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Leseprobe von Psychologie Heute 12/2011

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Page 1: Psychologie Heute 12/2011 Leseprobe
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PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

Schon wieder hat die Kollegin auf der Team-sitzung an meinen Vorschlägen herumgemä-kelt, und an der Supermarkttheke hat michdie Verkäuferin hartnäckig ignoriert: Nichtsschmerzt uns so sehr wie herabsetzende Kritik und Missachtung. Das ist verständlich,aber oft nicht angemessen. Wir können nichtvon allen gemocht und gewürdigt werden.Wie schaffen wir es, uns eine dickere Hautanzulegen und nicht alles persönlich zu nehmen?

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4 In diesem Heft

Psychologie & Film

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20!

28!

30!

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In diesem Heft 5

Wir müssen nun bald bis 67 arbeiten. Dass dies in der Bevöl-kerung wenig Anklang findet, hängt wohl auch mit der man-gelnden Wertschätzung älterer Kräfte in vielen Betrieben zu-sammen: zu unflexibel, zu teuer! Doch allmählich setzt einUmdenken ein. Die Psychologin Ursula Staudinger sagt „denAlten“ ungeahnte Chancen in einer sich wandelnden Arbeits-und Lebenswelt voraus.

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Eine archaische Praxis der Säuglingspflege kommt wieder inMode: das stramme Wickeln, neudeutsch „Pucken“. Hebam-men empfehlen es, weil der feste Halt das Baby beruhigeund besser schlafen lasse. In der Praxis allerdings finden sichkaum Belege für positive Wirkungen des Wickelns. NegativeFolgen der massiven Bewegungseinschränkung wurden hin-gegen überzeugend nachgewiesen.

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8Themen &Trends! Spendenbereitschaft: Wer viel hat, gibt viel

! Umwelt: Warum wir nicht vom Auto lassen

! Willenskraft: Entscheidungsstark am Morgen

! Vergeltung: Dem Täter eine Lektion erteilen

Und weitere Themen

52Gesundheit & Psyche! Waldbaden: Warum Natur heilsam ist

! Patienten: Wie sag ich’s meinem Doktor?

! Körper: Sport beugt Panikattacken vor

! Sex im Alter: Mit (ganz) wenig zufrieden

Und weitere Themen

82Buch & Kritik! Trauma: Die Hilflosigkeit annehmen

! Individualisierung: Masse-Hopping statt Einmaligkeitsgestrampel

! Nörgeln: Warum die Deutschen so viel jammern

! Sterben: Können wir uns darauf vorbereiten?

Und weitere Bücher

Rubriken6 Briefe8 Themen & Trends

52 Gesundheit & Psyche82 Buch & Kritik93 Im nächsten Heft94 Impressum95 Markt

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PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

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Themen &Trends

Im Jahr 2009 haben rund 40 Prozent der Deut-schen Geld gespendet. Die durchschnittlicheSpendenhöhe lag bei etwa 200 Euro im Jahr;Frauen waren etwas spendenfreudiger als Män-ner. Zu diesem Ergebnis kamen die Sozialwis-senschaftler Eckhard Priller und Jürgen Schupp,als sie Daten des Sozio-oekonomischen Panels(SOEP) auswerteten. Weiterhin ergab ihre Stu-die: Mit zunehmendem Alter wächst die Spen-denbereitschaft. In der Altersgruppe der 18- bis34-Jährigen spendet jeder vierte, bei den über65-Jährigen mehr als jeder zweite Deutsche. EinGrund für die hohe Spendenbereitschaft älte-rer Menschen könnte sein, dass viele von ih-nen wirtschaftlich abgesichert sind und Ver-mögen angesammelt haben.

Wer viel hat, gibt auch viel, stellten die For-scher fest. Menschen mit höherem Einkommenspenden anteilsmäßig mehr als die mit gerin-gerem Einkommen. Mehr als ein Drittel des ge-samten Spendenvolumens wird von denen auf-gebracht, die zu den obersten zehn Prozent derEinkommensbezieher gehören. Daneben be-einflussen Bildung und beruflicher Status dieSpendenbereitschaft. Außerdem fanden dieWissenschaftler einen Zusammenhang zwi-schen positiven Emotionen und der Bereit-schaft, Geld zu spenden.Wer in den letzten Wo-chen glücklich war, spendet mehr als diejeni-gen, die nicht so glücklich waren.

Doch auch Wertvorstellungen spielen eineRolle. Dies geht aus einer weiteren Studie von

Priller und der Sozialwissenschaftlerin JanaSommerfeld hervor. Menschen, die sich einerReligionsgemeinschaft eng verbunden fühlen,sich stark für Politik interessieren oder ehren-amtlich engagieren, sind spendenfreudiger alsandere. Die Deutschen spenden also nicht, umfehlendes persönliches Engagement zu kom-pensieren. Vielmehr gilt: Wem Glaube, Politikoder Gemeinwohl wichtig sind, der ist auch finanziell großzügiger. Hinzu kommen be-trächtliche regionale Unterschiede. Es gibt so-wohl ein West-Ost- als auch ein Süd-Nord-Ge-fälle: In den alten Bundesländern spenden mehrMenschen als in den neuen, in Bayern mehr alsin Bremen.

Möglicherweise sind aber auch die Gene da-für mitverantwortlich, ob man anderen gernetwas Gutes tut. Dies legen Ergebnisse einerStudie nahe, die Wissenschaftler der Universi-tät Bonn durchgeführt haben. Eine winzige Än-derung in einer bestimmten Erbanlage gehtdemnach mit einer höheren Spendenbereit-schaft einher.Verantwortlich dafür soll das GenCOMT-Val sein, das fast jeder zweite Menschin sich trägt.

Forscher um den Psychologen Martin Reu-ter führten bei mehr als 100 Studenten einenGentest durch und luden sie anschließend zueinem Gedächtnistest ein. Die Studienteilneh-mer sollten sich Zahlenfolgen einprägen undnachher möglichst korrekt wiedergeben. Da-für bekamen sie fünf Euro, die sie mit nach

Spendenbereitschaft:Wer viel hat, gibt auch vielViele Deutsche spenden Geld für soziale Zwecke – vor allem in derWeihnachtszeit. Was sind ihre Motive?

REDAKTION: URSULA NUBER

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Hause nehmen oder von denen sie einen be-liebigen Teil für einen wohltätigen Zweck spen-den konnten. Studenten mit dem „Altruismus-gen“ spendeten im Schnitt doppelt so viel wieihre Kommilitonen. Dies könnte daran liegen,dass der Botenstoff Dopamin in ihrem Gehirnviermal so schnell abgebaut wird wie bei ihrenKollegen. Dopamin soll das Sozialverhaltensteuern. Die Gesellschaft für Genetik bezwei-felt allerdings, dass eine Genvariante ausreicht,um menschliches Verhalten zu erklären.

Ob jemand spendet, könnte aber auch vonseiner Lebensgeschichte abhängen. Daraus er-geben sich meist mehrere Motive, meint die

Pädagogin Clara West. Sie befragte 30 Spen-der in qualitativen Interviews und ordnetesie verschiedenen Motivtypen zu: EinigeSpender sehen sich eher in der Rolle des„Mäzens“. Spenden ist für sie selbstver-ständlich, wenn man es sich leistenkann. Andere betrachten ihre Spendeals Investition in die Zukunft und alsein Mittel politischer Einflussnahme.Sie unterstützen gezielt bestimmtePersonen oder Gruppen und sind

meist auch ehrenamtlich aktiv. Wieder anderespenden „aus dem Bauch heraus“, wenn sie zumBeispiel mit Schreckensbildern konfrontiertwerden. Bei ihnen beeinflussen aktuelle per-sönliche Ereignisse in starkem Maße die Spen-denbereitschaft. Manche sind überzeugt, mitihrer Spende viel bewirken zu können. Ande-re sind skeptischer und spenden aufgrundschlechter Erfahrungen nur hin und wieder.Welchem Typus sich ein Spender zuordnenlässt, kann sich laut West im Laufe des Lebensdurchaus ändern.

Eins scheint jedoch alle Spender zu verbin-den: Nicht nur andere profitieren von ihrer fi-nanziellen Großzügigkeit, sondern auch sieselbst. „Etwas Gutes zu tun steigert einfach dasSelbstwertgefühl“, so der SozialwissenschaftlerEckhard Priller. „Deswegen spenden viele.“

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Eckhard Priller, Jürgen Schupp: Soziale und ökonomische Merk-male von Geld- und Blutspenden in Deutschland. Wochenberichtdes DIW, 29, 2011, 3–10

Eckhard Priller, Rupert Graf Strachwitz: Gutes tun. Neue Er-kenntnisse zum Thema Spenden. WZB-Mitteilungen des Wis-senschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Dezember 2009,41–43

Unterschiedliche Spendenbereitschaft:In den alten Bundesländern spendenmehr Menschen als in den neuen, inBayern mehr als in Bremen

Themen & Trends 9

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20 Titel

PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

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Der Nachbar hat vorhin nicht besonders freundlich gegrüßt – washat der gegen mich?

Georg hat schon seit drei Tagen nicht auf meine Mail geantwor-tet. Meine Einladung zur Party nächsten Samstag ist für ihn wohlnicht so wichtig.

Warum muss Kollegin Müller immer besonders lange herum-mäkeln, wenn ich einen Vorschlag mache? Was habe ich der eigent-lich getan?

Der gnädige Herr guckt stur weiter in den Fernseher, wenn ichihm erzählen will, was mir vorhin passiert ist. Ich bin ihm wohlgleichgültig!

Diese Verkäuferin ignoriert mich jetzt schon ziemlich lange.Wennsie mich nicht gleich bedient, werde ich mich beschweren.

Immer wieder passiert uns das im Alltag: Wir werden geschnit-ten, kritisiert, ausgegrenzt, nicht beachtet. Jemand ist unhöflich,undankbar, gleichgültig oder sogar aggressiv. Und jedes Mal gibt

es uns einen Stich ins Herz.Wir nehmen es persönlich! Das schmerztbesonders, wenn Zurückweisung oder Gleichgültigkeit von Men-schen kommt, mit denen wir uns verbunden fühlen, von Freunden,Kollegen oder Partnern.

Schon als Kinder reagieren wir hochempfindlich auf die leisestenAnzeichen von Zurückweisung oder Ausgrenzung. Für das Selbst-wertgefühl eines Kindes ist es geradezu eine Katastrophe, wenn eserfährt: „Jana hat alle anderen Mädchen zu ihrem Geburtstag ein-geladen, nur mich nicht!“

Titel 21

Wenn uns jemand mürrisch oder abweisend begegnet, uns absichtlichignoriert oder unnötig scharf kritisiert, lässt uns das selten kalt. Wir nehmenablehnendes Verhalten fast immer persönlich, selbst wenn wir wissen, dass es gar nichts mit uns zu tun hat

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30 Diagnostik

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Diagnostik 31

PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

Burnout ist ein Dauerthema, dasimmer mehr Menschen betrifft.Schlagzeilen machen vor allem

immer wieder spektakuläre Fälle, etwadie gehäuften Selbstmordfälle in fran-zösischen und chinesischen Unterneh-men oder Zusammenbrüche von Pro-minenten wie beim Skispringer SvenHannawald oder der Kommunika-tionswissenschaftlerin Miriam Meckel.Doch längst sind nicht mehr nur Leis-tungsträger und Mitarbeiter in helfen-den Berufen betroffen, auch Angestell-te, Beamte, ja selbst Arbeitslose oderpflegende Angehörige berichten zuneh-mend von dem Gefühl, ausgebrannt zusein und den Alltag nicht mehr bewäl-tigen zu können. Vermehrt klagen auchStudenten über das Gefühl des Ausge-branntseins. Mit den Veränderungen inden Studienstrukturen im Zuge des Bo-lognaprozesses hat sich auch hier dernegative Stress stark erhöht – mit all sei-nen schädlichen Auswirkungen auf diePsyche. Zwischen 1993 und 2008 stiegdie Zahl der Frühverrentungen inDeutschland aufgrund von psychischenSchieflagen um rund 40 Prozent. Jederdritte Frührentner hat seine Arbeitwegen psychischer Probleme aufgege-ben. Tendenz – auch bei den Krank-schreibungen – weiter steigend. Die Europäische Agentur für Sicherheit undGesundheitsschutz am Arbeitsplatzschätzt die Folgekosten von Stress amArbeitsplatz EU-weit auf rund 20 Milli-arden Euro pro Jahr. Da wird die Fragenach einer wirksamen Prophylaxe nichtzuletzt auch zur volkswirtschaftlichenHerausforderung.

Ein wichtiger Schritt auf dem Wegdahin ist der ehrliche Umgang mit die-ser Erkrankung. Und daran mangelt es

nach Ansicht der Ärztin und Psycholo-gin Isabella Heuser ganz offensichtlich.Die Direktorin der Klinik für Psychia-trie und Psychotherapie an der BerlinerCharité, Campus Benjamin Franklin,erforscht seit über 20 Jahren psychischeErkrankungen wie Depressionen undStress sowie altersbezogene neuropsy-chiatrische Störungen. Sie ist in zahl-reichen wissenschaftlichen Gremien aktiv und erhielt 1997 den internatio-nalen Anna-Monika-Preis für Depres-sionsforschung, 2007 den Hildegard-Hampp-Preis für Gerontopsychiatrie.Heuser ist überzeugt, dass die massen-haft ausgestellte Diagnose „Burnout“aus wissenschaftlicher Sicht nicht halt-bar ist,und plädiert dafür, sie nicht mehrzu stellen, da es Burnout als eigenstän-dige Erkrankung gar nicht gebe.Warumhinter diesen Fällen in Wirklichkeit ei-ne Depression steckt, erklärt Heuser imInterview:

PSYCHOLOGIE HEUTE Burnout gilt alsspezifische psychische Erkrankung, undviele Patienten werden mit dieser Dia-gnose krank- oder sogar arbeitsunfähiggeschrieben. Doch keines der offiziellenKrankheitsverzeichnisse, weder derICD-10 noch der DSV-IV, führt Burn-out als eigenständige Erkrankung auf.Dieser Begriff taucht etwa im ICD nurals „Zustand totaler Erschöpfung“ un-ter der Rubrik „Probleme mit Bezug aufSchwierigkeiten bei der Lebensbewälti-gung“ auf. Eine eigenständige Behand-lungsdiagnose, etwa für die Einweisungin eine Klinik, ist damit nicht verbun-den. Ist es eigentlich haltbar, von der„Krankheit Burnout“ zu sprechen?ISABELLA HEUSER Nein, streng ge-nommen nicht. Burnout ist in der Tat

keine wie auch immer geartete neue,vorher nie da gewesene Erkrankung dermodernen Zeit. Es handelt sich vielmehrum eine spezifische, meist berufsbezo-gene Form der Depression.PH Dennoch bekommen viele Patien-ten die Diagnose „Burnout“ und nicht„Depression“. Wie kommt es dazu?HEUSER Das hängt in der Regel damitzusammen, dass viele Ärzte, vor allemHausärzte, den Betroffenen eine griffi-ge Diagnose an die Hand geben möch-ten, von der die meisten meinen, sie zukennen und zu verstehen. Das dient zu-nächst einmal der Beruhigung des Pa-tienten und demonstriert ihm: Dumusst dringend etwas ändern in deinemLeben. Korrekt ist das aber nicht, denndie Diagnose heißt ausnahmslos in al-len Fällen: Depression.PH Warum steht die dann nicht auf derÜberweisung?HEUSER Weil sie in unserer Gesellschaftleider immer noch so furchtbar stig-matisiert ist, dass man sie als Patientnicht hören möchte. Auch dem sozia-len Umfeld möchte man nicht einge-stehen müssen, an einer Depression er-krankt zu sein. Die Diagnose „Burnout“dagegen ist sehr anschaulich, eingängigund letztlich ja auch tröstlich. Sie hatinzwischen eine mehr als 30-jährige Kar-riere hinter sich.Angefangen hat es Mit-te der 1970er Jahre, als ein amerikani-scher Psychoanalytiker beobachtete,dassviele Menschen durch ihre Arbeit so er-schöpft waren, dass sie depressive Sym-ptome entwickelten. Er nannte das zwarsehr einprägsam burn-out, meinte da-mit allerdings medizinisch korrekt eineForm von Depression. Er erhob nie denAnspruch, eine neue Krankheit entdecktzu haben. Der Begriff erwies sich dann,

Der Begriff Burnout ist in Medien und Öffentlichkeit fest verankert. Viele Patienten werden mit dieser Diagnose krankgeschrieben. Doch was jeder Laiegut zu kennen meint, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Depression, meint die Psychologin und Psychiaterin Isabella Heuser und fordert zu einem behutsamen Umdenken auf

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34 Kindheit

PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

Vielfach wird empfohlen, Neugeborene in den ersten Lebenswochen fest zu wickeln. Die nachgewiesenen Gefahren dieser archaischen Pflegepraxis –neudeutsch „Pucken“ – werden dabei häufig ignoriert. Wem dient eigentlich das stramme Wickeln: den Bedürfnissen des Babys oder vielleicht doch dem Wunsch der Eltern nach Ruhe?

!

Zahlreiche Hebammen und Rat-geberautoren empfehlen, Neu-geborene in den ersten Wochen

ihres Lebens mehr oder weniger fest zuwickeln.Auf natürliche Weise führe Wi-ckeln, neudeutsch „Pucken“, zur Beru-higung von schreienden Babys, verrin-gere das Risiko des plötzlichen Kinds-tods und wirke auch gegen Schlafstö-rungen.Obwohl diesen Annahmen einesolide wissenschaftliche Einbettungfehlt,werden sie längst in die Praxis um-gesetzt. Im Internet sind Tausende Fo-tos von straff gewickelten Säuglingen zufinden, zahlreiche YouTube-Videos zei-gen die Prozedur. In Großbritannienwerden fast 20 Prozent der Neugebore-nen nachts fest gewickelt, und auch inden USA und den Niederlanden ver-breitet sich diese Technik. Pucken liegtalso im Trend.

Es wirkt seltsam, dass das, was einenErwachsenen in eine höchst unange-nehme Lage bringen würde, bei Neuge-borenen positive Wirkungen entfalten

soll. Wickeln bedeutet – insbesonderewenn traditionell ausgeführt – Fesseln.Und es überrascht nicht, dass Jirina Pre-kop, die Erfinderin der höchst umstrit-tenen Festhaltetherapie, auch ganz ent-schieden das stramme Wickeln für Ba-bys propagiert. Eine ethische Diskussionzu dieser problematischen Praxis wirdweder von ihr noch von anderen Auto-ren geführt. Dass viele stramm gewi-ckelte Babys tatsächlich motorisch ru-higer werden und einschlafen, ist einebekannte Tatsache. Eine Verallgemeine-rung ist allerdings nicht zulässig, dennzahlreiche Babys wehren sich gegen dasEinwickeln und resignieren erst nachdeutlichem Widerstand. Es ist also zufragen, wie die Psychologie des Einwi-ckelns zu beurteilen ist. Was bedeutetdas stramme Wickeln für das Baby – undwas für die Eltern?

Psychologische Untersuchungen zumWickeln sind selten. Insbesondere diepsychoemotionalen Langzeitfolgen sindvollkommen unklar. Die unmittelbaren

Effekte sind dagegen empirisch leichtergreifbar: Erfasst werden verschiedenepsychophysiologische Parameter wieHerzfrequenz, Schlafdauer oder Schrei-dauer. Strammes Wickeln führt zu einermotorischen Beruhigung des Babys underhöht die Schlafmenge, wie schon eineklassische Untersuchung von Earle L.Lipton und seinen Mitarbeitern an derState University of New York aus dem Jahr1965 ergab. Eine überaus vorsichtige Ver-sion des Wickelns wird heute in der Pfle-ge von frühgeborenen Babys (very lowbirth weight infants) angewandt. Dieschwachen und wenig beweglichen Ar-me dieser Babys werden in Beugung ge-wickelt, die Hände nahe am Mund. Die-se Position erlaubt die Selbstberuhigung,etwas, was bei gewöhnlichem Wickelngerade verhindert wird. Das Wickeln vonnormal entwickelten und reifen Babysist also ein völlig anderer Vorgang.

Allerdings besteht keineswegs Klar-heit, auf welche Weise heutzutage reifeBabys gewickelt werden, denn niemand

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Kindheit 35

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40 Neuropsychoanalyse

PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

Eine neue Ära der Psychoanalyse beginnt. Diese Meinung vertritt der Neuropsychoanalytiker Mark Solms. Freuds Strukturmodell der Psyche mit den drei Instanzen „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ hält erfür nicht mehr haltbar. Bei seinem Blick in die Zukunft stützt er sich aufneue, revolutionäre Erkenntnisse der Bewusstseinsforschung

Mark Solms erscheint beseelt, nachgerade auf-geregt und begeistert. Drei Kongresstage inBerlin liegen hinter dem Neuropsychoana-

lytiker aus Kapstadt. Unter dem Titel Neuropsycho-analysis: minding the body referierten im Juni 2011hochrangige Experten aus den Feldern Neurowissen-schaften und Psychoanalyse ihre neuesten Erkenntnisseund diskutierten brandaktuelle Theorien über dasSelbst und das Bewusstsein – und über die Bedeutungdes Körpers in diesem komplexen Konstrukt. Seit Jah-ren ermuntert Solms seine Kollegen, das Beste aus Neu-rowissenschaften und Psychoanalyse zu vereinen. Fürmanch einen Freudianer eine Zumutung, wenngleichSolms, wie er versichert, die Thesen des Übervaters derPsychoanalyse lediglich weiterentwickelt.

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Neuropsychoanalyse 41

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46 Ethik

PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

Angesichts der Ängste von Experten und Bürgern ist es in Deutschland besondersschwer, über die Hilfe zu einem Tod in Würde zu sprechen

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Bei manchen Naturvölkern ster-ben Menschen,die glauben,ver-hext zu sein, einen psychogenen

Tod,den sie sich aus eigenem Entschlussnicht antun könnten. In unseren hoch-entwickelten Staaten dagegen fürchtenwir ein von der Medizintechnik aufge-zwungenes, von Schmerz und Schamgetränktes Vegetieren. Der Arzt wirddann zur gnadenlosen Autorität,die denWunsch zu sterben ähnlich abweist wieein Militär den Wunsch des Soldaten,die Front zu verlassen. Debatten überSterbehilfe,wie sie auch 2011 wieder aufdem Ärztetag in Kiel geführt wurden,wären überflüssig, wenn Menschen ge-nerell in der Lage wären, sich ein Endenicht nur zu wünschen, sondern ihr Le-ben auch diesem Wunsch zu unterwer-fen. Aber im Normalfall entzieht sichder Tod der Macht des eigenen Willensund bleibt der Macht Dritter unter-worfen.

Kein Mensch ist Herr über Leben undTod. Aber manche sind mächtiger alsandere. Der Ärztetag hat nach einer kon-troversen Debatte die Formulierungenverschärft, welche Ärzten verbieten, ster-benswillige Kranke in ihrem Wunsch zuunterstützen, in Würde und Sicherheitaus dem Leben zu scheiden.

Dass niemand einen Entschlossenenhindern kann, von einer Brücke zuspringen oder sich eine Plastiktüte über

den Kopf zu ziehen, ist trivial. Aber esgeht in der ganzen Debatte vor allemum Symbole, um Tabus und um die so-ziale Komponente des Todes. Die Psy-choanalytiker haben einen besonderenBezug zu diesem Thema: Ihr geistigerVater hat von seinem Arzt Sterbehilfegewünscht – und bekommen.

1938, nach dem Einmarsch der Na-zis in Österreich, fand Sigmund FreudZuflucht in London. Ein Jahr späterstarb er dort unter denkwürdigen Um-ständen, die ein Licht auf die Proble-matik des selbstbestimmten Todes wer-fen.

Am 10. November 1938 kommen-tiert Freud fast sprachlos vor Erbitte-rung die Pogrome in Deutschland, dievon Goebbels inszeniert wurden, nach-dem ein siebzehnjähriger polnischer Ju-de einen Sekretär der deutschen Bot-schaft in Paris niedergeschossen hatte.Etwa 30000 Juden wurden deportiert,Synagogen verbrannt, Geschäfte ge-plündert. Zur gleichen Zeit wurdenFreuds Werke von der Francodiktaturin Spanien verboten.

Jetzt waren auch Freuds vier in Wiengebliebene Schwestern nicht mehr si-cher; Freud und Marie Bonaparte be-mühten sich sehr, sie noch herauszu-holen. Es gelang nicht mehr; die zwi-schen 75 und 80 Jahre alten Frauen kamen im KZ um. Freud litt unter an-

dauernden Knochenschmerzen, behan-delte aber noch vier Patienten täglich,korrigierte den „Moses“ und feierte mitseinem Sohn Oliver dessen 48. Ge-burtstag.

In Briefen zeigt Freud, dass er auchangesichts des letzten Kampfes gegenseine Krebserkrankung seinen Humorlange Zeit behalten konnte. „To cut along story short, es hat sich nach vielenUntersuchungen ergeben, dass ich eineRezidive meines alten Leidens habe. DieBehandlung, zu der man sich entschloss,besteht in einer Kombination von Rönt-gen von außen und Radium von innen,die immerhin schonender ist als Kopf-abschneiden, was die andere Alternati-ve gewesen wäre … Es ist eben ein Wegzum unvermeidlichen Ende wie ein an-derer, wenngleich nicht der, den mansich gerne ausgesucht hätte“, so schreibter an Hanns Sachs.

Die Radiumbehandlung erschöpftihn sehr, die Eintragungen in die Chro-nik sind selten und depressiv. Sicher trugauch zu seiner schlechten Stimmung bei,dass sein vertrauter „Leibarzt“ MaxSchur im April 1939 nach Amerika ge-reist war, um sich dort einbürgern zulassen. Schur versprach, so schnell wiemöglich zurückzukehren, aber es kos-tete viel Zeit, die amerikanischen Prü-fungen für eine Zulassung als Arzt ab-zulegen.

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Ethik 47

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Shinrin-yoku ist Japanisch und bedeutet so viel wie „Waldba-den“. Es steht für die Idee, dass der Aufenthalt in der Naturund speziell in baumbestandenen Landschaften Stress abbautund entspannt. Eine Erfahrung, die die meisten Menschenschon gemacht haben dürften. Eine Reihe von Forschern inter-essiert sich dafür, was genau die Erholung fördert und wiedas geschieht.

Die japanische Wissenschaftlerin Yuko Tsunetsugu und ih-re Kollegen berichten, dass Menschen, die eine Viertelstundein einem Wald spazieren gingen oder dort auf einem Stuhlsaßen und die Natur betrachteten, einen niedrigeren Blut-druck und einen langsameren Puls hatten, als das in einer

Stadtlandschaft der Fall war. Auch die Konzentration desStresshormons Kortisol im Speichel war deutlich niedriger,wenn Probanden sich im Grünen aufhielten. Sie empfandenweniger Anspannung, Ärger, Traurigkeit und Müdigkeit undfühlten sich stattdessen ruhig und erfrischt.

Jo Barton und Jules Pretty von der Universität von Essexsind davon überzeugt, dass Landschaften ihre erholsame Wir-kung bereits nach kurzer Zeit entfalten. Sie werteten Datenvon mehr als 1000 Menschen aus, die sich in der freien Na-tur bewegten, sei es beim Gärtnern, Angeln, Bootfahren, Rei-ten, Wandern oder in der Landwirtschaft. Erstaunlicherweiseverbesserten nur fünf Minuten Bewegung an frischer Luft die

Ein Aufenthalt im Grünen senkt Blutdruck, Anspannung, Ärger und Müdigkeit

Gesundheit & PsycheREDAKTION: THOMAS SAUM-ALDEHOFF

aWald tut wohl – selbst im Sapätherbst

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64 Die alternde Gesellschaft

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PSYCHOLOGIE HEUTE Frau ProfessorStaudinger, die Lebenserwartung derMenschen in westlichen Gesellschaftensteigt und steigt. Ein Kind, das heute ge-boren wird, hat gute Chancen, einmal100 Jahre und älter zu werden. Das Al-ter zieht sich also immer länger hin. Ha-ben Sie keine Angst vor dem, was Sieeinmal das „Freizeitnirwana des Ren-tenalters“ nannten?URSULA STAUDINGER Nein, persön-lich nicht. Aber auf gesellschaftlicherEbene ist das schon eine gewaltige Her-ausforderung. Tatsächlich haben wir eindeutlich längeres Leben gewonnen inden letzten 100 Jahren. Die durch-schnittliche Lebenserwartung hat sichum 30 Jahre verlängert – drei Dekaden!Die Hälfte davon wurde, statistisch ge-sehen, in der ersten Hälfte des Lebenshinzugewonnen. Weil die Säuglings-sterblichkeit und die Sterblichkeit imKindbett geringer sind und die Ge-sundheitsversorgung viel besser gewor-den ist. Die andere Hälfte kam am En-de hinzu. Wenn einer heute in Deutsch-land 65 ist, dann hat er im Schnitt noch22 Jahre vor sich, den größeren Teil da-von bei guter Gesundheit. Das ist eingrandioses Geschenk, und man müssteschon sehr arm an Fantasie sein, es al-lein mit Golf spielen,Abhängen auf Mal-lorca oder vor dem Fernsehen zu ver-bringen. Nein, die Herausforderung ist,

diese neu gewonnenen Jahre zu gestal-ten, ihnen Sinn zu geben.PH Etwa indem das Rentenalter weiterhinausgeschoben wird?STAUDINGER Klassische Beschäftigungkann und sollte durchaus eine Rolle spie-len. Das wissen wir aus vielen Untersu-chungen. Damit meine ich aber nichteinfach: Rentenalter rauf und fertig. Daswäre zu simpel. Es gibt da ein großesForschungsfeld in der Psychologie undmittlerweile sehr konkrete, durch empi-rische Forschung abgesicherte Vorstel-lungen – auch, aber nicht nur bei uns ander Jacobs University in Bremen, wo wirsolche Fragestellungen in einem inter-disziplinär sehr breit aufgestellten Zen-trum für lebenslanges Lernen bearbei-ten, dem Jacobs Center on Lifelong Lear-ning and Institutional Development. DerTenor: Man müsste schon sehr früh da-mit beginnen, die beruflichen Anforde-rungen besser an die Fähigkeiten undBedürfnisse des Individuums anzupas-sen. Denn diese wandeln sich nicht erstmit dem Eintritt ins Rentenalter.PH Heißt das: arbeiten nach dem Lust-prinzip?STAUDINGER Arbeit darf Freude ma-chen. Aber es geht nicht nur um Lust –es geht um typische und um individuelleEntwicklungsverläufe, um Anpassungund Lernen, um Reifung und Entfaltung,Verschleiß und Ermüdung, um Motiva-

tion, die wachzuhalten oder neu zu we-cken wäre. Zum Nutzen aller! UnserStandardmodell ist doch: voll durchzie-hen bis zur Rente und dann abrupt auf-hören. Das ist kurzsichtig und wider-spricht allen Erkenntnissen der Ent-wicklungspsychologie. Stellen Sie sich ei-nen Dachdecker vor, der mit 67 immernoch acht Stunden am Tag auf dem Firstherumturnen soll. Es mag Ausnahmengeben, aber eigentlich geht das nicht.Oder denken Sie an den Stahlkocher, andie Krankenschwester – die fangen mit20 Jahren an, vielleicht schon mit 17,und sollen durcharbeiten bis 67. Volle50 Jahre in immer der gleichen Tätig-keit, das ist tödlich für den Körper, töd-lich für den Geist und tödlich für dieFreude an der Arbeit.PH Was wären die Alternativen?STAUDINGER Mehr Flexibilität. Ar-beitszeitkonten, Auszeiten für Familieoder Fortbildung oder andere persönli-che Projekte – es gibt viele intelligenteModelle. Teilzeit zum Beispiel ist inDeutschland immer noch relativ wenigverbreitet. Dabei wissen wir, dass immermehr Menschen nach dem Eintritt insRentenalter gern weiterarbeiten möch-ten. Es ist wichtig für sie, sie haben Lustdarauf, sie wünschen es sich. Wir habendas in einer Umfrage für die Akade-miengruppe „Altern in Deutschland“ ander Leopoldina bestätigt. Und wie Sie

Die alternde Gesellschaft 65

PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

Die Entwicklungspsychologin Ursula Staudinger sagt älteren Arbeitnehmern ungeahnte Chancen voraus – und weist die Wirtschaft auf eine Reserve gut ausgebildeter und hochmotivierter Kräfte hin. Sie entwirft ein neues Bild des Arbeitens und des Alterns in unserer Gesellschaft

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REDAKTION: KATRIN BRENNER

Was hält Europa zusammen? Wie stiftetman eine europäische Identität, und wieüberwinden wir die nationalen Sicht-weisen – wo doch die gemeinsame christ-lich-abendländische Weltsicht nicht ver-hindern konnte, dass sich die Völker Eu-ropas jahrhundertelang die Köpfe ein-schlugen?

Claus Leggewie schlägt ein psycho-analytisches Konzept vor.Wir sollten unsüber das gemeinsame Erinnern undDurcharbeiten einer durchaus strittigeneuropäischen Vergangenheit ein euro-päisches „Wir-Gefühl“ erarbeiten. Euro-pa müsse sich „in historischer Tiefendi-mension“ an die Desaster des 20. Jahr-hunderts erinnern,„weil ohne diesen Aktgeteilter Erinnerung weder demokrati-

sche Staatlichkeit noch internationaleKooperation funktionieren“. Die euro-päische Unionsbürgerschaft bedürfe ei-ner soliden Vertrauensbasis, die ohneAnerkennung und Kompensation his-torischer Verbrechen nicht zu haben sei:„Wir vertreten in diesem Buch die Auf-fassung, dass ein supranationales Euro-pa nur dann eine tragfähige politischeIdentität erlangen kann, wenn die öf-fentliche Erörterung und wechselseitigeAnerkennung strittiger Erinnerungenebenso hoch bewertet wird wie Ver-tragswerke, Binnenmarkt und offeneGrenzen.“

Als den Kern des europäischen Ge-schichtsbewusstseins bezeichnet der Po-litikwissenschaftler die Erinnerung an

die Shoa, symbolisiert im gemeinsamenGedenktag des 27. Januar 1945, des Tagsder Befreiung des VernichtungslagersAuschwitz-Birkenau. Darum ranktensich „konzentrisch weitere sechs, zu-nehmend strittige Kreise europäischerErinnerung“. Das sind Erinnerungen anStaatsverbrechen kommunistischer (Ok-kupations-)Regime, an Genozide, Ver-treibungen und ethnische Säuberungenoder an europäische Kolonialverbrechen.Zusammen mit der Kulturwissenschaft-lerin Anne-Katrin Lang analysiert Leg-gewie aktuelle Geschichtskonflikte ander europäischen Peripherie: Ukraine,Baltikum, Türkei. Seine Auswahl der Er-innerungsorte umfasst dabei nicht nurphysisch-materielle Denkmäler wie das

Die Erkenntnis, dass individuelles wie kollektives Verarbeiten traumatischer EreignisseZeit braucht, eint Claus Leggewie und Ilany Kogan

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Buch & Kritik

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PSYCHOLOGIE HEUTE Dezember 2011

des gefallenen Rotarmisten in der estni-schen Hauptstadt Tallin.Vorgestellt wer-den auch symbolische und virtuelle Or-te, wie ein Beitrag auf YouTube über denAuftritt des Radovan Karad ic in DenHaag oder den Artikel 301 des türki-schen Strafgesetzbuches, mit dem die öf-fentliche Herabsetzung der türkischenNation verfolgt wird. Am Beispiel dereuropäischen Kolonialverbrechen imKongo und einer noch heute verbreite-ten Rechtfertigungsideologie verlangtLeggewie eine Aufarbeitung und die An-erkennung der politisch-moralischenSchuld.

Dabei geht es ihm nicht darum, dieErinnerung zu europäisieren, sondern„um die Art und Weise, wie an die Un-taten gemeinsam erinnert“ werde undwie daraus behutsam Lehren für die Ge-genwart der europäischen Demokratiengezogen werden können.

Gerne möchte man dieser Deutungfolgen. Offensichtlich ist, dass die euro-päischen Völker lernen müssen, diewiderspruchsvollen Aspekte ihrer Ver-gangenheit zu integrieren. Der Weg dort-hin ist jedoch steinig. Wer die Abschot-tungspolitik der einzelnen Staaten undder Europäischen Union gegen Flücht-linge und Asylsuchende verfolgt, werwahrnimmt, dass in Europa derzeitRechtspopulisten massiv an Einfluss ge-winnen, kann auch zu der Einschätzungkommen, dass eine europäische Iden-tität – wenn überhaupt – durch Nega-tion und Ausgrenzung erzeugt werdensoll.

Die Erkenntnis, dass individuelles wiekollektives Durcharbeiten traumatischerEreignisse viel Zeit braucht und dassmehrere Generationen daran beteiligtsein können, teilen Leggewie und Ilany

Kogan. Die Psychoanalytikerin aus Is-rael beschäftigte sich in mehreren Wer-ken mit der verbalen und nonverbalenWeitergabe der Holocaustvergangenheitund den Konflikten, mit denen sich dieNachgeborenen konfrontiert sehen.Auch mehrere Kapitel in ihrem neuenBuch sind diesem Thema gewidmet. Dawird etwa Nurit vorgestellt, eine Wis-senschaftlerin, die ihren Eltern die mitsieben Jahren ermordete Tochter erset-zen sollte.„Was es bedeutet, ein totes, ge-liebtes Kind zu sein“ und welche quä-lenden Konflikte die reale Tochter ver-folgen bis hin zu den vielen kleinen undgrößeren Schritten in ein „normales“ Le-ben – dies wird behutsam und sensibelentfaltet.

Darüber hinaus umkreist die Auf-satzsammlung drei Themenbereiche: dieindividuelle Trauer, die gesellschaftlichenFolgen unbewältigter Trauer und die Be-sonderheiten der Trauer in Zeiten ter-roristischer Bedrohungen in Israel, diedas Holocausttrauma wieder auflebenlassen:„Wenn Terroranschläge zu einemfesten Bestandteil unseres Alltags wer-den und die Sicherheit jedes Einzelnenin steigendem Maße gefährden, könnenSpuren des Holocaust im Unbewusstenjener Menschen reaktiviert werden, diedirekt oder indirekt von ihm betroffenwaren“, so Kogan.

Im Zentrum stehen der Trauerpro-zess und die Abwehr der schmerzhaftenTrauer. Anhand von vielen Fallbeispie-

len und ausführlichen theoretischenÜberlegungen eröffnet die Autorin fürihre Patienten Möglichkeiten einer Ent-wicklung hin zur allmählichen Akzep-tanz der Realitäten. „Die Reise von derAbwesenheit der Trauer zu einem emo-tionalen Gewahrsein und Durcharbei-ten des Schmerzes und Verlusts ist be-schwerlich, schafft aber die Vorausset-zung dafür, dass der Verlust in einen Ge-winn für die Gesellschaft insgesamttransformiert werden kann.“

Dieses Buch ist nicht nur für Psycho-therapeuten von großem Interesse, auchinteressierte Laien mit etwas Hinter-grundwissen finden eine anspruchsvol-le und denkwürdige Lektüre.

Die Besonderheit dieser Aufsatz-sammlung besteht darin, dass die Psy-choanalytikerin ihr eigenes professio-nelles Verhalten reflektiert und stück-weise auch revidiert, weil sie einsehenmuss, dass für ihre Patienten ein Kom-promiss der einzig gangbare Weg ist.„Ich musste meinen therapeutischenNarzissmus durcharbeiten, meine ana-lytischen Ziele neu definieren und überdie Grenzen der Therapie trauern.“

Auch Claus Leggewies Ansatz zumAufbau eines europäischen kollektivenBewusstseins könnte der Realität näherkommen, wenn er akzeptieren könnte,dass wir zunächst lernen müssen, eingroßes Stück Hilflosigkeit hinzuneh-men.

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T I T E LT H E M A

Trautes Heim – Glück allein?Schöner wohnen boomt. Wohntrends wie Cocoo-ning, Homing oder das Smart Home erobern dieHaushalte. Doch warum spielt das Wohnen geradejetzt für viele Menschen eine zentrale Rolle im Leben? Psychoanalytiker erkennen hinter diesenTrends ungestillte Bedürfnisse – eine Reaktion aufKrisen und Unsicherheiten in unserer Gesellschaft.

Gier: Die Panik, zu kurz zu kommenViel ist heute die Rede von der Gier: von den gieri-gen Bankern, den Spekulanten, die in ihrer Maßlo-sigkeit ganze Länder in den Ruin treiben, von derGier nach Macht und Einfluss. Angeprangert wirddabei immer die Gier der anderen – ganz so, als seiman selbst völlig frei von dem Drang nach immermehr.

Zappelphilipp ist längst erwachsen Die Aufmerksamkeitsstörung ADHS ist nicht nurein Kindheitsphänomen. Auch bei Erwachsenengilt sie bereits als Massenleiden. Erwachsene brau-chen aber andere Therapien und andere Medika-mente als Kinder, denn die Störung verändert sichmit zunehmendem Alter: Die Impulsivität geht oftzurück, die Unaufmerksamkeit, die innere Unruheund emotionale Labilität bleiben.

Die Balance der WerteWann geht Sparsamkeit in Geiz über, und wannmutiert Großzügigkeit zur Verschwendung? DerKommunikationsexperte Friedemann Schulz vonThun zeigt, wie wir mithilfe des „Werte- und Ent-wicklungsquadrates“ lernen können, komplexeProbleme des Alltags besser zu verstehen und so-gar für die eigene Persönlichkeitsentwicklung zunutzen. Das Wertequadrat ist eine Methode, dieuns ein neues Verständnis von Maß und Mitte er-öffnen kann.

Außerdem:! Wilhelm Schmid: Das Leben annehmen! Eva Illouz: Warum die Liebe entzaubert wurde! Die Psychologie des Fotografiertwerdens

Runterschalten!Unser Leben ist gefüllt: mit Arbeit, mit der Jagd nach Erlebnis-sen und Erfolgen, mit der Sicherung unseres Lebensstandardsund mit Sorgen um die Zukunft. Unser Leben ist vermüllt: mitDingen und Aktivitäten, die uns nicht wirklich bereichern undFreude machen. Brauchen wir die vielen Sachen, die wir ansam-meln? Sind weitere berufliche Erfolge notwendig? Interessierenuns wirklich alle Menschen in unserem Bekanntenkreis? Wennwir selbstbestimmter und zufriedener leben wollen, dann müs-sen wir runterschalten und eine alte Weisheit neu entdecken:Weniger ist mehr!

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