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2 Inhaltsverzeichnis Vorwort….................................................... ............................................................ .............I Abstract…….................................................. ............................................................ .........II Abkürzungen…………………………....................................... .......................................III 0. Einleitung……………………………....................................... ......................................3 1. Erziehung und tumpheit…………………………….......................................... .............9 1.1. Zum Thema Erziehung………………………………………………..........................9 1.1.1. Begriffsbestimmung………………………………………........................... ............9 1.1.2. Zum Verhältnis von Erziehung und Bildung…………...........................................10 1.2. Das Konzept tump(heit) …………………..................................................... .............15 1.2.1. Begriffsbestimmung………………………………………….......................... .......15 1.2.2. tumpheitsbelege in der Parzival- Dichtung…................................................... ........17

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Page 1: Repositório Aberto da Universidade do Porto: Home · Web viewDiese allgemeine Erziehungsperspektive des Mittelalters gilt als eine unumgängliche Regel, da sie von Gott selbst etabliert

2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort….............................................................................................................................I

Abstract…….......................................................................................................................II

Abkürzungen…………………………..............................................................................III

0. Einleitung…………………………….............................................................................3

1. Erziehung und tumpheit…………………………….......................................................9

1.1. Zum Thema Erziehung………………………………………………..........................9

1.1.1. Begriffsbestimmung……………………………………….......................................9

1.1.2. Zum Verhältnis von Erziehung und Bildung…………...........................................10

1.2. Das Konzept tump(heit)…………………..................................................................15

1.2.1. Begriffsbestimmung………………………………………….................................15

1.2.2. tumpheitsbelege in der Parzival-Dichtung…...........................................................17

2. Parzivals Erziehung und die Potenzierung der tumpheit…………...............................21

2.1. Erziehung und tumpheit in und nach Soltâne………………………………..............21

2.1.1. Parzivals Erziehung in Soltâne……………………………....................................21

2.1.2. Parzivals tumpheit nach Soltâne……………………..............................................28

2.2. Erziehung und tumpheit in und nach Grâharz…………………….............................31

2.2.1. Parzivals Erziehung in Grâharz................................................................................31

2.2.2. Parzivals tumpheit nach Grâharz..............................................................................39

2.3. Erziehung und tumpheit in und nach Fontâne la salvâtsche.......................................43

2.3.1. Parzivals Erziehung in Fontâne la salvâtsche…......................................................43

2.3.2. Parzivals tumpheit nach Fontâne la salvâtsche........................................................52

2.4. Fazit……………………………………………….....................................................53

3. Schlussbetrachtung………………………………….....................................................57

Literaturverzeichnis…………………………………………...........................................60

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0. Einleitung

Die Literatur des Mittelalters hat sich viel mit der Frage der Erziehung des Individuums

beschäftigt. Von Gattung zu Gattung kommt das Thema der Erziehung in

unterschiedlicher Form vor. Tendenziell erscheint dieser Begriff eher modern zu sein, da

im Mittelalter noch keine Erziehungskonzepte im engeren Sinne zu finden waren.

Herbart1 definiert die Erziehung als „unentbehrliche pädagogische Hilfe für den

Heranwachsenden auf dessen Wege zur ´inneren Freiheit´.“ (GEISSLER: 2006, 44) Die

Erziehung, so die Neuzeit, bemüht sich, das Individuum dazu zu bringen, sich selbst

durch vernünftige Überlegungen bestimmen zu können. Das erzogene Wesen soll im

Stande sein, durch die pädagogischen Einsichten zu einer Person gemacht,

Entscheidungen für sich selbst treffen zu können. Ferner kommt der Begriff der

Erziehung bei Durkheim als „die Einwirkung, welche die Erwachsenengeneration auf

jene ausübt, die für das soziale Leben noch nicht reif sind“ vor (DURKHEIM: 1972, 30). So

definiert, versucht die Erziehung im Individuum ein Sein zu schaffen, das sich an die

Lebensart seiner Gesellschaft anpassen kann, das heißt, ein Wesen, das wie die Seinen

später handeln kann. Im Mittelalter, in dem man sich in einer Ständegesellschaft befindet,

wurde das Individuum gemäß der Art seiner Herkunft erzogen, um aus ihm ein

vernünftiges Wesen und einen für die Gesellschaft gut angepassten Menschen zu machen:

Das Kind aus königlicher Herkunft soll Belehrungen in den königlichen Sitten

bekommen und das Bauernkind soll als Bauer erzogen werden. Diese allgemeine

Erziehungsperspektive des Mittelalters gilt als eine unumgängliche Regel, da sie von Gott

selbst etabliert wurde. Ein Verstoß gegen diese Ordnung wird deswegen als ein

Verbrechen betrachtet, das des Todes wert ist, wie man es in der Versnovelle Helmbrecht

bemerkt. Ein Rückblick in die früheren Zeiten offenbart, dass die Erziehung andere Ziele

verfolgte, und zwar wie Durkheim es weitererklärt: „In den Städten Griechenlands und

des römischen Reiches hat die Erziehung das Individuum darin geübt, sich blind dem

Kollektiv unterzuordnen, zur Sache der Gesellschaft zu werden“ (DURKHEIM: 1972, 23).

Hier tritt dagegen ein Individuum auf, das zum Gegenstand seiner Gesellschaft gemacht

wird. Es wird eher nach dem Bedarf seines Milieus erzogen, das heißt, wenn das Milieu,

in dem das Individuum lebt, sich in einem kriegerischen Zustand befindet, wird das

Individuum so erzogen, dass es bei dem Krieg helfen kann. Der Begriff der Erziehung

1 Johann Friedrich Herbart (* 4. Mai 1776 in Oldenburg; † 14. August 1841 in Göttingen) war ein deutscher Philosoph, Psychologe und Pädagoge, der über den deutschen Sprachraum hinaus als Klassiker der Pädagogik gilt. Er wurde von Erich E. Geissler in seinem Lehrbuch zitiert. Geissler empfindet seine Definition der Erziehung als die beste, die es bisher gegeben hat.

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soll also die Zeitalter unterschiedlich geprägt haben, und dies je nach dem gewünschten

Ziel.

Obwohl man die Erziehung immer wieder als einen modernen Begriff zu

definieren vermag, hat das Mittelalter der Erziehung eine besondere Bedeutung

beigemessen, indem viele Dichter dieser Zeit über das Thema der Erziehung geschrieben

haben. Im Parzival als auch im Trojanerkrieg, im Renner, im Wigalois, im Helmbrecht

und im Gregorius kommt der Begriff der Erziehung in irgendeiner Form vor und lässt

wissen, wie die Erziehung in diesem Zeitalter gestaltet wurde. Sicher gibt es - je nach der

Epoche - verschiedene Punkte in der Definition von Erziehung zu bemerken, aber das

Kind bzw. das junge Alter kommt in den jeweiligen bisher gegebenen

Erziehungssystemen als das Wesen vor, an dem die Erziehung ihr Ziel besser erreichen

will, denn die Kindheit wurde als der Mangelzustand aller Art betrachtet (WINKEL: 1968,

74). Die Erziehung gibt sich deswegen zur Aufgabe, diesen Mangel im Kind zu beheben.

Im jüngeren Alter wurden adelige Jungen sowie Mädchen regelmäßig so erzogen, dass

sie nach den höfischen Lebenswerten leben konnten. Das jüngere Alter erweist sich also

als eine geeignete Entwicklungsetappe, um aus den zarten Wesen erfahrene und

gesellschaftlich gut angepasste Menschen zu machen. Nach Rudolph BRAUN: „The

children´s will has to be molded from an early age, so that it could be used to serve the

interests of family politics, that is to say, to serve the interests of socio-cultural

reproduction.“ (BRAUN: 1996, 259) Im Gegensatz zu den Mädchen, die in dieser Zeit

häufig als bereits erzogene Wesen dargestellt werden, werden die Jungen oft in

Erziehungssituationen dargestellt.

Im deutschsprachigen Raum beruhte die Adelserziehung auf altgermanischen

Gewohnheiten. „Die Ähnlichkeit mit altrömischen Wertnormen, gipfelnd in der virtus -

arete (Tüchtigkeit und Ehre), ist unverkennbar, unabhängig von der Frage, ob sich das

ritterliche Tugendsystem im 12. Jahrhundert aus der Cicero-Rezeption erklären lässt. In

Anlehnung an die septem artes liberales wurden die Erziehungserfordernisse als ,,septem

probitates“ systematisiert (Schwimmen, Reiten, Pfeilschießen, Fechten, Jagen,

Schachspiel, Versemachen, beziehungsweise Kenntnis von Heldenliedern und

Spruchweisheit mit Saitenspiel)“. (LexMA – Bd. III: 1980-1993, 2199) Die Erziehung

junger Adliger wird in die drei Altersstufen der infantia, pueritia und adolescentia

unterteilt. Joachim BUMKE hat die Ausbildung der jungen Adeligen sowohl in den

literarischen Zeugnissen als auch in den historischen Quellen in zwei unterschiedliche

Bereiche geteilt. Auf der einen Seite steht das körperliche Training für die männlichen

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Adligen, die für eine Ritterlaufbahn vorgesehen sind und auf der anderen Seite steht die

geistige Bildung, die auch die Vermittlung höfischer Verhaltensweisen und

Umgangsformen umfasst. (vgl. BUMKE: 1994, 68) Wie sich die Vermittlung geistiger

Bildung vollzog, lässt sich kaum genauer sagen, weil sich darüber in historiographischen

Quellen nur sehr pauschale Aussagen finden, so Lutz FENSKE. (FENSKE: 1990, 59) Der

Umgang mit Waffen und das Reiten ist das körperliche Training. Neben der körperlichen

Ertüchtigung spielen die gesellschaftlichen Umgangsformen eine sehr wichtige Rolle bei

der Erziehung. In diesen Bereich gehören auch für den Mann musikalische Fähigkeiten,

wie das erwähnte Versemachen oder die Kenntnis von Heldenliedern, Spruchweisheiten

mit Saitenspiel und Schachspiel. Letzteres nimmt in der mittelalterlichen Adelskultur eine

herausragende Stellung ein, da es als das Spiel der Könige nur dieser vornehmen

Gesellschaftsschicht vorbehalten ist und somit auch als Abgrenzung gegenüber den

anderen Bevölkerungsschichten gilt. Die Erziehung der Jungen beruht also mehr auf dem

Ritterleben, während die der Mädchen, sie zur „Hüterin aller echten Werte menschlicher

Gesittung“ (NEIS: 1944, 90) zu führen versucht. Die Erziehung der Mädchen neigte dazu,

sie mit dem Haushalt vertraut zu machen. Sie werden zu Müttern, Erzieherinnern und

Hüterinnen der höfischen Werte erzogen. Die Erziehung der Mädchen scheint sich also

auf das Beibringen von Handfertigkeiten und Haushaltskünsten beschränkt zu haben.

Wichtig ist aber zu wissen, dass die adligen Mädchen auch Unterweisungen in der

Musik- sowie der Schreibkunst erhalten haben sollten, obwohl es nicht so verbreitet war

(vgl. dazu SIEBURG: 2010, 51). Obwohl viel Mühe dabei aufgewendet wurde, lässt sich

fragen, ob die Erziehung in der damaligen Zeit ihr Ziel2 – das Individuum gemäß der Art

seines Standes zu erziehen und es zu einem reifen bzw. erfahrenen Wesen zu machen, das

heißt, die tumpheit zu überwinden, – immer erreichen konnte. Da „das Mittelalter in

erster Linie am reifen, vollendeten Menschen interessiert ist“ (WINKEL: 1968, 67), sollte

die Erziehung sich viel Mühe gegeben haben, das Individuum von seiner tumpheit zu

lösen, wobei tumpheit als das Konzept zum Kennzeichnen der Menschen ohne Erziehung

im Mittelalter zu betrachten ist. Die Frage der tumpheit kommt in der Forschungsliteratur

oft in Verbindung mit den Namen Joachim BUMKE, Heinz RUPP und Alois M. HAAS vor.

Bei allen wird dem Konzept tumpheit ein mangelhafter Zustand, sei es geistig oder

physisch (Sinne), zugewiesen. In der Forschung ist dieses Konzept immer mit der Frage

der Erziehung verbunden, wobei die tumpheit als die Bezeichnung für ein Individuum 2 „Aus der Perspektive der Erzieher, die den jungen Menschen Sprache, Religion, Kultur, Werte, Recht, Wirtschaftsformen etc. vermittelt, zielt Erziehung neben Mündigkeit auf die Eingliederung in das soziale Gefüge.” (SCHMITZ-STUHLTRÄGER: 2009, 25)

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ohne Wissen und ohne Tugend betrachtet wird.

Ein gutes Beispiel für die Erscheinung des Konzepts tumpheit zusammen mit der

Frage der Erziehung ist die Dichtung Parzival. Entstanden in der ersten Hälfte des 13.

Jahrhunderts gilt diese Dichtung als eines der am meisten gelesenen Werke jener Zeit,

wie die Überlieferung in den Handschriften zeigt. Der Erzähler schildert seinem Leser

durch seine Aussagen Kenntnisse auf den Gebieten der Ritterschaft (vgl. Gahmuret,

Parzival, Gawan u.a.), der Heilkunde (481, 5 – 483, 18), der Astronomie (453, 23 – 455,

1), der Geographie (vgl. die Aufenthaltsorte von Gahmuret, Parzival u.a.) und der

Theologie (448, 1-26/462, 1 – 463, 28). Nicht nur diese Themen sind in der Dichtung zu

finden, sondern auch das Thema Liebe kommt übergreifend vor. Wir erfahren z. B. in den

ersten zwei Büchern etwas über die beiden Ehen von Gahmuret mit Belakane und

Herzeloyde. Das Abenteuer Gawans in den Büchern VI-VIII und X-XIII ist ebenfalls

durch seine Episoden mit unterschiedlichen Frauen und seine Ehe mit Orgeluse geprägt.

Parzivals Ehe mit Condwiramurs und die Szene der Blutstropfen im Schnee treten, um

dem Motiv der Liebe ein Gewicht zu geben. Weiterhin problematisiert Wolfram durch

den Lebensweg der Hauptfigur Parzival die Fragen der Sünde bzw. der Schuld, der

Erziehung und der tumpheit, die als bedeutungsvolle Motive der Handlung zu betrachten

sind. Parzival ist zunächst nicht nur ein Sünder, der für den Tod seiner Mutter, für die

Tötung seines Verwandten und für das Frageversäumnis auf der Gralsburg büßen soll,

sondern auch der Knappe, der vil tumpheit wielt (124, 16), und der durch Erziehung,

einerseits zu einem für die Gesellschaft gut angepassten Menschen gemacht und

andererseits von seinem ungeschickten Verhalten befreit werden soll. Von der Kindheit

bis zum reifen Alter, das heißt, bis er Gralskönig wird, wurde Parzival regelrecht erzogen.

Weit davon entfernt dieses Beispiel als Abbild bzw. als Muster der höfischen Erziehung

im Mittelalter zu betrachten, bestreitet aber niemand, dass die Dichtung Parzival

pädagogische bzw. erzieherische Züge enthält: „Auch Parzivals Kindheit und Erziehung

sind in die Romansphäre erhoben … kann auch Parzivals Kindheit und Erziehung

hintergründig beispielhaft und lehrreich werden.“ (WINKEL: 1968, 73)

Durch die Erzählung über die Jugend des Helden bringt Wolfram von Eschenbach

einerseits unterschiedliche Themen ins Spiel und lässt uns andererseits wissen, wie eine

Erziehung in dieser Zeit gestaltet ist. Vor dem Hintergrund der Erziehungsgeschichte von

Parzival greift Wolfram unterschiedliche Themen und Motive auf, um die

Erziehungsmodelle seiner Zeit, aber nicht die des Idealwesens, zu reflektieren und zu

diskutieren. Die Handlung schildert uns den Lebensweg bzw. die Erziehungsmomente

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der Hauptfigur Parzival. Von seiner Mutter Herzeloyde, über den Ritter Gurnemanz bis

hin zu dem Einsiedler Trevrizent lässt der Erzähler die Entwicklungsetappen des

Protagonisten zum Ausdruck kommen. Durch theoretische sowie praktische

Unterweisungen wird der Held gemäß dem Bild des idealen Ritters der Artus- und

Gralsgesellschaft erzogen. Ziel dieses Romans scheint, die Darstellung des

vollkommenen Wesens zu sein, das heißt, das Individuum, das einerseits gemäß der Art

seiner Herkunft erzogen wird und andererseits die tumpheit überwunden hat. Parzival hat

durch sein Leben Unterweisungen erhalten, die ihn zu einem reifen Mann machen sollen.

Trotz der Bemühungen seiner Erzieher zeigt Parzival dennoch auf seinem weiteren Weg

einige Verhaltensweisen, die die Wirkung der Erziehung in seinem Leben in Frage stellen

lassen. Man fragt sicher daher, ob er von seiner Unerfahrenheit befreit ist, oder ob er

immer noch der reine tôr geblieben ist. Die Themen der Erziehung und der tumpheit

kommen also als wichtige Episoden im Leben des Helden vor, deswegen habe ich diese

Dichtung als Untersuchungsstoff gewählt, da die beiden Themen das Anliegen der

vorliegenden Arbeit sind.

Das Thema der Untersuchung in der vorliegenden Arbeit betrifft ein aktuelles

Problem, nämlich das der Erziehung und ihrer Wirkung auf das erzogene Wesen, da diese

Tatsache in unserer heutigen Gesellschaft auch zu erleben ist. Kann man immer noch

unerfahren bzw. unreif bleiben, obwohl man erzogen wird? Die Dichtung Parzival hat

uns bewiesen, dass das möglich ist und zeigt daher, dass die Erziehung das Individuum

nicht immer zum Idealbild führt. Was versteht das Mittelalter unter Erziehung? Wichtig

ist zu erwähnen, dass ich mich in dieser Arbeit mit Erziehung beschäftigen möchte und

nicht mit der Bildung. Denn man neigt dazu, diese Termini zu verwechseln. Was versteht

man unter tumpheit, wenn man sie in Zusammenhang mit der Frage nach Erziehung

bringt? Ab wann kann man von tumpheit sprechen? Die vorliegende Arbeit wird

versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Ziel dieser Arbeit ist also, die Art und Weise der Auseinandersetzung mit den

Themen der Erziehung und der tumpheit in der deutschen Literatur des Mittelalters zu

untersuchen. Beweisen möchte ich, dass die tumpheit nicht nur ein Mangel an Erziehung

ist, aber auch, dass die Erziehung tumpheit potenzieren kann. Es wird darum gehen, die

Erziehungsepisoden im Leben des Helden des gewählten Beispiels zu exzerpieren und sie

mit der Frage der tumpheit zu konfrontieren und schließlich zu zeigen, ob Parzival gut

erzogen wird und von seiner tumpheit befreit ist.

Die Arbeit wird hauptsächlich aus zwei Teilen bestehen. Der erste Teil wird sich

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mit der Frage der Erziehung und der tumpheit im Allgemeinen beschäftigen. Hier werde

ich die beiden Begriffe in ihrer Vielfältigkeit definieren. Bei der Definition der Erziehung

werde ich den Unterschied zwischen Erziehung und Bildung hervorheben, denn die

beiden Termini lassen sich unterscheiden, obwohl das Mittelalter dasselbe Wort zuht

benutzt, um über die Realität der Erziehung und Bildung zu sprechen. Weiterhin werde

ich den Begriff tump(heit) definieren und dann die unterschiedlichen Passagen des

ausgewählten Beispiels heraussuchen, die nicht auf die Hauptfigur der Dichtung

hinweisen. Der zweite Teil setzt sich zum Ziel, einerseits die Erziehungsepisoden des

Helden zu bearbeiten und andererseits die Erscheinungsformen der tumpheit im Leben

Parzivals zu schildern. Parzivals Erziehung werde ich anhand fünf verschiedener

Momente darlegen: seine Kindheit in Soltâne mit der Erziehung durch seine Mutter

Herzeloyde und durch die Ritter, die Ritterlehre durch Gurnemanz in Grâharz und die

religiöse Unterweisung durch den alten Ritter Kahenîs und dann durch den Eremiten

Trevrizent in Fontâne la salvâtsche. Diese entsprechen den drei Phasen in der

Entwicklung von Parzival. Zusammen mit den Erziehungsinhalten werde ich auf einige

falsche Verhaltensweisen Parzivals eingehen, die seine tumpheit beweisen. In einem Fazit

werde ich einige Merkmale zu den Erziehungsepisoden des Helden und zu den

Erziehungsmethoden seiner Lehrer hervorheben. Darauf folgt die Schlussbetrachtung, die

auf die Beantwortung der oben erwähnten Fragen eingehen wird, und dabei werde ich

auch zeigen, inwiefern man Parzival für gut erzogen halten kann.

1. Erziehung und tumpheit

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1.1. Zum Thema Erziehung

1.1.1. Begriffsbestimmung

Der Begriff der Erziehung lässt sich heute schwer definieren. Die Forschung weist dessen

Wurzel auf den Ausdruck „Kultur“ zurück, dessen Ursprung auf die römische Antike

zurückgeht (vgl. dazu MUSOLFF: 1997, 264); bis zum Ende des 16. Jahrhunderts war der

Begriff Erziehung mit der Frage der Religion verbunden. Es entstanden in dieser Zeit

Ausdrücke wie cultura Christa, cultura Dei, aber auch cultura daemonum (ebd. 265), um

die Erziehung des Menschen zum Christen oder zum Diener des Teufels zu betonen;

allmählich „hatte der Ausdruck inzwischen eine direkte Bedeutung im Sinn praktischer

und theoretischer Erziehung und Selbstbildung erlangt.“ (ebd. 266) Damit besitze jeder

einen allgemeinen Begriff von Erziehung, insofern er selbst erzogen worden ist und

selber an anderen erzieherisch wirkt (SCHMITZ-STUHLTRÄGER: 2009, 23). Daher sind also

verschiedene Bedeutungen des Begriffs entstanden.

Aus dem althochdeutschen irziohan (vgl. dazu Duden: 2011, 548) entsteht das

Wort erziehen aus dem Präfix „er“ und dem Stammwort „ziehen“, wobei das

althochdeutsche Präfix ir „heraus“ bedeutet. Das Wort „erziehen“ heißt herausziehen,

also von drinnen nach außen ziehen. Die Erziehung soll in diesem Sinne helfen, die in

jedem versteckten Werte zu äußern. Dazu hat BREZINKA eine grundlegende

Erziehungsdefinition formuliert:

„Unter Erziehung werden Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Disposition anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern und seine als wertvoll beurteilten Bestandteile zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten.“ (BREZINKA: 1990, 95)

Diese Auffassung der Erziehung impliziert die Einflussnahme eines anderen Menschen.

Das Hauptziel wäre also die Bestätigung und Verbesserung der inneren mitbekommenen

Eigenschaften. KRON geht weiter und verknüpft den Begriff Erziehung mit

„Sozialmachung“.3 Bei KRON ist dieser Begriff der „Sozialmachung“ so zu verstehen, als

dass er ihn von Sozialisation unterscheidet und deswegen erscheint seine Definition der

Erziehung als etwas widersprüchlich. Denn, wie kann die Erziehung das Individuum

sozialmachen, ohne es zu sozialisieren? MOLLENHAUER seinerseits versteht unter Erziehung

ein symbolisch vermitteltes kommunikatives Handeln (vgl. MOLLENHAUER: 1976, 168).

3„Erziehung sei ausschließlich im Sinne von „Sozialmachung“ zu verstehen. Enkulturation und Sozialisation sind daher von Erziehung zu unterscheiden.” (KRON: 2001, 55)

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Wir erkennen durch diese Auffassungen drei unterschiedliche Meinungen über die

Erziehung, und zwar, die Verbesserung der inneren Eigenschaften, die Sozialmachung

und das kommunikative Handeln. Die folgende Aussage Erich Webers über die

Erziehung, wodurch er die Erziehung in Zusammenhang mit dem menschlichen

Geburtszustand treten lässt, gibt zu verstehen, dass die Erziehung letztendlich die

Entwicklung des Heranwachsenden beeinflusst haben sollte, um diesen zu einer Art

Mündigkeit gelangen zu lassen:

„Das neugeborene Menschenkind ist ein ,hilfloser Nestflüchter´, dessen Sinnesorgane bereits funktionieren, der jedoch die spezifisch menschlichen Verhaltensweisen, nämlich den aufrechten Gang, die Sprache und das einsichtige (intelligente) Handeln noch nicht zu vollbringen vermag. Diese Fähigkeiten beginnt der Mensch erst nach der Geburt, in der Regel bis gegen Ende des ersten Lebensjahres, unter dem Einfluss seiner Umwelt zu erlernen.“ (WEBER: 1974, 62)

Durch diese Definition erfahren wir, dass die Erziehung als ein Mittel betrachtet wird, um

das Kind zum Verstand zu führen.

Diese Definitionen erlauben uns zu erkennen, wie unterschiedlich der Begriff der

Erziehung verstanden wird. In der Vielfältigkeit der Bedeutung dieses Begriffs tritt auch

das hervor, was die Erziehung aus dem Leben Parzivals machen will, nämlich ihn in die

Gesellschaft durch seine standesgemäße Erziehung zu integrieren und ihn zur Reife zu

führen. Diese Auffassungen der Erziehung nach lassen verstehen, dass sich die Erziehung

mehr um die Formung des Charakters des Individuums kümmert. Im Mittelalter aber hat

man den Eindruck, dass dieses Zeitalter Erziehung und Bildung nicht voneinander

trennte. Um die Konzepte der Erziehung und Bildung besser zu verstehen, folgt zunächst

ein Kapitel über den Unterschied der beiden Begriffe mit Bezug auf das Mittelalter.

1.1.2. Zum Verhältnis von Erziehung und Bildung

In diesem Teil geht es darum, das allgemeine Bild der Erziehung und Bildung im

Mittelalter zu bearbeiten, immer schon im Hinblick auf die Handlung im Parzival. Hier

werden nicht alle Erziehungs- und Bildungsinhalte erläutert, sondern nur einige Aspekte

ans Licht gebracht, um dadurch wichtige Unterschiede der beiden Begriffe

herauszufinden. Die Wichtigkeit dieses Teil ist, dass ich mich in dieser Arbeit mit der

Erziehung der Hauptfigur der gewählten Dichtung beschäftigen möchte.

Erziehung geht im heutigen Verständnis immer mit Bildung einher, da die

Erziehung als das Ergebnis von Bildung betrachtet wird. Auch im Mittelalter waren diese

beiden Begriffe vorhanden und ihre Wirkung war nicht von geringer Bedeutung.

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Ein bedeutender Unterschied ist die Verengung des Bildungsbegriffes in der Gegenwart

unter der Bezeichnung „Kompetenz“, wobei der kompetente Mensch als derjenige

definiert wird, der in den vielfältigen Bereichen des täglichen Lebens verlässliches

Verfügungswissen, praktikables Orientierungswissen, sichere Urteilsfähigkeit und die

nötige Handlungsfähigkeit besitzt (GEISSLER: 2006, 39). Diese Definition der Bildung

betrifft nicht nur die gesellschaftliche Lebensart, sondern auch die gesellschaftlichen

Wissensvorteile.

Die deutsche Sprache des Mittelalters kennt nur ein Wort, um die Realitäten von

Erziehung und Bildung zu definieren. Das Wort heißt zuht und erstreckt sich auf

Bedeutungen wie ziehen, zerren, bilden, schaffen, Züchtigung, Strafe und Verweis (vgl.

dazu LEXER: 1992, 339). Das Wort umfasst also, was das Mittelalter aus dem Individuum

zu einem idealerzogenen Wesen machen will. WINKEL erklärt das Wort in seiner

Dissertation Aspekte mittelalterlicher Erziehung weiter und beschreibt es als „ein

Korrektiv, ein bändigendes und bindendes Prinzip in den Spannungen zwischen Trieb

und Handlung, Wunsch und Vernunft, zwischen Individualismus und gesellschaftlichen

Forderungen.“ (WINKEL: 1968, 104) Er unterscheidet deutlich die Wörter

„Individualismus“ und „gesellschaftlichen Forderungen“ und weist damit darauf hin, was

in dieser Epoche unter Erziehung und Bildung zu verstehen ist. Während die Erziehung

das Individuum zu einer Person guten Charakters machen will, versucht die Bildung das

Wesen mit den allgemeinen Wissensprinzipien der Gesellschaft korrespondieren zu

lassen. Die Bildung im Mittelalter soll wissensorientiert sein und bezieht sich daher auf

das Feld des Wissens und der Kultur. Das Individuum soll durch Bildung zur Fähigkeit

von Lesen und Schreiben gelangen. Die Bildung setzt damit Literarizität voraus. Das

gutgebildete Wesen des Mittelalters stellt sich als Jemand vor, der nicht nur Lese- ,

Schreib- und Sprachfähigkeiten besitzt, sondern auch über eine Reihenfolge von Wissen

in verschiedenen Bereichen verfügt, nämlich in den Fächern der septem artes liberales,

unter die Musik, Dialektik, Medizin, u.a. zu zählen sind. Am anderen Pol des Wortes zuht

steht das Konzept der Erziehung, womit sich das Mittelalter beim Heranwachsenden viel

beschäftigt hat. Die Wichtigkeit der Erziehung im Leben des Einzelnen in dieser Zeit

erweist sich dadurch, dass das Individuum schon im jungen Alter mit den erzieherischen

Werten konfrontiert wird. Besonders bei der Erziehung soll das Individuum gemäß der

Art seiner Herkunft erzogen werden, da wir es mit einer Ständegesellschaft zu tun haben.

Das guterzogene Wesen gilt in dieser Zeit deswegen als dasjenige, das nicht aus dem

Kreis seines Standes ausbricht (WINKEL: 1968, 79). Bei Mädchen als auch bei Jungen war

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die Erziehung in den religiösen Werten ein gemeinsamer Punkt, da das Mittelalter von

der Idee Gottes durchdrungen war (GEORG VON SIMON: 1966, 207). Während die Mädchen

zu Haushüterinnen und Erzieherinnen erzogen wurden, empfingen die Jungen

Unterweisungen im Rittertum bzw. im Kampfleben. Zu dieser Erziehung im ritterlichen

Leben gehören nicht nur Kampftechniken, sondern auch Belehrung in dem, was man

unter ethische Werte gruppieren kann (WINKEL: 1968, 89): Verhalten am Hof, Minne bzw.

Minnedienst, Treue, Erbarmen, Demut, Hilfsbereitschaft, Ehre, Gerechtigkeit, Tapferkeit,

Keuschheit usw. (vgl. auch NEIS: 1944, 90). Weiter erkennt das Mittelalter die Eltern als

die einzigen Personen an, bei denen das heranwachsende Kind gut erzogen werden kann.

Es wurde fast wie eine Sünde angesehen, jemandem, der nicht zum Familienkreis gehört,

die Erziehung seines eigenen Kindes zu überlassen, denn „der Erziehungsauftrag der

Eltern wurzelt in den Geboten Gottes. Versäumnis lässt die Eltern schuldig werden“, wie

Winkel es in seiner Dissertation erwähnt (WINKEL: 1968, 80). Wie groß die Bedeutung der

Familie bei der Erziehung der Kinder war, lässt sich durch die folgende Bestätigung

verstehen:

„Die Perspektive der Familie als Ort der Kindererziehung, die bereits Divini illius magistri eröffnet hat, wird in der Konzilserklärung weiter geführt. Die Familie wird als ein Art „Hauskirche“ (LG 11, 2) betrachtet und als Ort dargestellt, wo Kinder sowohl für ihr persönliches und gesellschaftliches als auch für ihr Leben im Glauben mehr als anderswo geprägt werden.“ (SCHMITZ-STUHLTRÄGER: 2009, 328)

Winkel geht weiter und beschreibt Näheres über den Einfluss der Eltern bzw. der Familie

auf den Heranwachsenden, indem er einen Text aus Birlingers Alemannia zitiert, in dem

ein Sohn seinen Vater anklagt, dass er nie ein Dieb geworden wäre, wenn der Vater ihm

eine treffende Erziehung angeboten hätte:

„wer sîn kint nit wîst und lêrt, das es in wol kunt, und inen nit wert, das inen übel stunt, und inen gestat die wîl si jung sint, der wirt an inen sechen schant und laster vor den lütten,des hân ich gelesen ein gelîchnis von eines burgers sun, den füert man an den galgen, dô ruofte er sînen vater und sprach: ´lieber vatter, kum und küss mich noch einest vor mînem tôd´. der vatter wolde in hân geküsset, dô beis der sun dem vatter die nasen ab. dârum strâfte man in. dô sprach der sun: ´hette mich mîn vatter recht gezogen und mich gemeist – ret und gewîst und gelêrt ûff die

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ding, die guot wêrent gewest, ich wêre nie kein diep worden.“4

Dieser Textausschnitt beweist deutlich die wichtige Rolle, die die Mutter und der Vater

bei der Erziehung ihrer Kinder gespielt haben sollten. Die Eltern waren einigermaßen

schuld daran, was aus ihren Sprösslingen wurde. Was aber die Bildung angeht, war der

Einfluss der Eltern fast gar nicht zu bemerken. Da „die Träger der Schriftkultur zunächst

fast ausschließlich die Klöster und damit die Schicht der Geistlichkeit“ (SIEGBURG: 2010,

50) waren, sollte das Kind ohne Zweifel den Hof seiner Eltern verlassen, um an dem

Unterricht an besonderen Höfen teilzunehmen. Dabei hat das Kind also einen Lehrer, der

es in den gesellschaftlich wichtigen Wissensprinzipien lehrt. Obwohl man die Erziehung

als einen Teil der menschlichen Bildung zu betrachten vermag, stellen die beiden

Begriffe zwei unterschiedliche Realitäten dar. Da, wo Bildung wissensorientiert ist,

erscheint die Erziehung eher als verhaltensorientiert. Die Bildung hilft dem Individuum,

allgemein für Gesellschaften geltende Wissenssysteme zu besitzen und die Erziehung

lenkt die Aufmerksamkeit des Erzogenen darauf, was seine Gesellschaft für Sitten,

Werte, und Lebensart hat, um sie in sich zu haben und nach diesen zu leben. In dieser

Logik ist Bildung auf ein bestimmtes Lebensalter begrenzt. Die Erziehung ist aber ein

lebenslanger Prozess.

Ausgehend von diesem allgemeinen dargelegten Bild der Erziehung und Bildung

können wir sagen, dass die Dichtung Parzival ein Abbild dieser Realität ist, in dem

Sinne, dass in der Handlung Fächer der septem artes liberales zu finden sind. Dem Held

der Dichtung ist aber keine Bildung zuteilgeworden, sondern er wurde nur erzogen.

Wolfram schildert durch seine Erzählung dem Leser bzw. dem Hörer die

Entwicklungsstufen seines Helden Parzival und die Wissensfähigkeiten5 der Figur

Cundrie, die als diu maget witze rîche vorgestellt wird (Pz: 313, 1). Der Lauf der

Geschichte skizziert uns die Lehren und die Unterweisungen, die Parzival in der

höfischen Kultur erhalten hat, das heißt, das Leben in der Artusgesellschaft und in der

Gralsgesellschaft. Besonders bei Gurnemanz erfährt er nicht nur Wahrheiten über Gott,

4 Zitiert von WINKEL (1968, 66).5 Die Präsenz in dieser Erzählung von Bildung im Sinne des Mittelalters lässt sich durch die Erwähnung mittelalterlicher Wissensbereiche erkennen. Wie schon erwähnt, spricht das Mittelalter von Bildung, wo nur Geistiges zu finden ist. Diese Realität beweist sich in der Parzival-Dichtung, indem der Erzähler von der Figur Cundrie Folgendes sagt: „der meide ir kunst des verjach/alle sprâch si wol sprach/latîn, heidensch, franzoys/si was der witze kurtoys/dialetike und jêometrî/ir wâren ouch die liste bî/von astronomie.“ (Pz: 312: 19-25). Diese Passage erwähnt also, dass Cundrie nicht nur die Sprache, in der die Unterrichte damals weitergegeben wurden, kannte, sondern auch, dass sie in den Fächern der septem artes liberales, das heißt des Triviums (Grammatik, Rhetorik und Dialektik-Logik) und des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik), ausgebildet wurde.

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Heil und den Teufel (Pz: 169, 17-20), sondern er lernt auch wie er sich treffend als Ritter

benehmen sollte. Er lernt sauber zu sein (Pz: 172, 1-5), sich gut zu verhalten (Pz: 170, 23-

25), Frauen zu ehren, treu zu bleiben und nicht zu verraten (Pz: 172, 7-13).

Gehen wir von dem Bildungsbegriff der modernen Forschung aus, die die Bildung auf

Kompetenz bzw. Sachlichkeit auslegt, dann können wir sagen, dass Parzival durch das

Erlernen des Reitens (Pz: 173, 27 – 174, 5) in diesem Sinne gebildet war. Obwohl durch

dasselbe Wort bezeichnet, lässt sich deutlich erkennen, dass die beiden Begriffe mit

verschiedenen Inhalten vorkommen.

Parzival tritt uns in verschiedenen Lebensaltern entgegen, die seiner Entwicklung

entsprechen. Wir lernen ihn als Neugeborenes kurz vor dem Rückzug seiner Mutter in

den Wald von Soltâne kennen und verfolgen seine Lebensgeschichte bis hin zu seinem

reifen Alter, seiner Berufung zum Gralskönig im Erwachsenenalter. Das Neugeborene

kommt zur Welt mit einer bemerkenswerten Schönheit und einer auffälligen

Körpergestalt. Trotz dieser Merkmale stellt der Erzähler ihn als den Helden vor, an dem

die wîsheit (Pz: 4, 18) und die witze (Pz: 112, 20) fehlen. Diese beiden Eigenschaften

sollten wahrscheinlich wichtige Kennzeichen im Leben Parzivals sein, die durch

Erziehung letztmöglich erreicht werden sollten. Die zahlreichen Erwähnungen des

Begriffs wîs(heit) in der Dichtung treten wahrscheinlich auf, um die Wichtigkeit dieses

Wertes zu betonen (vgl. dazu HAAS: 1964, 28).

Die Handlung der Dichtung Parzival schildert die Entwicklungsetappen des

Helden und dessen Mühe zur Überwindung der tumpheit, mit der sich der Held im Lauf

seines Lebens oft konfrontiert sieht: „In der Geschichte Parzivals ist tumpheit notwendig

ein zentrales Wort“ (HAAS: 1964, 26), weil es sich in der Mehrzahl auf die Hauptfigur

Parzival bezieht. Mit dem Substantiv tumpheit sind andere Bezeichnungen, nämlich

tôrheit, tumbe witze und unbescheidenheit (vgl. HAAS, 26), verbunden, die im Parzival auf

denselben und einzigen Zustand hinweisen. Wichtig ist auch, dass dieser Begriff als der

andere Pol von wîsheit vorkommt, vorwiegend dadurch, dass der Held der ausgewählten

Erzählung sich als „hêrre, in [ich?] bin niht wîs“ (Pz: 178, 29) betrachtet, während

Gawan, eine andere Figur der Erzählung, von sich selbst sagt: „ich pin sô wîs“ (Pz: 323,

24). Der Abstand zwischen den Konzepten tumpheit und wîsheit lässt sich schon durch

den Prolog am Anfang der Dichtung erkennen. Der Erzähler schildert uns da zwei Arten

von Individuen, die sich in ihrer Denkweise voneinander unterscheiden:

„diz vliegende bîspel ist tumben liute gar ze snel,

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sine mugens niht erdenken… ouch erkante ich nie sô wissen man, ern möhte gerne künde hân, wehler stiure disiu mӕre gernt und waz si guoter lêre wernt.“ (Pz: 1, 15-17 / 2, 5-8)

Mit diesem Beispiel wird dem Leser klar, dass die tumben liute hier den Sinn des

vliegende bîspel nicht begreifen oder sich nicht innerlich zu eigen machen wollen. Im

Gegensatz zu diesen aber steht eine andere Gruppe, die wissen man, die gute Lehren zu

erkennen weiß und keine Gelegenheit verpasst, sie zu verinnerlichen. Es besteht also ein

Abstand zwischen den Begriffen tumpheit und wîsheit, die die Erziehung umfassen will.

Die Verständlichkeit dieses Begriffs bzw. des Konzepts tumpheit bei Parzival liegt

sicher an den unterschiedlichen Verwendungen, die man diesem Begriff zuweist.

Deswegen lohnt es sich, den Begriff tumpheit vor allem zu definieren.

1.2. Das Konzept tump(heit)

1.2.1. Begriffsbestimmung

Als ein wichtiger Begriff der Dichtung Parzival erscheint das Konzept tumpheit in vielen

Versen und kommt entweder negativ oder positiv vor. Um dieses Wort zu definieren,

werde ich mich auf den Definitionsansatz von HAAS beziehen, da dieser sich viel mit dem

Konzept und dessen Bedeutungen beschäftigt hat.

Das Wort tumpheit ist die substantivierte Form von tump. Das mhd. Stammwort

tump hatte seinen Ursprung in einer Wurzelerweiterung im Indogermanischen, im

Griechischen und im Gotischen, so HAAS. Im Indogermanischen heißt das Wort *dheu-,

*dheuә/dhuē und bedeutet „stieben, wirbeln, besonders von Staub, Rauch, Dampf;

wehen, blasen, Hauch, Atem; daher dampfen, ausdünsten, riechen, stinken …“ (HAAS:

1964, 16). Ferner ist die Idee von Rauch und Dampf im Indogermanischen auch im

Griechischen zu finden, wo sie durch die Wörter *τύφω oder *τΰφος bezeichnet ist.

Abgesehen von Rauch und Dampf erstreckt sich das Konzept tump im Griechischen auch

auf die Bedeutungen „Benebelung, Torheit oder dummer Stolz“ (HAAS: 1964, 17), die

einigermaßen auf eine geistig behinderte Person hinweisen. Weiterhin ist das Konzept

tump im Gotischen zu finden, wo es unter den Formen *daufs, *daufr, und *dēaf auftritt.

Als Definition werden diese Begriffe als „taub, verstockt, stumpfsinnig und unsinnig“

(HAAS: 1964, 17) verstanden. Hier erstreckt sich der Begriff tump auf ein weiteres Feld,

nämlich das der Sinne und hier besonders auf die Hörfähigkeit.

Das Mittelhochdeutsche definiert das Wort tump nur durch die folgenden

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Bedeutungen: „schwach von sinnen od. verstande, dumm, töricht, unbesonnen, einfältig,

unklug; unerfahren, jung, ungelehrt; stumm“ (LEXER: 1992, 233). Diese Definitionen des

Worts tump im Mittelhochdeutschen nähern sich denen der oben erwähnten. Sie gehen

aber mehr auf den geistigen Zustand des Individuums ein. Das tumbe Individuum sollte

keine richtige Erziehung genossen haben oder wisse nicht, geschickte Entscheidungen für

sich selbst zu treffen. In dieser Definition erkennt man also nicht nur das Wesen des

Kindes, das als der Zustand allen Mangels betrachtet wird, sondern auch das Individuum,

das die Reife der Erziehung nicht erreicht hat. Ausgehend von der oben erwähnten

Bedeutung von LEXER erklärt HAAS das Wort tumpheit weiter und erweitert es auf zwei

Bedeutungsseiten, die sich im einzelnen Fall verbinden oder unterschieden werden

können (HAAS: 1964, 26). Er definiert das Wort bzw. das Konzept tumpheit, indem er es

einerseits unter „Unerfahrenheit, Mangel an Schulung und Erziehung, insbesondere

Mangel an ritterlich-höfischen Wissensinhalten, Fertigkeiten und Lebensformen; ein

Mangel an wahrer und letzter Bildung; ein Mangel auch an Gotteserkenntnis … es ist

aber z. T. auch Sache der Reife, die Belehrung richtig aufzufassen“ (ebd. 26) und

andererseits unter „Unbedachtheit, Unüberlegtheit, Neigung zu vorschnellem (und

insofern törichtem) Tun, Mangel an Kritik und besonders Selbstkritik. Eine Dummheit im

Sinne von Frechheit, Unverschämtheit, mit starker ethischer und religiöser Abwertung“

(ebd. 26) gruppiert. Der Begriff der tumpheit versteht sich also als mit dem Begriff der

Erziehung verbunden, da der erste als ein Mangel des zweitens vorkommt. Diese

Bedeutungsseiten des Worts tumpheit spiegeln also das Bild des Menschen im Mittelalter

wider, der - nach der mittelalterlichen Anthropologie - „ohne Wissen, ohne Sprache, ohne

Tugend“ (Innozenz III) geboren wird oder „unfähig zur Erkenntnis und zum richtigen

Handeln“ (Vinzenz von Beauvais)6 ist. Durch diese Definitionen haben wir ein

Individuum in zwei unterschiedlichen Zuständen: Das heißt, ein Individuum, das

entweder keine erzieherischen Werte genossen hat, oder das nicht weiß, sich

situationsgemäß zu benehmen oder allein wichtige Entscheidung zu treffen, obwohl

erzogen. Diese Tatsache deutet BUMKE, wenn er über die erwartete Wirkung der

Erziehung im Leben des Kindes wie folgt spricht:

„Das Kind bedarf der Anleitung und Erziehung, um ein richtiger Mensch zu werden; vor allem das moralische Urteilsvermögen (die Unterscheidung zwischen Gut und Böse) und der richtige Gebrauch des Verstandes (die Fähigkeit zu diskursivem Denken) müssen ausgebildet werden.“ (BUMKE: 2004, 147)

6 Zitiert von BUMKE (2004, 147).

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Diese ausführliche Definition des Konzepts tump(heit) führt uns zu dem Schluss, dass das

Wort tump nicht immer mit Wissen, Erziehung und Verhalten verknüpft war. Bevor es

dazu kommt, wurde das Wort zuerst im Sinne von Dampf bzw. Rauch verwendet und

später „wurde es ursprünglich ganz einfach als eine Minderung und Verschlechterung der

äußeren Sinne, sei es nun des Gesichts- oder Gehörsinns“ (HAAS: 1964, 18) verstanden.

Man bemerkt diesen Begriffskonzepten entsprechend eine Entwicklung bei der

Verwendung des Worts: Von der Bedeutung der Wortgruppe, die sich früher auf die

äußeren Sinne bezieht, wandelt sich der Stammwortbereich zu der Unfähigkeit des

Individuums, etwas zu verinnerlichen bzw. zu verstehen oder sich vernünftigerweise zu

handeln. Wichtig zu erwähnen wäre aber, dass dieses Wort seinen Ursprung im

Indogermanischen hat und dass die Bedeutung, die es allmählich erlangen sollte, nicht

weit von dieser indogermanischen Quelle entfernt ist.

Die Frage der tumpheit bei Parzival erweist sich als komplex und wie schon oben

erwähnt, erscheint das Konzept tump in der Handlung nicht immer abwertend. Um die

unterschiedlichen Seiten des Worts tumpheit im Parzival besser zu verstehen, das heißt,

die negative sowie die positive, bedürfen sie einer ausführlichen Analyse, die das

Anliegen des nächsten Kapitels ist.

1.2.2. tumpheitsbelege in der Parzival-Dichtung

Dem Konzept tump(heit) hat die Parzival-Dichtung einen ganz hohen Wert beigelegt.

Nicht nur kennzeichnet dieses Konzept allein das Leben der Hauptfigur Parzival, sondern

der Lauf der Handlung weist auf andere Figuren hin, deren Verhalten manchmal mit dem

eines tumben verglichen werden können. Die Forschung hat aber belegt, dass die hohe

Anzahl des Worts tump mit der Figur Parzivals in Verbindung gesetzt ist. Wie HAAS

darauf hinweist, haben wir insgesamt 43 tumpheitsbelege.7 Unter tumpheitsbelegen

verstehe ich die verschiedenen Passagen der Dichtung, in denen das Wort tump(heit) oder

dessen Konzept, das heißt, die Wörter, die mit dem Verhalten eines tumben verknüpft

sind oder die dessen Zustand zum Vorschein bringen, benutzt werden. Man zählt aus den

43 eben erwähnten Belegen 24 auf, die das Leben Parzivals alleine beschreiben, das

heißt, mehr als die Hälfte in der ganzen Erzählung. Wie gerade angeführt kommt die Art

und Weise der tumpheit in der Dichtung nicht immer durch die Wörter tump oder

tumpheit zum Ausdruck, sondern manchmal unter den Bezeichnungen tôr (tôrheit) oder

7 Diese Anzahl wurde zuerst von RUPP und SENN/LEHMANN überprüft und später von HAAS bestätigt (vgl. HAAS: 1964, 28-29).

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toersch. Hier lassen sich wiederum 13 bzw. 4 Belege erkennen, unter denen 6 bzw. 3

sind, die wieder das Leben Parzivals alleine beschreiben (vgl. HAAS: 1964, 28). Die

weiteren Erscheinungsformen des Konzepts tump(heit) in der Erzählung, das heißt, durch

seine unterschiedlichen Ausdrücke sind mit den Figuren Isenhart (Pz: 26, 21), Hiutegêr

(Pz: 37, 20), Razalîc (Pz: 42, 17), Herzeloyde (Pz: 110, 17), Antanor (Pz: 152, 24/153,

11), Meljanz (Pz: 392, 15), Gawan (Pz: 506, 14/508, 3/512, 16/515, 14/520, 19/530, 10),

dem Boten Gawans (Pz: 653, 9) und Cundrie (Pz: 779, 7) verbunden. Bei diesen

verschiedenen tumpheitsbelegen ist zu notieren, dass das Wort unterschiedliche

Bedeutungen hat. Wie im Kapitel 1.2.1. erklärt, lassen sich die verschiedenen

Bedeutungen des Worts tump auch bei diesen eben erwähnten Figuren erkennen, und

zwar die Verdunklung der Sinne, der Mangel an Erziehung oder Urteilsfähigkeit und die

Neigung zum unüberlegten Handeln. Bei Isenhart, Hiutegêr und Antanor erscheint das

Konzept durch seine äußerlichen Aspekte, das heißt, die Verdunkelung der Sinne

verbunden: „er was gein valscher fuore tôr (Pz: 26, 21); „sô wӕr mîn bester sin ein tôr“

(Pz: 37, 20) und „der durch swîgen dûht ein tôr“ (Pz: 152, 24), während es sich bei

Razalîc und Meljanz eher auf die intellektuelle Fähigkeit bezieht: „nu sint mir mîniu jâr-

nâch grôzer tumpheit bewant“ (Pz: 42, 17); „diu prüevete gein mir tôren schimpf“ (Pz:

392, 15). Diese Realität kommt auch bei Parzival in abwertender Form vor: „Es ist ein

Wort, das, wenn es auf Parzival angewendet wird, vornehmlich in negierter Form

erscheint und mithin der tumpheit Parzivals nur noch mehr Anschaulichkeit verleiht.“

(HAAS: 1964, 28-29) Bei Herzeloyde sowie bei Gawan hat die Tatsache nicht immer eine

negative Konnotation: „er was zer wunden niht ein tôr“ (Pz: 506, 14). Das Wort tôr wird

hier verwendet, um die Befähigung Gawans in der Heilkunde zu bestätigen, und dies,

durch das Negationswort niht. Mit Hilfe seiner Fähigkeiten in der Heilkunde gelingt es

ihm dem durchstochenen Ritter zu helfen, der im Wald neben seiner Freundin zu

verbluten droht. Weiter begegnet Gawan einer Welt, die seine sichere Haltung in Frage

zu stellen versucht. Es ist eine Burg, die auf einer Bergspitze gebaut wurde und der Weg,

der dahin führt, ist spiralförmig. Dann sagt der Erzähler: „swâ si verre sach der tumbe/er

wând si liefe alumbe“ (Pz: 508, 3-4). Der tumbe sollte also eher glauben, dass sich die

Burg im Kreis dreht, obwohl es der Weg ist, der sich um die Burg dreht. Damit stellt sich

das Wort tump in dem Sinne dar: der tumbe konnte die Gestalt der Burg mit den Augen

nicht richtig auffassen. Während Gawan sich auf den Weg zur Burg machte, gewahrt er

bei einer Quelle Orgeluse von Lôgroys. Beeindruckt von ihrer Schönheit zögert Gawan

nicht, ihr seinen Dienst anzubieten. Nach einem Gespräch miteinander war Orgeluse

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bereit, Gawan zu folgen. Aber nach der Weigerung Gawans, sie ohne Dienst zur Frau zu

haben, verlangt Orgeluse von Gawan ihr Pferd abzuholen. Als er das Pferd abholen will,

bemerkt er, dass es in der Nähe keinen Pflock gibt, um sein eigenes Pferd anzubinden. Da

bittet er Orgeluse darum, sein Pferd zu halten und gibt ihr den Zügel in die Hand, um ihr

irgendwie zu zeigen, dass sie das Pferd bei dem Zügel halten soll. Darauf erwiderte

Orgeluse und sagt: „bî tumpheit ich iuch schouwe/sprach si:´wan dâ lac iwer hant/der

grif sol mir sîn unbekant´“ (Pz: 512, 16-18). Hiermit beweist sie, dass sie sich gut mit der

Sache auskennt. Gawan braucht sie nicht darauf hinzuweisen und das ist Grund genug ihn

tump zu schelten. Man erkennt hier einen naiven Gawan, dann einen unreifen. Gawan

geht, das Pferd zurückzubringen. Als er zurückgekommen ist, spricht sie ihn mit gans an

und behauptet dabei, sie hätte noch keinen Mann getroffen, der soviel tumpheit in sich

hat: „si sprach ´west willekom, ir gans/nie man sô grôze tumpheit dans“ (Pz: 515: 13-14).

Orgeluse meint damit, dass Gawan sich nicht zu benehmen wisse oder nicht reif genug ist

und sie kann sich daher nicht vorstellen, dass er ihr diens welt gewern will. In diesen

Worten findet sich eine Entmutigung seitens Orgeluse an Gawan, denn sie hält ihn nicht

für fähig genug, einen Dienst zu leisten. Dazu sagt HAAS: „In diesen Worten ist eine

Aufforderung enthalten, es doch sein zu lassen und diesen verderblichen Dienst

aufzugeben.“ (HAAS: 1964, 40) Doch gelingt es Orgeluse nicht, ihn davon abzubringen.

Die beiden gehen also weiter eine lange Strecke zusammen. Auf ihrem Weg trifft Gawan

auf Malcrêatiure, den Bruder von Cundrie; der glaubt, Gawan hätte Orgeluse entführt: „ir

dunket mich ein tumber man/daz ir mîne frouwe füret dan“ (Pz: 520, 19-20). Er schreibt

damit Gawan eine Entehrung der Frau zu. Man kann hier ein tumber man mit unerzogen

oder ungelehrt verknüpfen. Auf diese unfreundlichen Worte erwidert Gawan und beweist

Malcrêatiure, dass er sich gut mit den höfischen Verhaltensweisen auskennt. In seinem

Zorn greift Gawan Malcrêatiure bei den Haaren und wirft ihn vom Pferd ab. Von da an

reiten Gawan und Orgeluse weiter und Orgeluse will sich lieber von Gawan trennen, er

aber ist dagegen, denn er glaubt, es gehöre auch zum Dienen. Zu diesem Benehmen

Gawans sagt Orgeluse: „des dunct ir mich der tumbe/welt ir daz niht vermîden“ (Pz: 530:

10-11). Gawan wird durch die Liebe zu Orgeluse „blind“, deswegen wollte er ihr partout

folgen. Obwohl auch bei Gawan negative Merkmale bei der Verwendung des Worts zu

bemerken sind, treten sie aber nicht so stark wie bei Parzival auf. Dazu sagt HAAS

Folgendes: „Seine [Gawans] tumpheit ist daher wesentlich ein defizienter Modus der

tumpheit Parzivals.“ (HAAS: 1964, 47) Wir erkennen des Weiteren die Anlässe, bei denen

diese negative Bezeichnung des Worts bei den eben erwähnten Figuren in Erscheinung

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treten, und zwar bezeichnet bei einem tumpheit eine gewisse Tölpelhaftigkeit, die sich

meistens in roher Gewalt äußert, welche aber nicht aus einer Aggression entsteht, sondern

aus Mangel an Urteilsfähigkeit und aus Unerfahrenheit, während sie sich bei dem anderen

mit der Frage der „Liebe und Treue zur höfischen Gesittung“ (vgl. HAAS: 1964, 46)

identifiziert. Wie oben angeführt kommt das Wort bei Herzeloyde nicht abwertend vor.

Denn sie weigert sich, aus Trauer tump zu werden. Sie sagt daher: „got wende mich sô

tumber nôt“ (Pz: 110, 17). Wenn wir auf den Kontext zurückgreifen, können wir hier dem

Wort tump „ein falsches Verhalten“ zuschreiben, weil sie sich damals mit dem Tod ihres

Mannes Gahmuret und ihrem Sohn Parzival im Schoß konfrontiert sah und nicht wusste,

was sie machen sollte. Die Vorstellung Antanors mit den Worten dem witzehaften tôren

(Pz: 153, 11) öffnet dem Wort tôr ein weiteres Feld und lässt vermuten, ob hier gemeint

wird, dass ein tôr witze besitzen kann. Es wäre meines Erachtens widersprüchlich, wenn

wir die witze als ein Kennzeichen der gut erzogenen Leute betrachten. Doch es erweist

sich, dass sich diese beiden Eigenschaften nicht in einer einzelnen Person finden können,

wenn wir die Beschreibung der Haltung Cundries betrachten, die wie folgt von dem

Erzähler eingeführt wird: „diu wîse, niht diu tumbe“ (Pz: 779, 7). Cundrie ist wîse,

deswegen kann sie nicht gleichzeitig tump sein. Um aber die Zusammenstellung dieser

Wörter bei Antanor zu erklären, sagt HAAS seinerseits, dass sie hier die „innere

Transparenz der tôrheit zur witze und umgekehrt bezeugen.“ (HAAS: 1964, 52) Die beiden

Wörter besäßen also einen gemeinsamen Punkt, der sie zueinanderstehen lässt.

Schließlich erscheint das Wort im Zusammenhang mit der Figur des Boten Gawans.

Gawan hat seinen Knecht zum Artushof geschickt. Als dieser zurückgekommen ist, will

Arnive den Grund wissen, warum er hinausgeschickt wurde. Der Bote sagt, es wäre eine

tumpheit von ihm, wenn er den Grund verrät: „ez wære ouch mîne hêrren leit/bræch ich

mit mæren eit/des diuhte ich in der tumbe“ (Pz: 653, 7-9). Der Knecht stellt sich hier also

nicht als unklug oder einfältig dar, und dies wegen der Treue, die er Gawan, seinem

Herrn, geschwört hat. Diese Darstellung hat einerseits die verschiedenen Passagen, in

denen das Wort bzw. die Realität tump(heit) in der Dichtung vorkommt und andererseits

die unterschiedlichen Situationen, in denen der Begriff erscheint, ans Licht gebracht. Da

die Frage nach der tumpheit und der Erziehung das Anliegen der Arbeit ist, wird darauf

als Nächstes eingegangen und dies in Bezug auf die Hauptfigur Parzival des gewählten

Beispiels.

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2. Parzivals Erziehung und die Potenzierung der tumpheit

Niemand macht heute das Thema Erziehung als eines wichtigen Aspekts, der bei der

Erläuterung des Parzival zu berücksichtigen ist, streitig. Wenn das Deutsche

Universalwörterbuch Duden den Erziehungsroman bzw. den Bildungsroman als einen

„Roman, in dem die Erziehung eines jungen Menschen dargestellt wird“ (DUDEN: 2011,

548), oder wenn das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ihn als

„erzählerische Darstellung des Wegs einer zentralen Figur durch Irrtümer und Krisen zur

Selbstfindung und tätigen Integration in die Gesellschaft“ (WEIMAR: 1997, 230)

definieren, kommt es nicht abwegig vor, Parzival unter der Benennung Erziehungsroman

zu klassifizieren. Die Erziehung im Parzival, anders als die von heute, hat die

Individualität oder die Selbstbestimmung (vgl. GEISSLER: 2006, 44) nicht als erstes Ziel,

sondern die Sozialisierung des Individuums und die Überwindung der tumpheit, die als

eine Eigenschaft des nicht erzogenen Wesens im Mittelalter betrachtet wird. Die

tumpheit, die immer wieder als ein an Erziehung, Verstand und Urteilsfähigkeit

mangelnder Zustand eines Individuums beschrieben wird, soll durch Anleitung und

Erziehung verbessert werden. Doch die häufig erscheinenden tumpheitszüge im Leben

Parzivals beweisen die Tatsache, dass das Thema der tumpheit mit dem der Erziehung

zusammengehört und ein wichtiges Motiv in der Handlung bildet. Als Nächstes werden

also die Erscheinungsformen der tumpheit, je nach den verschiedenen

Erziehungsepisoden des Helden, ans Licht gebracht. Diese Erziehungsepisoden werde ich

anhand der Erziehungsmomente in Soltâne, in Grâharz und in Fontâne la salvâtsche

darstellen.

2.1. Erziehung und tumpheit in und nach Soltâne

2.1.1. Parzivals Erziehung in Soltâne

Wolframs Parzival fängt nicht mit der Geschichte der Hauptfigur Parzival an, sondern –

nach dem Prolog – mit der Beschreibung seiner Eltern Gahmuret und Herzeloyde im 1.

und 2. Buch. Die Informationen, die uns am Ende des 1. und 9. Buches übermittelt

werden, weisen uns auf die Herkunft des Helden der Geschichte hin. Der Erzähler lässt

uns deutlich wissen, dass Parzivals Eltern aus zwei unterschiedlichen Welten kommen,

welche das Leben und die Erziehung Parzivals auch später beeinflussen werden.

Der Leser erfährt durch die Informationen der erwähnten Textpassagen, dass Gahmuret

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durch seine Verwandtschaft mit Utepandragun aus der Artus-Familie8 (Pz: 56, 1-24)

stammt und Herzeloyde als Enkelin Titurels zur Gralsgesellschaft9 (Pz: 501, 22-23)

gehört.

Nach dem Tod ihres Mannes entscheidet sich Herzeloyde, ihren Sohn im Wald

von Soltâne heranwachsen zu lassen (Pz: 117, 8-9), um ihn vor der höfisch-ritterlichen

Welt zu schützen (Pz: 112, 19-20). Die Erziehung, die Parzival von seiner Mutter im

Wald erhält, lässt sich – verglichen mit der Erziehung bei Gurnemanz und Trevrizent –

als unzureichend bezeichnen, da der Erziehungsort außerhalb der Gesellschaft ist und die

Erziehung in Eile vermittelt wird. Die Erziehung, die dem Helden in dieser Wildnis

zuteilwird, bewertet der Erzähler negativ schon am Anfang der Erziehung, da er von

seiner Mutter nur wenig erhält, was das allgemeine Leben der höfischen Gesellschaft

angeht, das heißt, was eine höfisch-adäquate Erziehung betrifft: „der knappe alsus

verborgen wart/zer waste in Soltâne erzogn/an küneclîcher fuore betrogn“ (Pz: 117, 30-

118, 1-2). Bevor er den Wald verlässt und die Lehren seiner Mutter mit auf seinen Weg

nimmt, lernte er den gabilôtes swanc (Pz: 120, 2) und verbringt sein Leben im Wald als

Jäger (vgl. Pz: 118, 5-6 und 120, 3-10). Abgesehen von der Mitleidsfähigkeit, die durch

die Szene mit den Vögeln im Wald zu bemerken ist, erbt er von seiner Mutter Treue und

Liebe (vgl. Pz: 111, 7/116, 1-30 und 118, 7-10). Seine kämpferische Reaktion den im

Wald getroffenen Rittern gegenüber, nämlich seinen Spieß zu werfen fastend, kommt

dem Leser als ein Zeichen der Erscheinung der Gahmuretes art in ihm: „dâ hôrter schal

von huofslegen./sîn gabylôt begunder wegen“ (Pz: 120, 15-16). Das Wort art kann

entweder Abstammung oder individuelle Natur bezeichnen, aber es bedeutet in der Regel

beides: die Natur besitzt jede Person, weil sie von einer Abstammung kommt, die

bestimmte Eigenschaften bezeichnet. Diese Tatsache des Vorhandenseins der Tugenden

im Kind ohne Erziehung bestätigt WINKEL, wenn er – auf einen Text von Konrad deutend

– sagt: „Konrad ist somit also der Überzeugung, daß ein Kind, das von edlen Eltern

abstammt, Tugend als Frucht seiner edlen Geburt schon mitbekommt, ohne daß erst

besondere Erziehung vonnöten wäre“ (WINKEL: 1968, 82). Der aus der Begegnung mit

den Rittern kommende Wunsch des Helden Parzival Ritter zu werden: „Artûs küneclîchiu

kraft/sol mich nâch rîters êren/an schildes ambet kêren“ (Pz: 126, 12-14) und seine Bitte

um ein Pferd: „iesch von der muoter dicke ein pfert“ (Pz: 126, 20), können lediglich diese

8 „Der wichtigste Name ist Utepandragun (56, 12), der den literarisch Gebildeten als der Name von König Artus´ Vater bekannt war. So wird klar, dass Parzival väterlicherseits ein Mitglied der Artus-Familie ist.“ (BUMKE: 2004, 48) Vgl. auch Hugo KUHN: 1969, 153: „Gahmuret gehört jedoch zur Artusfamilie.“9 „Durch seine Mutter Herzeloyde stammt Parzival aus dem Gralsgeschlecht.“ (KUHN: 1969, 154)

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väterliche Art erläutern und bestätigen. Vor aller Erziehung besitzt der Held höfische

Werte sowie kämpferische Techniken als Anlage bzw. als Erbe: Treue, Liebe, Mitleid,

Kampfmut, Spießwerfen. Wie die Dichtung uns darüber berichtet, wurde Parzival von

seiner Mutter alleine erzogen. Als Mutter und als Bindeglied zwischen Vater und Sohn

hat Herzeloyde sich bemüht, ihrem Sohn eine sorglose bzw. eine angenehme Kindheit zu

schaffen (vgl. Pz: 113, 1-4/117,14-19 u.a.). Es entstand daher eine Vertrauensstimmung

zwischen Herzeloyde und ihrem Sohn. Herzeloyde ist die einzige Person, an die Parzival

sich zuerst wendet, wenn er eine schlechte Erfahrung im Wald gemacht hat oder wenn er

sich Sorgen über etwas macht. Er bekommt immer eine Antwort (vgl. Pz: 118, 18/125,

29-30 u.a.). Parzival findet aus diesem Grund in Herzeloyde eine Wissensreferenz und

kann deswegen an ihren überlieferten Informationen nicht zweifeln. Das bestätigt sich, da

die Frage der Erziehung im Mittelalter meistens mit der Idee der Familie bzw. der der

Eltern vorkommt.

Wenn das Mittelalter den Erziehungsauftrag der Eltern in den Geboten Gottes

wurzelt sieht (vgl. WINKEL: 1968, 80), kann zweifellos gesagt werden, dass das

Individuum als gut erzogen gilt, wenn dieser die Erziehungswerte durch seine Eltern

erhält. Parzival befindet sich also in einer dem Höfischen ähnlichen

Erziehungsatmosphäre. Das Verhältnis, das zwischen Herzeloyde und ihrem Sohn

entstanden ist, wird das Benehmen Parzivals außerhalb des Waldes sehr beeinflussen.

Herzeloyde hat aber eine besondere Art ihre Unterweisungen zu übermitteln. Bei der

Lehre über Religion sowie bei der über die Verhaltensnormen der höfischen Gesellschaft

schneidet sie nicht unmittelbar das Thema an, sondern beginnt ihre Belehrung mit „sun,

ich sage dirz âne spot“ (Pz: 119, 18) bzw. mit „ich will dich list ê lêren“ (Pz: 127: 14).

Sie führt ihre Lehre ein, indem sie deren Wahrhaftigkeit schon am Anfang erwähnt.

Damit ist jede mögliche Kritik gegen den Inhalt ausgeschlossen. Diese Tatsache wird

dadurch bestätigt, dass Parzival die Lehren hört, ohne seine Meinung dazu zu äußern oder

Fragen darüber zu stellen. Es gibt hier also keinen Austausch, der aber für ein besseres

Verständnis der übermittelten Informationen von großer Bedeutung sein sollte.

Die Unterweisungen Herzeloydes an Parzival beruhen einerseits auf der Frage der

Religion (Pz: 119, 19-28) und andererseits auf allgemeinen Verhaltensregeln der

höfischen Gesellschaft und der Ritterschaft (Pz: 127, 13-128, 10).

Auf die Frage Parzivals: „ôwê muoter, waz ist got?“ antwortet Herzeloyde ihrem Sohn

und belehrt ihn mit folgenden Hinweisen über das Wesen Gottes und das Wesen des

Teufels:

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„sun ich sage dirz âne spot. es ist noch liehter denne der tac, der antlitizes sich bewac nâch menschen antlitze. sun, merke eine witze, und flêhe in umbe dîne nôt: sîn triwe der werlde ie helfe bôt. sô heizet einr der helle wirt: der ist swarz, untriwe in niht verbirt. von dem kêr dîne gedanke, und och von zwîvels wanke“ (Pz: 119, 18-28)

Diese Lehre über Religion gibt Parzival eine klare Idee davon, was Gott und der Teufel

sind. Das Bild dieser beiden Wesen wird auf die Ideen von lieht und vinster (Pz: 119, 29-

30) reduziert, so der Erzähler. Herzeloyde ihrerseits stellt Gott als „liehter denne der tac“

dar und sagt von dem Teufel „der ist swarz“. Die beiden Adjektive „vinster“ und „swarz“

weisen hier auf die Dunkelheit hin und deuten völlig auf das Wesen des Teufels. Daher

sind Herzeloyde und der Erzähler der gleichen Meinung über den Anschein dieses

Wesens, dessen Wohnort die helle sein sollte. Des Weiteren spricht Herzeloyde über das

Aussehen Gottes, der als das Ebenbild der Menschen eingeführt wird: „der antlitizes sich

bewac/nâch menschen antlitze“: Gott hat die gleiche Gesichtsgestalt wie der Mensch.

Von diesen Abbildungen her hebt sie die inneren Eigenschaften der beiden Wesen heraus.

Parzival erfährt etwas hier über die Treue Gottes sowie über die Untreue des Teufels.

Dadurch mahnt Herzeloyde ihren Sohn dazu und erwartet von ihm, dass er immer in

seiner Besorgnis nach Gott fleht: „und flêhe in umbe dîne nôt“ und sich von dem Teufel

abwendet: „von dem kêr dîne gedanke“, weil die Hilfe Gottes immer den Menschen zur

Seite steht: „sîn triwe der werlde ie helfe bôt.“ Ihre Lehre stellt die beiden Wesen

letztendlich in ein Gegenverhältnis, das heißt, der eine wird als das Gegenteil bzw. die

Kehrseite des anderen vorgeführt, und dies von den äußerlichen Merkmalen bis zu den

inneren Eigenschaften. Nach dieser Belehrung über die Religion und bevor Parzival sich

auf den Weg macht, Ritter zu werden, bekommt er weitere Unterweisungen, die unter die

höfischen Verhaltensnormen eingruppiert werden können. Die Verhaltensregeln über das

Leben in der Gesellschaft geschehen nach der Begegnung Parzivals mit den Rittern im

Wald. Von diesen Rittern, die hier als Erziehungsinstanzen betrachtet werden können,

erfährt Parzival einiges über das Rittertum.

In seinem Gespräch mit den Rittern und durch die Erwähnung des Worts Ritter,

wovon Parzival bisher noch nie gehört hat, stellt er die Fragen „du nennest ritter: waz ist

daz?“ (Pz: 123, 4) und „wer gît ritterschaft?“ (Pz: 123, 6). Durch diese Fragen soll

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Parzival klar werden, dass König Artus die Rittereigenschaft verleiht. Dieser steht hier als

die höchste Instanz des Rittertums oder als „Chef“ der Ritter: „daz tuot der künec Artûs“

(Pz: 123, 7). Parzival wird sogar gelobt, indem ein Ritter ihm die Ritterart zuschreibt: „ ir

mugt wol sîn von ritters art“ (Pz: 123, 11). Parzival ist also ritterlicher Art und besitzt aus

diesem Grund Merkmale, um Ritter zu werden. Dazu sagt WEDDIGE Folgendes: „Nach der

„Definition“ im Parzival verleiht also König Artus den Titel eines Ritters demjenigen,

der von ritters art ist: Man wird nicht von vornherein als Ritter geboren, aber man bringt

die Disposition zum Ritter mit.“ (WEDDIGE: 1997, 173) Parzival erfährt nur, wer die

Ritterschaft verleiht, aber nichts darüber, was Ritterschaft ist. Das lässt daher vermuten,

dass selbst diese Ritter keine Ahnung über die Bedeutung der Ritterschaft haben oder

selbst unerfahren sind. Parzival hat die Ritterschaft seinerseits verstanden und verknüpft

sie mit dem Pferd und der Rüstung, wie wir es bei seiner Ankunft an der Burg Grâharz

bemerken werden. Doch hört Parzival nicht mit diesen erwähnten Fragen auf, da seine

Neugier noch nicht gestillt ist. Auf das Schwert des Ritters deutend stellt er wieder eine

Frage, und zwar: „war zuo ist diz guot …?“ (Pz: 124, 2). Um ihm zu antworten, verknüpft

der Ritter das Schwert mit dem Kampf und stellt es als ein Wehrmittel zum Schlagen dar:

„der fürste im zeigete sâ sîn swert/nu sich, swer an mich strîtes gert/des selben wer ich

mich mit slegn“ (Pz: 124, 5-7). Dazu schließt der Ritter eine weitere Erklärung über seine

Rüstung an, der er ein Schutzmittel gegen die Verletzungen bzw. die Schläge des

Gegners zuweist: „für die sîne muoz ich an mich legn/und den schuz und für den

stich/muoz ich alsus wâpen mich“ (Pz: 124, 8-10). Diese Belehrung gibt Parzival einen

Überblick über die äußere Gestaltung des Ritters der Artusgesellschaft und entspricht, in

Bezug auf die Geschichte Gahmurets im 1. und 2. Buch, dem allgemeinen Bild des

Ritters. Für die Forschung dient diese Begegnung Parzivals mit den Rittern zur

Hervorhebung der tumpheit des Helden. Walter SCHRÖDER will in dieser Begegnung einen

dichterischen Plan Wolframs sehen, um den „bloßen Naturzustand der völligen

Unwissenheit und Unschuld“ (SCHRÖDER: 1953, 13) zu zeigen. HAAS hingegen will in

dieser Begegnung „einen gültigen Modellfall des Menschen“ (HAAS: 1964, 70) beweisen,

zu dem „die tumpheit als ein Anfängliches zu gehören“ (ebd. 70) scheint. Mit den

Aussagen Parzivals erkennt der Leser also die Unerfahrenheit des Helden, die ein Status

des Individuums ohne Erziehung ist.

Herzeloydes Versuch, den Jungen von den Gefahren bzw. Verlockungen des

Rittertums fernzuhalten, misslingt durch diese Begegnung gründlich und sie ist

infolgedessen verpflichtet, ihn mit den Regeln des Lebens am Hof vertraut zu machen.

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Die Informationen, die Parzival bei den Rittern bekommen hat, haben seine Mutter

gezwungen, ihm Näheres über die Ritterschaft mitzuteilen, aber mit der Absicht, dass er

zu ihr zurückkommt, falls er aufbrechen sollte, denn sie will nicht, dass ihr Sohn dasselbe

Todesschicksal wie Gahmuret erleidet. Diese Lehre enthält höfische Werte über das gute

Verhalten gegenüber den Leuten im Allgemeinen und der Frau im Spezifischen und über

die Rache:

„dune solt niht hinnen kêren,ich will dich list ê lêren.an ungebanten strâzensoltu tunkel fürte lâzen:die sîhte und lûter sîn,dâ sollte al balde rîten în.du solt dich site nieten,der werlde grüezen bieten.Op dich ein grâ wîse man zuht will lêrn als er wol kan,dem soltu gerne volgen,und wis im niht erbolgen.sun, lâ dir bevolhen sîn,swa du guotes wîbes vingerlîn

mügest erwerben unt ir gruoz,

daz nim: ez tuot dir kumbers buoz. du solt zir kusse gâhen und ir lîp vast umbevâhen: daz gît gelücke und höhen muot, op si kiusche ist unde guot. du solt och wizzen, sun mîn, der stolze küene Lähelîn dînen fürsten ab ervaht zwei lant, diu solten dienen dîner hant, Wâleis und Norgals. ein dîn fürste Türkentâls den tôt von sîner hende enphienc: dîn volc er sluoc unde vienc“

(Pz: 127, 13-128, 1-10)

Der Inhalt dieser Lehre umfasst, was Herzeloyde – in dieser Situation – ihrem Sohn über

Rittertum beibringen kann. Sie rät ihrem Sohn, ungebanten strâzen und tunkel fürte zu

vermeiden, solange er reiten muss. Die fürte als die seichte Stelle eines Flusses soll er nur

überqueren, wenn es sîhte und lûter ist. Fraglich ist, was sie hier mit tunkel fürte meint:

Spielte sie darauf an, den Fluss bei Nacht nicht zu durchreiten? Oder den Fluss nur zu

überqueren, wenn die Sonne ihre Strahlen darauf (lûter) wirft? Parzival hat es seinerseits

verstanden und wird sich später danach benehmen. Da das Leben des Ritters mit

höfischen Werten verknüpft ist, lehrt Herzeloyde Parzival höflich zu sein. Doch nichts

anderes als „der werlde grüezen bieten“ sagt Herzeloyde ihrem Sohn, um ihm den Wert

der Höflichkeit näher zu bringen. Damit rät sie ihm, alle freundlich zu grüßen, was er

dann übertreibt, indem er pingelig jeden grüßt und hinzufügt: „sus riet mîn muoter“ (Pz:

138, 8). Höflich wird er sich aber nur eine Weile zeigen, denn er benimmt sich unhöflich

Gawan gegenüber, indem er auf dessen Gruß nicht antwortet (vgl. die Bluttropfszene im

6. Buch: Pz: 282, 24-300, 26). Zu den vertrauenswürdigen und gelehrten Leuten zählt

Herzeloyde den grâ wîse man und rät daher ihrem Sohn, den Lehren eines solchen

Mannes Aufmerksamkeit zu schenken. Er soll sich nicht weigern, eines solchen Mannes

Unterweisung zu vertrauen, da dieser viele Kenntnisse besitzt: „zuht will lêrn als er wol

kan“ (Pz: 127, 22). Weiter versucht sie, Parzival das Wesen der höfischen Dame, der

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guoten wîp, anzuvertrauen. Den Körper der höfischen Dame erklärt sie ihrem Sohn als

ein Mittel für Glück bzw. für gute Laune oder gegen die Traurigkeit: „und ir lîp vast

umbevâhen/daz gît gelûcke und hôhen muot“ (Pz: 127, 30-128, 1). Diese Realität erlebe

er nur, wenn die Frau kiusche unde guot ist. Sie mahnt ihren Sohn dazu, das vingerlîn der

Frau zu erwerben und sie zir kusse gâhen, solange er die Gelegenheit dafür hat.

Anschließend erzählt Herzeloyde ihrem Sohn die Hintergrundgeschichte seiner Familien.

Hierbei erfährt Parzival nicht nur etwas über die zwei Länder seiner Familien, sondern

auch über den Fürsten Lähelin, der diese Länder erobert hat: „der stolze küene

Lähelîn/dînen fürsten ab ervaht zwei lant“ (Pz: 128, 4-5). Herzeloyde regt Parzival dazu

an, diese Länder zurückzugewinnen: „diu solten dienen dîner hant/Wâleis und Norgals“

(Pz: 128, 6-7). Parzival hört von seiner Mutter, dass der Fürst Lähelin einen seiner

Fürsten getötet hat und einen Teil seiner Leute bei sich gefangen hält: „ein dîn fürste

Türkentâls/den tôt von sîner hende enphienc/dîn volc er sluoc unde vienc“ (Pz: 128, 8-

10). Er hat daher einen Racheplan für seinen weiteren Weg. Bemerkenswert ist aber, dass

sie ihm hier weder den Namen seines Vaters noch dessen Herkunft nennt. Sie erzählt ihm

sogar nichts über ihre eigene Herkunft.

Vielfältig ist ihre Lehre, obwohl inhaltlich unzureichend: „Als Parzival die Mutter

verlässt, besitzt er nichts von all dem, was ein Mensch braucht: Keine ausreichende

Kenntnis der christlichen Religion, kein Wissen, keinen Verstand, keine moralische

Unterscheidungsfähigkeit.“ (BUMKE: 2004, 147) Diesen Lehren wird Parzival aber

wortwörtlich folgen, was seine tumpheit bzw. seine Denkunfähigkeit beweisen und

betonen wird. Die Erziehung, die Parzival im Wald von Soltane, bei den Rittern und bei

Herzeloyde zuteil wird, enthält nicht alle Themen, wie das Mittelalter sie versteht. Diese

Tatsache lässt sich nicht nur aus dem Inhalt der Lehren heraussuchen, sondern auch aus

dem Erziehungsmilieu. Eine Erziehung auf das Ziel der Übermittlung der höfischen

Werte in ihren verschiedenen Horizonten gerichtet, das heißt, die Vermittlung passender

Werte und höfischer Tugenden in ihrer Ganzheit, ist nicht zu bemerken. An

Verhaltensregeln und an ritterlicher Kampfweise erhält Parzival aus dem Wunsch seiner

Mutter, ihn vor der höfischen Gesellschaft zu schützen, nur wenig.

Des Weiteren verschweigt Herzeloyde Parzival nicht nur die Geschichte seines Vaters

(die aber für die Entwicklung seiner Persönlichkeit von großer Bedeutung sein sollte),

sondern nennt ihm seinen eigenen Namen nicht: Er kennt sich nur unter der Bezeichnung

„Bon fils, cher fils, beau fils“ (Pz: 113, 4). Seinen Namen und seine Abstammung erfährt

er erst später von seiner Cousine Sigune kurz vor seinem ersten Auftritt am Artushof (vgl.

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Pz: 135, 15-141, 24). Besonders bei Sigune hört er nochmal über den Fürsten Lähelin,

was die Notwendigkeit der Rache an diesem Fürsten betont und die Information seiner

Mutter darüber bestätigt: „zwei lant nam dir Lähelîn/disen ritter unt den vetern dîn/ ze

tjostieren sluoc Orilus“ (Pz: 141, 7-9). Bei den Rittern, die unterwegs waren und es eilig

hatten, erfährt Parzival auch nur wenig über das Leben des Ritters. Die Knappheit des

Inhalts der Unterweisung über Gott, in der Gott „liehter denne der tac“ dargestellt wird,

ist der Anlass dazu, dass Parzival die im Wald getroffenen „glänzenden“ Ritter für Gott

halten wird (vgl. Pz: 120, 25-28 bis 122, 21-24). Weiter kann der mangelhafte Zustand

dieser Lehren in Verbindung mit dem Erziehungsort zusammengebracht werden, hier mit

dem Wald. Im Mittelalter wird der Begriff des Waldes einerseits als der Wohnort der

schlechten Leute bezeichnet und andererseits mit der Konnotation „Ort der schlechten

Handlungen“10 eingeführt: Siehe die Tötung Siegfrieds im Nibelungenlied. Der Wald

steht hier als ein Gegenpol zur Welt und zur höfisch-ritterlichen Gesellschaft, wie sich

das Mittelalter sie vorstellt. Parzival befindet sich hier nicht in einem normalen höfischen

Erziehungsraum, das heißt, in einem höfisch-sozialen Kontaktfeld, sondern er steht

isoliert von den Kindern gleichen Alters. Das kann nur dazu führen, dass zwischen

Parzival und seiner Umgebung außerhalb des Waldes einen Unterschied in der

Denkweise und in der Handlung entsteht, wie es bei ihm auf seinem weiteren Weg zu

erleben ist.

2.1.2. Parzivals tumpheit nach Soltâne

Schon im Wald und durch das Treffen mit den Rittern erfährt der Leser über die tumpheit

des Helden. Seine Fragen während des Gesprächs mit den Rittern beweisen, dass er

keinen Kontakt mit der höfischen Gesellschaft gehabt hat. Seine Worte und Fragen lassen

einem Ritter den freien Raum, ihn dirre tœrsche Wâleis (Pz: 121, 5) zu nennen und dem

Erzähler, ihn als den knappen der vil tumpheit wielt (Pz: 124, 16) vorzustellen. Dieses

Merkmal wird bei ihm auch weiterhin genannt, da er den Lehren seiner Mutter –

außerhalb des Waldes – wortwörtlich folgen wird.

Die Dichtung berichtet weiter, dass Parzival auf seinem Weg zum Artushof an

einem Bach ankommt und an dessen Ufer den Tag über entlang reiten soll, da „durch das

sîn fluz sô tunkel was“ (Pz: 129, 10); er soll daher die ganze Nacht da verbringen, bis ihm

der helle Tag erscheint. Anders als wir es uns gedacht hatten, geht es nicht darum, den 10 „Die bœsen bleiben von selbst draußen, sie leben im Wald“ (CURSCHMANN: 1971, 645). Unter schlechten Leuten versteht man auch manchmal die Heiden oder noch die Schwarzen, verglichen mit den Christen, also die guten Leute, die am Hof leben.

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Fluss nicht bei Nacht zu überqueren, sondern den Fluss nicht da zu durchreiten, wo es

dunkle von Bäumen darüber hingeworfene Schatten gibt, wie wir es hier bemerken

können: „swie dâ stuonde bluomen unde gras/durch daz sîn fluz sô tunkel was/der knappe

den furt dar an vermeit“ (Pz: 129, 9-11). Dieses Verhalten Parzivals lässt vermuten, dass

es etwas mit Herzeloyde und ihrer Lehre zu tun hat. Wie sich die beschriebene Erziehung

über das Wesen der Frau bei dem Held weiterauswirkt, lässt sich an seiner Begegnung

mit Jeschute klar sehen. Seine Neigung, den Lehren seiner Mutter mit Treue zu folgen,

lässt ihn nicht begreifen, dass der Kuss und der Ring freiwillig gegeben werden sollten.

Da er Jeschute in einem Zelt mit einem Ring gesehen hat, schleicht er sich hinter die

schlafende Dame und zwingt sie zum Küssen: „ir munt er an den sînen twanc“ (Pz: 131,

13). Obwohl Jeschute sich gegen ihn wehrt, entnimmt Parzival ihr nicht nur den Ring,

sondern auch eine Spange, die Jeschute anhat. Diese Szene wird so beschrieben, dass

man sagen kann, es handele sich um einen Vergewaltigungsversuch bzw. eine Entehrung

der Frau: „er druct an sich die herzogîn/und nam ir och ein vingerlîn/an ir hemde ein

fürspan er dâ sach“ (Pz: 131, 15-17). Doch dagegen stehen die Normen der höfischen

Kultur bzw. der höfischen Erziehung (vgl. Pz: 524, 19-30/656, 12-657, 1-3). Für Jeschute

wird diese Begegnung mit Parzival zur persönlichen Katastrophe, denn ihr Ehemann

Orilus glaubt ihr die Unschuld nicht, misshandelt sie und setzt sie als Ehebrecherin der

gesellschaftlichen Verachtung aus:

„dô sprach der stolze Orilus ôwê frowe, wie hân ich sus mîn dienst gein iu gewendet! mir ist nâch laster gendet manec rîterlîcher prîs.“ (Pz: 133, 5-9)

Ferner äußert sich die tumpheit Parzivals am Artushof, wo er von König Artus zum Ritter

gemacht werden will. Bei seiner Ankunft befindet sich die Artusgesellschaft in einem

chaotischen Zustand, wobei Ither von Kukûmerland den König Artus bzw. dessen

Gesellschaft zum Kampf fordert. Keiner hat aber den Mut, der Herausforderung Ithers zu

begegnen. Auf der Seite von Artus stehend und die Rüstung Ithers beneidend scheint

Parzival der einzige Freiwillige zu sein, um diesen ungewöhnlichen Zustand11 der

Artusgesellschaft in Ordnung zu bringen:

„ir decheinen lüstet strîtes. gip mir dâ du ûffe rîtes, unt dar zuo al dîn harnas:

11 Der König Artus wird am Ende der Erzählung als ein Friedenstifter geschildert, obwohl er hier zusammen mit Keie Parzival zum Kampf gegen Ither erregt hat (vgl. dazu BUMKE: 2004, 59).

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daz enphieng ich ûf dem palas: dar inne ich ritter werden muoz. “ (Pz: 154, 3-7)

Von seiner Begierde angestachelt verwechselt er Ither mit Lähelin und hat daher einen

Grund, seinen Racheplan zu erfüllen: „du maht wol wesen Lähelîn/von dem mir klaget

diu muoter mîn“ (Pz: 154, 25-26). Diese Haltung Parzivals, Ither mit Lähelin zu

verwechseln, kann damit erklärt werden, dass er die Artusgesellschaft für die gute Seite

erklärt, während alle, die sich gegen diese Gesellschaft stellen, auf der bösen Seite sind

(vgl. Pz: 154: 19-21). Die Attitüde Ithers wäre für ihn die von jemandem, der die

Artusgesellschaft oder jemandes Eigentum in Anspruch nehmen will. Deswegen wagt er

nicht, ihn zum Kampf zu fordern. Im Kampf erschlägt Parzival Ither, den roten Ritter,

eher um an dessen Rüstung und Pferd zu kommen, als um sich an ihm zu rächen. Dies ist

der Grund, warum er beginnt die Rüstung Ithers auszuziehen, gleich nachdem dieser

gestorben ist (vgl. Pz: 154, 27-155, 28). Für Parzival bedeutet der Raub der Waffen sowie

der Rüstung, dass er sich nun als Ritter fühlt. Dieses Verhalten wird aber vom Erzähler

als eine tumpheit seitens Parzivals verkündet, was dieser später bereuen wird, wenn er

erfährt, dass Ither ein naher Verwandter ist (vgl. dazu Pz: 161, 4-8 und auch 499, 13-14).

Durch diese ausführliche Darstellung der Reaktion Parzivals außerhalb des Waldes

können wir die Wirkung der Lehren Herzeloydes im Leben ihres Sohnes erleben. Woran

diese tölpelhafte Attitüde liegt wird in der Forschung mit der „habituellen

Wahrnehmungsschwäche“, die auf einer mangelhaften Erziehung beruhe,12 gerechtfertigt.

Man kann aber etwa weiter gehen und die Wurzel dieses Benehmens Parzivals in seinem

Verhältnis zu seiner Mutter finden. Denn, wie die Beziehung zwischen Herzeloyde und

Parzival oben dargestellt wird, neigt Parzival dazu, den Lehren seiner Mutter treu zu sein,

da er an deren Wahrhaftigkeit nicht zweifelt.

Dadurch, dass der Erzähler die Wirkung der Lehre Herzeloydes bei den eben

erwähnten Episoden und beim weiteren Lauf der Handlung zeigt, wird dem Leser klar,

wie direkt diese sich auf die vorangegangene Erziehung beziehen und wo der Abstand

zwischen der Denkweise Parzivals und der der normalen Gesellschaft ist. Nur einen

Ratschlag seiner Mutter kann Parzival richtig anwenden, und zwar den, der Lehre eines

erfahrenen, ergrauten Mannes zu folgen. Das beweist er besonders bei Gurnemanz, der

von Wolfram als der houbetman der wâren zuht (Pz: 162, 23) vorgestellt wird. Während

Parzival zu Gurnemanz geht, werden noch weiter seine Tölpelhaftigkeit und sein gegen

die höfischen Gesellschaftsnormen stehendes Verhalten deutlich, um zu zeigen, dass

12 HAUG zitiert BUMKE in seinem Aufsatz (vgl. HAUG: 2004, 57).

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Parzival eine standesgemäße Erziehung für seinen weiteren Weg braucht: Seine

Beschreibung der Burg der Artusgesellschaft als wachsende Saat beweist, dass er keine

Ahnung davon hat, wie die Häuser in einer höfischen Gesellschaft aussehen. Auch bei

seiner Ankunft bei Gurnemanz benimmt er sich falsch, was einige Regeln des Rittertums

angeht: seine Weigerung, vom Pferd abzusteigen, erklärt, dass sich seine Meinung von

Rittersein nur auf Reiten beschränkt und nicht mit weiteren Regeln verknüpft ist:

„do sprach an dem was tumpheit schîn mich hiez ein künec ritter sîn: swaz halt drûffe mir geschiht, ine kum von disem orse niht “ (Pz: 163, 21-24)

Bei Gurnemanz soll er deswegen eine standesgemäße Erziehung über das Rittertum

empfangen: „Es ist klar, dass Parzival gerade in der Begegnung mit Gurnemanz, in der er

das Vokabular des ritterlichen Daseins nach seiner handwerklich-kämpferischen und

ideellen Seite lernen soll, seine tumpheit naturgemäß gerade hervorkehren muss.“ (HAAS:

1964, 83-84)

2.2. Erziehung und tumpheit in und nach Grâharz

2.2.1. Parzivals Erziehung in Grâharz

Gurnemanz ist Burg- und Landesherr13 von Grâharz, den der Erzähler als einen Meister

wahrer Bildung charakterisiert und der vor allen untreuen Dingen zurückschaudert (Pz:

162, 23-24). Bei ihm steigt Parzival erst auf der nächsten Station seiner Reise ab. Dieser

Burgherr soll ein alter bzw. ein erfahrener Mann sein, da Parzival ihn treu, nach dem

Wunsch seiner Mutter, um Rat bittet: „mich pat mîn muoter nemen rât/ze dem der grâwe

locke hât“ (Pz: 162, 29-30). Der Ratschlag Herzeloydes, die Lehren eines grauen Mannes

zu beachten, hat ohne Zweifel großes Ansehen bei Parzival erregt. Bei seiner Ankunft in

Grâharz soll er selbst Gurnemanz gestehen, dass seine Mutter ihn ermahnt hat, ergraute

Männer um Ratschläge zu bitten. Durch diesen Ratschlag vermacht Herzeloyde

Gurnemanz die Kraft, ihren Sohn zu erziehen. Im Mittelalter hatten die Eltern dieses

Anrecht. Dazu sagt SCHULTZ, dass die meisten mittelalterlichen Eltern ihr Kind nicht

selbst erzogen, sondern zumindest einen Teil der Verantwortung für die Erziehung ihrer

Kinder auf eine andere Person oder Institution delegierten (vgl. SCHULTZ: 1995, 59). So

entsteht vor allem eine Atmosphäre von Vertrauen seitens Parzival Gurnemanz

gegenüber. Durch die Sorge, die Gurnemanz Parzival bei seiner Ankunft auf der Burg

13„Gurnemanz de Grâharz hiez der wirt/ûf dirre burc dar zuo er reit“ (Pz: 162, 6-7).

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erwiesen hat, kann den beiden eine enge Beziehung zugewiesen werden. Obwohl

Gurnemanz nicht zum Familienkreis Parzivals gehört und solange Gurnemanz in Parzival

seine verlorenen Söhne sieht, befindet Parzival sich in einem geeigneten

Erziehungsmilieu. Davon ausgehend und den Ratschlag seiner Mutter berücksichtigend

konnte Parzival die Wahrhaftigkeit der Lehren Gurnemanz’ nicht anzweifeln und hat sich

deswegen entschieden, nach denen zu handeln, was besonders auf der Gralsburg zum

Ausdruck kommt:

„durch zuht in vrâgens doch verdrôz. Er dâhte ´mir riet Gurnamanz mit grôzen triwen âne schranz, ich sollte vil gevrâgen niht. waz op mîn wesen hie geschiht die mâze als dort pî im? âne vrâge ich vernim wiez dirre massenîe stêt´“ (Pz: 239, 10-17)

Die gute Lehrfähigkeit Gurnemanz’ ist nicht zu bestreiten, da der Erzähler ihn als einen

guten Lehrer empfiehlt,14 obwohl Defizite in seinen Lehren später zu bemerken sind.

Wie der Fortlauf der Geschichte uns darauf hinweist, wird Parzival erst später

nicht nur erfahren, dass man „durch ritterliche Erziehung zum Ritter wird“ (BUMKE: 2004,

60), sondern wird die ritterliche Erziehung seiner Mutter auch korrigiert werden:

„Parzival, obwohl ein helt mit witzen cranc (169, 15), der noch und noch seine Mutter

zitiert, muss lernen, was zu lehren man bisher an ihm unterlassen hat; das

Torenarrangement der Mutter muss aufgehoben, rektifiziert und ins Ritterliche hinein

moduliert werden.“ (HAAS: 1964, 85) Wenn HAAS die Idee von Korrigieren hier erwähnt,

dann tendiert man dazu zu sagen, dass die Lehre Herzeloydes einerseits nicht vollständig

und andererseits nicht objektiv war, das heißt, sie dirigierte nicht auf das allgemein

erwartete Ziel hin. Bei diesem Burgherrn soll Parzival also mehr über das Rittertum

erfahren bzw. seine Kenntnisse in diesem Bereich erweitern, da ihm schon in Soltâne

über die Rolle des Schwerts und der Rüstung erzählt wurde. Parzival bleibt bei

Gurnemanz nicht nur als Gast, sondern auch als Lehrling. Gurnemanz ist für ihn

Ratgeber, Lehrer und zugleich Wirt, Vaterfigur und fast Schwiegervater:

„sîn underwant sich Gurnemanz. Sölch was sîn underwinden, daz ein vater sînen kinden, der sich triwe kunde nieten

14 „Da ist och sîn sun Meljacanz./het den erzogen Gurnemanz,/sô wœr sîn prîs gehœhet gar “ (Pz: 356, 21-23).

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möhtez in niht paz erbieten. Sîne wunden wuosch unde bant der wirt mit sîn selbes hant.“ (Pz: 165, 8-14)

Diese Beschreibung des Vorgehens Gurnemanz’ Parzival gegenüber deutet einigermaßen

auf die Gastfreundlichkeit und die Demut Gurnemanz’. Denn er kümmert sich selbst um

die Wunde des jungen Ritters. Zwei Wochen lang bewirtet Gurnemanz Parzival und

bietet ihm Unterkunft: Parzival isst sich zusammen mit seinem Wirt satt, schläft tief und

beruhigt, am Morgen nimmt er mit der Hilfe von schönen Mädchen ein Bad. Die Szene

des Bads kann hier schon als der praktische Teil der Lehre Gurnemanz’ von der

Wichtigkeit der Sauberkeit im Leben eines Ritters fungieren. Bevor Gurnemanz seine

Unterweisungen beginnt, sorgt er dafür, dass sein Gast sich wohl fühlt und von seinen

Dienern gut bedient wird. Wichtig zu erwähnen ist, dass sich Parzival bei Gurnemanz –

anders als bei Herzeloyde – in einem dem Höfischen ähnlichen Erziehungsmilieu

befindet, da um ihn herum auch andere zu finden sind, denen die höfische Erziehung

zuteil wird (vgl. Pz: 163, 10-168, 22 u.a.).

Gurnemanz’ ritterliche Erziehung enthält zwei Teile, die die Verhaltensregeln der

höfischen Kultur umfassen: einen theoretischen sowie einen praktischen Teil. Die

Einteilung seiner Lehren gibt nicht nur Hinweise über Religion, sondern auch über

Verhaltensregeln, die das Leben eines Ritters und eines Herrschers der höfischen

Gesellschaft bestimmen sollen. Wie im Wald von Soltâne fängt die Belehrung bei

Gurnemanz auch mit der Frage der Religion an. Das lässt uns sagen, dass das Thema der

Religion bei der Erziehung eine wichtige Rolle gespielt hat. Das beweist sich, wenn HAAS

über diese Tatsache wie folgt spricht:

„Und doch beginnt Parzivals höfische Erziehung immer mit religiösen Fragen und Antworten … Die höfische Kultur des Mittelalters muß daher im Kern eine Bemühung um Religiös-Christliches sein, nur unter den im Vergleich zu heute umgekehrten Vorzeichen, daß der Grad der Inkarnation, der Einverleibung des Christlichen ins Irdische die Sinnhöhe des Christlichen überhaupt bezeichnet.“ (HAAS: 1964, 85)

Diese Aussage von HAAS stimmt nur teilweise, gerade weil die religiöse Erziehung bei

Gurnemanz nicht aufgrund des Wunschs Parzivals, mehr über Religion zu wissen,

geschieht. Die religiöse Frage steht aber immer am Anfang der Erziehung des Helden.

Um das Thema der Religion anzuschneiden, wählt Gurnemanz einen geeigneten Ort,

nämlich die Kirche. Gurnemanz nimmt Parzival mit zur Messe, wo er seinen Lehrling

über das Konzept des Heils belehrt:

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„dô gienc der helt mit witzen kranc dâ man got und dem wirte sanc. der wirt zer messe in lêrte daz noch die sœlde mêrte, opfern unde segnen sich, und gein dem tiuvel kêrn gerich“ (Pz: 169, 15-20)

Gurnemanz zeigt Parzival bei diesem Anlass, wie man saelde erlangen kann. Das

Konzept des Heils fasst Gurnemanz in drei verschiedenen Punkten zusammen, die sich

teilweise auf die Ausführung von Ritualen beschränken: Almosen geben, das

Kreuzzeichen machen oder sich segnen und schließlich sich vom Teufel abwenden. Er

lässt Parzival wissen, dass die Menschen nur dadurch saelde erreichen kann. Im

Gegensatz zu Herzeloyde fügt Gurnemanz das Wesen Gottes nicht in diese Lehre über

Religion ein, aber erwähnt den tiuvel und mahnt Parzival, wie Herzeloyde, dieses Wesen

mit Hass zu beobachten bzw. sich von ihm abzuwenden. Gurnemanz spricht nicht über

das Gottesbild, sondern ermahnt zum richtigen Verhalten in der Kirche. Diese Lehre

Gurnemanz’ ergänzt die von Herzeloyde, der sie weder widerspricht noch sie korrigiert:

sie ist ergänzungsbedürftig. Diese Gotteslehre Gurnemanz’ soll Parzival dazu führen,

großzügig zu sein und sich mehr auf Gott zu verlassen. Die christliche Religion steht hier

also eine Tugend und gehört zweifellos zur höfischen Form dazu, wie alle Tugenden

auch, aber sie hat im Artusrittertum nicht dieselbe Bedeutung wie im Gralsrittertum. Der

Gralsritter dient nur Gott, wohingegen die Ritter der Artusgesellschaft für Weltliches

kämpfen. Es wird nur am Rande bemerkt, wenn ein Artusritter die Messe besucht hat

(vgl. Pz: 169, 15-16). Am Ende der Messe geht Gurnemanz zusammen mit seinem Gast

zum Hof zurück, wo er mit der Belehrung über die gesellschaftlichen Verhaltensweisen

des Ritters fortfährt. Bevor er diesen Erziehungsabschnitt beginnt, gibt er Parzival einen

neuen Namen: „den rôten ritter er in hiez“ (Pz: 170, 6) und versucht, Parzival – durch

einen Vorwurf – von seinem Kindischsein, das heißt, von der ständigen Erwähnung

seiner Mutter, zu befreien: „ir redet als ein kinderlîn/wan geswîgt ir iwerr muoter

gar/und nemet anderr mӕre war?“ (Pz: 170, 10-12). Nach diesem Tadel lenkt

Gurnemanz Parzivals Aufmerksamkeit auf die theoretischen Unterweisungen, deren

Inhalt sich von ritterlichem Verhalten und Tugenden bis hin zum Verhalten gegenüber

Frauen erstreckt:

„ir sult niemer iuch verschemn. verschamter lîp, was touc der mêr?...

iuch sol erbarmen nôtec her:

gein des kumber sît ze wer mit milte und mit güete: vlîzet iuch diemüete…

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ir sult bescheidenlîchesîn arm unde rîche.wan swâ der hêrre gar vertuot,daz ist niht hêrlîcher muot…irn sult niht vil gevrâgen:ouch sol iuch niht betrâgenbedâhter gegenrede, diu gêreht als jenes vrâgen stê…an swen ir strîtes sicherheitbezahlt, ern hab iu sölhiu leit getân diu herzen kumber wesn,die nemt, und lâzet in genesn… ir müezet dicke wâpen tragen:

so´z von iu kom, daz ir getwagnund rougen unde an handen sît…

sît manlîch und wol gemuot.daz ist ze werdem prîse guot.und lât iu liep sîn diu wîp:daz tiwert junges mannes lîp.gewenket nimmer tag an in:daz ist reht manlîcher sin.welt ir in gerne liegen,ir muget ir vil betriegen:gein werder minne valscher list…man und wîp diu sint al ein;als diu sunn diu hiute schein,und ouch der name der heizet tac.der enwederz sich gescheiden mac:“ (Pz: 170, 16-173, 4)

Dieser Darstellung nach fängt Gurnemanz mit der Notwendigkeit des Muts bei einem

Ritter an. Parzival lernt, dass sich ein Ritter niemals verschämt benehmen soll, denn ein

verschämter Ritter diene zu nichts: „ir sult niemer iuch verschemn./verschamter lîp, waz

touc der mêr?“ (Pz: 170, 16-17). Gurnemanz führt das Bild des Ritters hier zusammen

mit dem Mut ein und weckt den Eindruck, dass die Feigheit bzw. der Vorbehalt von der

Ritterschaft zu trennen sei. Der Ritter soll sich also von niemandem beeinflussen lassen.

Parzival reagiert auf seinem weiteren Weg häufig angemessen und zögert nicht, eine

unangenehme Situation mit Fassung zu tragen. Als er auf der Gralsburg gekränkt wurde,

hält er sich zurück und unterdrückt seinen Zorn, indem er „zer fiuste twanger sus die

hant/daz dez pluot ûzen nagelen schôz“ (Pz: 229, 12-13). Er soll später die Verfluchung

durch Cundrie mit Angemessenheit ertragen. Er erkennt seine Schuld an und verlässt die

Artusgesellschaft mit der Hoffnung, seinen Fehler wiedergutzumachen (vgl. das VI.

Buch). Des Weiteren soll der Ritter mehr Erbarmen (Pz: 170, 25) zeigen, indem er auf

der Seite der sich in Not befindenden Leute kämpft (Pz: 170, 26). Mit diesem Verhalten

verknüpft, lenkt Gurnemanz die Aufmerksamkeit Parzivals auf die Wichtigkeit der

Freigebigkeit und der Güte in seiner Interaktion mit den anderen und mahnt ihn auch,

demütig zu sein: „mit milte und mit güete/vlîzet iuch diemüete“ (Pz: 170, 27-28). Diese

Lehre kann als eine Grundlage des Lebens Parzivals als König betrachtet werden, da

diese Regel der Freigebigkeit und der Güte meistens zusammen mit dem Wesen des

Königs im Mittelalter vorkommt, z.B. die Schelte Walthers von der Vogelweide, wo

dieser den König Philipp für seinen Egoismus tadelt (Philippschelte 19, 17)15. Durch

diese Lehre wird sich Parzival auf seinem weiteren Lebensweg, wie Michel HUBY

schreibt, dreimal als perfekter Landesherr von Brobarz erweisen. Durch sein Geschick

15 Vgl. Walther von der Vogelweide: 2009, 89.

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gelangt Pelrapeire wieder zur Blüte, die Menschen müssen nicht mehr hungern und für

dauerhaften Frieden ist fortan auch gesorgt.16 Gurnemanz setzt mit seiner Lehre fort und

gelangt zum finanziellen Ratschlag. Hier erfährt Parzival, dass er sich je nach dem Milieu

entweder reich oder arm benehmen soll (Pz: 171, 7-8); er wird ermahnt, alle

Verschwendung von Geld und ungerechtfertigterweise Geld zu verdienen zu vermeiden.

Er soll ehrlicherweise sein Geld verdienen. Besonders wichtig für den Fortlauf der

Geschichte ist der Hinweis über die Fragestellung am Hof: „irn sult niht vil gevrâgen“

(Pz: 171, 17). Gurnemanz befiehlt Parzival, nicht viele Fragen zu stellen und mahnt ihn

wiederum nicht zu zögern, vernünftige Antworten auf gestellte Fragen zu geben, da man

ihn nur dadurch besser kennenlernen kann: „ouch sol iuch betrâgen/bedâhter gegenrede,

diu gê/reht als jenes vrâgen stê/der iuch will mit worten spehen“ (Pz: 171, 18-21). Er soll

aber bei solchen Anlässen auch seine Sinne benutzen, um sich richtig zu verhalten und

dadurch klug zu werden. Die Erwähnung der Sinne hier gilt als eine Warnung

Gurnemanz’ an Parzival, nicht immer nur seinen Hinweis über die Fragestellung zu

betrachten, sondern auch seine Sinne zu verwenden, um sich situationsgemäß zu

benehmen oder zu entscheiden: „ir kunnet hœren unde sehen/entseben unde drӕhen/daz

solt iuch witzen nӕhen“ (Pz: 171, 22-24). Diese Lehre wird aber dazu beitragen, sein

Verständnis der Fragestellung zu ändern. Nicht nur auf der Gralsburg wird er stumm

bleiben, sondern auch bei seiner Begegnung mit Condwiramurs in Pelrapeire. Er sitzt

neben der Königin, ohne ein einziges Wort an sie zu richten. Dennoch hilft diese Lehre

Parzival indirekt, denn das Versäumnis der Frage auf der Gralsburg lässt ihn, durch die

spätere Verfluchung durch Cundrie und Sigune, sein telos erkennen. Es war nicht

deutlich, dass der Held, sein telos später erkennt, falls er sich damals über den Zustand

des Gralskönigs verkündigt hätte. Die Episode auf der Burg bildet daher einen

entscheidenden Ausgangspunkt für den Fortlauf der Dichtung Parzival. Nach dieser

Lehre über die Frage kommt die Lehre der Sauberkeit. Parzival lernt, dass er sich wegen

des Staubes des Galoppierens immer waschen soll, wenn er Ansehen bei Frauen am Hofe

finden will, denn auf die äußere Erscheinung des Ritters legen die Damen viel Wert: „ir

müezet dicke wâpen tragn/so´z von iu kom, daz getwagn/undr ougen unde handen sît …

des nement wîbes ougen war“ (Pz: 172, 1-6). Parzival wird sogar auf die Teile gedeutet,

die zum Waschen wichtig sind oder als Erstes beim Waschen betrachtet werden sollen,

und zwar undr ougen unde handen (Pz: 172, 3). Der Ritter soll dieser Lehre

Aufmerksamkeit schenken, weil „die Beachtung von Geboten der Hygiene zur höfischen

16 HUBY nennt die Textstellen 200, 30 – 201, 1; 201, 9 – 15 und 222, 18 – 19 (Vgl. dazu HUBY: 1989, 262).

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zuht gehört.“ (HAUPT: 2006, 179) Dieser Lehre der Sauberkeit unterliegt schon ein

praktischer Teil, z.B. in der Szene, in der die Mädchen Parzival am Tag nach seiner

Ankunft auf der Burg Grâharz waschen. Weiterhin versucht Gurnemanz, Parzival mit

dem Wesen der höfischen Dame vertraut zu machen. Er stellt die Frau als diejenige vor,

für die die Sauberkeit des Ritters am wichtigsten ist, da diese das erste Ziel des

Minnediensts ist. Die Idee des Minnediensts einführend wird Parzival ermutigt, manlich

und wol gemuot zu sein und lediglich die Frauen zu lieben, wenn er begehrenswert sein

will: „und lât iu liep sîn diu wîp/daz tiwert junges mannes lîp“ (Pz: 172, 9-10). Des

Weiteren legt Gurnemanz das Augenmerk Parzivals darauf, wie er mit den Frauen

vorgehen soll: Frauen soll er ehren, treu bleiben und nicht verraten. Lüge, Verrat,

Schwindel, Betrug sind ein Verhalten, das der Ritter vermeiden soll, wenn er in Ehre

leben und einer Frau würdig sein will: „gein werder minne valscher list/hât gein prîse

kurze vrist“ (Pz: 172, 15-16). Doch vergessen soll er nie, dass man und wîp diu sint al

ein, wie die Sonne und der Tag (Pz:173, 1-3). Diese Vorausdeutung lässt verstehen, dass

der Mann und die Frau gleich sind. Ist diese Idee aber für das Mittelalter typisch? Die

Antwort ist nein. Denn typisch für die höfische Welt ist, dass die Frau immer in einem

unterlegenden Zustand auf die Szene tritt. Die Frau und der Mann wurden nicht als

Gleichberechtigte behandelt. Was dem Mann erlaubt ist, wird der Frau verweigert.

Albrecht von Johansdorf sagt zu der Ungleichheit von Mann und Frau Folgendes: „wan

solz den man erlouben unde den vrouwen niht“ (89, 20).17 Den Mann und die Frau hier

als gleiche Wesen darzustellen, stimmt nicht mit der Idee der höfischen Welt überein.

Hier lässt sich eher eine biblische Situation in der Artuswelt bemerken. Die Artuswelt

mischt sich also in die christliche Welt ein. Denn vor Gott hat die Frau den gleichen

Status bzw. das gleiche Anrecht wie der Mann (vgl. Johannes 1: 12/3:16; Römer 8: 2818

u.a). Diese Lehre über das Vorgehen des Ritters gegenüber der Frau fungiert hier als

Grundlage für das Leben Parzivals als Ehemann und der Erfolg seines Lebens als

Ehemann wird durch seine Begegnung mit Condwiramurs bestätigt. Mit dieser Lehre

über das Wesen der Frau endet sich der theoretische Teil der Erziehung.

Wie oben angedeutet, besteht die ritterliche Erziehung bei Gurnemanz aus einem

theoretischen und einem praktischen Teil. Um mit dem zweiten Teil zu beginnen, führt

der Wirt seinen Gast aufs freie Feld: „ez ist uns niht ze spӕte/wir sulen ze velde gâhen“

(Pz: 173, 18-19). Dieser Teil ist besonders wichtig für Gurnemanz, weil er einerseits die

17Zitiert von BUMKE (2008, 558).18Luther 1912. Zuletzt abgerufen am 14.06.2012. URL: www.bibel-online.de.

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Art und Weise, wie Parzival den Schild hält korrigieren will und ihm andererseits die

Kunst des Reitens näher bringen will: „dâ ich den schilt baz hangen vant/denner iu ze

halse tӕte … dâ sult ir künste nâhen“ (Pz: 173, 16-17 und 20). Auf dem Feld der Praxis

wird Parzival über kämpferische Techniken belehrt. Zuerst lehrt Gurnemanz Parzival die

rîten kunst (Pz: 173, 28). Parzival lernt, das Pferd beim Galoppieren mit den Sporen

anzusprechen: „sîme gaste er râten gap/wierz ors ûzem walap/mit sporen gruozes pîne“

(Pz: 173, 29-30 und 174, 1), den Schaft seiner Lanze und den Schild richtig zu halten: „ûf

den poinder solde wenken/[und] den schaft ze rehte senken/[und] den schilt gein tjost für

sich/nemen“ (Pz: 174, 3-6). Um diesen praktischen Teil der Erziehung zu

vervollkommnen, wird Parzival zum Kampffeld gebeten. Auch hier beweist Parzival

seine Tapferkeit und seine Kraft, indem er viele erfahrene Ritter vom Pferd abwirft (Pz:

174, 10-175, 3). Diese hier von Parzival erledigten Taten werden vom Erzähler als der

Ausdruck der in ihm versteckten Gahmuretes art beschrieben. Man kann daher zweifellos

mit HAAS sagen, dass die Lehren Gurnemanz’ als Bestätigung dessen dienen, was in

Parzival schon vorhanden ist: „Parzival erhält in Gurnemanz’ Belehrung und praktischer

Anweisung zum Ritterleben etwas, das ihm artgemäß vertraut und innerlich ist, als äußere

Bestätigung und Förderung.“ (HAAS: 1964, 86)

Als Parzival Grâharz nach 14 Tagen wieder verlässt, ist Parzival ein

vollkommener Ritter, wie die Artuswelt es versteht. Allerdings verbietet Gurnemanz ihm

unnötige Fragen zu stellen, was ein Problem auf dem weiteren Weg Parzivals sein wird.

Beeindruckt von Parzivals Schönheit wünscht sich Gurnemanz nichts anderes, als ihn mit

seiner Tochter Liaze zu verheiraten und ihn als Schwiegersohn zu haben. Um das aber zu

vermeiden, reitet Parzival wieder hinaus. Zwar verspricht er Gurnemanz

wiederzukommen, er kehrt aber nie an den Hof zurück und trifft Gurnemanz auch nicht

mehr. Der Leser erfährt durch den Erzähler, dass Parzival nach der Erziehung durch

Gurnemanz tumpheit âne wart (Pz: 179, 23). Stimmt das überhaupt? Der Fortlauf der

Handlung widerspricht dieser Behauptung des Erzählers in dem Sinne, dass Parzival sich

noch falsch auf seinem weiteren Weg verhält. Dann ist diese Reifung nur äußerlicher

sowie oberflächlicher Art, vor allem was die höfische Erziehung betrifft, worauf Carin

SEQUENS19 hinweist. Inwiefern kann aber gesagt werden, dass Parzival ein perfekter Ritter

ist? Diese Tatsache kann man mit den positiven Wirkungen beweisen, die man bei

Parzival weiter bemerken kann und die durch die Lehre Gurnemanz’ ermöglicht worden

sind. Die Weigerung Parzivals, Liaze, die Tochter Gurnemanz’, als Frau ohne Dienst zu

19 Zitiert von Maria DORFER-FRICK (2010, 63).

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nehmen, beweist, dass Parzival die Lehre über die Minne verstanden hat und dass seine

Integration in die höfisch-ritterliche Gesellschaft möglich sein kann: „hêrre, in bin niht

wîs/bezal abr i’emer ritters prîs/sô daz ich wol mac minne gern/ir sult mich Lîâze

wern/iwerr tohter, der schœnen magt“ (Pz: 178, 29-30 bis 179, 1-3). Ebenfalls zeigt sich

die Wirksamkeit der Unterweisungen nach HUBY an Parzivals Ausdrucksweise und seinen

Gefühlen, sei es bei dem Eid vor Orilus, der die Vorstellung vom Ritter der höchsten Art

widerspiegelt, oder weiterhin, als er es nicht zulässt, dass die Königin Condwiramurs vor

seinem Bett kniet. Diese ritterliche Einstellung Parzivals ist ein Zeichen der Auswirkung

der Lehren Gurnemanz’ bei dem Helden Parzival.20 Es ist daher ganz klar, dass die

Ritterlehre durch Gurnemanz ein entscheidender Schritt auf Parzivals Weg zum

vorbildlichen Artusritter war. Diese positiven Wirkungen bestätigen, dass die Lehre

Gurnemanz’ in vielen Punkten mit den allgemeinen Themen der höfischen Erziehung im

Mittelalter übereinstimmt, wie LAUDAGE und LEIVERKUS es in ihrem Buch über Rittertum

und höfische Kultur der Stauferzeit dargestellt haben (vgl. LAUDAGE/LEIVERKUS 2006).

Das weitere unreife Benehmen Parzivals wird nach Grâharz wieder deutlich. Doch

bevor er von Gurnemanz weg geht, weiß er noch immer nicht alles über das Rittertum –

er selbst soll daher gestehen, dass er niht wîs ist, damit immer noch tump ist. Dann seine

tumpheit wird weiterhin, zuerst auf Pelrapeire bei Condwiramurs und dann auf der

Gralsburg, durch die Lehre Gurnemanzʼ über die Fragestellung deutlich, denn diese

Lehre hat er eher als Frageverbot denn als unnötiges Fragen zu vermeiden

missverstanden (DALLAPIAZZA: 2009, 43).

2.2.2. Parzivals tumpheit nach Grâharz

Nachdem der Held der Dichtung die Burg Grâharz verlassen hat, hält er sich als Nächstes

am selben Tag in der Stadt Pelrapeire auf, wo „bî der vil liute in kûmber sint“ (Pz: 180,

28). Die Stadt steht in kûmber, weil sie von Clâmidês Armee belagert wird und soll unter

Hungersnot leiden, da die Königin Condwiramurs der Stadt Pelrapeire Clâmidê nicht

heiraten will. Als Parzival in der Stadt ankommt, klagt ihm Condwiramurs die

Ausweglosigkeit der Situation: „ich will iu unsern kumber klagen/wir müezen strengen

zadel tragen“ (Pz: 190, 7-8). Parzival bietet ihr seinen Dienst an. Er beschützt die

Königin vor Clâmidê und seinem Heer und befreit die belagerte Stadt und ihre Hunger

leidende Bevölkerung durch den Sieg über Clâmidê und Kingrûn. Durch seine Hilfe

gelangt Parzival zu Ehre und Ruhm. Parzival wird bei dem ersten Treffen mit

20 Diese Beispiele wurden von HUBY in seinem Aufsatz angeführt (vgl. HUBY: 1989, 262).

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Condwiramurs durch ihre Schönheit überwältigt,21 „saz sîn munt gar âne wort“ (Pz: 188,

21). Sein Schweigen macht Condwiramurs Sorge über ihr Aussehen bzw. ihre Schönheit:

„Diu küneginne gedâhte sân/ich wӕn, mich smӕhet dirre man/durch daz mîn lîp

vertwâlet ist“ (Pz: 188, 25-27). Aber da Condwiramurs das Schweigen Parzivals nicht

mehr ertragen kann, beginnt sie zu sprechen: „hie sol niht mêr geswigen sîn/zir gaste

sprach diu künegîn“ (Pz: 189, 5-6). In diesem Verhalten Parzivals wird das

möglicherweise falsch verstandene Frageverbot aus Gurnemanzʼ Lehre angedeutet, das

erst vor dem Gral zur Katastrophe führt (vgl. DALLAPIAZZA: 2009, 45). Hier ist also das

erste Zeichen der Wirkung der Lehre über die Frage bei Parzival und, infolgedessen der

Ausdruck seiner tumpheit. Parzival hat sein Verhalten durch die Lehre über die Frage

steuern lassen, wie der Erzähler darauf hinweist: „sîn manlîch zuht was im sô ganz/sît in

der werde Gurnamanz/von sîner tumpheit geschiet/unde im vrâgen widerriet“ (Pz: 188,

15-18).

Nicht nur in Pelrapeire bemerkt man diese Haltung Parzivals, sondern auch auf der

Gralsburg. Die Erzählung erwähnt die Wichtigkeit des Besuchs Parzivals in der

Gralsgesellschaft, wo er durch die Frage: „œheim, waz wirret dier?“ (Pz: 795, 29) den

Gralskönig Anfortas von seiner Wunde heilen und dadurch die verlorene Harmonie dieser

Gesellschaft wiederherstellen soll. Das Missverstehen dieser Lehre Gurnemanz’ über die

Frage, das durch die Unterlassung der Mitleidfrage zum Ausdruck kommt, erweist sich,

so BUMKE, als ein Zeichen von Parzivals tumpheit (vgl. BUMKE: 2004, 56). Wie kann

dieses tumpheitsbenehmen Parzivals erklärt werden? Mit welchen Faktoren kommt dieses

Benehmen Parzivals auf der Gralsburg zum Ausdruck? Inwiefern kann man es mit der

Lehre Gurnemanz’ wieder verknüpfen? Die tumpheit Parzivals auf der Gralsburg kann

auf unterschiedlichen Ebenen erklärt werden, und zwar mit der falschen Benutzung seiner

Sinne, mit seinem Mangel an Urteilsfähigkeit und auch mit seinem Verhältnis zu seinem

Lehrer Gurnemanz oder mit dem Inhalt der Lehre. Wenn Gurnemanz Parzival dazu

mahnt, seine Sinne zu benutzen, um die Weisheit zu erlangen, dann hätte sich Parzival

auf die auf der Gralsburg herrschende Situation eher als auf die Lehre Gurnemanz’

beziehen sollen, die ihm die Fragestellung „verbietet“. Den Missbrauch seiner Sinne auf

der Gralsburg erwähnt Trevrizent später, wenn dieser ihn, als ein tumber man (Pz: 473,

13) betrachtet, der den König heilen sollte, oder wenn er Parzival wie folgt anspricht: „dô

dir got fünf sinne lêch/die hânt ir rât dir vor bespart“ (Pz: 488, 26-27). Aus der falschen 21 „Lîâze schœnen was ein wint/gein der meide diu hie saz/na der got wunsches niht vergaz/(diu was des landes frouwe)/als von dem süezen touwe/diu rôse ûz ir bälgelîn…daz fuogte ir gaste grôze nôt” (Pz: 188, 6-11 und 14).

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Benutzung seiner Sinne kommt also sein Mangel an Urteilsfähigkeit. Parzival kann nicht

zwischen der Artuswelt und der Gralsgesellschaft unterscheiden: Er weiß nicht, dass er

sich nicht bei der Artusgesellschaft befindet und glaubt daher, dass die Lehre

Gurnemanz’ über die Fragstellung überall zu verwenden bestimmt ist. Der Ratschlag

Gurnemanz’ an Parzival betrifft aber eher den weltlichen Bereich als die Gralswelt,

worüber Gurnemanz nur wenig oder gar nicht gesprochen hat. Gurnemanz hat die

Aufmerksamkeit Parzivals nicht darauf gelenkt, dass es einen Unterschied zwischen den

beiden Welten gibt. Deswegen hat das Befolgen der Ratschläge Gurnemanz’ für Parzival

auch dort negative Folgen, wo die höfischen Regeln nicht zu beachten sind, nämlich vor

Gott auf der Gralsburg. Das falsche Benehmen Parzivals beim Gralbesuch kann aus

seinem Verhältnis zu Gurnemanz gedeutet werden. Dieses Verhältnis, in dem Parzival

Gurnemanz treu bleibt und dadurch dessen Unterweisungen wortwörtlich anwendet, ist

letztendlich der Grund, warum Parzival mit der Fragestellung gezögert hat. Für ihn wäre

die Zurückweisung dieser Lehre das Zeichen seiner Untreue gegenüber seiner Mutter und

Gurnemanz, da er die Treue Gurnemanz’ zu ihm als âne schranz bezeichnet. Damit

betrachtet Parzival Gurnemanz als jemand, der sich nicht täuschen kann, da er selbst ein

Ritter gewesen war. Inwiefern kann aber die Lehre Gurnemanz’ über die Frage als die

Ursache des falschen Benehmens in der Gralsgesellschaft betrachtet werden?

Die Forschungsliteratur spricht immer wieder von Parzivals Schuld, bei

Condwiramurs und bei dem ersten Besuch des Helden auf der Gralsburg geschwiegen zu

haben. Das Schweigen des Helden ist aber auf eine Weise die Schuld Gurnemanz’, der

dem jungen Ritter jenen Rat gegeben hat, nicht zu viel zu fragen. Der spätere Vorwurf

Trevrizents über die Lehre Gurnemanz’ soll letztendlich diesen Ratschlag betreffen (vgl.

Pz: 489, 5-8).22 Die Meinung, nach der Gurnemanz’ Unterweisung über die Frage mehr

an dem tumben Verhalten Parzivals auf der Burg schuldig ist als Parzival selbst, vertrete

ich völlig.

Erzogen im Wald von Soltâne wusste Parzival schon, mitleidig zu sein und Fragen

zu stellen. Das erkennen wir durch die Szene mit den Vögeln im Wald: „Der knappe

sprach zer künegin/´waz wîzet man den vogelîn´?“ (Pz: 119, 10), durch seine Interaktion

mit seiner Mutter, was das Stillen seiner Neugier anbelangt: „ôwê muoter, waz ist got?“

(Pz: 119, 17) oder auch durch sein Gespräch mit den Rittern im Wald von Soltâne: „du

nennest ritter: was ist daz?“ (Pz: 123, 4) und „wer gît ritterschaft?“ (Pz: 123, 6). Wie in

22 „diu menscheit hât wilden art/etswâ will jugent an witze vart/wil dennez alter tumpheit üeben/unde lûter site trüeben.”

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dem Kapitel über die Erziehung in Soltâne erwähnt, bekommt das Kind adliger Herkunft

ohne Erziehung Tugend als Frucht seiner edlen Geburt mit (vgl. WINKEL: 1968, 82). Das

gibt zu verstehen, dass die in Parzival vorhandenen Werte, die Mitleids- und besonders

die Fragestellungsfähigkeit, seit seiner Kindheit durch die Lehre Gurnemanz’

„rektifiziert“, wenn nicht, zerstört worden sind. Wenn WINKEL in seiner Dissertation sagt:

„Der Bildungswille des Erziehers deckt sich ganz selbstverständlich mit dem des

Zöglings. … Es gibt kein persönlich-menschliches Verhältnis, keinen seelischen Kontakt,

aber auch keine Spannung und keinen Konflikt“ (vgl. WINKEL: 1968, 58), dann lässt sich

davon ableiten, dass das Individuum dazu neigt, der Belehrung seines Erziehers ohne

Kritik zu folgen. Dann wird das Individuum zu dem, was sein Lehrer aus ihm machen

wollte. Diese Tatsache erklärt sich dadurch, dass Parzival sein Verhalten durch die Lehre

steuern lässt, anstatt die Harmonie auf der Burg zu betrachten und dadurch einen Schluss

für sich selbst zu ziehen.

Das Frageversäumnis ist der Grund, warum Parzival die Gralsburg ohne Abschied

von seinen Gästen verlässt. Auf seinem weiteren Weg Aventiure zu suchen, trifft er

zuerst seine Kusine Sigune, die sein Augenmerk darauf legt, dass er die Mitleidsfrage

stellen sollte, um die Gralsgesellschaft zu erlösen, und dann Kundrie, durch die er, der

Unterlassung der Frage wegen, verflucht wird. Parzival soll durch die Begegnung mit den

beiden Frauen sein telos erkennen, das er aus den Augen nicht mehr verlieren will:

„ine will deheiner freude jehn, ine müeze alrêrst den grâl gesehn, diu wîle sî kurz oder lanc. mich jaget des endes mîn gedanc: dâ von gescheide ich nimmer mînes lebens immer“ (Pz: 329, 25-30)

Er soll also Gralskönig werden. Um dieses Ziel seines Lebens zu erreichen und seine

Erziehung zu vervollständigen, braucht er noch eine religiöse Erziehung, die das zentrale

Anliegen der Gralsgesellschaft zu sein vermag. Auf seinem Weg gelangt er an einen

Wald, wo er zuerst durch einen alten Ritter und dann durch seinen Onkel, den Eremiten

Trevrizent, viel über das Wesen Gottes und seine Schöpfung erfahren soll, was seiner

Integration in die Gralsgesellschaft helfen wird.

2.3. Erziehung und tumpheit in und nach Fontâne la salvâtsche

2.3.1. Parzivals Erziehung in Fontâne la salvâtsche

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Auf seinem Weg, den Grâl zu suchen und die unterlassene Frage zu stellen, lässt die

Dichtung uns wissen, dass der Held Parzival in einen Wald geritten kommt, wo er seine

Cousine Sigune nochmal trifft. Nach einer Weile mit ihr reitet Parzival wieder weiter und

trifft einen Gralsritter gegen den er kämpft und siegt. Ohne zu wissen, dass der, mit dem

er gekämpft hat, ein Ritter der Gralsgesellschaft ist, und dass er infolgedessen nicht weit

von der Gralsburg entfernt ist, geht Parzival weiter und trifft auf eine Gruppe von

Bußpilgern, die ihm, entsetzt über seinen Auftritt in Waffen an diesem Tag und seine

Abwendung von Gott, raten, einen in der Nähe in einer Höhle wohnenden „heiligen

Mann“ aufzusuchen, um von ihm Hilfe und Sündenvergebung zu erhalten. Bevor er sich

auf den Weg macht, diesen heiligen Mann zu suchen, erhält Parzival von einem unter den

Bußpilgern sich befindenden alten Ritter (Kahenîs) Hinweise über den Karfreitag.

Diese Belehrung geschieht einerseits, weil Parzival an diesem Tag Waffen und

Rüstung trägt und andererseits, weil er gestehen soll, dass er im Dienst Gottes nur

Schande und Hohn erlitten hat. Wappen und Rüstung an diesem Tag zu tragen wird als

eine Sünde empfunden. Deswegen wird der alte Ritter später Parzival dazu mahnen, seine

Sünde bei dem heiligen Mann zu bekennen. Der alte Ritter lehrt den Helden und teilt ihm

mit, dass der Sohn Gottes Mensch wurde und für und durch die Menschen gelitten hat:

„geloubet ir sîner mennescheit/waz er als hiut durch uns erleit“ (Pz: 448, 3-4). Um ihm

zu helfen, wieder zu Gott zu finden, erklärt der alte Ritter ihm noch den Sinn des

Karfreitags, über den „al diu werlt sich freun mac“ (Pz: 448, 8). Parzival erfährt, dass

dieser Tag der Ausdruck der Treue Gottes zur Menschheit ist: „wâ wart ie hôher triwe

schîn/dan die got durch uns begienc“ (Pz: 448, 10-11). Diese Treue nahm Gestalt an,

indem Gott für die Menschen gestorben ist, um sie von ihrer Schuld zu befreien und sie

vor der Hölle zu retten: „er hât sîn werdeclîchez leben/mit tôt für unser schult

gegebn/durch daz der mensche was verlorn/durch schulde hin zer helle erkorn“ (Pz: 448,

15-18). In dieser Unterweisung lässt sich die Sühnetat Jesu Christi erkennen, der an

einem Freitag gestorben ist, um die Menschheit von ihrer Sünde zu befreien.23 Nach

dieser Unterweisung über die Bedeutung des Karfreitags empfiehlt er Parzival, einem

heiligen Mann seine Sünden zu bekennen.

Als Parzival bei dem Eremiten Trevrizent in Fontâne la salvâtsche ankommt, ist

sein Herz immer noch mit Hass gegen Gott gefüllt, denn er glaubt, Gott sei an seinen

Leiden bzw. Sünden schuldig: „ouch trage ich hazzes vil gein gote/wand er ist mîner

sorgen tote“ (Pz: 461, 9-10). Dass ihm Trevrizent vom alten Ritter als heiliger Mann für

23 Vgl. Luther 1912: Johannes 19-21. URL: www.bibel-online.de.

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ein Sündenbekenntnis empfohlen wird, erweckt den Eindruck, Trevrizent wäre eine hohe

Instanz der Religion. Doch die Dichtung stellt ihn als ein heilec man (Pz: 448, 23) vor,

der wahrscheinlich von Sünden erlösen kann.

In einem Wald führt Trevrizent sein Leben aus Gottesliebe in keuscher Entsagung.

Durch seinen Verzicht auf alles, was dem Leib Freude leisten kann, zeigt sich Trevrizent

als ein Asket, der einen Kampf gegen den Teufel und die körperlichen Verlangen führt:

„er hete gar versprochen môraz, win, und ouch dez prôt. sîn kiusche im dennoch mêr gebôt, der spîse het er keinen muot, vische noch fleisch, swaz trüege bluot. sus stuont sîn heileclîchez lebn. got het im den muot gegebn: der hêrre sich bereite gar gein der himlischen schar. mit vaste er grôzen kumber leit: sîn kiusche gein dem tievel streit.“ (Pz: 452, 18-28)

Diese Erklärung des Erzählers über den Eremiten enthüllt die Art und Weise, wie dieser

seine Askese führt. Ein Zeichen dieser Askese ist schon sein Wohnort, der Wald,

außerhalb der normalen Gesellschaft. Zu seinen Essgewohnheiten gehört nichts swaz

trüege bluot (Pz: 452, 22). Er ernährt sich also nur von Blättern und kommt daher als

Vegetarier vor. Er isst weder vische noch fleisch. Er hat sogar auf prôt verzichtet und

trinkt keinen wîn. Trevrizent weist sich selbst sogar die Allwissenheit zu, die sich als die

Fähigkeit Gottes allein herausstellt: „ein wârheit ich iu sagen kann/ichn fürhte niht swaz

mennisch ist/ich hân ouch mennischlîchen list“ (Pz: 457, 28-30). Bei Trevrizent werden

Parzival also nicht nur Kenntnisse über Gott vermittelt, sondern ihm wird viel über den

Gral und das Leben eines Gralsritters beigebracht.

Bei seiner Ankunft in Fontâne la salvâtsche wird Parzival wieder von Trevrizent

getadelt, weil der Unbekannte in voller Rüstung am Karfreitag reitet. Als Parzival von

seinem Pferd absteigt, bekennt er sich selbst als ein Sünder, der Hilfe braucht: „hêr, nu

gebt mir rât/ich bin ein man der sünde hât“ (Pz: 456, 29-39). Bevor Trevrizent seine

Belehrung beginnt, bietet Trevrizent Parzival Gastfreundschaft an. Er erkundigt sich über

den Grund der Ankunft Parzivals. Hierbei erwähnt Parzival sein Treffen mit dem alten

Ritter und teilt Trevrizent mit, dass der alte Ritter ihn hierhergeschickt hat. Über diesen

alten Ritter erfährt Parzival Näheres von Trevrizent: Er heiße Kahenîs, er sei von

königlicher Art und seine Schwester hätte den mächtigen König von Kâreis zum Mann

(Pz: 457, 11-20). Nach einem kurzen Gespräch, in dem Trevrizent über sein Leben als

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Ritter (Pz: 458, 1-12) spricht, füttert Trevrizent das Pferd Parzivals, kümmert sich um

seinen Gast und ruft ihm das Konzept der Zeit wieder ins Gedächtnis zurück (Pz: 459, 1 -

460, 30), da Parzival nicht weiß, wie lange seine Reise bisher gedauert hat.

Nach dieser Versorgung erzählt Parzival seinem Wirt sein Verhalten gegenüber der

Kirche und Gott. Hier gesteht Parzival seinen Hass gegen Gott ein und lässt Trevrizent

wissen, dass er nicht mehr den Gottesdienst besucht, weil er in Gott die Ursache seines

Leidens sieht (Pz: 461, 1-26). Damit findet Trevrizent einen Anlass, seine Unterweisung

anzufangen. Bevor er seinem Gast Näheres über die Religion vermittelt, versucht er

zuerst Parzival von dessen Hass gegen Gott zu lösen und ermahnt ihn infolgedessen, sich

auf Gott zu verlassen: „dô sprach er ´hêrre, habt ir sin/sô schult ir got getrûwe wol/er

hilft iu, wand er helfen sol ...“ (Pz: 461, 28-30). Sein Hass gegen Gott kann hier als ein

Hindernis gegen die vorliegende Belehrung betrachtet werden. Der Versuch Trevrizents,

ihn zuerst von diesem Hass abzuwenden, kann als ein guter Einstieg ins Thema betrachtet

werden. Darüber hinaus versucht Trevrizent Parzival zu überzeugen, wieder zu Gott zu

finden. Hierbei führt Trevrizent seinem Lehrling einige Eigenschaften bzw. die Attribute

Gottes vor, und zwar Hilfsbereitschaft, Treue und Wahrheit: „sîn helfe ist immer

unverzagt … sît got selbe ein triuwe ist/dem was unmœre ie falscher list … got heizt und

ist diu wârheit” (Pz: 462, 10; 19; 25). Wegen dieser Merkmale Gottes erfährt Parzival,

dass Gott noch an niemandem treulos gehandelt hat und dass Gott die Lüge fremd ist:

„dem was ie falschiu fuore leit … ern kann an niemen wenken“ (Pz: 462, 26 und 28).

Warum sollte sich also Parzival beschweren, Gott hätte ihn im Stich gelassen? Wenn wir

uns auf diese Idee über Gott verlassen, dann hat Parzival keinen Grund Gott anzuklagen

oder diesen als Urheber seiner Schuld zu betrachten. Trevrizent setzt fort und sagt seinem

Gast, dass alle, die einen Kampf gegen Gott führen, als schwachsinnig zu schelten sind:

„swer iuch gein im hazze siht/der hât iuch an den witzen kranc“ (Pz: 463, 2-3) und daher

auf dem Weg zum Untergang sind, wie es Luzifer und seinen Kameraden erging: „nu

prüevt wie Lucifern gelanc/unt sînen nôtgestallen/… zer helle enpfâhet sûren lôn?“ (Pz:

463, 4-5 und 9). Die Erwähnung von helle hier lässt eine Verbindung mit dem tiuvel

herstellen, soweit dieser in der Hölle wohnhaft ist. Wäre dann Luzifer nicht eine andere

Benennung des Teufels? Nachdem Luzifer und seine Gesellen in die Hölle geschickt

wurden, entsteht eine Generation von Menschen: „dô lucifer fuor die hellevart/mit schâr

ein mensche nâch im wart“ (Pz: 463, 15-16). Auf die Entstehung dieser Generation

eingehend erklärt Trevrizent, dass sie von Gott geschaffen wurde. Adam und Eva werden

sie genannt: Der eine wird aus der Erde gemacht und die andere aus dem Leib des

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Ersteren: „got worhte ûz der erden/ Adâmen den werden/von Adâms verhe er Even

brach“ (Pz: 463, 17-19). Hier erkennt der Leser Gott als den Schöpfer bzw. den Ursprung

der Menschen. Trevrizent fährt fort und spricht über Eva. Wegen ihres Ungehorsamen

gegenüber dem Schöpfer liefert sie der Menschheit Leiden aus und hat damit der

Seligkeit der Menschen ein Ende gesetzt: „diu uns gap an daz ungemach/dazs ir

schepfӕre überhôrte“ (Pz: 463, 20-21). Durch Adam und Eva kamen Kain und Abel in

die Welt. Kain wird als ein Kind maßloser Gier und Ehrsucht (Pz: 463, 24) und als der

Menschheit Jammerurheber vorgestellt, denn er ist seiner Mutter Eva ähnlich. Durch

seine Gier und Ehrsucht nimmt Kain seiner Großmutter die Jungfernschaft. Wie ist es

aber möglich, dass der Enkel seine Großmutter entjungfern kann? Diese Frage hat

Parzival auch gestellt, indem er diese Erklärung Trevrizents in Zweifel gezogen hat:

„hêrre, ich wӕn daz ie geschach/von wem was der man erborn/von dem sîn ane hât

verlorn/den magetuom, als ir mir sagt?“ (Pz: 464, 2-5). Damit erkennt der Leser einen

„anderen“ Parzival, das heißt, ein Parzival, der durch diese Kritik gegen den Hinweis

seines Erziehers zu Urteilsfähigkeit bzw. Verstand gelangt. Diese Reaktion Parzivals

zwingt Trevrizent, seinem Gast eine Antwort zu geben. Die Großmutter stellt Trevrizent

in seiner Antwort als die Erde – die Mutter Adams – vor, von deren Früchten Adam lebte.

Die Erde hätte ihre Jungfernschaft ab dem Tag verloren, als Kain während eines Streites

seinen Bruder Abel tötet. Die Erde sei sich durch das Blut Abels befleckt worden und

habe damit ihre Jungfernschaft verloren. Doch ist Kain daran schuld und in dieser

Handlung Kains findet Trevrizent die Wurzel der seitdem unter den Menschen

vorhandenen Bosheit. Trevrizent fährt mit seiner Erklärung fort und schildert die

Jungfrau als das reinste Wesen unter den Menschen: Sie kennt keine Lüge. Hier soll

Parzival auch erfahren, dass Gott (Jesus?) selber der Sprössling der allerersten Jungfrau

ist (vgl. Pz: 464, 7-30). Trevrizent geht mit seiner Erklärung weiter und führt Abel, den

Bruder Kains, an. Trevrizent lässt Abel wiederum als denjenigen, der in der Welt Glück

bereitet hat, auftreten: „Von Adâmes künne/huop sich riwe und wünne“ (Pz: 465, 1-2). Zu

Abel schauen alle Engel auf (wegen seiner Harmlosigkeit?). Die Verwandtschaft der

Menschen mit Kain und Abel wird nicht geleugnet. Da „diu sippe sünden wagen ist“ (Pz:

465, 5), soll die Nachkommenschaft nicht nur die gute Seite Abels erben, sondern auch

unter der Sünde Kains leiden. Damit deutet uns Trevrizent auf die Idee der Erbsünde hin,

die die von Generation zu Generation weitergegebene Sündenfolge der Mordtat Kains

bzw. von dessen Eltern Adam und Eva ist. Die Forschung ist der Meinung, dass die

Tötung Ithers durch Parzival ein Zeichen der Kainstat als Erbsünde in dem Leben des

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Helden ist. Mit dieser Idee verknüpft weist Trevrizent auf das Erbarmen Gottes für die

Menschheit hin. Wegen seines Erbarmens und seiner Treue den Menschen gegenüber

wurde Gott Mensch: „dem erbarme gît geselleschaft/sît sîn getriuwiu mennischeit/mit

triwen gein untriwe streit“ (Pz: 465, 8-10). Sein Menschenwerden sollte wahrscheinlich

zur Erlösung der Menschen von der Erbsünde führen. Deswegen ermahnt Trevrizent

seinen Gast, sich mit Gott zu versöhnen, wenn er sein Glück nicht verlieren will: Parzival

soll Buße für seine Sünden tun. Er soll aufhören, durch unkeusche Wörter seine Leiden

zu rächen, denn dadurch spricht er sein eigenes Urteil. Nach dieser Mahnung zur

Bekehrung setzt Trevrizent seine Belehrung fort. Er führt ein Wesen (Jesus Christus?)

ein, dessen Ankunft sowie Aufgabe auf der Erde von dem Rhetor Plato und der Prophetin

Sibille vor Jahren vorhergesagt worden sind. Dieses Wesen wird sich als Pfand für die

höchste Schuld (Erbsünde?) stellen: „uns solde komen al für wâr/für die hôhsten schulde

pfant“ (Pz: 465, 26-27). Parzival erfährt, dass sich die Vergebung, die die Menschen

durch Gott bekommen, als der Ausdruck der Gottesliebe für die Menschheit zeigt. Wegen

seiner Liebe hat Gott die Menschen aus der Tiefe der Hölle herausgeholt, da die Hölle die

Bleibe der unkiuschen ist: „zer helle uns nam diu hôhste hant/mit der gotlîchen minne/die

unkiuschen liez er dinne“ (Pz: 465, 28-30). Parzival findet so heraus, dass Gott der

Inbegriff der Liebe ist und deswegen „wenket sîner minne nieht“ (Pz: 466, 1-4).

Abgesehen von den Attributen wie Wahrheit, Hilfsbereitschaft und Treue besitzt Gott

eine andere Eigenschaft, und zwar die Liebe. Selig ist derjenige, „swem er minne

erzeigen sol“ (Pz: 466, 5). Weiter stellt Trevrizent Gott als „ein durchliuhtec lieht“ (Pz:

466, 3) vor. Damit kann ein Zusammenhang mit der Lehre Herzeloydes über Gott

hergestellt werden, wo Gott „liehter denne der tac“ erscheint. Diese Lehre schließt also

an Herzeloydes Gotteslehre an und vervollkommnet sie. Um diesen Teil zu beenden

betont Trevrizent wieder die Wichtigkeit der Buße und die Bereitschaft Gottes, jedem zu

vergeben, der seine Sünden bekennt: „der schuldige âne riuwe/fliuht die gotlîchen

triuwe/swer ab wandelt sünden schulde/der dient nâch werder hulde“24 (Pz: 466, 11-14).

Nach diesen Unterweisungen über das Wesen Gottes, die Geschichte der ersten

Menschen sowie den Plan Gottes die Menschheit von ihrer Schuld zu erlösen, bedankt

sich Parzival bei seinem Wirt und äußert seine Freude über die ausführlichen Erklärungen

Trevrizents.

24Dieser Vers scheint die Paraphrasierung des Spruchs 28: 13 (aus der Bibel) zu sein: Wer seine Missetat leugnet, dem wird's nicht gelingen; wer sie aber bekennt und läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen. (Vgl. http://www.bibel-online.net/buch/luther_1912/sprueche/28/#13), abgerufen am 12.05.2012.

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Aus dem Wunsch Trevrizents heraus, Parzival besser kennenzulernen, lässt

Parzival seinen Gast wissen, dass er sich nach dem Gral und seiner Frau Condwiramurs

sehnt. Er betont den Gral als seine größte Sorge und verpasst nicht die Gelegenheit, die

Schönheit seiner Frau Condwiramurs preiszugeben (Pz: 467, 26-30). Die Erwähnung des

Worts grâl erlaubt Trevrizent Näheres über den Gral zu sagen. Trevrizent lässt Parzival

wissen, dass seine Suche bzw. sein Verlangen nach dem Gral zu bedauern ist, denn zum

Gral wird man berufen, wenn der Himmel seinen Namen gut kennt: „jane mac den grâl

nieman bejagn/wan der ze himel ist sô bekant/daz er zem grâle sî benant“ (Pz: 468, 12-

14). Als ein Angehöriger der Gralsgesellschaft gesteht Trevrizent, dass er sich mit dem

Thema gut auskennt. Er nennt also Munsalvaesche und die Templeisen, die er als

Kriegsleute einführt:

„der wirt sprach ´mir ist wol bekant, ez wont manc werlîchiu hant ze Munsalvӕsche bîme grâl. durch âventiur die alle mâl rîtent manege reise: die selben templeisen, swâ si kumbr od prîs bejagent, für ir sünde si daz tragent.“ (Pz: 468, 23-30)

Als Kriegsleute ziehen die Templeisen hinaus, um Abenteuer zu suchen. Der Kummer

sowie die Preise, die sie unterwegs erringen, werden als Buße für ihre Sünde betrachtet.

Die kämpferische Fähigkeit der Munsalvaescher betont Trevrizent weiter, wenn er sagt

„dâ wont ein werlîchiu schar“ (Pz: 469, 1). Anschließend spricht Trevrizent die

Essgewohnheiten der Leute in Munsalvaesche an: „sie lebent von einem steine“ (Pz: 469,

3) und dieser Stein ist von reiner Art. Wir erfahren also den Namen dieses Steins, und

zwar lapsit exillîs. Dieser Stein hat die Kraft den Phönix zu verbrennen und entsteht

wieder neu aus dessen Asche: „von des steines kraft der fênis/verbrinnet, daz er zarschen

wirt/diu asche im aber leben birt“ (Pz: 469, 8-10). Dann setzt Trevrizent mit den

Geheimnissen und der Fähigkeit des Steins fort. Der Stein hat die Fähigkeit Schmerzen

zu mindern und sogar unsterblich zu machen: „ouch wart nie menschen sô wê/swelhes

tages ez den stein gesiht/die wochen mac ez sterben niht/diu aller schierst dâr nâch

gestêt“ (Pz: 469, 14-27). Wie schlecht jemand sich auch fühlt, er braucht nur den Gral zu

sehen, um neues Aussehen zu erlangen, junge Knochen zu haben oder länger am Leben

zu bleiben.25 Am Ende dieser Erklärung hört Parzival, dass dieser Stein auch grâl genannt

25 Ein Zusammenhang kann hier mit der Geschichte der ehernen Schlange aus der Bibel 4. Buch Mose 21: 6-9 hergestellt werden: „6 Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, daß viel Volks in Israel starb. (1. Korinther 10.9) 7 Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt,

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wird. Weiter schneidet Trevrizent die Herkunft dieses Steins an. Der Stein kommt aus

dem Himmel und wird aus diesem Grund durch eine Taube „gefüttert“, die karfreitags

aus dem Himmel kommt. Parzival hört auch, wie der Grâl gefüttert wird und wie er

dadurch den irdischen Bedarf produzieren kann:

„Ez ist hiute der karfrîtac, daz man für wâr dâ warten mac, ein tûb von himel swinget: ûf den stein diu bringet ein kleine wîze oblat. ûf dem steine si die lât… dâ von der stein enpfӕhet swaz guots ûf erden drӕhet von trinken unt von spîse“ (Pz: 470, 1-6/11-13)

In der Folge wird erklärt, dass nicht irgendeine Person zum Gralskönig berufen werden

kann, sondern die von Gott selbst gewählte Person, deren Name auf dem Gral erscheint:

„hœrt wie die werdent bekant/zende an des steines drum/von karacten ein epitafum/sagt

sînen namen und sînen art“ (Pz: 470, 22-24). Diese Erklärung soll die Meinung Parzivals

ändern, nach der man durch Kampf und heldenhafte Taten Gralskönig bzw. Gralsritter

wird: „ist got an strîte wîse/der sol mich dar benennen/daz si mich dâ bekennen/mîn hant

dâ strîtes niht verbirt“ (Pz: 472, 8-11). Die Erwiderung Trevrizents auf diese Meinung

Parzivals – „ir müest aldâ vor hôchvart/mit senften willen sîn bewart./iuch verleit lîht

iwer jugent/daz ir der kiusche brӕchet tugent./hôchvart ie seic unde viel“ (Pz: 472, 13-

17) – will Parzival dazu bringen, seinen hochmutigen Zustand bzw. das weltliche

Rittertum kritisch zu reflektieren, wenn nicht, zu verbessern. Denn seine tumpheit kommt

meistens mit Gewalt vor, die von hôchvart erregt ist. Die Erwähnung von „ez wont manc

werlîchiu hant/ze Munsalvӕsche bîme“ (Pz: 468, 24-25) bzw. „die selben templeise“ (Pz:

468, 28) durch Trevrizent bestätigt, dass auch auf der Gralsburg Ritter zu finden sind,

deren Lebensart etwas anders als die des weltlichen Ritters sein sollte. Diese ziehen oft

hinaus, haben aber als Hauptaufgabe den Gral vor fremden Rittern und vor allen, die

nicht der Gralsgesellschaft angehören, zu schützen: „dâ wont ein werdiu

bruoderschaft/die hant mit werlîcher kraft/erwert mit ir handen/der diet von al den

landen/daz der grâl ist unerkennet/wan die dar sint benennet/ze Munsalvӕsche ans grâles

daß wir wider dich geredet haben; bitte den HERRN, daß er die Schlangen von uns nehme. Mose bat für das Volk. 8 Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie zum Zeichen auf; wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. 9 Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie auf zum Zeichen; und wenn jemanden eine Schlange biß, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.” Zuletzt abgerufen am 07.06.2012. URL: http://www.bibel-online.net/buch/luther_1912/4_mose/21/#6.

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schar“ (Pz: 473, 5-11). Diesen Verteidigungsdienst der Gralsritter bestätigt KUHN, wenn

er Folgendes dazu äußert: „Die Ritter, bei Wolfram templeisen – Templer genannt, haben

nur die Unzulänglichkeit des Gralslandes zu verteidigen.” (KUHN: 1969, 155) Ein Ritter

zu sein bedeutet im Mittelalter nicht immer ruhmreiche Schlachten zu schlagen und holde

Jungfrauen zu erobern. Wie die Gralsgesellschaft das Bild eines Ritters bei der

Waffenwacht zeigt, kann der Alltag eines Ritters auch langweilig gewesen sein. Weiter

wird vom Gralsritter erwartet, dass er sein Leben mit Demut, Disziplin und Maß führt.

Diese Werte stehen hier gegen hôchvart (Hochmut). Dadurch erfährt Parzival, dass

„diemüet ie hôchvart überstreit“ (Pz: 473, 4). Anders als der weltliche Ritter, der auf

seiner Suche nach Aventiure Frauen dient, um ihre Liebe zu gewinnen, müssen die

Gralsritter auf die Liebe zu Frauen bzw. auf den Minnedienst verzichten; sie dürfen also

nicht heiraten: „swer sich diens geim grâle hât bewegn/gein wîben minne er muoz

verpflegn“ (Pz: 495, 7-8). Dieses Verbot bzw. der Verzicht auf die Frau ist teilweise der

Grund, warum Trevrizent sich geweigert hat, Gralsritter zu werden: „über daz gebot ich

mich bewac/daz ich nâch minnen dienstes pflac“ (Pz: 495, 13-14). Mit dieser Weigerung

hat sich Trevrizent entschlossen, der Welt zu dienen, obwohl er zur himmlischen

Gesellschaft gehörte. Damit kann man sagen, dass der weltliche Bereich den

Himmlischen überwunden hat. Im Gegensatz zu den Rittern dieser Gesellschaft hat allein

der Gralskönig das Anrecht zu heiraten: „wan der künec sol haben eine“ (Pz: 495, 9).

Dieser soll wiederum darauf warten, bis der Name seiner künftigen Frau auf dem Gral

(dem Stein) erscheint, das heißt, er darf auf Minnedienst ausziehen, aber nur der dienen,

die der Stein ihm nennt. Diese Tatsache erklärt den schlechten Zustand Anfortas`, des

jetzigen Gralskönigs und Trevrizents Bruder:

„swelch grâles hêrre ab minne gert anders dan diu schrift in wert, der muoz es komen ze arbeit und in siufzebӕriu herzeleit. mîn hêrre und der bruoder mîn kôs im eine friundîn, des in dûht, mit guotem site“ (Pz: 478, 13-19)

Nach diesen ausführlichen Informationen sagt Trevrizent Näheres über die Herkunft

Parzivals und über das Leben auf der Gralsburg. Dabei erfährt Parzival auch viel über

seine verstorbene Mutter und seine Sünden, die er dann bekennen soll und für welche

Trevrizent vor Gott bürgt. Dann macht sich Parzival wieder auf den Weg, um die

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Gralsgesellschaft zu suchen und ihre Harmonie wiederherzustellen. Parzival kann jetzt

nochmals versuchen, die Gralsgesellschaft zu erreichen.

Nach diesen Unterweisungen besitzt Parzival genügend Kenntnisse im Welt- sowie

im Gralsrittertum. Vollkommen richtig ist diese Belehrung aber nicht, da Trevrizent

selbst am Ende der Geschichte den Mangel in seiner Lehre gestehen wird: „mich müet et

iwer arbeit:/ez was ie ungewonheit/daz den grâl ze keinen zîten/iemen môhte erstriten/ich

het iuch gern dâ von genomn./nu ist ez anders umb iuch komn“ (Pz: 798, 23-27). Trotz

dieses Defizits bestreitet man nicht, dass sich Trevrizent mit dem ritterlichen, dem

religiösen und dem gralsritterlichen Bereich gut auskennt. Besonders wichtig ist diese

Lehre für Parzival nicht nur wegen seiner Herkunft, sondern wegen seiner künftigen

Herrschaft als Gralskönig. Auf seinem Weg zur Gralsburg erfährt er durch Cundrie von

seiner Berufung zum Gralskönig und dass er mit seiner Frau und seinen Kindern

Loherangrin und Kardeiz erwartet wird:

„nu wis kiusche unt dâ bî vrô. wol dich des hôhen teiles, du krône menschen heiles! daz epitafjum ist gelesen: du solt des grâles hêrre wesen. condwîr âmûrs daz wîp dîn und dîn sun Loherangrin sint beidiu mit dir dar benant.“ (Pz: 781, 12-19)

Die Unterweisungen kommen aus diesem Grund wie gerufen und ihre Wirkung wird

während seiner Herrschaft als Gralskönig bemerkbar sein. Bevor Parzival aber seine

Berufung zum Gralskönig im Schastel Marveil erfährt, berichtet die Handlung über

weiteres falsches Verhalten des Helden, das das Vorhandensein von tumben Zügen in

dessen Leben noch beweisen, und dies durch zwei Kämpfe mit Blutverwandten: Gawan

und Feirefiz.

2.3.2. Parzivals tumpheit nach Fontâne la salvâtsche

Im 14. Buch erfährt der Leser, dass Parzival an einem Ort ankommt, wo es eine

Tafelrunde gibt. Bei seiner Ankunft trifft er ohne es zu wissen in einem Kampf mit

seinem Cousin Gawan zusammen. So wie die Geschichte den Kampf eingeführt hat, lässt

sich kein Grund erkennen, weswegen die beiden gegeneinander kämpfen. Während des

heftigen Kampfes lässt der Erzähler den Leser wissen, dass Parzival „ûz der hant warf

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daz swert“ (Pz: 688, 21). Diese seltsame Aktion Parzivals wird, wie die Dichtung erzählt,

durch ein lautes Geschrei aus der Menge angetrieben, das den Namen Gawan nennt: „dô

wart den kinden nie sô leit/si schrîten lûte umb sîne nôt“ (Pz: 688, 8-9). Als Parzival den

Namen seines Cousins aus dem Geschrei hört, wirft er das Schwert weg und ruft aus:

„´unsӕlec unde unwert bin ich´, sprach der weinde gast. ´aller sӕlden mir gebrast, daz mîner gunêrten hant dirre strît ie wart bekant. des was mit unfuoge ir ze vil. Schuldec ich mich geben wil.“ (Pz: 688, 22-28)

Diese Reaktion Parzivals, mit der er seinen Fehler erkennt, erweist sich als der Ausdruck

der Anerkennung seiner Unerfahrenheit. Doch, wo man von unerfahren spricht, tritt die

Frage der tumpheit auch auf. Parzival beweist selbst hier, dass er noch unreif ist und

daher die wîsheit noch nicht erreicht hat. Trotz dieses Fehlers, den er hier mit seinem

Cousin Gawan begeht und den er selbst anerkennt, wird er auf seinem Weg nach Schastel

Marveil mit seinem Halbbruder Feirefiz kämpfen, was HAAS mit der tumpheit des Helden

der Dichtung verknüpft: „Der Bruderkampf scheint alles Geglückte wieder zu zerstören,

der Mechanismus der höfischen Aventiure tritt scheinbar an die Stelle des Ereignisses.

Anlaß genug für Wolfram, auf das Residuum der tumpheit zurückzugreifen.“ (HAAS:

1964, 163-164) Dies gibt zu verstehen, dass Parzival nicht auf seine vorherigen

Erfahrungen achtet, um sich dadurch besser zu benehmen. Diese Szenen zeigen aus dem

erwähnten Grund, dass Parzival noch nicht weiß, was Demut ist und wann, wo bzw.

warum er zu Waffen greifen bzw. kämpfen soll: Die Tötung Ithers hat an ihm und seiner

Einstellung zum Kampf nichts geändert. Besonders bei diesem Kampf mit seinem

Halbbruder ist es so, dass Parzival Feirefiz auch getötet hätte, wenn Gott sein Schwert

nicht zerbrochen hätte:

„got des niht langer ruochte, daz Parzivâl daz rê nehmen in sîner hende solde zemen: daz swert er Ithêre nam, als sîner tumpheit dô wol zam“ (Pz: 744, 14-18)

Damit zeigt Gott, dass auch er die tumpheit des Helden nicht mehr ertragen kann und

seine Reaktion, das Schwert zerbrochen zu haben, deutet HAAS als eine Strafe Gottes für

die tumpheit (vgl. HAAS: 1964, 164).

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Als gerade nach der Erziehung durch Trevrizent vorkommend können wir sagen,

dass die Erziehung Trevrizents diese tumbe Haltung Parzivals erzeugt hat, in dem Sinne,

dass Parzival gegen diese Lehre Trevrizents über die Demut rebelliert hat. Trevrizent hat

Parzival dazu gemahnt demütig zu sein – als Gralsritter –, wenn er den Gral finden will

und diesem würdig sein will. Aber sein Kampf gegen Gawan und dann gegen Feirefiz ist

eine Art von Zurückweisung der Lehre von der Demut. Denn nicht durch Demut hat er

diese Kämpfe geführt, sondern aus Hochmut. Man schließt daher sein tumbes Verhalten

hier auch an die Gewalt an, wie es schon bei Ither gewesen ist. Dies erklärt also diese

unerfahrene Haltung Parzivals nach Fontâne la salvâtsche.

Nach der Episode des Kampfes stellen sich Parzival und Feirefiz vor und erst

danach kann Parzival wissen, dass er mit seinem Blutsverwandten gekämpft hatte.

Danach gehen die beiden nach Schastel Marveil, wo Parzival über seine Berufung erfährt.

Von da und durch die Hilfe Cundries gelangt er wieder zur Gralsburg, wo er durch die

Mitleidsfragestellung Anfortas heilt und sein Amt als Gralskönig tritt.

2.4. Fazit

Diese Erziehungsdarstellung hat uns zwei wichtige Themen offenbart, und zwar Gott und

das Rittertum, deren Präsenz von großer Bedeutung in der höfischen Kultur und der

Literatur ist. Bei den Rittern im Wald von Soltâne, bei Herzeloyde, bei Gurnemanz, bei

dem alten Ritter Kahenîs und bei Trevrizent hat Parzival Unterweisungen in den oben

erwähnten Erziehungspolen in unterschiedlicher Form erhalten. Bei Herzeloyde zum

Beispiel erfährt Parzival etwas über die Erscheinung Gottes, dessen

Menschenebenbildlichkeit sowie über die Erscheinung des Teufels. Gurnemanz aber geht

über das äußerliche Aussehen dieser beiden Wesen hinaus und lässt den Helden wissen,

was Gott vom Menschen ihm und den Mitmenschen gegenüber erwartet. Hier wie auch

bei Herzeloyde wird Parzival dazu ermahnt, gegen die Herrschaft des Teufels zu kämpfen

und immer an der Seite Gottes zu stehen, wenn er selig leben will. Durch den Ritter

Kahenîs und den Eremiten Trevrizent lernt die Hauptfigur der Erzählung mehr über Gott,

dessen Eigenschaften und über die Schöpfung. Mehr als bei Herzeloyde, die nur von der

Treue Gottes gesprochen hat, erklärt Trevrizent Parzival die Treue, die Barmherzigkeit,

die Liebe sowie die Hilfsbereitschaft Gottes. Trevrizent belehrt Parzival über die ersten

von Gott geschaffenen Menschen und deren Sprösslinge. Durch diese Belehrung erfährt

der Leser viel über die Bibel, die Frage der Sünde und über die von Gott begangene

Sühnetat, um die Menschen von der Sünde zu befreien. Weiter wird Parzival mit dem

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Rittertum vertraut gemacht. Er lernt das Erscheinungsbild des Ritters kennen und dessen

Verhalten am Hof. Bei Herzeloyde zum Beispiel hört er etwas über die Höflichkeit und

über das Wesen der Frau. Die Grundlagen des höfisch-ritterlichen Lebens bringt ihm

Gurnemanz bei. Einen Teil davon erfährt Parzival durch die Ritter im Wald von Soltâne.

Bei Gurnemanz bekommt er praktische Unterweisungen, die das Leben des Ritters am

Hof und kämpferische Techniken, die das Umgehen mit dem Schwert und dem Reiten

umfassen. Bei Trevrizent wird er über das Gralsrittertum belehrt, das sich in einigen

Punkten vom weltlichen Rittertum unterscheidet.

Die Übermittlung dieser drei Unterweisungen unterliegt zwei verschiedenen

Erziehungsmethoden, wobei die Art und Weise der Übermittlung der Belehrung bei

Herzeloyde und Gurnemanz zusammenkommen. Bei diesen Erziehungsträgern ist keine

Interaktion zwischen dem Erzieher und dem Erzogenen zu erleben. Parzival übt keine

Kritik an den Erziehungsinhalten seiner Mutter und des Ritters Gurnemanz´. Einige der

Belehrung geschehen in diesem Fall nicht aus dem Wunsch Parzivals, Näheres über ein

bestimmtes Thema zu erfahren. Es wird ihm eher alles beigebracht, was seine Erzieher

als notwendig betrachten oder was für den Erziehungsbereich wichtig ist. Es gibt daher

keinen Kontakt bzw. keinen Austausch zwischen den Protagonisten der Erziehung. Der

Erzieher wird hier als Allwissender eingeführt, dessen Unterweisung bzw. Wissen nicht

zu bestreiten ist, da Parzival deren Ratschläge bei der Erziehung wortwörtlich befolgt.

Bei Trevrizent aber ist es anders. Trevrizents Vorgehen bei der Vermittlung seines

Wissens unterscheidet sich grundlegend von Gurnemanz´ und Herzeloydes

Erziehungsmethoden. Trevrizent geht auf Parzivals einzelne Fragen ein (vgl. Pz: 457, 22-

24; 460, 18; 464, 4-5 u.a.) und versäumt keine Gelegenheit, dem Helden weitere

Erklärungsabschnitte anzubieten (vgl. Pz: 464, 8-467, 10; 468, 23-471, 29 u.a.). Dadurch

bedient Trevrizent Parzival ausführlicher mit Informationen und fasst das soeben

Besprochene mit anderen Wörtern zusammen, so dass Parzival besser verstehen kann.

Dass hier eine Interaktion zwischen Trevrizent und Parzival zu bemerken ist, erweist sich

durch die Reaktion Parzivals auf eine Erklärung, die Trevrizent eingeführt hat und womit

Parzival nicht einverstanden ist oder was für ihn nicht genug klar ist: „´hêrre, ich wӕn

daz ie geschach./von dem sîn ane hât verlorn/den magetuon, als ir mir sagt?“ (Pz: 464, 2-

5). Man erkennt dann, dass Parzival eine Kritik gegen die Unstimmigkeit der

Schlussfolgerung Trevrizents erhoben hat. Im Gegensatz zu Herzeloyde und Gurnemanz

tritt Trevrizent – als Erzieher – als ein Partner bzw. ein Berater auf, was der Erwartung

der Erziehung der modernen Zeit zu entsprechen vermag: „Erziehung darf keine

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Herrschaft sein und jeder Erziehende muss überall dort, wo er Macht ausübt, über deren

mehrteilige Wirkung selbstkritisch genug nachdenken.“ (Vgl. GEISSLER: 2006, 44) Als

Berater geht Trevrizent nicht nur auf die Fragen Parzivals ein, sondern gibt seinem

Schüler die Möglichkeit, seine momentanen Probleme zu äußern.26 Auf diese Weise trifft

Trevrizent das genaue Anliegen Parzivals, übermittelt ihm treffende Antworten bzw.

Wissen und korrigiert dadurch im Voraus falsches Verhalten, womit er später

konfrontiert werden könnte. Diese Erziehungsmethode Trevrizents ist zweifelsohne in

einigen Punkten der der modernen Zeit gleich und erweist sich als die beste Weise ein

Individuum sinnvoll zu erziehen. Ein weiteres Merkmal bei der Erziehung Parzivals ist

der Versuch, die beiden Herkunftswelten zusammenzubringen. Wie die Erläuterung oben

erwähnte, stammt Parzival durch seine Mutter aus dem Gralsgeschlecht und durch seinen

Vater aus der Artusfamilie. Die Geschichte der mittelalterlichen Erziehung hat die

Erziehung des Individuums gemäß seiner Herkunft als Ziel herausgestellt. Diese Tatsache

verwirklicht sich im Leben des Helden Parzival, indem er auf seinem Weg

Unterweisungen in diesen beiden Welten ausführlich erhält. Ist es ihm aber gelungen,

eine Harmonie zwischen diesen beiden Extremen herzustellen oder hat er die beiden

Welten zusammenbringen können? Die Antwort auf diese Frage ist definitiv nein und das

Scheitern liegt an den Eigenschaften der beiden Gesellschaften, die durch

unterschiedliche Regeln verwaltet werden. Das Scheitern des Helden bei seinem ersten

Besuch auf der Gralsburg ist ein Grund, dass die beiden Welten nicht zusammengebracht

werden können, denn wo eine Regel gilt, ist sie nicht unbedingt auch anderswo gültig.

Weiter wird der Artusritter immer durch Hochmut zur Aventiure gefordert, um Ehre zu

gewinnen, während der Gralsritter durch Demut dazu ermutigt wird, die Wache

abzulösen und den Gral zu verteidigen. Das beweist der Kampf des Helden mit Gawan

und seinem Halbbruder, obwohl der Held gerade durch Trevrizent zur Demut gemahnt

wird.

26Diese Art und Weise zu erziehen erklärt GEISSLER als ein Ziel der Erziehung und betont deren Wirkung im Leben des Erzogenen: „Deshalb gehörte es stets zur besonderen Aufgabe der Erziehung vormundschaftlich zu handeln, das heisst das beim Kind gegenüber seinen momentanen Begehrungen wirksam zu vertreten, was es jetzt noch nicht erkennen kann, es später aber selber wollen wird; wobei die negative Fassung den noch dringlichen Aspekt zeigt: das zu vermeiden, von dem es später wünschen würde, es wäre nicht geschehen. Erziehung vertritt also vormundschaftlich die Zukunft des Heranwachsenden gegenüber solchen momentanen Begehrungen, die seine spätere Selbstständigkeit gefährden.“ (Vgl. GEISSLER: 2006, 45)

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3. Schlussbetrachtung

Die vorliegende Arbeit hat sich damit beschäftigt, die Frage der Erziehung und der

tumpheit zu bearbeiten. Die ausführliche Analyse der Parzival-Dichtung hat geholfen, die

drei Erziehungsstufen der Hauptfigur Parzival sowie die Art und Weise der tumpheit nach

jeder Erziehungsepisode zu bearbeiten und zu erläutern. Vom Wald von Soltâne bis zu

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Fontâne la salvâtsche bei Trevrizent wird uns die Entwicklung des Dichtungshelden vor

Augen geführt. Durch verschiedene Erziehungsinhalte sowie Erziehungsmethoden

erkennen wir nicht nur die Erziehungsprotagonisten, sondern auch die Erziehungsmilieus

und auch die Art und Weise, wie das Individuum auf die Erziehung reagiert.

Die Untersuchung in dieser Arbeit unterliegt zwei Hauptteilen. Im ersten Teil ging

es hauptsächlich darum, die Begriffe Erziehung und tumpheit zu definieren. Dabei habe

ich einerseits den Unterschied zwischen Erziehung und Bildung und andererseits die

verschiedenen tumpheitsbelege, die sich nicht auf den Helden der Dichtung beziehen,

hervorgehoben. Der zweite Teil hat sich damit beschäftigt, die Erziehungs- und die

tumpheitsepisoden im Leben Parzivals zu bearbeiten. In einer an diesen Teil

anknüpfenden Zusammenfassung habe ich Merkmale exzerpiert, die für die

Untersuchung wichtig sind. Dazu gehören die Erziehungsmethoden der Erziehungsträger

in dem gewählten Beispiel.

Durch die Erziehungsgeschichte der Hauptfigur Parzival hat Wolfram versucht,

dem hochgestellten Rezipienten seiner Zeit, die Frage der Erziehung näherzubringen.

Besonders in dieser Dichtung habe ich zwei Ziele der Erziehung herausgefunden, und

zwar die Sozialisierung des Individuums und die Überwindung der tumpheit. Durch die

Begegnung Parzivals mit den Rittern im Wald wird uns klar, dass die tumpheit ein

Naturzustand des erziehungslosen bzw. neugeborenen Individuums ist, der durch den

Einfluss der Umwelt bzw. durch die Erziehung geändert werden kann. Der tumbe Mann

ist also der Ungelehrte, der Unreife oder derjenige, der noch nicht weiß, sich

situationsgemäß zu verhalten. Die Erziehung setzt sich daher zum Ziel, den tumben Mann

zur Reife zu führen. Wichtig zu erwähnen ist auch, dass jede Erziehungsepisode im

Leben des Helden nach einem falschen Benehmen Parzivals geschieht: Die weltliche

Erziehung Herzeloydes folgt dem Gespräch Parzivals mit den Rittern, die ritterliche

Erziehung in Grâharz folgt dem Vorgehen Parzivals mit Jeschute und mit Ither und die

religiöse Erziehung bei Trevrizent kommt nach der Verstummung des Helden auf der

Gralsburg. Die Entwicklung Parzivals hat aber einen weiteren Aspekt der Erziehung

gezeigt, und zwar, dass die Erziehung gleichzeitig die tumpheit potenzieren kann. Diese

Tatsache habe ich in der vorliegenden Arbeit zu beweisen versucht. Durch die

Darstellung der Entwicklungsstufen des Helden der Dichtung bin ich zu dem Schluss

gekommen, dass die tumpheit nicht nur ein Mangel an Erziehung ist, sondern auch als

Folge der Erziehung betrachtet werden kann, denn Parzival beweist nach jeder

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Erziehungsepisode durch falsche Haltungen, dass er noch tump ist. Die beiden Themen

sind daher nicht voneinander zu trennen.

Ob die Erziehung ihr Ziel bei Parzival erreicht hat, lässt sich bestreiten. Die

Aussage BUMKES, nach der „nirgends gesagt [wird], dass aus dem tumben Parzival ein

wîser man geworden ist“ (BUMKE: 2004, 56), gibt zu verstehen, dass Parzival bis zum

Ende der Dichtung tump bleibt. Diese eben erwähnte Äußerung vertrete ich nicht völlig.

Die Tatsache, dass Parzival am Ende der Dichtung Gralskönig wird, heißt wiederum

nicht unbedingt, dass dieser wîs geworden ist: Die Erziehung hat ihm geholfen, sein telos

zu erreichen und sein telos erreicht zu haben, deutet nicht unmittelbar daraufhin, dass

Parzival dadurch von seiner tumpheit befreit wurde. Die Überwindung seiner tumpheit

würde ich eher mit der Wirkung der Erziehung im Leben des Helden verknüpfen.

Momente wie seine Weigerung, Liaze ohne Dienst zu heiraten, seine Weigerung,

Condwiramurs vor sich knien zu lassen, der Dienst, den Parzival für Condwiramurs

geleistet hat und seine Treue ihr gegenüber, sein Erbarmen mit den besiegten

Kampfgegnern, dienen dazu zu sagen, dass die Hauptfigur bis zum Ende der Dichtung

nicht völlig tump geblieben ist. In der Wiedergutmachung seiner Fehler findet HAUG auch

die Ablegung der tumpheit. Dabei führt er weitere Beispiele an, wie die Versöhnung

Jeschute mit ihrem Gatten und der feste Entschluss des Helden, Keie für seine Untaten an

Cunneware und Antanor zu bestrafen (vgl. HAUG: 2002, 61). Ferner berichtet die

Dichtung, dass Parzival in die Tafelrunde aufgenommen wurde, dann er wird als ein guter

Ritter betrachtet. Die Erziehung hat also aus diesen Gründen die Erwartungen im Leben

des Helden erreicht: In der Figur Parzivals werden die Artuswelt und die

Gralsgesellschaft integriert und Parzival beweist, dass er Nutzen aus den

Erziehungsforderungen gezogen hat.

Die Frage, ob Parzival gut erzogen ist, kann mit ja und nein geantwortet werden.

Mit ja, weil er durch Familienangehörige bzw. von der Familie bevollmächtige Personen

und durch erfahrene Personen erzogen wird. Mit nein, weil er nicht immer in einem dem

Höfischen ähnlichen Erziehungsraum gewesen war und auch, weil seine Erziehung nicht

der der höfischen Vorstellung entspricht. Im Mittelalter spricht man von Erziehung, wenn

das Individuum neben den gesellschaftlichen Verhaltensnormen auch in den

Wissensbereichen der septem artes liberales belehrt wurde. Parzival erhält keine

Unterweisung im Lese-, Schreib-, Musikbereich u.a., wie es bei der Erziehung des jungen

Tristan zu bemerken ist. Aus diesem Grund gilt Parzival nicht als ein Erziehungsbeispiel

des Mittelalters.

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