreichischen
Hochschulsystems leisten:
• Mit dem FHStG 1993 (Fachhochschul-Studiengesetz) wurde erstmals ein differenziertes
Hochschulsystem (mit vergleichsweise mehr Autonomie in Organisation und Lehre)
eingeführt.
• Seit 1997 ist es möglich, mit einer Berufsreifeprüfung von der beruflicher Bildung direkt
an die Hochschulbildung aufzuschließen.
• Die pädagogischen Akademien gehören seit 1999 gesetzlich dem tertiären
Bildungsraum an. Bis 2007 sollen pädagogische Hochschulen errichtet werden.
• Die Universitätsreform 2002 ermöglichte u.a. mehr Autonomie für die Universitäten.
• Der Bologna-Bericht 2005 zeugt von Fortschritten bei der Förderung der Mobilität von
HochschulabsolventInnen: Die Umstellung des Diplomstudiums auf Bakkalaureats- /
Magisterstudien einschließlich der verpflichtenden ECTS-Einführung für die
internationale Vergleichbarkeit von Studienabschlüssen ist bewältigt.
• Mit der Einrichtung der österreichischen Qualitätssicherungsagentur (AQA) wurde die
Qualitätssicherung und Evaluierung des tertiären Bildungsbereiches institutionalisiert
(vgl. Bologna-Bericht 2005; bm:bwk, 2006).
Eine LLL-Orientierung ist im österreichischen Hochschulsystem aber noch nicht zu erkennen:
Das unzureichende Lehrveranstaltungsangebot für Berufstätige sowie unflexible Öffnungszeiten
von Bibliotheken konterkarrieren eine Lebensphasenorientierung, in der die Aufnahme von
Bildungsprozessen jederzeit möglich ist (vgl. Pellert, 2006).
Mangelnde Kohärenz in der Erwachsenenbildung
Trotz einer Vielzahl von AnbieterInnen in der Erwachsenenbildung gibt es nahezu keine
bereichsübergreifende Kooperation, etwa zugunsten einer Arbeitsteilung nach Zielgruppe und
Bildungsbereich. De facto mangelt es an einer Lernarchitektur, in der verschiedene Lernorte
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und Lernbereiche miteinander verknüpft sind. Auch das Informationsangebot wird meist isoliert,
d.h. jeweils nur auf das eigene Bildungsangebot gerichtet zur Verfügung gestellt. Dieses
systemische Koordinations- und Informationsdefizit wird durch die föderale Struktur der
österreichischen Bildungslandschaft verstärkt. In Abwesenheit eines „one-stop-shops“ und
häufig unklaren Zuständigkeiten werden so v.a. die gering Qualifizierten entmutigt, Beratung
einzuholen (vgl. OECD 2003, Pellert 2006). Schließlich fehlt es noch an Bildungscontrolling: Die
Etablierung einer „Culture of Evaluation“ im Sinne eines routinemäßigen Bildungscontrollings
steht hierzulande – sieht man von evaluationsbasierten Verbesserungen der Berufsreifeprüfung
ab - noch eher am Anfang. Rund 85% einer Altersgruppe erreichen einen Abschluss der
Sekundarstufe 2 in ihren Bildungsverläufen. Dieser grundsätzlich positive Befund wird aber
durch den gegebenen starken Wechsel sowie durch die hohe Drop-out-Quote in den
Bildungsverläufen verdüstert (vgl, ibw, 2004). Qualitätssicherung durch die laufende
Evaluierung des Lernerfolgs und der Lernmethoden – im Schulsystem wird gerade erst damit
begonnen – würde man sich von der kunden- und dienstleistungsorientierten
Erwachsenenbildung im Sinne von „value for money“ einerseits als Selbstverständlichkeit
erwarten. Andererseits sind diese Wirkungsanalysen unverzichtbar: Sie schaffen schließlich
Entscheidungsgrundlagen für Qualitätsverbesserungen und die Einführung von pädagogischen
Innovationen.
Reformprioritäten der österreichischen Bildungspolitik Während der österreichischen EU-Präsidentschaft steckte sich die österreichische
Bundesregierung neben der bildungspolitischen Priorität „Europäisierung und
Internationalisierung des tertiären Bildungsbereiches“ folgende Ziele:
„Vergrößerung des autonomen Entscheidungsbereichs in Schulen“, „Überdenken der
Zuständigkeitsverteilung im Schulbereich (im Rahmen eines Gremiums zur Generalrevision der
österreichischen Bundesverfassung)“, die „Einführung von neuen Arten der Qualitätssicherung
(u.a. die Einführung von Bildungsstandards)“ sowie „Maßnahmen in Berufsausbildung und LLL“.
Letztere sieht die Einführung eines „Qualifikationsbarometers“ zur Antizipierung von sich
ändernden Qualifikationsanforderungen vor.
Konkrete Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Schulbereich betreffen u.a. das bereits im
Aufbau befindliche Bundesinstitut für Schulentwicklung, Management von Qualitätssicherung
und Bildungsforschung, das in der Primar- und Sekundarstufe in Erprobung befindliche Konzept
der Bildungsstandards zur Sicherung schulischer Basisqualifikationen sowie die Initiative
„LESEFIT“ für SchülerInnen mit schwachen Lesekompetenzen. In den Vorüberlegungen zur
Prioritätenformulierung wird das hochdifferenzierte Sekundarschulwesen, insbesondere die
Differenzierung der Sekundarstufe 1 (Unterstufe AHS und Hauptschule) in Österreich zwar
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unter den „Herausforderungen“ gereiht, anschließend dazu aber keine entsprechende
Reformpriorität formuliert (vgl. Bologna-Bericht 2005; Österreichische Präsidentschaft der EU,
2006).
Zentrale Forderungen der Wirtschaft für eine LLL-Strategie Die Konzeption einer LLL-Strategie für Österreich ist zur Zeit noch ausständig. Bereits in ihrer
Länderprüfung 2003 empfahl die OECD die Einrichtung eines entsprechenden Gremiums als
Beratungs- und Koordinationsinstanz auf Bundesebene und betonte, dass dieses sich v.a. auch
klare Ziele setzen müsse. Die Industriellenvereinigung (IV) entsprach dieser Empfehlung in
ihrem Weissbuch 2004, das eine ressortübergreifende Taskforce für LLL durch die
Bundesregierung fordert. Diese Arbeitsgruppe sollte v.a. eine strategische und
zielgruppenspezifische Konzeption und Steuerung des öffentlichen Finanzierungs- und
Förderwesens, eine professionelle Bildungs-, Berufs- und berufsbegleitende Karriereberatung
sowie eine zeitgemäße (Weiter-)qualifizierung des Lehrpersonals sicherstellen. Konkrete
Ansätze dazu stellte die IV vor kurzem in einer Pressekonferenz vor (IV, 2004; Der Standard
vom 4./5.November 2006). Auch die Wirtschaftskammer drängt auf die zeitlich befristetete
Einrichtung eines sogenannten „LLL-Rates“: Gefordert wird eine Orientierung der
Erstausbildung am LLL-Prinzip sowie eine zielgruppenadäquate Förderung von Aus- und
Weiterbildung. Als Instrument der Subjektförderung wird beispielsweise ein Bildungskonto-
Modell für wirtschaftsnahe Weiterbildung (angesparte Mittel werden mit einem staatlichen
Prämienzuschuss von mindestens 30% prämiert) und die Anhebung des Bildungsfreibetrages
für Unternehmen von 20% auf 40% (für ArbeitnehmerInnen der Generation 40plus und
Geringqualifizierte) vorgeschlagen (vgl. WKÖ, 2006)7. Zentrales Anliegen der Wirtschaft für die
Strategie ist schließlich auch die Schaffung von Strukturen für die in Österreich noch kaum
gegebene Anerkennung von informellen Kompetenzen.
3. Projektvorhaben „LLL-Strategie“: Gibt es missing links ?
Faktum ist: LLL im zeitgenössischen Verständnis von „sämtlichen Lernen im Laufe des Lebens“
ist als Begriff schwer zu fassen und lässt sich daher kaum in die determinierte Struktur einer
Strategie pressen. Eine ausreichend konkrete LLL-Strategie kann sich daher im Wesentlichen
nur auf die konventionellen Orte des Lernens, vom Kindergarten bis zu den Hochschulen und
auf die Weiterbildungseinrichtungen konzentrieren. Sie kann durch geeignete
Rahmenbedingungen in Schulen informelles Lernen fördern und Mechanismen für die
Anerkennung nicht formaler und informeller Kompetenzen vorsehen. Bis dato gibt es keine
7 Der österreichische Bildungsfreibetrag gilt international als Best-Practise-Beispiel (ibw 2004).
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solche Strategie, sondern höchstens einzelne Ansätze dafür. Nicht zuletzt im Sinne eines
verantwortungsvollen Umgangs mit Zukunftsinvestitionen sollte die europäische Initiative ehest
möglich mit einem entsprechend schlüssigen LLL-Konzept für Österreich beantwortet werden.
Es gilt hierfür auf Basis des formulierten Handlungsbedarfs erste erfolgreich erprobte
Reformansätze, vereinzelt existierende Entwürfe, Vorschläge und einschlägige Empfehlungen
im Hinblick auf definierte Zielsetzungen zu prüfen, zusammenzuführen und schließlich mit
einem Zeithorizont und Schätzungen betreffend den erforderlichen Mittelaufwand zu versehen.8
Dies ist allerdings nicht so einfach, wie es klingt. Allein die Definition der Zielsetzung, die
wichtigste Voraussetzung für die Erarbeitung einer Strategie, könnte (und sollte ) grundsätzliche
und bisher höchstens am Rande thematisierte Fragen eröffnen wie: Steht LLL allen offen oder
gibt es versteckte Ausschlussmechanismen?
Schließlich soll die Strategie LLL zu einer gesellschaftlichen Grundhaltung, einem neuen
Lebensstil machen. Vor diesem Hintergrund gilt es zu hinterfragen, wie es im Hinblick auf das
übergeordnete Ziel mit der Grundvoraussetzung „Motivation“ aussieht: Ist das zeitgenössische
Plädoyer für LLL attraktiv? Ist die Botschaft ansprechend? Oder anders gefragt: Was muss
getan werden, damit sich möglichst viele von der Botschaft angesprochen fühlen?
Diese Fragen berühren einerseits zentrale Umsetzungsvoraussetzungen für eine umfassende
„LLL-Strategie für alle“ und sind andererseits von erheblicher Relevanz für den Umgang mit der
eingangs skizzierten „demografischen Herausforderung“. In der österreichischen LLL-
Diskussion blieben diese Fragen bisher tendenziell unterbelichtet und werden daher in den
folgenden Kapiteln vertieft: Nach einer kurzen Ausführung zum Thema „LLL und ältere
ArbeitnehmerInnen“ wird das Thema „mangelnde Bildungschancengleichheit von Kindern aus
bildungsfernen Schichten mit Migrationshintergrund“ vertieft, d.h. deren de facto-Ausschluss
aus der LLL-Welt aufgezeigt. Abschließend wird das zeitgenössischen Plädoyer für LLL kritisch
hinterfragt und schließlich für eine Integration der BINE in die LLL-Strategie argumentiert.
8 Aus Gründen der spezifischen Schwerpunktsetzung kann im Rahmen dieser Arbeit das wichtige Thema „Bildungsfinanzierung“ nicht vertieft werden. Zwei Aspekte seien hier jedoch kurz erwähnt: Bezüglich der Mittelaufbringung zeichnet sich im LLL-Diskurs im Bereich „berufliche Weiterbildung“ ein Plädoyer für die gemeinsame Verantwortung von Staat, Unternehmen und ArbeitnehmerInnen ab. Die KOM-Mitteilung „Effizienz und Gerechtigkeit in den europäischen Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung“ dürfte einen nicht unbedeutenden Policy-Input zur aktuellen Diskussion (mit unbestimmten Ausgang) um die Beibehaltung bzw. Abschaffung der Studiengebühren geleistet haben.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 13
4. LLL beginnt nicht erst mit fünfzig!
Österreich rangiert bei der Teilnahme älterer ArbeitnehmerInnen im EU-Vergleich weit hinten:
Im Jahr 2005 betrug die Beschäftigungsquote der 55-64jährigen 31.8% gegenüber dem
Durchschnitt der EU 25 von derzeit 42,5% (vgl. EUROSTAT, 2006). (Für das Jahr 2010 peilt die
Lissabonstrategie für Wachstum und Beschäftigung eine entsprechende EU-weite
Beschäftigungsquote in der Höhe von 50% an.) Abgesehen von Maßnahmen zur Anhebung des
faktischen Pensionsalters (Erschwerung der Frühpensionierung) wurden keine konkreten
Schritte unternommen und wohlmeinende Appelle wie „den Schatz im Silberhaar suchen“
blieben seitens der Unternehmen bis dato weitgehend ungehört. Einerseits ist der
Problemdruck aufgrund der im internationalen Vergleich niedrigen Arbeitslosenrate offenbar
noch nicht groß genug. Anderseits ist vielen nicht bewusst, dass es nicht zuletzt angesichts
eines mittelfristig bevorstehenden demografisch bedingten Arbeitskräfteengpasses notwendig
ist, ArbeitnehmerInnen aller Altersgruppen für den laufenden technischen Fortschritt fit zu
halten. Grundsätzlich dürfte aber das Potenzial der Generation 50plus hoffnungslos
unterschätzt werden: Indem die Arbeitgeberseite den vorherrschenden „Jugendkult“ am
Arbeitsmarkt kultiviert anstatt auf den erfolgreichen „Mix aus Alt und Jung“ zu setzen, verliert sie
frühzeitig Tacid Knowledge (Erfahrungswissen). Letzteres geht nicht nur mit fundiertem
Brachenwissen, gewachsenen „Machbarkeitssinn“ und wertvollen Kontakten, sondern auch mit
einer tendenziell geringeren Fehleranfälligkeit und höheren Sozialkompetenz einher und ist
daher zweifellos unter den zentralen Erfolgsfaktoren für Unternehmen einzureihen.
Gemäß neuester Prognosen ist erst ab 2020 mit einem demografiebedingt sinkendem
Arbeitskräfteangebot zu rechnen. Wird nicht umgehend gegengesteuert, sieht sich die
Generation 50plus in der Zwischenzeit wahrscheinlich weiterhin mit einer tendenziellen
Diskriminierung am Arbeitsmarkt konfrontiert.9 Vor diesem Hintergrund wird -– nicht zuletzt in
den Maßnahmenempfehlungen der OECD - der Forcierung der kontinuierlichen Weiterbildung
eine wichtige Hebelfunktion für die Steigerung der Arbeitsmarktpartizipation älterer
ArbeitnehmerInnen zugeschrieben (vgl. OECD, 2005b):
Mit zunehmendem Alter sinkt die Weiterbildungsbeteiligung zwar in allen OECD-Ländern,
jedoch in unterschiedlichem Ausmaß. Österreich liegt im Jahr 2003 mit einer Beteiligung an
nicht formaler beruflicher Weiterbildung bei den 55-64jährigen Erwerbstätigen mit einem Wert
von 15% noch im Mittelfeld, allerdings deutlich hinter den skandinavischen Ländern, die eine
entsprechende Beteiligung von 39% (Dänemark, Finnland) und 43% (Schweden) aufweisen.
Deutlich vor Österreich liegen außerdem die Vereinigten Staaten (40%), die Schweiz (33%), 9 Die bestehenden Antidiskriminierungsvorschriften sollten verhindern, dass ArbeitnehmerInnen wegen ihres Alters beim Zugang zum Arbeitsmarkt benachteiligt werden. Sie erwiesen sich in der Praxis aber tendenziell als wirkungslos. Die Auswirkungen der neuen Antidiskriminierungsstrategie der Europäischen Kommission bleiben abzuwarten (Clark, 2006).
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 14
das Vereinigte Königreich (25%), Canada (23%) und die Slowakische Republik (22%) Die
weiterbildungsaktiven Länder mit einer höheren Beteiligung der über 55jährigen weisen
günstigere Werte bei den zentralen Innovationsindikatoren auf und haben den Strukturwandel
insgesamt besser bewältigt als Österreich. Sie sind dadurch auch „demografieresistenter“:
Durch die längere Partizipation der ArbeitnehmerInnen im Erwerbsprozess kann der
demografisch bedingt zunehmende Druck auf die soziale Sicherung verringert werden (vgl.
OECD 2005a; ibw, 2004).
Auch Gunther Tichy betont die Erfordernis „längere Arbeitsmarktpartizipation“. Im
Zusammenhang mit der konventionell geführten Altersdebatte spricht er aber von einem
„demografischen Belastungsmythos“: Schon derzeit müsse jeder Arbeitende einen „Nicht-
Arbeitenden“ erhalten. Nicht nur die klassischen PensionistInnen, sondern auch Kinder,
Jugendliche, Arbeitslose und FrühpensionistInnen sind der Gruppe der Nicht-Arbeitenden
zuzuordnen. Diese Relation würde sich in Zukunft nur geringfügig verschlechtern, weil zwar
mehr „Alte“, aber weniger aus den anderen Gruppen erhalten werden müssten: Wenn
Arbeitslose und FrühpensionistInnen erwerbstätig werden, würde auch ein merklich
gestiegenes Volkseinkommen zur Verfügung stehen. Würde es also gelingen, die Zunahme der
PensionistInnen durch eine Abnahme der Arbeitslosen und FrühpensionistInnen (Anhebung der
Erwerbsquote der 50-65jährigen von derzeit 48% auf das skandinavische Niveau von 70%) zu
kompensieren, so würde die Gesamtbelastung der Bevölkerung unverändert bleiben. Tichy gibt
auch Entwarnung bezüglich eines häufig proklamierten altersbedingten
Produktivitätsrückgangs: Die gesamtwirtschaftliche Produktivität entwickelt sich tendenziell
positiv in einer alternden (und zunehmenden Dienstleistungs-) Gesellschaft. Einerseits geht die
steigende Lebenserwartung mit einem zunehmend beschwerdefreien Altern einher.
Andererseits bedingt die zu erwartende Arbeitskräfteknappheit eine höhere Kapitalintensität
sowie die Weiterentwicklung des arbeitssparenden technischen Fortschritts (vgl. Tichy, 2006).
Da LLL - nicht zuletzt aufgrund des beschleunigten technologischen Fortschritts – eine zentrale
Voraussetzung für die längere Partizipation am Arbeitsmarkt verkörpert, muss folglich auch
verstärkt beim Potenzial „Weiterbildungsbeteiligung von älteren ArbeitnehmerInnen“ angesetzt
werden. In diesem Zusammenhang gilt es zwei Aspekte zu beachten. Erstens: Mitarbeiter, die
für die Personalentwicklung nicht mehr interessant sind, fühlen und verhalten sich bald auch
entsprechend (vgl. Drost, 2003). Zweitens: Nach einer längeren Lernentwöhnung fällt es
zunehmend schwer, sich auf neues Wissen einzulassen. Die geringere
Weiterbildungsbeteiligung von älteren ArbeitnehmerInnen ist daher auch als Langzeitfolge von
gelebter Weiterbildungsabstinenz zu betrachten. Kontinuierliche Beteiligung an Weiterbildung
beginnt schließlich nicht erst im Alter von 50 Jahren, sondern wird sukzessive in den
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 15
Jahrzehnten davor gelebt.10 Die Förderung verlängerter Bildungsbiografien muss daher durch
entsprechende Anreize sowie durch Qualifikationsmanagement für ArbeitnehmerInnen in den
mittleren Lebensjahren erfolgen (vgl. ibw, 2004; Drost, 2003): Neben der vermehrten
Bereitstellung von subjektorientierten Anreizen (Bildungsgutscheine) sowie der Gewährung
erhöhter Bildungsfreibeträge für Unternehmen ist insbesondere ein qualitativ hochwertiges,
bedarfsgerechtes, auch regional und kommunal verfügbares Bildungsberatungs- und –
controllingangebot zu forcieren. Auch Personen mit Zugangsschwierigkeiten zur
Erwachsenenbildung müssen mit Information und Beratung erreicht werden.
Aus einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für
Arbeit geht hervor, dass 57% der österreichischen Unternehmen im Jahr 2000 keine über-
50jährigen MitarbeiterInnen beschäftigten. Während diese Altersgruppe in 99% der Betriebe mit
mehr als 100 MitarbeiterInnen noch anzutreffen war, beschäftigten diese nur 25% der
österreichischen Kleinstunternehmen mit weniger als 5 MitarbeiterInnen. Gemäß der
Unternehmensbefragung fiel die Wertschätzung der Betriebe für ältere ArbeitnehmerInnen (Z.B.
Einschätzung der Leistungsfähigkeit von älteren im Vergleich zu jener von jüngern
ArbeitnehmerInnen) durchaus hoch aus. Als zentrales Problem wurden aber häufig die hohen
Lohnkosten im Kontext des Senioritätsprinzips angeführt (vgl. ibw, 2004). Diese Erhebung
macht schließlich deutlich, dass Qualifikation im Hinblick auf das Ziel „Beschäftigungs-fähigkeit“
keine hinreichende Bedingung für Erfolg ist. Schließlich spricht auch der
Alterseinkommensprofil- Vergleich der OECD eine deutliche Sprache: Bereits auf den ersten
Blick besticht die ab der Altersgruppe der 55-59jährigen Österreicher steil ansteigende
Lohneinkommenskurve (die bei den Österreicherinnen etwas weniger drastisch ansteigt). Diese
Kurve steigt in ähnlicher Ausprägung nur bei den Franzosen (nicht bei den Französinnen). In
Ländern wie Schweden, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Australien fällt die Kurve
ab dieser Altersgruppe (oder bereits früher) sogar ab (vgl. Biffl, 2006). Ergo: Neben einer
Forcierung der Weiterbildungsbeteiligung älterer ArbeitnehmerInnen müssen gleichzeitig auch
wirtschafts- und beschäftigungspolitische Instrumente zum Einsatz gelangen. So könnte etwa
die kurz- und mittelfristig unzureichende Abflachung der altersabhängigen Einkommenskurve
(Senioritätsprinzip) durch eine Lohnnebenkosten- oder Lohnsteuersenkung für ältere
ArbeitnehmerInnen (z.B. ab 55 Jahren) kompensiert werden. Die Bruttolöhne würden dann
entsprechend nach unten angepasst, ältere ArbeitnehmerInnen würden am Arbeitsmarkt wieder
stärker nachgefragt.
10 Vor diesem Hintergrund ist der Sozialpartnervorschlag „ Erhöhung des Bildungsfreibetrages von 20% auf 40% für die Generation 40plus“ zu begrüßen (Die Sozialpartner Austria, 2006)
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 16
5. Die „verschenkten Humanressourcen“
Im Kontext der demografischen Herausforderung ist der Handlungsbedarf „Höherqualifizierung“
und „Erhöhung der AkademikerInnenquote“ evident: Der weltweite Innovationswettbewerb und
die Wissensgesellschaft im Sinne des Lissabonziels erfordern eine deutlich höhere Beteiligung
im tertiären Bildungssektor, denn der produktivste Teil des Humankapitals sind
HochschulabsolventInnen. Folgerichtig wurde mit dem Bologna-Prozess und der eingeleiteten
Neustrukturierung des Studiensystems dieser Erkenntnis Rechnung getragen.11 Zusätzlich
startete die österreichische Bildungspolitik in den vergangenen Jahren eine schwerpunktmäßig
im Hochschulbereich angesiedelte Höherqualifizierungsoffensive. Sie soll eine Antwort auf den
Strukturwandel und technischen Fortschritt geben und der demografischen Herausforderung
begegnen: Schließlich müssen die jährlich aus dem Arbeitsmarkt austretenden geburtenstarken
Jahrgänge ersetzt werden. Um das aktuelle Niveau zu halten ist hierfür bis zum Jahr 2025 –
dann wird die demografisch bedingte Knappheit des Arbeitskräfteangebots ihren vorläufigen
Höhepunkt erreichen – eine Verdoppelung der AkademikerInnenzahl erforderlich.12 Der
zusätzlich steigende Qualifikationsbedarf der Wirtschaft ist dabei noch gar nicht berücksichtigt
(vgl. Dohmen, 2005). Auch die OECD-Bildungsminister betonten im Sommer 2006 in Athen die
Notwendigkeit eines grundlegenden bildungspolitischen Wandels: Die Partizipation an höherer
Bildung muss gesteigert und allen sozialen Schichten (auch real) zugänglich gemacht werden
(vgl. OECD, 2005a). Gleichzeitig muss der Anteil von un- und niedrigqualifizierten Personen
signifikant verringert werden.
Ungeachtet der einschlägigen Appelle im internationalen Agenda-Setting und trotz
ambitionierter nationaler Bestrebungen für die künftige Erhöhung der AkademikerInnenzahl
blieb in der nationalen LLL-Diskussion bisher jedoch ein wesentlicher Aspekt unterbelichtet:
Das unausgeschöpfte Bildungspotenzial von MigrantInnen und deren tendenzieller Ausschluss
aus der LLL-Welt.13
Ohne Zuwanderung würde die Zahl der BürgerInnen im erwerbsfähigen Alter bereits heute
sinken. Da der Wettbewerb um qualifizierte ZuwandererInnen immer härter wird (vgl. Müller,
2004), kann das Ziel „selektive Zuwanderung“ keine ausreichend nachhaltige Lösung für die
11 Die neuen Studienabschlüsse erleichtern zwar die Vergleichbarkeit von Abschlüssen innerhalb der EU und führen zu höheren AkademikerInnenquoten. Es ist aber noch unklar, ob sie auch zu Veränderungen der Qualifikation führen, bzw. ob sich der Anteil der Personen mit einem dem heutigen Diplom- und Magisterabschlüssen vergleichbarem Niveau durch die Einführung des Bachelor nicht reduziert. 12 Im Jahr 2005 verfügten 6,9% der Wohnbevölkerung über einen Universitäts- oder Hochschulabschluss und 2,7% über einen Abschluss einer hochschulverwandten Lehranstalt (v.a. pädagogische Akademien), (Statistik Austria, 2006). 13 Allerdings wurde dieses Thema kürzlich erstmals öffentlich vom WIFO-Chef Karl Aiginger angesprochen.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 17
demografische Herausforderung sein14. Den politisch Verantwortlichen sollte daher folgender
Zusammenhang bewusst sein: Die AkademikerInnenquote von morgen wird durch die Qualität
der Integrationspolitik von heute bestimmt.
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels kann die Höherqualifizierung im
Allgemeinen und das Ziel „ausreichend hohe AkademikerInnenquote“ im Besonderen künftig
nur durch die „Mobilisierung aller Humanressourcen“ erreicht werden (vgl. Dohmen, 2005;
Schmid, 2004; Müller, 2004). Dies erfordert vor allem die Herstellung realer Chancengleichheit
im Bildungsbereich. Letztere ist nicht nur aus humanitärer und Gerechtigkeitssicht anzustreben,
sondern auch aus soziodemografischen und -ökonomischen Erwägungen dringend geboten:
Ein zunehmender Anteil an Kindern wird heute in bildungsfernen (und damit meist
sozioökonomisch schwächeren) Schichten mit Migrationshintergrund geboren. Diese Kinder
könnten wesentlich zur Abschwächung des demografischen Wandels und dessen – bei
Fortschreibung des Status Quo – ungünstigen Auswirkungen beitragen. Gegenwärtig zeigt sich
allerdings folgendes Bild:
Auf Dauer lassen sich in Österreich primär MigrantInnen aus bildungsfernen Schichten mit
niedrigem sozioökonomischem Status aus den traditionellen GastarbeiterInnenregionen (Ex-
Jugoslawien, Türkei) nieder.15 Deren Kinder besuchen viel seltener Kindergärten (als
österreichische Kinder ohne Migrationshintergrund) und behalten häufig die Ausbildungsmuster
ihrer Eltern bei. Zwar ergab sich in den letzten 10-15 Jahren bei jugendlichen MigrantInnen eine
Entwicklung zugunsten weiterführender Ausbildungswege und auch der Anteil von
AusländerInnen in Sonderschulen (19,2%) konnte deutlich reduziert werden, trotzdem bestehen
weiterhin vergleichsweise hohe Bildungsdefizite zwischen In- und AusländerInnen: Der Anteil
an der Wohnbevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 25 und 64 Jahren, der höchstens
über einen Pflichtschulabschluss (also mitunter auch über keinen) verfügt, ist bei
AusländerInnen doppelt so hoch (40%) wie bei InländerInnen (20%). Allerdings finden sich auch
innerhalb der Gruppe der AusländerInnen beträchtliche Qualifikationsunterschiede: Während
rund die Hälfte der österreichischen Wohnbevölkerung aus Ex-Jugoslawien über höchstens
einen Pflichtschulabschluss verfügt, zählten rund drei Viertel der türkischen Wohnbevölkerung
zu dieser Gruppe. Am stärksten ausgeprägt sind Bildungsdefizite bei jenen MigrantInnen, die im
Ausland geboren wurden (vgl. Bock-Schappelwein, 2006). Die tendenziell geringe Grundbildung
von AusländerInnen schlägt sich auch in einer vergleichsweise geringen
Weiterbildungsbeteiligung nieder: Laut Mikrozensus vom Juni 2003 nahmen 30% der
14 Die zu Jahresbeginn 2003 in Kraft getretene Neuregelung des Zugangs ausländischer Arbeitskräfte soll künftig nur mehr höher qualifizierten MigrantInnen die dauerhafte Niederlassung ermöglichen. 15 45,3% aller in Österreich lebenden AusländerInnen haben die Staatsbürgerschaft eines der jugoslawischen Nachfolgestaaten, 17,9% sind türkische StaatsbürgerInnen.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 18
ÖsterreicherInnen pro Jahr an einer Aus- und Weiterbildung teil gegenüber 12-15% der
AusländerInnengruppe aus Exjugoslawien und der Türkei (vgl. Schneeberger, 2005).16
Aufgrund ihrer niedrigen Qualifikation haben diese MigrantInnen eine erhöhtes
Arbeitslosigkeitsrisiko: Annähernd drei Viertel aller Arbeitslosen verfügen laut Mikrozensus 2003
höchstens über einen / keinen Pflichtschulabschluss (37%) bzw. Lehrabschluss (36%). Das
Schicksal „Arbeitslosigkeit“ betrifft insbesondere türkische Mädchen, die vielfach den sog.
„Zero-Status“ innehaben (sie sind nicht nur strukturell benachteiligt, sondern ihnen fehlt auch
das Bewusstsein für den Wert von Bildung). Die Arbeitsmarktchancen von MigrantInnen der
ersten und zweiten Generation schmälern sich v.a. deshalb, weil sich deren Beschäftigung auf
nur wenige Branchen konzentriert. Nicht selten handelt es sich dabei um schrumpfende
Beschäftigungsbereiche, etwa um Hilfs- und Anlerntätigkeiten in der Konsumgüterindustrie oder
um die Bauwirtschaft, in der nicht selten prekäre Arbeits- und Lohnbedingungen nachgefragt
werden.
Während AusländerInnen im Vergleich zu InländerInnen eine vergleichsweise geringe
Beteiligung an weiterführender Bildung aufweisen, verfügen sie aber in gleichem Ausmaß wie
die inländische und Wohnbevölkerung über eine abgeschlossene Tertiärausbildung: Es handelt
sich bei diesen Studierenden aber primär um „mobile“ AusländerInnen, aus den alten und
neuen EU-Mitgliedstaaten. Die studierenden AusländerInnen aus den traditionellen
GastarbeiterInnenregionen stammen meist aus bürgerlichen Schichten, die ihre Maturareife in
ihrem Heimatland erworben haben (vgl. Bock-Schappelwein 2006). Diese ZuwanderInnen sind
zweifellos ein Gewinn für den österreichischen Bildungs- und Arbeitsmarkt. Es ist aber unklar,
ob sie sich auf Dauer hier niederlassen und v.a. stellen sie in Summe nicht die erforderliche
kritische Masse für die nötige Höherqualifizierung der gesamten Wohnbevölkerung dar.
Die Ursachen für die beschriebenen Bildungsdefizite von Personen mit Migrationshintergrund
sind vielschichtig:
• Generell ist festzustellen, dass in Österreich (ebenso wie in Deutschland) ein starker
Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem Bildungsniveau besteht (vgl.
Dohmen, 2005; Schmid, 2004). Andere Länder waren bei der Durchbrechung dieses
Zusammenhangs erfolgreicher. So können beispielsweise Schwellenländer als
beispielhaft betrachtet werden: Südkorea gelang es etwa in den 1990ern erstmals, dass 16 Eine differenzierte Analyse im Hinblick auf das Bildungsverhalten von MigrantInnen ist allerdings aufgrund der schlechten Datenlage in Österreich nicht möglich. (Dieser Umstand könnte auch als Indiz für mangelndes Problembewusstsein der politischen EntscheidungsträgerInnen interpretiert werden.) So beklagt das Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft (ibw), dass in der österreichischen Schulstatistik die SchülerInnen nur nach dem Kriterium der Staatsbürgerschaft ausgewiesen werden. Da keine Informationen zum Herkunftsland der Eltern (sowie dem Geburtsland der SchülerInnen bzw. deren Aufenthaltsdauer in Österreich) enthalten sind, können keine differenzierten empirischen Aussagen über das Bildungsverhalten von SchülerInnen der zweiten Generation gemacht werden (vgl. Schmid, 2004).
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 19
aus einer Generation, deren Eltern noch überwiegend AnalphabetInnenen waren, eine
große Zahl von HochschulabsolventInnen hervorging. Den in Österreich und
Deutschland gegebenen starken Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und
Bildungsniveau führt die Bildungsforschung primär auf ein für beide Länder typisches
Charakteristikum ihrer Bildungsstruktur zurück:
• Dass SchülerInnenleistungen in den beiden Ländern am deutlichsten mit dem sozialen
Hintergrund korrelieren, wird in ursächlichem Zusammenhang mit der vergleichsweise
frühen äußeren Differenzierung im Pflichtschulbereich gesehen (vgl. Schneeberger,
2005).17 Sowohl in OECD-PISA-Publikationen sowie in der internationalen
wissenschaftlichen Fachliteratur wird die kontraproduktive Wirkung der frühen
Differenzierung betont. Zentrales Argument ist der entscheidende Einfluss der Eltern bei
der frühen Entscheidung für die Hauptschule oder AHS am Ende der Grundstufe: Das
Entwicklungspotenzial des Kindes spielt bei der Schulwahl durch die Eltern tendenziell
eine untergeordnete Rolle. Entscheidungsrelevant sind primär Motive, die stark von der
sozialen Position und damit verbundenen Motiven wie etwa Statuserhalt,
Bildungsaspiration oder Investitionsüberlegungen abhängen. Die Überwindung dieses
strukturellen Defizits in Sachen „Bildungschancengleichheit“ dürfte sich schwierig
gestalten: Die Einführung einer Gesamtschule zur Gewährleistung einer möglichst
breiten Grundbildung für alle wird in Österreich von der überwiegender Mehrheit der
Bevölkerung noch abgelehnt. Die Ressentiments richten sich einerseits gegen den per
se „ideologisch belasteten Begriff“ und lassen sich andererseits auch durch die
Veränderungsresistenz von historisch gewachsenen institutionellen Mustern erklären.
Die Tatsache, dass sich auch die EK in ihrer jüngsten Mitteilung klar gegen eine frühe
Differenzierung ausspricht, könnte hier einen wertvollen Beitrag zur Versachlichung der
„verfahrenen“ österreichischen Debatte leisten (vgl.EK, 2006a).
• Das Potenzial „hohe Lernbereitschaft“ von EinwandererInnenkindern kollidiert mit ihrer
sozialen Realität: Die OECD verglich in einer jüngsten Studie auf Basis des PISA-
Ergebnisses 2003 siebzehn Länder miteinander und stellte dabei fest, dass
SchülerInnen mit Migrationshintergrund hoch motiviert sind und eine positive Einstellung
zur Schule haben. Ihre Motivation ist sogar größer als die der einheimischen
SchülerInnen. Trotzdem schneiden sie bei grundlegenden Kompetenzen in der Regel
schlechter ab (OECD, 2006).18 Eine Umfrage des Zentrums für Türkeistudien in Berlin
17 Im Rahmen einer „äußeren Differenzierung“ des Schulsystems werden jeweils „geeignete“ homogene SchülerInnengruppen in unterschiedlichen Schultypen, Schulzweigen, Spezialklassen sowie Leistungs- und Neigungsgruppen zusammengefasst. Eine „innere Differenzierung“ hingegen zielt darauf ab, heterogene SchülerInnengruppen individuell gemäß ihrer Fähigkeiten zu fördern, d.h. mit entsprechend unterschiedlichen Lernangeboten zu versorgen. .18 Die Leistungsunterschiede sind in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich, in Belgien und in Dänemark (v.a. bei türkischen SchülerInnen) am größten. In den Niederlanden und in Schweden ist der Unterschied geringer, in Kanada und Australien hingegen kaum gegeben.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 20
bestätigt: Auch MigrantInnen wünschen sich, dass ihre Kinder „es einmal besser haben
sollen“. Demnach streben mehr als drei Viertel der türkischen Mütter und Väter das
Gymnasium für ihre Kinder an. Diese Ambitionen sowie die hohe Lernmotivation von
Einwandererkindern stehen allerdings im Widerspruch zu deren gelebten sozialen
Realität: EinwandererInnenkinder werden in der Regel zu Hause nicht für eine
Bildungskarriere sozialisiert. Nicht selten fehlt es den Eltern an Bewusstsein, dass sie
Mitverantwortung am Lernerfolg ihrer Kinder tragen (in der Türkei werden die Kinder zur
weiteren Erziehung der Schule überlassen). Zum anderen mangelt es ihnen in der Regel
auch an Ressourcen sowie Informationen über das österreichische Schulsystem.
Mangels eines konkreten eigenen Erfahrungshintergrundes mit Bildung wissen sie nicht,
was getan werden muss, um die Kinder ausreichend zu unterstützen und das angepeilte
Bildungsziel zu erreichen (vgl. Die Zeit, 6.Juli 2006, S. 25-26).
• Für Kinder aus bildungsfernen Schichten mit niedrigem sozioökonomischen Status und
Migrationshintergrund erfolgt der de-facto-Ausschluss aus der LLL-Welt somit
tendenziell bereits im Kleinkindalter: In MigrantInnenfamilien werden oft zwei oder mehr
Sprachen gesprochen. Bedauerlicherweise wird diese in Österreich vorhandene
sprachliche Vielfalt tendenziell problematisiert (laut einer jüngsten Umfrage auch von
GrundschullehrerInnen), das Potenzial dieser Schlüsselkompetenz „Mehrsprachigkeit“
bleibt in der Regel ungenützt.19 Aufgrund mangelnder Förderung entwickeln diese
Kinder häufig eine Art „Halbsprachigkeit“: Die in der Familie gesprochene Muttersprache
wird im Kindergarten (sofern diese Kinder einen besuchen) oder in der Schule verdrängt.
Als Jugendliche beherrschen sie später weder ihre Muttersprache, noch die
Landessprache wirklich gut. Obwohl Mehrsprachigkeit ein ausgewiesenes europäisches
und nationales bildungspolitisches Anliegen ist, wird die Mehrsprachigkeit von
MigrantInnen daher überwiegend als Problem wahrgenommen. Nicht selten werden
MigrantInnen für die mangelnde Sprachkompetenz ihrer Kinder verantwortlich gemacht,
weil sie mit ihren Kindern zu Hause nicht die Landessprache Deutsch sprechen würden.
In diesem Zusammenhang sollte man sich allerdings vor Augen halten, dass wohl
niemand auf die Idee käme, AuslandsösterreichInnen zu verbieten, im Ausland mit ihren
Familien Deutsch zu sprechen.20 Deren Kinder genießen in der Regel eine adäquate
mehrsprachige Ausbildung und haben später aufgrund ihrer bilingualen Erziehung einen
Wettbewerbsvorteil am Arbeitsmarkt.
• Nicht nur die mangelnde Sprachförderung, auch prekäre Wohnsituationen erschweren
häufig zusätzlich das Lernen für EinwandererInnenkinder. Diese Kinder verlieren oft
19 Vgl. dazu Furch, 2005 20 Das Bedürfnis, privat die Muttersprache zu sprechen, gründet nicht nur in dem Wunsch, ein Kulturgut zu pflegen: Emotionales und Persönliches wird auch dann, wenn man eine Fremdsprache sehr gut beherrscht, spontan am besten in der Muttersprache ausgedrückt. Dieses Bedürfnis sollte daher aus Gründen des Respekts und der Sensibilität gegenüber dem Privaten und anderen Kulturen nicht hinterfragt werden.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 21
frühzeitig den Anschluss. Sie können ihre manifesten sprachlichen, sozialen und
kulturellen Defizite während der Schulausbildung nicht mehr aufholen und haben
hinterher faktisch keine Chance mehr, diesen Nachteil, der ihnen dadurch für ihre
Bildungs- und Erwerbslaufbahn entstanden ist, wieder wettzumachen. Ihren Eltern fehlt
die nötige Information bzw. wird sie von diesen häufig auch nicht nachgefragt. In der
Regel forciert die Familie für ihre Kinder sogar einen raschen Eintritt in das
Erwerbsleben als HilfsarbeiterInnen, da sich dort kurzfristig mehr Geld verdienen lässt
als in einer Lehre. Nicht selten werden Jugendliche mit Migrationshintergrund bei der
Arbeitssuche am Arbeitsmarkt diskriminiert, sodass sie weniger begehrte Lehrstellen
akzeptieren müssen. (vgl. Bock-Schappelwein, 2006). Auch ein Teil der österreichischen
Jugendlichen mit nicht-deutscher Erstsprache hat Schwierigkeiten in der
Ausbildungsintegration. Dies gilt insbesondere für Wien, wo 41% der Jugendlichen einer
allgemeinbildenden Pflichtschule eine andere Erstsprache als Deutsch haben und wo
gleichzeitig die traditionell ausbildungsstarke produzierende Wirtschaft deutlich weniger
vertreten ist als in den anderen Bundesländern: 79% der Erwerbstätigen sind im
Dienstleistungssektor beschäftigt (vgl. Schneeberger, 2005).
Wie kann der frühe LLL-Ausschluss verhindert werden?
• LLL für alle“ durch Verstärkung der integrativen (Früh-)pädagogik einschließlich einer
aktiven Unterstützung der Eltern
Bildungsferne hat grundsätzlich nichts mit Lernschwäche, sondern vielmehr mit einem
Mangel an bildungs- und integrationspolitischer Initiativen zu tun: Die geplante LLL-Strategie
muss daher gegebene latente Ausschlussmechanismen durch die ungleiche Verteilung von
realen Bildungschancen beseitigen. Eltern aus bildungsfernen Schichten, insbesondere jene
mit Migrationshintergrund, sind häufig nicht dazu in der Lage, ihren Kindern einen sozialen
Aufstieg durch Bildung zu ermöglichen. Diese Aufgabe muss das Bildungssystem
übernehmen, nicht zuletzt im ureigensten gesellschaftlichen Interesse: Der demografische
Wandel und eine künftig wettbewerbsfähige Wissensgesellschaft erfordern eine breite
Höherqualifizierung der Gesellschaft auf allen Ebenen. Der Grundstein hierfür wird meist
noch vor dem Schulantritt gelegt. Um Anschlussproblemen von EinwandererInnenkinder
vorzubeugen, müssen Verantwortliche der Bildungs- und Integrationspolitik Information
künftig als Bring- und nicht als Holschuld begreifen:
Eltern von EinwandererInnenkindern müssen aktiv und adäquat informiert und bei
Integrationsproblemen unterstützt werden. Nach einer Situationserfassung sollten hierfür im
Bedarfsfall prozessbegleitende ElterntrainerInnen (analog zu den Berliner „Stadtteilmüttern“)
aus dem jeweiligen Herkunftsland eingesetzt werden. Die Zielgruppen müssen „dort
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 22
abgeholt werden, wo sie stehen“. Das im Internet, in Schulen und in den Kindergärten
verfügbare Informationsangebot betreffend die sprachliche Frühförderung erreicht sie meist
nicht. Da die Entwicklungsunterschiede (Bildungsdefizite) von Kindern aus bildungsfernen
Schichten mit Migrationshintergrund umso größer werden, je älter die Kinder sind, nimmt die
integrative frühkindlichen Förderung im Vorschul- und Grundschulbereich einen zentralen
Stellenwert für die weitere Bildungsperspektive ein. Nachqualifizierung bei Erwachsenen ist
teuer und als kurative Maßnahme sinnvoll. Es sollte aber nicht auf Kosten der integrativen
Frühförderung in diese nur zweitbeste Lösung investiert werden, d.h. das Budget für aktive
Arbeitsmarktpolitik darf nicht mit dem bildungspolitischen Etat (für Frühförderung)
konkurrieren.21 Verstärkte Investitionen für den Start ins Bildungsleben sollten folgende
Maßnahmen umfassen:
• Die Einführung von mindestens einem gebührenfreien Vorschul- / Kindergartenjahr für
alle
In den Niederlanden gibt es seit Mitte der 1990er Jahre die Kindergartenpflicht ab dem
vierten Lebensjahr für alle. Kinder aus Einwandererfamilien erhielten sogar das Recht auf
einen kostenlosen Kindergartenplatz ab dem dritten Lebensjahr. Diese Kinder bekommen
dadurch die Chance, rasch mit den inländischen Kindern gleich zu ziehen. Im PISA-Top-
Performer-Land Finnland besuchen 96% der Kinder das auf freiwilliger Basis angebotene
gebührenfreie Vorschuljahr (OECD, 2005). Unabhängig vom Umfang des
Vorschulangebotes dürfte durch die Maßnahme zumindest sichergestellt sein, dass
inländische und ausländische Kinder am ersten Schultag über gleiches „Startkapital“
verfügen, d.h. mit annähernd denselben (sprachlichen) Voraussetzungen ihre Schullaufbahn
beginnen.
Die EK verweist in einem entsprechende Appell an die Mitgliedstaaten auch auf den
vergleichsweise hohen „Return on Education“ der Vorschule: „Die Vorschulbildung liefert im
Hinblick auf den Bildungserfolg und die soziale Eingliederung der Kinder die größten
Erträge. Entsprechend sollten die Mitgliedstaaten ihre Investitionen in die Vorschulbildung
verstärken, damit diese wirksam dazu beitragen kann, eine Basis für das weitere Lernen zu
schaffen, den Schulabbruch zu verhindern, mehr Gerechtigkeit bei den Bildungsergebnissen
zu erreichen und das allgemein Kompetenzniveau zu steigern“ (EK, 2006a). Schließlich
empfehlen auch die Sozialpartner in ihrer Position „Chancen durch Bildung“ ein
21 Auch das WIFO empfiehlt in seinem kürzlich erschienenen Weissbuch eine intensivere Integration und Qualifikation von MigrantInnen, beschränkt sich in der vorgeschlagenen Strategielinie „Ausbildungs- und Weiterbildungssystem“ aber exemplarisch auf das Nachholen des Schulabschlusses und die Teilnahme an Weiterbildung (vgl. WIFO, 2006).
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 23
verpflichtendes gebührenfreies Vorschuljahr für alle (Beirat für Wirtschafts- und
Sozialfragen, 2006)
• Die Etablierung einer strukturierten, flächendeckend verfügbaren Sprachförderung für
Kinder mit Migrationshintergrund
Integrative Frühpädagogik umfasst frühsprachliche Förderung in der / den Muttersprache(n)
ab dem Kindergarten / der Vorschule. Erst ein gefestigter Grundwortschatz in der
Muttersprache verleiht Kindern mit Migrationshintergrund die nötige Sprachkompetenz für
das Erlernen der Fremdsprache Deutsch. Für das Kinderbetreuungs-Management gilt es
daher generell, ein mehrsprachiges, kultursensibles und ein für alle leistbares (im
Vorschuljahr kostenloses Angebot) zur Verfügung zu stellen und die Aus- und Weiterbildung
von KindergartenpädagogInnen zu verbessern (In Italien, Finnland und Schweden sind die
entsprechenden Fachkräfte AkademikerInnen). Es ist zu erwarten, dass die entsprechend
höheren Kosten für deren Ausbildung durch die sinkende Kinderzahl neutralisiert wird.
Aufbauend auf im Kindergarten erworbene sprachliche Kompetenzen müssen nach dem
Schuleintritt diese Sprachen weiter gepflegt werden: Es ist erwiesen, dass Kinder mit
Migrationshintergrund sowohl ihre Muttersprache, als auch die Landessprache gut erlernen
können, wenn sie in der Schule auch in beiden Sprachen unterrichtet werden und sich ihre
Sprachförderung nicht auf ein sprachliches Zusatzangebot reduziert (Sitzung des
Österreichischen Sprachenkomitees, 2006). In einer strukturierten Sprachförderung ist die
Sprache des Herkunftslandes in einzelnen Kernfächern Teil des regulären Curriculums. So
kommt auch die OECD-Vergleichsstudie „Where immigrants succed“ zum Schluss, dass
diejenigen Länder, in denen die Leistungsunterschiede relativ gering sind, über strukturierte
Programme für die Sprachförderung verfügen.22 Die Studie widerlegt insgesamt die
Annahme, dass sich ein hohes Zuwanderungsniveau im Allgemeinen negativ auf die
Integration auswirkt. Es wird hervorgehoben, dass grundsätzlich kein signifikanter
Zusammenhang zwischen der Zahl der zugewanderten SchülerInnen und der Höhe der
Leistungsunterschiede zwischen in- und ausländischen Kindern besteht (vgl. OECD, 2006).
Wenn auch inländische Kinder die Sprache ihrer ausländischen MitschülerInnen erlernen,
beispielsweise auf freiwilliger Basis im Rahmen eines Freifaches, dann wird für beide Seiten
nicht nur Mehrsprachigkeit, sondern auch interkulturelles Lernen möglich. Der mittelfristige
22 In der Europäischen Union verfügen derzeit England, Finnland und Norwegen über systematische Sprachenförderung mit bilingualen Komponenten. In Schweden können ausländische SchülerInnen ab einer MindestschülerInnenzahl von fünf Personen pro Klasse mit derselben Muttersprache das gesetzliche Recht auf Unterricht in ihrer Muttersprache in Anspruch nehmen. In elf EU-Ländern wird vereinzelt auf kommunaler Ebene / von einzelnen Schulen Unterricht in der Sprache von Minderheiten angeboten.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 24
„Return on Education“ einer solchen Integrationspolitik kann gar nicht hoch genug
eingeschätzt werden.
• Intensive Sprachförderung für Einwanderungskinder, die nicht die Unterrichtssprache
Deutsch beherrschen
Der häufig diskutierte Vorschlag, Kinder mit Sprachproblemen in eigene Klassen
zusammenzufassen, läuft einer erfolgreichen Integration zuwider. Kinder, die erst nach
ihrem Schuleintritt nach Österreich kommen und nicht oder unzureichend Deutsch
sprechen, sollten für die Dauer eines Jahres einen intensiven Deutschunterricht erhalten
und gleichzeitig einzelne Kernfächer der letzten bereits in ihrem Heimatland absolvierten
Schulstufe in deutscher Sprache wiederholen. Dadurch wird eine Mehrfachbelastung der
SchülerInnen vermieden und gleichzeitig deren Integration gefördert. Die aktuell
vorgesehene entsprechende Regelung im Schulpaket II des BMWK sieht hingegen vor,
dass Kinder, die die Unterrichtssprache Deutsch nicht beherrschen, bis zu elf Stunden aus
dem Regelunterricht genommen werden und in Sprachfördergruppen mit 8 bis 12 Kindern
einen intensiven Deutschunterricht erhalten (Europäische Kommission 2006). Diese
Regelung läuft auf eine klare Überforderung jener SchülerInnen (uns somit auch auf die
Gefahr, den Anschluss zu verlieren) hinaus.
• Aufhebung der frühen äußeren Differenzierung im Pflichtschulbereich
Neben den bereits eingangs erwähnten Reformen im Bildungssystem, präsentiert sich im
Pflichtschulbereich die Ablöse der frühen äußeren zugunsten einer verstärkten inneren
Differenzierung als nachhaltige Lösungsansätze. Vor dem Hintergrund der
unterschiedlichen, zum Teil für Einwandererkinder äußerst ungünstigen Lernumwelten,
könnten Gesamtschulen künftig die Funktion von wahren Integrationswerkstätten erfüllen.
Die Regierung ist daher gut beraten, das Thema „Gesamtschule“ offen, d.h. unter
Einbeziehung aller verfügbaren Informationen, zu diskutieren und nach konzeptionellen
Lösungen zu suchen, die auch die SkeptikerInnen zufrieden stellen.
Beurteilung erster eingeleiteter Schritte Als grundsätzlich richtungsweisend wird von ExpertInnen die interkulturelle Pädagogik der
niederösterreichischen Landeskindergärten hervorgehoben: Mittels interkultureller
MitarbeiterInnen werden in rund 150 Kindergärten die Muttersprachen der Kinder gefördert und
somit das Erlernen der deutschen Sprache erleichtert. Auch der zweisprachige
Gemeindekindergarten Hornstein im Burgenland besticht durch die gezielte Förderung von
Mehrsprachigkeit (vgl. Europäische Kommission 2006).
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 25
Die österreichische Bundesregierung startete im Vorjahr (2005) die Initiative „Sprachförderung
durch Sprachtickets“. Nachdem die meisten Bundesländer 2006 die Schuleinschreibung auf
den Herbst vorverlegt haben, können nun ein Jahr vor Schuleintritt eine Bestandsaufnahme
über den Stand der Deutsch-Kenntnisse und im Bedarfsfall Maßnahmen zur Sprachförderung
(im Ausmaß bis zu 120 Stunden) empfohlen werden. Der Bund unterstützt
KindergartenerhalterInnen (Länder bzw. Gemeinden) finanziell mit 80 Euro pro
förderbedürftigem Kind sowie mit Fortbildungsveranstaltungen für KindergartenpädagogInnen.
Zweifellos haben die regionalen Initiativen in Niederösterreich und im Burgenland
Vorbildcharakter. Die Bundesmaßnahme „Sprachentickets“ hingegen muss im Hinblick auf ihre
Effizienz und Effektivität hinterfragt werden: Grundsätzlich ist unklar, ob diese Art von
Subjektförderung genügend Anreize zur Aufnahme des Angebotes bietet bzw. ob sie überhaupt
zielgruppenadäquat ist. Ersten Berichten zufolge gab es trotz eines enormen
Informationsaufwandes beträchtliche Kommunikationsprobleme bei der Umsetzung des
Projekts.23
Um eine flächendeckende ausreichende Sprachförderung zu gewährleisten, sollte die frühe
Sprachenförderung grundsätzlich - analog zur allgemeinen Schulpflicht - zu einer
Bundeskompetenz werden (der Bund sollte eine entsprechende, ausreichend determinierte
Rahmenrichtlinie für die Umsetzung in den Ländern vorgeben und sich dabei an vorhandenen
Good-Practice-Beispielen orientieren). Schließlich dürfen Bildungschancen in einer zu
forcierenden Wissensgesellschaft nicht eine Frage des Wohnortes (zufälligen regionalen
Existenz einer zeitgemäßen sprachlichen Frühförderung) sein. Die frühe Sprachförderung darf
keinen bloßen Empfehlungscharakter haben, sondern sollte künftig fixer Bestandteil eines
verpflichtenden Vorschul- / Kindergartenjahres sein. Die Eltern sind (nach Möglichkeit)
einzubinden. Schließlich ist angesichts der wachsenden pädagogischen Herausforderungen
auch eine rasche Professionalisierung des KindergartenpädagogInnenberufes auf breiter Basis
zu forcieren. Fortbildungsveranstaltungen können hier nur als Übergangslösung in Betracht
gezogen werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die während der österreichischen EU-
Ratspräsidentschaft angekündigte bildungspolitische Reformpriorität „Frühe Sprachförderung
zur Steigerung der Qualität der Sprache“ (unter: Einführung von neuen Arten der
Qualitätssicherung) in Form eines Angebots von unterstützenden Maßnahmen im Kindergarten
als völlig unzureichend zu bewerten (vgl. Österreichische Präsidentschaft der EU, 2006).
23 In Tirol wurden nach intensiver Informationsarbeit von 691 vergebenen Tickets 527 in Anspruch genommen. In Wien hingegen wurden von 6000 vergebenen Tickets nur 350 eingelöst. (Der Ausgabetermin hatte sich stark verzögert, häufig wussten selbst KindergärtnerInnen nichts von der Initiative.) Der Ländervergleich legt die Vermutung nahe, dass mit der Anzahl der Fälle die Administrierbarkeit abnimmt und das Kommunikationsproblem wächst (Sitzung des Österreichischen Sprachenkomitees, 2006).
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 26
6. Bildung – Auslöser und Lösung für die Herausforderung „demografischer Wandel“
Vereinfacht dargestellt präsentiert sich Bildung heute als Ursache für und Antwort auf den
demografischen Wandel. Das regionale Phänomen „demografischer Wandel“ und der
Bedeutungsgewinn von Bildung scheinen sich jedenfalls in EU-Europa gegenseitig zu
verstärken:
Zum einen lässt sich nicht nur die erhöhte Lebenserwartung, sondern auch die sinkende
Fertilität in den europäischen Industriestaaten auf medizinische und gesellschaftliche
Errungenschaften zurückführen, die ihrerseits in der Bildungsexpansion der vergangenen
Jahrzehnte wurzeln. Zum anderen beteiligten sich Frauen im Zuge der Bildungsexpansion
zunehmend an höherer Bildung. In einer Gesellschaft, in der qualifizierte Arbeit mit hohem
Einkommen und Ansehen verbunden ist, wird die geplante Lebenszeit für Kindererziehung
verkürzt oder überhaupt auf Kinder verzichtet. Die Entscheidung für eine bestimmte Kinderzahl
ist gleichzeitig eine Investitionsentscheidung, bei der die Bildungsziele der Eltern, die geplanten
Ausbildungskosten der Kinder sowie die Verfügbarkeit von Kinderbetreuung abgewogen
werden (vgl. Federico, 2006). Vernachlässigt man den Faktor „Verfügbarkeit von
Kinderbetreuung“, so ist das (regionale) Phänomen „demografischer Wandel“ folglich eine
direkte Konsequenz des zunehmenden gesellschaftlichen Stellenwerts der Bildung. Mit der
neuerlichen Bildungsoffensive wird nun ein Versuch unternommen, die Auswirkungen des
demografischen Wandels bzw. der verschobenen Altersstruktur – primär ein Produkt der
Bildungsexpansion – „in den Griff“ zu bekommen. Es versteht sich von selbst, dass es sich
dabei nicht um ein „Mehr vom Gleichen“ handeln darf. LLL, die neue Bildungsoffensive, steht
für den Aufbruch in die Wissensgesellschaft, zweifellos eine gesellschaftliche Veränderung
paradigmatischen Ausmaßes. Es gilt daher zu hinterfragen, ob das klassische Plädoyer für LLL
der Bedeutung dieser neuen Ära gerecht wird bzw. ob die Botschaft bei den potenziellen
AdressatInnen auch ankommt.
Wie attraktiv ist das zeitgenössische Plädoyer für LLL? Folgt man den Interpretationen von empirischen Erhebungen, so ist das Interesse an
Weiterbildung grundsätzlich eine Funktion der Nutzenerwartung im Hinblick auf die
Verwertbarkeit zusätzlich erworbener Fähigkeiten und Kenntnisse im weiteren Erwerbsleben.
Gemessen an der Weiterbildungsbeteiligung variiert die Nutzenerwartung offenbar im
Ländervergleich und ist auch unter den weiterbildungsaktiven Erwerbstätigen nicht
hundertprozentig gegeben: Die ÖsterreicherInnen liegen zwar im OECD-Vergleich im oberen
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 27
Mittelfeld in Sachen kontinuierliche Beteiligung an beruflicher Weiterbildung.24 Nicht alle, die
sich beteiligen, erkennen darin aber einen Nutzen. So gaben etwa 17% der Erwerbstätigen im
Jahr 2003 rückblickend an, dass ihre beruflichen Weiterbildungsaktivitäten wenig oder keine
Auswirkungen hatten. (vgl. Statistik Austria, 2004). Eine kürzlich in Deutschland veröffentlichte
Studie zum Thema „Weiterbildungserfahrungen und Lernbereitschaft der
Erwachsenenbevölkerung“ kommt sogar zu folgendem Schluss: Es ist nicht ohne weiteres
damit zu rechnen, dass künftig alle Erwerbspersonen für sich einen Weiterbildungsbedarf
formulieren. Realistisch erscheint vielmehr eine Fortschreibung der bisherigen Situation bei
einer leicht steigenden Tendenz der Weiterbildungsbeteiligung. Neben Belastungen, Zeitmangel
(das häufigste Motiv für Weiterbildungsabstinenz) und einer tendenziell geringen
Selbststeuerungsfähigkeit von Niedrigqualifizierten wird in diesem Zusammenhang v.a. die nicht
selten geringe „Lernhaltigkeit“ von Arbeitsplätzen als Weiterbildungsbarriere gesehen: Das
Gelernte kann im beruflichen Alltag häufig nicht angewendet werden (DIE, 2006).
Das klassische Plädoyer für LLL lädt zur kontinuierlichen (formalen und nicht formalen)
Weiterbildung ein und richtet sich an BildungskonsumentInnen, die Bildung als Bedürfnis im
Verständnis einer „Existenzabsicherung erster Ordnung“ begreifen. Den potenziellen
KäuferInnen wird mit dem Erwerb des Qualitätsprodukts „Bildung“ eine Verbesserung ihrer
Employability, Bildungserträge durch höhere Einkommen und damit die Wahrung bzw.
Vermehrung des individuellen Kapitalstocks in Aussicht gestellt. Als verkaufsfördernde
Maßnahme wird das Produkt schließlich mit einem Label versehen, das den Zusatznutzen
„Lernen macht auch Spaß“ verkündet. Im Wachstumsmarkt „Bildung“ wird das immaterielle
Konsumgut Bildung - unterstützt durch die Praxis des zeitgenössischen Wissenstransfers (etwa
e-Learning) – zu einem Massenprodukt. Dies wertet das Produkt grundsätzlich nicht ab, denn
im Gegensatz zum Wirtschaftswachstum kann es nie „genug Bildung“ geben (weder aus
individueller noch gesamtgesellschaftlicher / globaler Sicht) und im Gegensatz zum
Wachstumsziel darf Bildung für sich den Selbstzweck reklamieren. Besorgniserregend ist dabei
nur der tendenzielle Verlust an Vielfalt. In diesem Zusammenhang wird auch „von einer
globalisierten Superstar-Ökonomie, in der Bildungshungrige weltweit dieselben Ideenburgers
konsumieren“, gewarnt (Lauder, Hughes, Cook, in Lassnigg, 2003).
Eine künftige LLL-Welt im Wachstumsmarkt Bildung könnte aber nicht nur durch
systemimmanente Mechanismen zur Monopolisierung von Bildungsinhalten an Attraktivität
verlieren: Der Appell an die individuelle Selbstverantwortung und der Aufruf zur
Selbststeuerung, der dem zeitgenössischen LLL-Prinzip zugrunde liegt, könnte angesichts der
24 Im Jahr 2003 haben sich rund 24% der österreichischen erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter zwischen 25 und 64 Jahren innerhalb der vergangenen 12 Monate vor der Befragung an irgendeiner Form der beruflichen Weiterbildung beteiligt (vgl. OECD, 2005a)
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 28
aktuellen Lebensrealität vieler BürgerInnen Schiffbruch erleiden und ohne flankierende
Maßnahmen für die Betroffenen sogar eine Art „lifelong inequaliy“ festschreiben (vgl. Forneck,
2001). Aber auch geübte, zur Selbststeuerung fähige BildungskonsumentInnen betrachten das
sich abzeichnende Phänomen der „Bildungsinflation“ mitunter mit Besorgnis: Es bedarf immer
mehr an Ausbildung für gleiche Positionen, Tätigkeiten und Einkommen. Es werden
Verdrängungsprozesse bei Bildungsabschlüssen in Gang gesetzt und die Bedeutung von
formaler Bildung reduziert sich mehr und mehr auf eine Selektionsfunktion am Arbeitsmarkt.
Hier wird offensichtlich, dass Bildungspolitik, die Wirtschafts- und Sozialpolitik nur unterstützen,
aber nicht ersetzen kann, wenn gesamtgesellschaftliche Stabilität auch in Zukunft ein Ziel
bleiben soll. Rifkin weist bereits 1995 das klassische „Employability-Argument“ in die
Schranken: Mit Verweis auf jene 35% der HochschulabsolventInnen, die in niedrigqualifizierten
Jobs arbeiten würden, kommt er zum Schluss: Höherqualifizierung ist in einem globalen Umfeld
des verschärften (Lohn-) Wettbewerbs zwar immer noch ein persönlicher Mehrwert, aber längst
keine Vollbeschäftigungsgarantie mehr (vgl. Rifkin 1995).
Auch die zum Teil bei BildungsexpertInnen zu beobachtende Visionslosigkeit gibt einen
gewissen Anlass zur Sorge: Im Dezember 2006 wurde im Rahmen der Abschlusskonferenz der
österreichischen Veranstaltungsreihe zum Thema EU-Bildung 2010 die Sicht von
BildungsexpertInnen zum Thema „Gesellschaftliche Relevanz von Bildungserträgen“
präsentiert. Das Ergebnis war insofern ernüchternd, als die de facto-ArchtiktInnen der künftigen
LLL-Strategie den gesellschaftlichen Nutzen von Bildung offenbar primär in der Employability
und technischen Innovationskraft sehen. So wurden in der Erhebung die Kategorien „soziale
und kulturelle Mobilität, „Lebensstile verändern“, „Wertewandel“ von den ExpertInnen unter den
Schlusslichtern gereiht (Schlögl, 2006).
Trotz des subtilen Unbehagens, das sich mitunter bei der Reflexion über das klassische LLL-
Plädoyer einstellt, besteht kein Anlass zu Fatalismus oder gar Bildungsabstinenz. Entscheidend
ist, dass BildungskonsumentInnen kritische KonsumentInnen sind und das Bildungssystem
Institutionen vorsieht, die über Lehrpersonal verfügen, das zum Lernen und Weiterlernen (auch
des Lernens und der bloßen Horizonterweiterung willen) anregt. In diesem Zusammenhang sei
erwähnt, dass der Soziologe André Gorz im Humankapital den wichtigsten Akteur für
gesellschaftlichen Wandel und in der Forcierung der Wissensgesellschaft bereits die
„Einleitung eines unaufhaltsamer Prozess zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung“ erkennt.
Der „kognitive Kapitalismus“ würde, so der Kapitalismuskritiker Gorz, „die Krise des
Kapitalismus schlechthin“ bedeuten und somit das Ende der Wachstumsgesellschaft einleiten.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 29
„Nicht mehr vom Gleichen“ Trotz massiver Public Relation ist klar: Die klassische Botschaft des Plädoyers für LLL ist
tendenziell unbefriedigend. Sie muss adaptiert und erneuert werden, ebenso wie die
traditionellen Strukturen des Bildungssystems. Neben der strukturellen ist hierfür v.a. aber auch
eine substanzielle Erneuerung, sprich inhaltliche Neuausrichtung des Bildungssystems,
erforderlich:
Neben den diversen nationalen Positionspapieren und internationalem Agenda Setting sollten
bei der Konzeption der künftigen LLL-Strategie für Österreich auch folgende Überlegungen in
Betracht gezogen werden:
Um unsere Gesellschaft für die vielschichtigen Zukunftsfragen zu interessieren und sie zur
aktiven Teilnahme an Lösungen zu motivieren, bedarf es einer bildungspolitischen Offensive,
die das Inseldasein der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BINE) in vereinzelten „stillen
Projekten“ beendet und dafür Sorge trägt, dass BINE in unser gesamtes Bildungssystem
(formeller und informeller Bildungsbereich) integriert wird. So betont auch der europäische Rat
in seiner im Juni 2006 angenommenen „Erneuerten EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung“:
Erfolge bei der Umkehr nicht nachhaltiger Trends werden in hohem Maße von einer
hochwertigen Bildung für nachhaltige Entwicklung auf allen Ebenen des Bildungssystems
abhängen... (Rat der Europäischen Union, 2006).
7. LLL: Plädoyer für ein erweitertes Begriffsverständnis
Das Nachhaltigkeitsverständnis der Lissabonstrategie Der Bildungsbegriff einer Wissensgesellschaft im Verständnis der Lissabonstrategie nimmt zwar
auf die Kategorie „Nachhaltigkeit“ Bezug, reflektiert aber insgesamt ein
Nachhaltigkeitsverständnis im engeren (ökonomischen) Sinn: Nachhaltigkeit wird primär als
Dauerhaftigkeit begriffen. Letztere beschränkt sich zumeist wiederum einschlägig auf die
Kategorien „Wirtschaftswachstum“ und „Finanzierbarkeit“ (etwa im Zusammenhang mit der
Gewährleistung der sozialen Sicherheit). Zwar finden sich in der von der Lissabonstrategie
favorisierten Wissensgesellschaft auch Ziele, die direkt oder indirekt auch der sozialen und
ökologischen Dimension der europäischen Nachhaltigkeitsstrategie zuzuordnen sind, so etwa
die Förderung des demokratiepolitischen Bewusstseins der Gesellschaft. In den konkret
abgeleiteten Handlungsoptionen bleibt dieses Nachhaltigkeitsverständnis von Bildung jedoch
unscharf bzw. ein ökonomischer Reduktionismus: Obwohl die EK 2001 in ihrer Mitteilung „Einen
europäischen Raum für Lebenslanges Lernen schaffen“ hervorhebt, dass LLL nicht nur
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 30
Voraussetzung für Beschäftigungsfähigkeit, sondern auch für die aktive Beteiligung am
gesellschaftlichen Leben ist, orientieren sich ihre konkreten Umsetzungsforderungen primär an
der Beschäftigungsfähigkeit. Emanzipatorische Bildungsideen, allgemeine und politische
Erwachsenenbildung werden kaum beachtet (vgl.Europäische Kommission, 2001). Auch der
Versuch eines Rankings unter den Mitgliedsländern (die Methode des Benchmarking dürfte bei
Nachhaltigkeitsmessungen gelegentlich auf ihre Grenzen stoßen) und die dafür verwendeten
Indikatoren lassen den Erklärungswert der untersuchten Kategorie als mitunter fraglich
erscheinen. So wird beispielsweise in einem Ländervergleich „ Active Citizenship in Education
Policies“ anhand von Formalkriterien des Staatsbürgerschaftskunde-Unterrichts gemessen. Für
Vergleiche werden z.B. der jeweils gegebene früheste Bildungslevel (primär, sekundär, tertiär)
für den Unterricht oder aber eine allfällig notwendige Zusatzqualifikation des Lehrenden
herangezogen (vgl. Eurydice, Juni 2006).
Schließlich gilt zu bedenken: Die europäischen LLL-Stategie, ein wesentliches Element der
Lissabonstrategie, repräsentiert nicht mehr und nicht weniger als ein Rahmenkonzept, das den
EU-Mitgliedsstaaten höchstens Zielkategorien, aber keine strategische und inhaltliche
Ausrichtung vorgibt. Ein nationales Konzept muss zum einen länderspezifische Problemlagen
berücksichtigen und zum anderen das europäische Setting mit konkreten Inhalten füllen. Das
Sammeln und Aufbereiten von internationalen Strategiepapieren kann hierfür höchstens als
erster Schritt dienen. Angesichts des nach wie vor unscharfen Nachhaltigkeitsbegriffs muss
schließlich gefragt werden:
Was darf man sich unter „Nachhaltigkeit“ im Bereich Bildung und Schule vorstellen? Die Pädagogik verweist hier auf zwei unterschiedliche Bedeutungen: Die Bildungstheorie zielt
auf die Vermittlung von nachhaltigem Wissen und die Entwicklung entsprechender
Kompetenzen ab. Die Lerntheorie hingegen befasst sich mit der methodischen Frage, wie
Lernziele erreicht werden können, die durch die Vermittlung von Nachhaltigkeitsinhalten die
persönliche Entfaltung unterstützen (vgl. Pädagogische Rundschau, 2004). Die UNECE-
Strategie über die Bildung für nachhaltige Entwicklung trägt diesen pädagogischen Aspekten
Rechnung. Sie betont die Stärkung der Zivilgesellschaft sowie die Notwendigkeit einer
interdisziplinären Ausrichtung des Bildungssystems und setzt auf einen visionären, erweiterten
Bildungsbegriff:
Bildung ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern ebenso Voraussetzung für das Erreichen
einer nachhaltigen Entwicklung, sowie ein wichtiges Instrument für gute Staatsführung,
informierte Entscheidungsfindung und zur Förderung der Demokratie... Sie kann Einstellungen
und fixe Meinungen von Menschen ändern, somit unsere Welt sicherer, gesünder und
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 31
wohlhabender machen und dadurch die Lebensqualität verbessern. Bildung für nachhaltige
Entwicklung kann zu kritischer Betrachtung, stärkerem Bewusstsein und neuer Kraft führen,
wodurch neue Visionen und Konzepte entstehen und neue Methoden und Instrumente
entwickelt werden können.25
BINE und LLL BINE widmet sich grundsätzlich der Zukunftsfähigkeit von Mensch und Natur, indem sie sich mit
den Wechselwirkungen zwischen Umwelt-, Wirtschafts- und sozialen Belangen befasst. Sie
behandelt z.B. Themen wie Armutslinderung, Demokratie, Wirtschaft, Produktions- und
Konsumverhalten, Umgang mit natürlichen Ressourcen und Unternehmensverantwortung. Ziel
der UNECE-Strategie ist es, BINE in allen formellen Bildungssystemen in alle einschlägigen
Unterrichtsgegenstände sowie in nicht formelle und informelle Bildung, d.h. also auch in die
Erwachsenenbildung einzugliedern. Ein zentraler Stellenwert kommt daher der Ausbildung für
Lehrende und der laufenden Weiterbildung von ExpertInnen und EntscheidungsträgerInnen
zu.26
Formal ist zwar die Politik für die Schaffung von nachhaltigen Rahmenbedingungen für
Wirtschaft und Gesellschaft zuständig. Sie wird aber solange an dieser Aufgabe bzw. an der
realen „Machtlosigkeit“ des Staates scheitern, solange es keine ausreichende Unterstützung für
die jeweiligen Entscheidungen seitens der BürgerInnen bzw. einflussreicher
Interessenvertretungen (insbesondere auch der Sozialpartner) gibt. Das Dilemma der
politischen Entscheidungsfindung ist also weniger der Mangel an notwendigen Einsichten für
kompetente Entscheidungen, sondern vielmehr das kurzfristige (WählerInnen-) Mandat, das
das Denken in Langfristperspektiven häufig einschränkt bzw. ggf. sanktioniert. Eine
Hebelwirkung kann hier durch eine umfassende Bildungsoffensive erzielt werden,
vorausgesetzt, diese ist mit einer Selbstverpflichtung zur Integration der BINE verknüpft: Erst
wenn BINE im Rahmen einer kohärente LLL-Strategie in allen Ebenen des Bildungssystems
präsent ist, kann die nötige „kritische Masse“ erzeugt bzw. jene kritische Öffentlichkeit
entwickelt werden, die für die Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung erforderlich ist.
Entsprechende Impulse von der europäischen Ebene fallen zur Zeit noch bescheiden aus, sind
aber zumindest erkennbar. So lautet etwa eine Empfehlung im jüngsten Ratsdokument dazu:
Im Rahmen der Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (2005-2014) können die 25 Ausschnitt aus der UNECE-Strategie über die Bildung für nachhaltige Entwicklung, verabschiedet im Rahmen der hochrangigen Tagung der Umwelt- und Bildungsministerien in Vilnius im März 2005. (Die UNECE-Region umfasst Länder mit großer kultureller Vielfalt und unterschiedlichen sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen.) 26 Siehe dazu die Broschüre des Lebensministeriums „Mit Bildung unsere Zukunft nachhaltig mitgestalten“.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 32
Mitgliedstaaten ihre nationalen Aktionspläne weiterentwickeln und sollten dabei insbesondere
das Arbeitsprogramm „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ nutzen...Sie sollten ferner die
2005 in Vilnius angenommene UNECE-Strategie über die Bildung für nachhaltige Entwicklung
umsetzen. Bildung für nachhaltige Entwicklung sollte auch auf EU-Ebene gefördert werden. Das
Europäische Parlament und der Rat werden 2006 ein integriertes Aktionsprogramm im Bereich
LLL für 2007-2010 annehmen (vgl. Rat der Europäischen Union, 2006).
BINE als fixer Bestanteil von LLL ist also auf europäischer Ebene – zumindest im Agenda
Setting - bereits mit einem Zeitplan versehen. Trotzdem ist unmissverständlich, dass der Ball
bei den Mitgliedsstaaten liegt, d.h. dass sie die konkrete Zusammenführung der beiden
Strategien selbst leisten müssen. Die damit verbundene Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit
für Wirtschaft und Gesellschaft sollte auf folgender Grundeinstellung basieren:
BINE ist keine Gegenstrategie und kein Komplement zum entsprechenden Mainstream-LLL-
Konzept (letzteres existiert in der öffentlichen Wahrnehmung tendenziell nur als Slogan),
sondern vielmehr dessen inhaltliche Aufladung. Harte empirische Fakten und daraus
abgeleitete ökonomische Prämissen (z.B. betreffend die wirtschaftliche Notwendigkeit der
Mobilisierung aller Humanressourcen) werden keinesfalls ignoriert, sie werden bei der
Miteinbeziehung des Ziels „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ nur insofern relativiert, als sie
als Teilaspekte in einem für die Zukunftsfähigkeit von Mensch und Natur relevanten
Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Diese Teilaspekte werden folglich ihres absoluten
Erklärungsanspruchs beraubt, die Kommunikation von „ökonomischen Reduktionismen“ wird im
erweiterten Begriffsverständnis unzulässig. Die Botschaft verliert damit das Wesen eines
Diktums und wirkt vergleichsweise einladender und spannender auf die AdressatInnen.
BINE bricht insofern mit traditionellen Bildungsstrukturen, als die vormalige ausschließliche
Wissensübermittlung einer Förderung teilnehmenden Lernens („soziales Lernen“) weicht.
Lernende aller Leistungsstufen sollen zu systematischen, kritischen und kreativen Denk- und
Betrachtungsweisen in regionalen wie auch globalen Zusammenhängen ermutigt werden.
Dabei werden Werthaltungen wie Respekt und Verständnis für andere Kulturen und die
Wertschätzung traditionellen Wissens gefördert. Wenn und wo immer möglich, arbeiten
Lehrende und Lernende im Team und setzen sich mitunter in praxisbezogenen Situationen –
häufig multi- und interdisziplinär - gemeinsam mit Problemen und möglichen Lösungen
auseinander. Formelle BINE wird folglich um Erfahrungen aus dem Leben und der Arbeit
außerhalb des Klassenzimmers durchdrungen. Voraussetzung hierfür ist die Kooperation mit
den verschiedensten gesellschaftlichen und politischen AkteurInnen (vgl. UNECE, 2005).
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 33
Hans Peter Dürr skizziert in seinem Buch „Für eine zivile Gesellschaft“ bereits im Jahr 2000
eine der UNECE-Strategie vergleichbare Vision und leistet damit auch einen lerntheoretischen
Beitrag zur BINE: Insgesamt gehe es um eine Erziehung zu einer offenen, aufmerksamen,
umsichtigen, flexiblen, kreativen, einfühlenden und liebenden Lebenseinstellung. Lehrende
sowie Lernende aus allen Teilen der Gesellschaft werden aufgefordert zu lernen,
Verantwortung für zukünftige Generationen zu übernehmen, in dem sie sich intensiv mit den
langfristigen Folgen der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung befassen und den
vermeintlichen Bedürfnissen von KonsumentInnen, alternative Lebenswünsche und
Entfaltungsmöglichkeiten gegenüberstellen. Es geht dabei generell um die Entwicklung von
ökologisch nachhaltigen, sozial verträglichen und im vollen Sinne lebenswerten Lebensstilen
sowie die Suche nach entsprechenden Umsetzungsmöglichkeiten. Wenig überraschend stellt
der Physiker und Träger des alternativen Nobelpreises die Fragen einer zukünftigen
Energiepolitik einschließlich der Forderung nach einer Neudiskussion der Atomkernenergie-
Nutzung ins Zentrum: Jene Spielräume, die spätere Generationen benötigen, um die für ihr
Überleben notwendigen Entscheidungen nicht weniger günstig als heute treffen zu können,
dürften nicht zerstört werden. Die nicht fehlertolerante Technik der Kernenergie sei aber
aufgrund unzumutbar hohen und irreversiblen Schadensfolgen dem kreativen und deshalb
immer fehlbaren Menschen nicht angemessen. Dürr vermisst hier den die BINE bezeichnenden
erfolgreichen Lernprozess, den lebenslangen „Trial and Error-Prozess“: Analog zur Natur würde
sich dieser dadurch auszeichnen, dass „viel probiert aber letztlich dann auch aufgegeben wird,
was sich unter den geforderten Bedingungen nicht bewährt hat“ (vgl. Dürr, 2002).
Wie kann die geplante LLL-Strategie mit Leben erfüllt werden? BINE repräsentiert eine Revolution des Bildungssystem, sowohl in inhaltlicher als auch in
struktureller Hinsicht. Bei der abschließenden Ergebnispräsentation des europäischen Dialog-
Prozesses zur BINE im Rahmen der österreichischen EU-Präsidentschaft 2006 wurde die (erst
in Ansätzen vorhandene) österreichische Strategie der BINE allerdings wie folgt beurteilt:
In comparison to environmental education, ESD is perceived primarily as the reformulation and
dissemination of content and hardly ever as the rethinking of education itself (ConferenceReport
of the Austrian Presidency, 2006).
Das Konferenzergebnis bescheinigt uns in Sachen BINE also ein Wahrnehmungsproblem.
Konkret wird kritisiert, dass die BINE in Österreich mehrheitlich noch immer als Umweltbildung
(ergänzt um soziale Aspekte) begriffen wird. Zudem würden die für die Umsetzung der BINE
verantwortlichen AkteurInnen in einem starken sektoral und institutionell determinierten
Bildungssystem für sich kaum Handlungsspielräume erkennen. Schließlich würden viele die
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 34
Teilnahme in einer Bildungsinitiative für nachhaltige Entwicklung bloß als willkommene
Gelegenheit wahrnehmen, um ihre sektoralen Initiativen zu legitimieren und nicht als Chance
für ein gemeinsames Unternehmen mit anderen Akteurinnen sehen.
Um die LLL-Strategie attraktiv zu gestalten, bedarf es der Integration einer BINE im Verständnis
der UNICE-Strategie: Neben der Etablierung zeitgemäßer Bildungsstrukturen (innovative
Pädagogik, breiter Zugang, LernerInnenzentriertheit und Ergebnisorientierung) muss einen
inhaltliche Strukturbereinigung („Entstaubung überfrachteter Curricula“) erfolgen und schließlich
die konsequente Integration von Nachhaltigkeitsinhalten- im umfassenden Sinn - in allen
Ebenen unseres Bildungssystems forciert werden. Voraussetzung hierfür ist die Gewährleistung
der sektoren- und institutionenübergreifenden Zusammenarbeit der zentralen AkteurInnen. Da
Werte, Lebensstil und Eigenschaften schon in frühem Alter geprägt werden, sollte BINE
altersgerecht bereits im Kindergarten und in der Grundschule verankert sein. Neben einer
flächendeckenden Umstellung auf innovative Pädagogik, die zum Lernen und zur
Selbststeuerung anregt, sollten sämtliche Bildungsinhalte der Curricula im primären,
sekundären und tertiären Bildungssektor einem konsequenten „Nachhaltigkeitsscreening“
unterzogen werden. Überall dort, wo sich Inhalte und assoziierte Themen der europäischen /
österreichischen Nachhaltigkeitsstrategie eignen, sollte im Zuge einer systematischen
Überarbeitung und Neuaufbereitung der Lehrpläne die BINE Platz greifen. Diese Integration von
Nachhaltigkeitsthemen ist aber v.a. auch in der allgemeinen und beruflichen
Erwachsenenbildung von Bedeutung:
Die Nachfrageorientierung der Erwachsenenbildung-AnbieterInnen und die tendenziell nur bei
jüngeren / gebildeten Erwachsenen gegebene Sensibilisierung für Nachhaltigkeitsinhalte spricht
für eine strategische Vorgehensweise bzw. „BINE-Intervention“ am Weiterbildungsmarkt.
Beispielsweise könnte seitens der nationalen Bildungspolitik im Rahmen der
Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung unter BildungsanbieterInnen ein
Qualitätswettbewerb bezüglich der Realisierung des Bildungsziels „Integration der BINE“ forciert
werden. Die Zielerreichung könnte von einer Fachjurie z. B. im Hinblick auf Verfügbarkeit und
Qualität von Weiterbildungsangeboten in den Bereichen „nachhaltiges Wirtschaften“,
„nachhaltiges Sozialmanagement“ etc. bewertet werden. Schließlich könnten auch Kriterien wie
„innovative Pädagogik“ und „Lerntransferorientierung der Bildungsinhalte“ einbezogen werden.
Dem jährlichen Best-Performer (es sollte keine punktuelle Einmal-Veranstaltung sein) könnte
ein „BINE-Award“ verliehen werden. In weiterer Folge wäre auch eine BINE-Zertifizierung
denkbar.
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 35
Schließlich müssen v.a. im Schulbereich Möglichkeiten geschaffen werden, um die BINE durch
„learning by doinig“ zu leben. Hier bieten sich beispielsweise der im Rahmen des europäischen
Mobilitätsprogramms „Jugend in Aktion“ (2007-2014) angebotene Jugendaustausch und
Freiwilligendienst innerhalb und außerhalb der EU (Teilnahme bei Entwicklungsprojekten) an.
Um LLL wirkungsvoll mit dem Prädikat „lebenswert“ zu versehen, gilt es auch ein im positiven
Sinne verändertes Selbstverständnis zu transportieren: Das Plädoyer für LLL sollte künftig jede
und jeden unmittelbar an den Auftrag zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung denken
lassen. Schließlich lassen sich Motivation und Begeisterung für die Lifelong Learning-Strategie
zuallererst durch Sinnstiftung und weniger durch Bedrohung erzeugen. Durch die inhaltliche
und somit substanzielle Aufwertung der Strategie verliert der demografische Wandel den
zentralen Stellenwert des per se Problematischen:
Das Damoklesschwert und seine suggerierte Aura des Bedrohlichen schwinden, weil die
Aufmerksamkeiten in Sachen „Gefährdung der gesellschaftlichen Wohlfahrt“ sich nicht mehr
fatalistisch auf den Faktor „demografischer Wandel“ konzentrieren, sondern zahlreiche,
existenziell bedeutendere, vitale und dafür aber aktiv beeinflussbare Entwicklungen ins Blickfeld
rücken. Individuen folgen dem Appell zum LLL, weil sie sich damit für Lebensqualität und
gesellschaftliche Weiterentwicklung entscheiden und nicht primär deshalb, weil sie damit auf ein
von WirtschaftsforscherInnen gezeichnetes Bedrohungsszenario reagieren. LLL für eine
nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft gründet somit nicht auf Ängsten, sondern auf dem
Bedürfnis, sich in einer sich laufend verändernden Welt zu orientieren und auf dem Wunsch,
diese nachhaltig zu gestalten. Die Fähigkeit zum kontinuierlichen Erkenntnisgewinn und zur
autonomen Meinungsbildung sind in diesem Zusammenhang mindestens genauso wichtig, wie
das Schritthalten mit dem technologischen Fortschritt. Schließlich soll die Technik den
Menschen dienen und nicht umgekehrt. Eine umfassende LLL-Strategie zielt nicht nur auf die
Erhaltung der Standortqualität ab, sondern dient v.a. auch der (Weiter-) Entwicklung einer
zivilen Gesellschaft. Ihre Ziele reichen über jene der Lissabonstrategie hinaus: Der Stellenwert
von sozialen Innovationen ist jenem von technischen Innovationen ebenbürtig. So darf im
Rahmen dieser umfassenden Strategie auch z.B. das konventionelle LLL-Ziel „Erhalt der
Beschäftigungsfähigkeit“ jenseits der Kategorie „Erwerbsarbeit“ gedacht werden.
8. Fazit
Kann LLL tatsächlich die ungelösten Zukunftsfragen des demografischen und Strukturwandels
lösen? - Die Antwort auf diese eingangs gestellte Frage kann nur lauten:
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 36
Es hängt von der Qualität der LLL-Stategie ab: Wenn diese...
• kohärent und ausreichend konkret ausgestaltet ist (Zielsetzungen einschließlich
Zeithorizont, Akteure und Verantwortlichkeiten, Operationalisierung und
Zielerreichungskriterien einschließlich Finanzierung)
• ihre Reformen an erfolgreichen Lernprozessen ausrichtet
• sich an alle richtet (das Europäische Jahr der Chancengleichheit 2007 bietet sich hier
als idealer Auftakt für einen Aufbruch an)
• Bildung nicht primär dem ökonomischen Verwertungsgedanken unterwirft
• eine umfassende Integration der BINE vorsieht
…dann können Fragen neu gestellt werden, mitunter zu anderen Problemsichtweisen und -
damit verbunden – zu neuen Lösungsansätzen führen!
Gerhild Schutti, Projekt LLL und seine missing links 37
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