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Quarks & Co Helfen oder wegsehen? Warum wir so oft versagen Ob pöbelnde Jugendliche in der U-Bahn, ein Unfall mit Verletzten oder eine Prügelei auf der Straße – wenn Menschen in heikle Situationen geraten sehen viele zu und tun nichts. Warum schauen so viele weg und leisten keine Hilfe. Wie ist das Phänomen zu erklären? Psychologen habe eine überraschende Entdeckung gemacht: Je mehr potentielle Helfer da sind, desto seltener hilft jemand. Wie ist dieses Phänomen des Nichthelfens zu erklären? Quarks & Co begibt sich auf die Suche nach Antworten, die auch auf unglaubliche Experimente in den frühen 70er Jahren zurückgehen und blickt auf die psychologischen Hintergründe dieses Verhaltens. Quarks & Co hat die Hilfsbereitschaft in der U-Bahn getestet und mit versteckter Kamera beobachtet wie die Fahrgäste auf zwei pöbelnde junge Männer reagieren, die einen Unbeteiligten belästigen. Die Fahrgäste wissen nicht, dass Täter und Opfer Schauspieler sind. Wie reagieren sie? Kommt jemand dem Opfer zu Hilfe? Die Frage lautet auch: Wie würde ich in einer solchen Situation reagie- ren? Eine Psychologin analysiert die unterschiedlichen Verhaltensweisen und gibt Tipps für das „richtige“ Verhalten. Autoren: Carsten Binsack, Ulrich Grünewald, Silvio Wenzel, Tilman Wolff Redaktion: Claudia Heiss Quarks & Co | Helfen oder wegsehen? Warum wir so oft versagen | Sendung vom 15.04.08 http://www.quarks.de Quarks & Co Quarks & Co

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Quarks & Co Helfen oder wegsehen? Warum wir so oft versagen

Ob pöbelnde Jugendliche in der U-Bahn, ein Unfall mit Verletzten oder eine Prügelei auf der Straße – wenn Menschen in heikle

Situationen geraten sehen viele zu und tun nichts. Warum schauen so viele weg und leisten keine Hilfe. Wie ist das Phänomen zu

erklären?

Psychologen habe eine überraschende Entdeckung gemacht: Je mehr potentielle Helfer da sind, desto seltener hilft jemand. Wie ist

dieses Phänomen des Nichthelfens zu erklären? Quarks & Co begibt sich auf die Suche nach Antworten, die auch auf unglaubliche

Experimente in den frühen 70er Jahren zurückgehen und blickt auf die psychologischen Hintergründe dieses Verhaltens.

Quarks & Co hat die Hilfsbereitschaft in der U-Bahn getestet und mit versteckter Kamera beobachtet wie die Fahrgäste auf zwei

pöbelnde junge Männer reagieren, die einen Unbeteiligten belästigen. Die Fahrgäste wissen nicht, dass Täter und Opfer Schauspieler

sind. Wie reagieren sie? Kommt jemand dem Opfer zu Hilfe? Die Frage lautet auch: Wie würde ich in einer solchen Situation reagie-

ren? Eine Psychologin analysiert die unterschiedlichen Verhaltensweisen und gibt Tipps für das „richtige“ Verhalten.

Autoren: Carsten Binsack, Ulrich Grünewald, Silvio Wenzel, Tilman Wolff

Redaktion: Claudia Heiss

Quarks & Co | Helfen oder wegsehen? Warum wir so oft versagen | Sendung vom 15.04.08http://www.quarks.de

Quarks&CoQuarks&Co

So kann man Zivilcourage zeigenPraktische Tipps für den Ernstfall

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Quarks & Co | Helfen oder wegsehen? Warum wir so oft versagen | Sendung vom 15.04.08http://www.quarks.de

Praktische Tipps für den Ernstfall

Sich selbst schützen. Das ist das oberste Gebot für den Helfer. Niemand sollte sich selbst in Gefahr

bringen. Denn wenn Sie selbst zum Opfer werden, ist niemandem geholfen.

Situation einschätzen. Bevor Sie einschreiten, sollten Sie die Situation kurz überdenken. Sind Sie

der Sache gewachsen? Welche Hilfsmöglichkeiten haben Sie? Wer kann Sie unterstützen? Was ist

von den Tätern zu erwarten, wie aggressiv und wie berechenbar sind sie? Diese Überlegungen

sollen Sie davor schützen, sich aus einem gut gemeinten Impuls selbst in Gefahr zu bringen.

Nicht alleine handeln. Wenn möglich, fordern Sie andere Anwesende auf mit zu helfen. Viele der

Anwesenden sind wahrscheinlich unsicher, was sie tun sollen, und warten ab, was die Anderen

machen. Durchbrechen Sie diese Passivität. Sprechen Sie andere Menschen ganz konkret an, und

bitten Sie um Unterstützung: „Entschuldigung, Sie in der roten Jacke, rufen Sie bitte die Polizei.“

Oder: „Kommen Sie bitte mit mir, um die Situation zu entschärfen.“

Das Opfer aus der Situation befreien. Versuchen Sie, den Bedrängten aus dem Geschehen heraus-

zuholen. Sprechen Sie das Opfer freundlich an und bieten Sie ihm an, es zu begleiten. „Entschuldi-

gung, wollen Sie sich vielleicht zu mir setzen?“ Oder: „Sollen wir gemeinsam an der nächsten

Station aussteigen?“ Außerdem sollten Sie als Geste des Entgegenkommens im wahrsten Sinne

des Wortes dem Opfer die Hand reichen. Viele Menschen, die in Bedrängnis sind, versuchen sich

einzukapseln und bekommen daher Ihr Hilfsangebot vielleicht gar nicht mit. Die dargebotene Hand

werden sie aber gerne ergreifen.

Nicht mit den Tätern diskutieren. Die erste Reaktion bei vielen Menschen, die helfen wollen, ist,

die Täter anzusprechen und sie mehr oder weniger aggressiv zum Aufhören aufzufordern. Doch

die Gefahr ist extrem groß, dass dadurch die Situation eskaliert. Die Täter sehen in dem Helfer

schnell einen neuen Gegner. Im ungünstigen Fall entlädt sich dann die Aggressivität gegen Sie.

Der Helfer wird zum Opfer. Daher sollten Sie die Täter weder verbal noch tätlich angreifen. Wenn

Sie sie ansprechen wollen, dann möglichst ruhig. Und bleiben Sie bei einem höflichen „Sie“.

Notruf wählen. Ein gute Möglichkeit, aus dem Hintergrund und von den Tätern unbemerkt, zu hel-

fen: Rufen Sie die Polizei oder informieren Sie die das Personal oder den Sicherheitsdienst des

Bahnunternehmens. Die Polizei erreichen Sie sowohl vom Festnetz als auch vom Handy unter der

Rufnummer 110. Beim Handy funktioniert diese Notrufnummer sogar, ohne dass eine SIM-Karte ein-

gelegt oder die PIN-Nummer eingegeben ist. Auch an einem Telefonhäuschen ist die Notruf-

nummer kostenlos. In vielen Bahnen sind außerdem interne Notrufeinrichtungen installiert. Über

eine Gegensprechanlage wird man dann direkt mit dem Fahrer oder einem Sicherheitsbeamten

verbunden.

Die Devise: Nicht alleine handeln,

sondern andere zur Hilfe auffordern

Hilfe aus sicherem Abstand: ein Anruf

bei der Polizei

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Notbremse ziehen. Findet der Vorfall in der U-Bahn statt, lassen Sie sich durch den Hinweis

„Missbrauch strafbar“ auf der Notbremse nicht einschüchtern. Es liegt ganz klar eine Notsituation

vor, daher können Sie getrost ziehen. Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Notbremse in einem

U-Bahn-Wagen keine sofortige Zwangsbremsung auslöst. Das wäre zu gefährlich, denn so könnte

der U-Bahn-Wagen mitten im Tunnel stehenbleiben. Dort wäre er dann nur schwer zugänglich, was

zum Beispiel bei einem Feuer fatal wäre. Statt dessen aktiviert die Notbremse beim Fahrer ein

Signal, worauf dieser an der nächsten Station hält und dann dort die Situation klärt. Wenn der

Wagen mit Videoüberwachung ausgerüstet ist, kann der Fahrer außerdem die Situation auf einem

Monitor beobachten.

Als Zeuge aussagen. Auch wenn Sie während der Situation nicht aktiv werden konnten, sollten Sie

sich hinterher als Zeuge zur Verfügung stellen. Sie können dadurch helfen, dass die Täter gefun-

den und überführt werden. Merken Sie sich daher genau, wie die Täter aussehen. Wie alt sind sie?

Welche Kleidung tragen sie? Welche Haarfarbe haben sie? Wir groß sind sie? Wohin sind sie ver-

schwunden?

Tipps für das Opfer

Auf die eigene Notsituation aufmerksam machen. Viele potentielle Helfer greifen nicht ein, weil sie

unsicher sind, wie sie die Situation einschätzen sollen. Ist wirklich eine Person in Gefahr oder han-

delt es sich um einen etwas herben Umgangston unter Freunden? Sagen Sie daher laut und deut-

lich, dass Sie sich belästigt oder bedroht fühlen. Manchmal kann eine so klare Ablehnung sogar

die Täter beeindrucken, so dass diese von ihrem Opfer ablassen.

Die Täter mit „Sie“ ansprechen, um die Distanz auch Außenstehenden deutlich zu machen. Das ist

besonders wichtig bei Frauen, die von Männern belästigt werden und bei denen die Umstehenden

auf die Idee kommen könnten, es handele sich um eine Beziehungskrise.

Potenzielle Helfer konkret ansprechen. Wenn Sie selbst Opfer sind, und merken, dass sie nicht allei-

ne aus der Situation herauskommen können, sprechen Sie andere Anwesende ganz gezielt an: „Ich

werde hier belästigt, Sie in der roten Jacke, können Sie bitte die Polizei rufen.“

Autor: Ulrich Grünewald

Machen Sie als Opfer deutlich auf die

Notsituation aufmerksam

Die Psychologie des NichthelfensSpektakuläre Experimente zur Hilfsbereitschaft

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Im Jahr 1964 wird die New Yorkerin Kitty Genovese vor ihrem Wohnhaus in Queens brutal über

mehrere Stunden zu Tode gequält. Insgesamt 38 Anwohner beobachten den Überfall oder hören

die Schreie des Opfers, aber keiner hilft oder wählt den Notruf. Der spektakuläre Fall bringt die

Forschung zur Psychologie des Helfens ins Rollen. In verschiedenen spektakulären Experimenten

können die Psychologen zeigen, wie leicht Menschen durch äußere Einflüsse vom Helfen abgehal-

ten werden. Und sie stellen fest, dass es offenbar eine ganze Reihe von unbewussten Hürden gibt.

Je mehr Zeugen – desto weniger Hilfe

Die beiden US-Psychologen John Darley und Bibb Latané gehören zu den ersten Forschern, die

eigene Experimente zur Hilfsbereitschaft durchführen. Eine ihrer bekanntesten Studien stammt aus

dem Jahr 1968. Die Probanden sind eingeladen, um angeblich an einer Diskussion über Probleme

im Studium teilzunehmen. Sie ahnen nicht, dass in Wirklichkeit ihre Hilfsbereitschaft getestet wird.

Die Probanden sitzen einzeln in einer Kabine und sollen sich über Kopfhörer und Mikrophon mit

anderen Personen in benachbarten Kabinen unterhalten. Doch statt einer echten Diskussion wird

ihnen nach kurzer Zeit eine Tonbandaufnahme vorgespielt, auf der ein Mann einen epileptischen

Anfall erleidet und dabei um Hilfe ruft. Die Psychologen wollen herausfinden, wie lange es dau-

ert, bis die Pobanden dem Opfer helfen oder ob sie überhaupt einschreiten. Dabei verändern sie

gezielt eine Versuchsbedingung. Die erste Probandengruppe glaubt, zu zweit zu sein. Das bedeu-

tet: nur sie selbst und der Mann am Tonband. Die zweite Gruppe glaubt, sie wären zu dritt: außer

ihnen noch ein weiterer Proband in jeweils einer anderer benachbarten Kabine und das Opfer. Die

dritte Gruppe denkt, es wären insgesamt sechs Leute anwesend. Das Ergebnis ist ebenso ein-

deutig wie erschreckend: Je mehr Menschen anwesend sind und helfen könnten, um so seltener

schreitet der Einzelne ein. Wenn überhaupt geholfen wird, dann dauert es um so länger, je mehr

Personen da sind. Das gleiche muss auch im Fall von Kitty Genovese passiert sein. Auch dort

waren viele Personen anwesend, aber keiner hat geholfen. Die Psychologen nennen dieses

Phänomen „Verantwortungsdiffusion“. Offenbar teilt sich die Verantwortung unter den Anwe-

senden auf. Je mehr Menschen da sind, umso weniger Verantwortung bleibt für den Einzelnen

übrig, bis sich niemand mehr zuständig fühlt. Das Experiment hat außerdem gezeigt, dass es für

den sogenannten „Bystander-Effekt“ gar nicht notwendig ist, die anderen Personen und ihre

Reaktion zu sehen. Allein die Annahme, es seien noch andere Menschen da, führt dazu, Verant-

wortung abzugeben.

Originaltext Hilferuf

Original-Text auf dem Tonband des Bystander-Experiments:

“I ... er I think I need er if if could er er sombody er er help because I er

I´m er h-h-having a real problem er right now and and I er if somebody

could help me out it would er er sure be good ... Because er there er a

thing´s coming on and I could really er use some help so if somebody

here er help uh uh uh (choking sounds) .... I´m gonna die er er I´m

gonna die er help er er (chokes, then is quiet)”

(John Darley & Bibb Latané (1968) Bystander intervention in emergencies: diffusion of responsibility. Journal of Personality and

Social Psychology, 8, 377-383)

Wer hilft einem hilflosen Opfer?

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Der barmherzige Samariter

Ein weiteres aufsehenerregendes Experiment führt John Darley im Dezember 1970 mit seinem

Kollegen Daniel Batson durch. Sie laden 47 Theologiestudenten der Universität Princeton zu einer

Studie ein, in der es angeblich um die theologische Ausbildung und die Berufschancen geht. Doch

wieder ist das eigentliche Thema die Hilfsbereitschaft. Die Studenten sollen einen kurzen Vortrag

vorbereiten. Die Wissenschaftler verändern dabei zwei Versuchsbedingungen. Die erste

Versuchsbedingung: Das Vortragsthema der ersten Gruppe ist die Geschichte des barmherzigen

Samariters aus der Bibel. Bei der anderen Gruppe geht es um die Karrierechancen für Theologen.

Die zweite Versuchsbedingung: Die Wissenschaftler schicken die Studenten zu einem anderen

Gebäude, wo sie den Vortrag halten sollen. Die Wissenschaftler vermitteln ihnen dabei unter-

schiedlich großen Zeitdruck.

Die entspannte Situation: „Es wird ein paar Minuten dauern, bis man sich um Sie kümmern kann.

Aber Sie sollten schon mal rüber gehen. Falls Sie drüben warten müssen, sollte es nicht allzu lange

dauern.“

Die normale Situation: „Der Assistent ist bereit für Sie. Bitte gehen Sie jetzt rüber.“

Die stressige Situation: „Oh, Sie sind spät dran. Man erwartet Sie schon seit ein paar Minuten. Es

ist höchste Zeit. Der Assistent wird schon auf Sie warten, daher sollten Sie sich beeilen. Es soll-

te nicht länger dauern als eine Minute.“

Jetzt beginnt der eigentliche Test. Auf dem Weg zum Vortragsgebäude sitzt ein Mann zusammen-

gesunken, offensichtlich hilfebedürftig, vor einem Hauseingang. Sobald einer der Studenten vor-

beikommt, hustet das Opfer zweimal und fängt an zu stöhnen. Die Psychologen wollen wissen,

wie viele Studenten anhalten, um zu helfen, und wie sich die beiden Versuchsbedingungen

„Beschäftigung mit dem Thema Helfen“ und „Zeitdruck“ auswirken.

Es gibt keine typische Helferpersönlichkeit

Das überraschende Ergebnis: Die Studenten, die einen Vortrag über den barmherzigen Samariter

halten sollen, helfen nicht häufiger, als die Studenten mit dem Thema Berufschancen. Dagegen

spielt der vermeintliche Zeitdruck eine entscheidende Rolle: Haben es die Studenten eilig, helfen

gerade mal zehn Prozent. Ohne Zeitdruck sind es immerhin 45 Prozent. Und wenn die Studenten

viel Zeit haben, helfen sogar 63 Prozent. Im Nachhinein finden die Psychologen außerdem heraus,

dass bei den Nichthelfern keine böse Absicht dahinter steckte. Ihnen war das Helfen einfach nicht

in den Sinn gekommen, oder sie fanden es in dem Moment nicht so wichtig. Die Schlussfolgerung

der Psychologen: Für die akute Hilfsbereitschaft sind offenbar innere Einstellungen weniger wich-

tig als äußere Faktoren, wie zum Beispiel Zeitdruck. Weitere Experimente haben das bestätigt: Die

persönliche Einstellung ist zwar wichtig, aber es gibt keine typische Helferpersönlichkeit. Es sind

vor allem die äußeren Bedingungen einer Situation, die entscheiden, ob jemand hilft oder nicht.

Autor: Ulrich Grünewald

Es gibt nicht den Helfertyp – äußere

Umstände entscheiden, ob jemand hilft

Die Psychologie des HelfensDie fünf Hürden auf dem Weg zur Hilfe

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Wenn Menschen in Notsituationen geraten bleiben andere stehen, sehen zu oder gehen vorbei.

Warum schauen so viele Menschen weg? Sind wir ein Volk von Wegsehern und Egoisten? So ein-

fach ist es jedoch nicht, denn tatsächlich ist es in einer Notsituation ein weiter Weg bis zum erfol-

greichen Helfen. Psychologen haben fünf Hürden ausgemacht, die überwunden werden müssen.

Hürde 1: Situation wahrnehmen

Am Anfang ist es wichtig, dass die Situation überhaupt bemerkt wird. Wenn zum Beispiel jemand

in der U-Bahn mit einem Kopfhörer laut Musik hört, kann es durchaus sein, dass er von einer

Rüpelei, die sich hinter ihm abspielt, nichts mitbekommt.

Hürde 2: Notsituation erkennen

Dann ist die Frage, ob das Ganze auch als eine echte Notsituation interpretiert wird. Dabei spielt

es eine entscheidende Rolle, wie eindeutig die Situation ist. Kann sie vielleicht auch als harmlos

angesehen werden? Ist ein junger Mann, der in Unterwäsche durch das abendliche Kneipenviertel

läuft, hilfsbedürftig, oder hat er nur eine Wette verloren? Fatalerweise ist die Interpretation einer

Situation von dem Verhalten der anderen Anwesenden abhängig. Wenn andere auch nur zuschau-

en und nicht einschreiten, dann ziehen viele daraus den Schluss, dass es sich offenbar nicht um

eine Notsituation handelt. Je mehr Menschen anwesend sind, umso stärker wirkt dieses Phäno-

men. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von „pluralistischer Ignoranz“. Jeder ist

bemüht, sich so zu verhalten, wie es von der Allgemeinheit erwartet wird. Wenn die Mehrheit

nicht hilft, scheint Hilfe unangebracht zu sein.

Hürde 3: Verantwortung übernehmen

Ist die Notsituation erkannt, muss der Einzelne sich zuständig fühlen. Er sollte Verantwortung über-

nehmen und versuchen die Situation zu verändern. Auch hier spielt wieder die Anzahl der

Personen, die helfen könnten, eine wichtige Rolle. Wie das Experiment von Darley und Latané zum

„Nonhelping Bystander-Effect“ gezeigt hat, teilt sich die Verantwortung offenbar auf die poten-

ziellen Helfer auf. Je mehr Menschen anwesend sind, umso weniger Verantwortung bleibt für den

Einzelnen übrig. Bis im schlimmsten Fall keiner mehr hilft.

Positiv wirkt sich dagegen die Fähigkeit zur Empathie darauf aus Verantwortung zu übernehmen.

Wer sich gut in die Lage des Opfers hineinversetzen kann, wird wahrscheinlich eher die Notwen-

digkeit zur Hilfe empfinden.

Wer hilft, wenn ein Fahrgast bedroht

wird?

Voraussetzung fürs Helfen – die Notsi-

tuation muss wahrgenommen werden

Eine Notsituation muss als solche

erkannt werden

Wer hilft, übernimmt Verantwortung

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Hürde 4: Hilfsmöglichkeiten erkennen

Je nach Notsituation gibt es eine ganze Reihe von Möglichkeiten zu helfen. Der potentielle Helfer

muss entscheiden, welche für ihn in der jeweiligen Situation in Frage kommt. Für eine medizini-

sche Erste Hilfe muss man zum Beispiel wissen, wie man das Opfer am besten versorgt (stabile

Seitenlage, Herzdruckmassage usw.). Bei einer Pöbelei in der U-Bahn ist dagegen die Frage, ob der

Helfer sich zutraut, direkt in die Situation einzugreifen. Für einen Anruf bei der Polizei muss der

Helfer die Möglichkeit haben zu telefonieren, zum Beispiel ein Handy dabei haben. Und dem Helfer

muss die Notrufnummer einfallen, was in einer solchen Stresssituation keinesfalls selbstverständ-

lich ist. Um diese vierte Hürde zu überspringen, sind aber gar nicht die tatsächlichen Fähigkeiten

entscheidend, sondern vielmehr das Gefühl in dieser Situation kompetent zu sein.

Hürde 5: Hilfe durchführen

Selbst zu diesem Zeitpunkt ist die Hilfe noch nicht garantiert. So läuft unbewusst meist noch eine

Kosten-Nutzen-Rechnung ab. Dem Nutzen für das Opfer und für das eigene Selbstwertgefühl

stehen verschiedene Nachteile gegenüber. Die Hilfsaktion wird wahrscheinlich eine Zeit lang dau-

ern, Verspätungen oder ein geplatzter Termin können die Folge sein. Bei einem Erste Hilfe-Einsatz

können die Kleider beschmutzt oder beschädigt werden. Oder der potentielle Helfer hat Angst,

sich bei einer Wiederbelebung, wie zum Beispiel der Mund-zu-Nase-Beatmung, mit irgendetwas

anzustecken. Schließlich spielen auch bei dieser letzten Stufe die anderen Anwesenden eine wich-

tige Rolle. Denn niemand will sich mit einer falsch oder schlecht ausgeführten Hilfsaktion vor den

anderen blamieren.

Erst wer alle diese fünf Hürden erfolgreich gemeistert hat, wird auch tatsächlich helfen.

Helfen oder Zivilcourage?

Die meisten Experimente und Studien widmen sich bisher dem Thema „Helfen“. Vielfach werden

die Ergebnisse auch auf die „Zivilcourage“ übertragen. Im normalen Sprachgebrauch werden die

Begriffe Helfen und Zivilcourage sogar häufig synonym verwendet. Doch unter psychologischen

Kriterien sind sie nicht das Gleiche. Beide Begriffe sind Ausdruck von sozialem Verhalten, die jewei-

ligen Not-Situationen sind jedoch unterschiedlich. Vereinfacht gilt: Beim Helfen sind nur zwei

Personen oder Gruppen beteiligt: Opfer und Helfer. Der „Einsatz“ für den Helfer ist gering und über-

schaubar. Das Eingreifen wird allgemein als positiv anerkannt.

Im Falle von Zivilcourage sind dagegen drei Personen oder Personengruppen beteiligt: Opfer, Helfer

und zusätzlich Täter. „Der Einsatz“ für den Helfer kann sehr hoch sein und ist in vielen Fällen nicht

überschaubar. Er kann dabei sogar sein Leben in Gefahr bringen. Außerdem wird das Eingreifen

vom Umfeld teilweise als Störung empfunden.

Wichtig ist, dass man sich zutraut, zu

helfen

Wer helfen will, wägt vorher unbewusst

Vor-und Nachteile ab

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Beim Experiment „Der barmherzige Samariter“ ging es ums Helfen, – der tragische Tod von Kitty

Genovese war dagegen ein Fall von mangelnder Zivilcourage. Dabei bezieht sich Zivilcourage nicht

nur auf eine gewalttätige Bedrohung. Zivilcourage bedeutet auch, sich für ein Mobbing-Opfer ein-

zusetzen oder zum Beispiel illegales Verhalten des eigenen Arbeitgebers öffentlich zu machen

(„whistleblowing“). Zivilcourage wird daher auch als Bürgermut bezeichnet.

Für uns selbst machen die Begriffe Helfen und Zivilcourage aber letztendlich keinen großen Unter-

schied, wenn es darum geht, in einer – wie auch immer gearteten – Notsituation einzuschreiten.

Das wird nicht immer klappen, aber wer die psychologischen Effekte kennt, für den sind die

Hürden schon ein wenig kleiner geworden.

Autor: Ulrich Grünewald

Was tun beim Unfall?Die wichtigsten Regeln für Autofahrer

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Jeder kann helfen!

Als erster an eine Unfallstelle zu kommen, ist manchmal ein Schock und bedeutet meist psychi-

schen Stress – und das, obwohl es oft auf die ersten Minuten ankommt. Daher sollte man sich

einige Grundregeln gut einprägen: Auch, wenn Sie alleine und unsicher sind, lassen sich diese

Maßnahmen einfach durchführen.

Schritt 1: Ruhe bewahren

Bei einem Unfall geraten viele Menschen in Panik und vergessen, welche Schritte unbedingt und

sofort notwendig sind. Zum Beispiel fällt ihnen die Notrufnummer nicht ein. Daher kommt es dar-

auf an, Ruhe zu bewahren. Wer trotzdem den Kopf verliert: Eine kurze Stichwortliste im Wagen

kann helfen. Sie sollte schnell zur Hand sein, legen Sie sich also einen Zettel ins Handschuhfach

oder ins Fach an der Innentür der Fahrerseite und notieren Sie dort die Schritte, die wir Ihnen hier

auflisten. Dann müssen Sie diese im Ernstfall nur noch abarbeiten.

Schritt 2: Unfallstelle sichern

Leider viel zu häufig vergessen und unterschätzt: das Sichern der Unfallstelle. Oft ist es dadurch

schon passiert, dass Ersthelfer von nachfolgenden Fahrzeugen überfahren wurden. Stellen Sie also

auf alle Fälle die Warnblinkanlage Ihres Wagens ein. Positionieren Sie ein Warndreieck rund 100

Meter gut sichtbar vor die Unfallstelle. Wenn Sie ein separates Warnlicht haben, stellen Sie es bei

Dunkelheit zusätzlich auf.

Schritt 3: Rettungsdienst rufen

Egal ob vom Festnetz oder vom Handy aus: Unter der Nummer 112 erreichen Sie den Rettungs-

dienst. Diese Notrufnummer funktioniert beim Handy übrigens auch ohne SIM-Karte und ohne,

dass Sie die PIN-Nummer eingeben müssen. Wenn die Situation eindeutig ist, wenn Sie etwa

sehen, wie sich vor Ihnen ein Wagen überschlägt, dann rufen Sie so schnell wie möglich den

Rettungsdienst an. Im Notfall zählt jede Sekunde. Und falls es doch glimpflicher abgelaufen ist, als

es schien, können Sie mit einem zweiten Anruf die Situation immer noch klären. Am Besten tele-

fonieren Sie mit dem Handy, während Sie die Unfallstelle absichern. Wichtig beim Anruf mit dem

Handy: Nicht immer werden Sie mit der nächstgelegenen Leitstelle verbunden. Daher müssen Sie

möglichst genau angeben können, wo Sie sich befinden. Bleiben Sie auf alle Fälle so lange in der

Leitung, bis Sie zum Auflegen aufgefordert werden. Leider kommt es immer wieder vor, dass den

Rettungskräften kostbare Zeit verloren geht, weil sie den Unfallort erst mühsam suchen müssen.

Das Warndreieck mit ausreichend

Sicherheitsabstand aufstellen

Jeder kann an einem Unfallort Leben

retten

Der einheitlicher Notruf „112“ gilt für

Festnetz und Handy

Schritt 4: Verletzte ansprechen

Danach sollten Sie zu den Verletzten gehen und mit ihnen sprechen, und zwar egal, wie schwer

oder leicht verletzt die Opfer zu sein scheinen. Diese psychologische Hilfe ist unglaublich wichtig

und wird leider total unterschätzt. Viele Unfallopfer leiden noch Jahre später unter der

Unfallsituation, weil sie sich allein gelassen fühlten und keine menschliche Unterstützung erfahren

haben. Wichtig auch: Wenn Sie den Unfallhergang gesehen haben oder es ganz offensichtlich ein

schwerer Unfall ist, bleiben Sie auf alle Fälle bei den Unfallopfern, auch wenn diese behaupten, es

sei alles in Ordnung. Diese Menschen stehen unter Schock. Das bedeutet zum einen, dass sie

selbst schwere Verletzungen zuerst nicht spüren, aber nach einigen Minuten umkippen können.

Zum anderen können sie im Schockzustand auf die Straße zurücklaufen und von einem nachfol-

genden Fahrzeug überfahren werden.

Schritt 5: Hilfe leisten

Wenn es dann um die medizinische Versorgung geht, ist die Hemmschwelle bei vielen oft ziem-

lich groß. Doch bei Fehlern müssen Sie keine juristischen Konsequenzen befürchten – wohl aber,

wenn Sie es gar nicht erst versuchen. Zur Hilfe ist man nämlich gesetzlich verpflichtet. Wer Zeuge

eines Unfalls ist und die Notfallmaßnahmen unterlässt, kann nach §323c des Strafgesetzbuches

wegen unterlassener Hilfeleistung belangt und zu Geld- oder Freiheitsstrafen verurteilt werden.

Welche Maßnahmen in welcher Situation angebracht sind, lernt man am besten in einem Erste-

Hilfe-Kurs. Er ist auch Voraussetzung für den Führerschein. Doch wie lange ist das bei Ihnen schon

her? Wissen Sie noch, wie man einen Ohnmächtigen in die stabile Seitenlage bringt? Experten

empfehlen, alle 5 bis 10 Jahre einen Erste-Hilfe-Kurs zu wiederholen. Das kann Leben retten und

wird meistens sogar im privaten Umfeld benötigt. Denn auch wenn die meisten Menschen bei

Erster Hilfe an den Fremden bei einem Autounfall denken: Diese Situation ist – relativ gesehen –

selten. Fast 60 Prozent aller Anlässe, bei denen Menschen Erste Hilfe leisten müssen, sind akute

Erkrankungen oder Verletzungen bei Sport und Freizeit. Dann sind es Angehörige oder Freunde,

die Hilfe brauchen.

§323c des Strafgesetzbuches

Paragraph 323c – Unterlassene Hilfeleistung Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erfor-

derlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger

Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

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Autor: Ulrich Grünewald

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Ansprache ist wichtig für die Opfer

Das Erste-Hilfe-Wissen sollte alle 5-10

Jahre aufgefrischt werden

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Wie leiste ich Erste Hilfe?

Nur wenige Maßnahmen sind universell bei verschiedenen Notfällen einsetzbar. Wann man was tun

sollte, und vor allem, wie man es richtig macht, lernt man am besten in einem Erste Hilfe Kurs.

Die folgenden Maßnahmen sollte man auf alle Fälle beherrschen, da sie auch zu Hause oder beim

Sport Leben retten können.

Wenn eine Person im Auto bewusstlos ist, dann unbedingt herausholen. Denn nur außerhalb des

engen Innenraumes hat man die Möglichkeit, bei Atemproblemen zu helfen oder zu reanimieren.

Eine bewusstlose Person sollte man in die stabile Seitenlage bringen. Durch die seitliche Lage kann

eventuell Erbrochenes aus dem Mund abfließen. Anschließend den Kopf sanft nach hinten über-

strecken. Dadurch verhindert man unter anderem, dass die Zunge in den Rachen fällt. Beides

zusammen hält die Atemwege frei. Arme und Beine sollten so liegen, dass der Verletzte auch

bewusstlos in dieser Position bleiben kann.

Wenn die verletzte Person nicht mehr atmet, sofort mit der Reanimation beginnen. Das bedeutet

vor allem: eine Herz-Druck-Massage durchführen. Dazu muss der Brustkorb extrem schnell und kräf-

tig mit den Händen eingedrückt und wieder entlastet werden. Eine gute Druckfrequenz ist 100-mal

pro Minute. Im Wechsel mit der Herz-Druck-Massage sollte eine Mund-zu-Nase-Beatmung erfolgen:

zweimal in die Nase des Verletzten ausatmen, 30- bis 50-mal Brustkorb eindrücken, wieder zwei-

mal in die Nase des Verletzten atmen usw. Die Reanimation sollte solange fortgesetzt werden, bis

entweder die Atmung wieder einsetzt oder professionelle Retter eintreffen.

Wichtig ist außerdem, den Verletzten vor Unterkühlung zu schützen. Egal, ob er bei Bewusstsein ist

oder nicht. Man wärmt ihn am einfachsten mit einer Rettungsdecke. Dabei die silberne Seite zum

Verletzten und die goldene nach außen drehen. Wenn möglich, sollte man den Verletzten ein-

wickeln, so dass er auch von unten gewärmt wird und nicht auf dem kalten Boden liegt.

Wegsehen und WeiterfahrenWarum Menschen nicht helfen

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Zerschlagene Autoscheiben und Kunstblut

Wie groß ist die Hilfsbereitschaft im Straßenverkehr? Quarks & Co macht zusammen mit der

Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) den Test: Auf einer mäßig befahrenen Landstraße in der

Eifel präparieren wir einen alten Unfallwagen, verteilen Glasscherben im Gras, produzieren

Bremsstreifen und schminken zwei Statisten als blutende Schwerverletzte. Alles soll so aussehen,

als sei der Wagen mit zwei Insassen vor wenigen Sekunden verunglückt. Mit versteckter Kamera

beobachten wir, wie die Fahrer reagieren, die sich der Unfallstelle nähern. Damit kein falscher

Notruf bei den Leitstellen der Rettungskräfte ankommt, sind Feuerwehr, Rettungsdienste und

Polizei informiert.

Helfen sollen andere

Dann starten wir den Test und sind gespannt. So, wie der Unfall von der Straße her zu sehen ist,

können wir uns nicht vorstellen, dass überhaupt ein einziger Wagen vorbeifährt, ohne anzuhalten.

Doch wir werden schnell eines Besseren belehrt. Immer wieder fahren Autos einfach an der

Unfallstelle vorüber. Um zu erfahren, warum sie nicht gehalten haben, stoppen wir einige der

Nichthelfer rund einen Kilometer nach der Unfallstelle und fragen nach. Erstaunlicherweise ist allen

klar, dass es richtig und notwendig gewesen wäre, zu helfen. Warum sie trotzdem nicht angehal-

ten haben, erklären einige damit, dass sie ja schon vorbei gewesen wären, bis sie es richtig regi-

striert hätten. Andere wälzen die Verantwortung auf die Feuerwehr ab, die doch bald kommen

müsse. Doch gerufen hatte sie keiner von ihnen. Dabei ist eigentlich jeder Zeuge eines schweren

Unfalls dazu verpflichtet, einzuschreiten – unterlassene Hilfeleistung ist nach §323c des Strafgesetz-

buches ein Straftatbestand.

Nur jeder Zweite hält an – und das ist viel

Viele stoppten aber auch ihren Wagen und eilten zu den Verletzten. An der Unfallstelle haben sich

dann ergreifende Szenen abgespielt. Es war beeindruckend zu erleben, wie bewegt die Helfer von

der Situation waren, und wie selbstverständlichen sie sich eingesetzt haben.

Insgesamt haben beim Quarks & Co-Test etwas mehr als die Hälfte geholfen. Und damit ist der

Versuch noch sehr positiv ausgefallen, wie Experten sagen. Frühere Tests von ADAC und DEKRA

sowie Untersuchungen von Psychologen haben ergeben, dass oft weniger als ein Drittel der

Menschen Hilfe leistet. Mit fatalen Folgen: Rund jeder zehnte tödlich Verunglückte könnte überle-

ben, wenn ihm rechtzeitig geholfen würde.

Der Unfall soll möglichst echt aussehen

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Viele Helfer, wenig Hilfe

Gemeinsam mit Psychologen der Bundesanstalt für Straßenwesen und des Instituts für Notfall-

medizin in München suchen wir nach Erklärungen für das Verhalten der Nichthelfer. Ein seltsamer

Effekt sticht sofort ins Auge: Je mehr Menschen gleichzeitig am Unfallort sind, umso geringer ist

die Wahrscheinlichkeit, dass jemand hilft. Das klingt paradox, möglicherweise handelt es sich bei

dem Phänomen aber um eine blitzschnelle und unbewusste Kalkulation in den Köpfen, wie die

Experten sagen: Der erste Fahrer, der an der Unfallstelle vorbeifährt, hat nur wenige Sekunden Zeit,

um die Situation einzuschätzen. Während er noch überlegt, geht sein Blick fast automatisch in den

Rückspiegel. Sieht er hinter sich einen Wagen, gibt er die Verantwortung fast automatisch an des-

sen Fahrer ab. Aus Sicht des ersten hat der Hintermann ja länger Zeit, um zu reagieren. Also soll

der doch anhalten und helfen!

Kolonne der Drückeberger

Tatsächlich hat der zweite Fahrer auch nicht mehr Zeit, um die Situation zu analysieren. Das bedeu-

tet, dass auch er wahrscheinlich einen Blick in den Rückspiegel wirft – und genau dasselbe tut

wie sein Vorgänger: Er schiebt die Verantwortung auf den nachfolgenden Fahrer ab. Und so geht

es von Auto zu Auto immer weiter. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von Verant-

wortungsdiffusion: Je mehr Menschen am Unfallort sind, umso schneller und einfacher kann sich

der Einzelne aus der Pflicht entlassen. Schließlich reicht es bei keinem der potenziellen Helfer mehr

für ein konkretes Einschreiten aus.

Der Herdentrieb siegt

Für die weiter hinten Fahrenden kommt ein Faktor dazu, den die Psychologen „pluralistische

Ignoranz“ nennen: Die Nachfolgenden sehen, dass die Fahrer vor ihnen an der Unfallstelle vorbei

fahren. Daraus ziehen sie den falschen Schluss, dass die Situation offenbar nicht so schlimm ist.

Die Nichthelfer sind ein passives Vorbild. Und auch hier gilt: Je mehr solcher Vorbilder es gleich-

zeitig gibt – je mehr passive Zeugen an der Unfallstelle sind – umso geringer ist die Wahrschein-

lichkeit, dass jemand diese Haltung durchbricht.

Unfälle belasten Helfer und Zeugen

Bei unserem Test haben wir auch beobachten können, was die Experten bereits aus anderen

Studien kennen: Der Unfall stellt für alle Passanten eine Extremsituation dar. Sowohl die Helfer als

auch die meisten Nichthelfer stehen unter Stress und sind stark aufgewühlt. Bei einigen Personen

ist die Angst vor einer Begegnung mit leidenden oder gar sterbenden Menschen offenbar so groß,

dass sie unbewusst die Entscheidung treffen, die Situation zu vermeiden. Das Verhalten stellt also

ein Art Selbstschutz dar. Um sich selbst zu schützen, um also die eigene Angst in den Griff zu

bekommen, flüchten die Menschen und vermeiden die Konfrontation mit den angstauslösenden

Reizen.

Die Verantwortung zu helfen wird gerne

an den Hintermann abgegeben

Je mehr potentielle Helfer an der

Unfallstelle vorbeikommen, um so selte-

ner hilft jemand

Blutige Verletzungen bedeutet für viele

Helfer extremen Stress

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Im Zweifelsfall – einfach helfen!

Es gibt noch mehr Hemmschwellen für die Hilfsbereitschaft. Auch Zeitnot, mangelndes medizini-

sche Wissen oder das Unbehagen, durch die Hilfeleistung im Mittelpunkt zu stehen und von ande-

ren beobachtet zu werden, hält Menschen vom Helfen ab. Das haben zahlreiche Untersuchungen

schon gezeigt. Sobald man jedoch um die psychischen Mechanismen weiß, kann man ihnen in

einer Notsituation gelassener begegnen. So kann zum Beispiel der Teufelskreis durchbrochen wer-

den, dass weniger geholfen wird, je mehr potenzielle Helfer da sind. Wenn Sie also das nächste

Mal eine Notsituation beobachten, fassen Sie Mut und lassen Sie Ihre inneren Vorbehalte bewusst

beiseite: Helfen Sie, auch und gerade wenn Sie dadurch die Situation an sich reißen müssen!

Autor: Ulrich Grünewald

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Lesetipps

Zivilcourage lernen – Analysen, Modelle, Arbeitshilfen

Hrsg.: Gerd Meyer, Ulrich Dovermann, Siegfried Frech, Günther Gugel

Verlagsangaben: ISBN 3-932444-13-2

Sonstiges: Die Kapitel des Buches sind einzeln online abrufbar auf den Seiten der

Bundeszentrale für politische Bildung:

http://www.bpb.de/publikationen/K74L8K,0,Zivilcourage_lernen:

_Analysen_%96_Modelle_%96_Arbeitshilfen.html

Ausführliche Sammlung von Aufsätzen verschiedener Autoren zu unterschiedlichsten Aspekten von

Zivilcourage. Von der Psychologie des Helfens und der Zivilcourage über die Unterschiede zwischen

„weiblichem“ und „männlichem“ Helfen bis zur Analyse der Extremsituation der Juden-Retter im

Dritten Reich. Aber nicht nur theoretisches Hintergrundwissen wird geliefert, sondern es werden

auch praktische Aspekte behandelt: Wie kann man Zivilcourage fördern? Kann man Zivilcourage trai-

nieren?

Psychologie hilfreichen Verhaltens

Autor: Hans Bierhoff

Verlagsangaben: ISBN 3-17-010183-8

Sonstiges: Preis: 14,32 Euro

Verschiedene Studien und Befragungen werden vorgestellt, die sich mit der Frage beschäftigen,

warum einige Menschen in einer Notsituation helfen und andere nicht, und von welchen

Rahmenbedingungen die Hilfsbereitschaft abhängen kann. Wissenschaftlich fundiert und ausführ-

lich, allerdings für den Laien etwas trocken und zu detailliert.

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“Why did Kitty Genovese die?”

http://www.ios.org/showcontent.aspx?ct=25&h=53

Beschreibung des Mordanschlags auf die junge Amerikanerin Kitty Genovese, die in ihrem eigenen

Wohnhaus brutal über mehrere Stunden zu Tode gequält wurde. Insgesamt 38 Personen waren

Zeugen des Überfalls, aber keiner hat geholfen oder um Hilfe gerufen. Der spektakuläre Fall war

Anlass für die Forschung über die Psychologie des Helfens.

Publikation des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM)

http://www.inm-online.de/pdf/forschung/pub_02_2005.pdf

Publikation des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) in München zum Thema

“Konsequenzen aus der Altruismusforschung für die Ausbildung in Erster Hilfe”

Zivilcourage und gewaltfreies Handeln

http://www.friedenspaedagogik.de/themen/zivilcourage

Schwerpunkt des Instituts für Friedenspädagogik in Tübingen zum Thema Zivilcourage und gewalt-

freies Handeln

Unterschiedlichsten Aspekten von Zivilcourage

http://www.bpb.de/publikationen/K74L8K,0,Zivilcourage_lernen:

_Analysen_%96_Modelle_%96_Arbeitshilfen.html

Ausführliche Sammlung von Aufsätzen verschiedener Autoren zu unterschiedlichsten Aspekten von

Zivilcourage

Institut für Psychologische Unfallnachsorge

www.unfallnachsorge.de

Die Psychotherapeuten am Institut für Psychologische Unfallnachsorge sind spezialisiert auf die

ganz besonderen Probleme von Menschen, die bei einem Unfall verletzt wurden oder durch ihre

Hilfe bei einem Unfall anschließend in psychologische Schwierigekeiten geraten.

Unterlassene Hilfeleistung

http://bundesrecht.juris.de/stgb/__323c.html

Wer es nicht weiß oder es vergessen hat: Das deutsche Strafgesetz verpflichtet zur Hilfe bei

Unfällen

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Linktipps

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Folgende Organisationen bieten Erste-Hilfe-Kurse an, bitte informieren Sie sich dazu bei Ihrem

lokalen Rettungsdienst:

Deutsches Rotes Kreuz

http://www.drk.de/

Die Johanniter Unfallhilfe

http://www.johanniter.de/

Malteser Hilfsdienst

http://www.malteser.de/

Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e.V.

http://www.asb.de/view.php3?show=5400003200160

Deutsche Lebensrettungs-Gesellschaft e.V.

http://www.dlrg.de/

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