russland heute

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POINTIERT Der russische Konjunktiv M it seinen sechs Fällen und der Beugung nach Tempus, Numerus und Genus ist Russisch bei Gott keine einfache Sprache. Ein kleiner Trost ist da die fehlende Konjunktivform: Wenn Russen träumen, nehmen sie einfach das Verb im Präteri- tum und hängen das Partikel „by“ an. Blicken sie in die Zukunft, steigen sie mit „es muss sein, dass“ oder “wünschenswert aber ist” ein und bleiben im Infinitiv. Häu- fig geraten dabei Gegenwart und Zukunft, das Erreichte und das Geplante, das Gesagte und das Gemeinte – kurzum, das Wort und die Tat durcheinander. Solche Satzkonstrukte twittert etwa Prä- sident Dmitri Medwedjew fast täglich: Modernisierung, Korrup- tionsbekämpfung, Entwicklung bestimmen die Agenda. Es tat sich richtig was im präsidialen Mi- niblog – oder war’s doch nur „täte“? Denn als Wladimir Putin seine Rückkehr in den Kreml ankün- digte, begriffen plötzlich viele Rus- sen, warum nur wenige Initiati- ven Medwedjews konsequent um- gesetzt wurden: In seinem Twit- ter hätte wohl immer der Konjunktiv gemeint gewesen sein müssen. Alexej Knelz CHEFREDAKTEUR Mit 23,5 Jahren geben russische Frauen ihren Männern im Schnitt das Jawort, sieben Jahre früher als in Deutschland. „Das Beste an einer frühen Ehe ist die frühe Scheidung.“ Nicht alle Russinnen würden der 27-jährigen Moskauerin Natalja zustimmen. In der Provinz sieht es anders aus: Da ist das Zusam- menleben von Mann und Frau ohne Trauschein bis heute nicht gesellschaftsfähig. In Großstädten wie Moskau wan- delt sich das Bild allerdings rapi- de. Frauen, die sich selbst versor- gen können, suchen nicht mehr die Sicherheit an der Seite eines Jägers und Sammlers. „In einer durchschnittlichen Großstadtfa- milie hat heute eher die Frau die Hosen an“, sagt der Demograf Sergej Sacharow. Dass die einen vom Großen Va- terländischen und die anderen vom Zweiten Weltkrieg sprechen, sind nicht die einzigen Verständ- digungsprobleme zwischen Rus- sen und Deutschen, wenn es um die Ereignisse zwischen 1941 und 1945 geht, die für beide Völker so tiefgreifende Folgen hatten. Dieser Tage läuft ein deutscher Film an, der die Perspektiven an- nähert. „4 Tage im Mai“ spielt auf einer Ostseeinsel in den letzten Kriegstagen. Die Rote Armee be- setzt ein Waisenhaus, bald kommt es zu Konflikten, vor allem zwi- schen einem Jungen und dem rus- sischen Kommandeur. Die ungewöhnliche, klischeefreie Perspektive sorgte auf dem Film- festival in Locarno für Irritation bei den Kritikern – und große Begeisterung beim Publikum. REISEN SEITE 9 MEINUNG SEITE 10 KURIOSES SEITE 9 Moskau Die sieben Schwestern Stalins Winterzeit Russland hängt sich selbst ab Alltag Vorlaute Fußballkommentare INHALT SEITEN 5 BIS 7 UND 10 SEITE 8 SEITE 11 Kein russisch-deutscher Gipfel, keine Schröder- oder Merkel-Re- de vor russischem Publikum ohne Tolstoi und Dostojewski, die Russ- land der Literatur Europas „ge- schenkt“ hätte. Lang ist’s her. Die große Neugier, mit der Deutschland nach dem Ende der Sowjetunion nach Osten blickte, ist abgeflaut: Zeitgenös- „Alte Jungfer“ mit 25 Lenzen Zwischen Krieg und Frieden Wo bleibt Tolstojewski? WAHLEN 2011/2012 PUTINS RÜCKKEHR MEDWEDJEW RÄUMT DEN KREML OHNE ERKLÄRUNG Endlich besteht Klarheit: Wladimir Putin wird für das Präsidentenamt kandi- dieren, Dmitri Medwedjew übernimmt seinen Posten als Premierminister. Die liberale Öffentlichkeit fühlt sich von Medwedjew getäuscht: War er also doch nur Platzhalter? Oder setzte das Scheitern des liberalen Parteiprojekts Ge- rechtes Russland am Ende den Schlussstrich unter seine Karriere als Präsi- dent? Ein Stimmungsbild aus Russland. SEITEN 2 UND 3 Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. www.russland-heute.de Ein Projekt von RUSSIA BEYOND THE HEADLINES Wie ein Oligarch sich am Kreml die Zähne ausbiss. SEITE 3 Politik Mit Vergünstigungen bei Zoll und Steuern lockt Kaliningrad Investoren. Die Firma Hipp ist dem Ruf gefolgt. SEITE 4 Wirtschaft Igor Rasterjajew: ein Mann, eine Seele, ein Akkordeon SEITE 12 Porträt Mittwoch, 5. Oktober 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in: sische Autoren werden selten übersetzt, auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober wird kaum ein russischer Titel zu finden sein. Glaubt man der Übersetzerin Christiane Körner, wissen Fran- zosen und Italiener mehr über russische Literatur als die Men- schen hierzulande. „Gibt es in Deutschland ein spezielles Pro- blem mit Russland und der rus- sischen Literatur, verquickt mit Verbrechen, Schuld und schein- barer Sühne im 20. Jahrhundert?“, fragt sie. Konstantin Miltschin wirft einen kritischen Blick auf die Schrift- steller seines Landes und kommt zu einem überraschenden Schluss: Die beste russische Literatur kommt derzeit aus der Schweiz und aus Jerewan. Sachar Prilepin, Autor und Re- gimekritiker, beklagt den Bedeu- tungsverlust der Literatur in Russ- land: „Schreib, was du willst – die Mächtigen scheren sich keinen Deut darum.“ September, Internationale Buchmesse Moskau: Ein Besucher vertieft sich in Michail Bulgakows Klassiker „Der Meister und Margarita“. DMITRI LEKEI_KOMMERSANT REUTERS RIA NOVOSTI SERGEI SAWOSTIANOW_RG GEOPHOTO

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die Ausgabe vom 5. Oktober 2011

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Page 1: Russland HEUTE

POINTIERT

Der russischeKonjunktiv

M it seinen sechs Fällen und der Beugung nach Tempus, Numerus und Genus ist

Russisch bei Gott keine einfache Sprache. Ein kleiner Trost ist da die fehlende Konjunktivform: Wenn Russen träumen, nehmen sie einfach das Verb im Präteri-tum und hängen das Partikel „by“ an. Blicken sie in die Zukunft, steigen sie mit „es muss sein, dass“ oder “wünschenswert aber ist” ein und bleiben im In� nitiv. Häu-� g geraten dabei Gegenwart und Zukunft, das Erreichte und das Geplante, das Gesagte und das Gemeinte – kurzum, das Wort und die Tat durcheinander. Solche Satzkonstrukte twittert etwa Prä-sident Dmitri Medwedjew fast täglich: Modernisierung, Korrup-tionsbekämpfung, Entwicklung bestimmen die Agenda. Es tat sich richtig was im präsidialen Mi-niblog – oder war’s doch nur „täte“? Denn als Wladimir Putin seine Rückkehr in den Kreml ankün-digte, begriffen plötzlich viele Rus-sen, warum nur wenige Initiati-ven Medwedjews konsequent um-gesetzt wurden: In seinem Twit-ter hätte wohl immer der Konjunktiv gemeint gewesen sein müssen.

Alexej Knelz

CHEFREDAKTEUR

Mit 23,5 Jahren geben russische Frauen ihren Männern im Schnitt das Jawort, sieben Jahre früher als in Deutschland.„Das Beste an einer frühen Ehe ist die frühe Scheidung.“ Nicht alle Russinnen würden der 27-jährigen Moskauerin Natalja zustimmen. In der Provinz sieht es anders aus: Da ist das Zusam-menleben von Mann und Frau ohne Trauschein bis heute nicht gesellschaftsfähig.In Großstädten wie Moskau wan-delt sich das Bild allerdings rapi-de. Frauen, die sich selbst versor-gen können, suchen nicht mehr die Sicherheit an der Seite eines Jägers und Sammlers. „In einer durchschnittlichen Großstadtfa-milie hat heute eher die Frau die Hosen an“, sagt der Demograf Sergej Sacharow.

Dass die einen vom Großen Va-terländischen und die anderen vom Zweiten Weltkrieg sprechen, sind nicht die einzigen Verständ-digungsprobleme zwischen Rus-sen und Deutschen, wenn es um die Ereignisse zwischen 1941 und 1945 geht, die für beide Völker so tiefgreifende Folgen hatten.Dieser Tage läuft ein deutscher Film an, der die Perspektiven an-nähert. „4 Tage im Mai“ spielt auf einer Ostseeinsel in den letzten Kriegstagen. Die Rote Armee be-setzt ein Waisenhaus, bald kommt es zu Kon� ikten, vor allem zwi-schen einem Jungen und dem rus-sischen Kommandeur. Die ungewöhnliche, klischeefreie Perspektive sorgte auf dem Film-festival in Locarno für Irritation bei den Kritikern – und große Begeisterung beim Publikum.

REISEN SEITE 9

MEINUNG SEITE 10

KURIOSES SEITE 9

Moskau Die sieben Schwestern Stalins

Winterzeit Russland hängt sich selbst ab

Alltag Vorlaute Fußballkommentare

INHALT

SEITEN 5 BIS 7 UND 10

SEITE 8 SEITE 11

Kein russisch-deutscher Gipfel, keine Schröder- oder Merkel-Re-de vor russischem Publikum ohne Tolstoi und Dostojewski, die Russ-land der Literatur Europas „ge-schenkt“ hätte.Lang ist’s her. Die große Neugier, mit der Deutschland nach dem Ende der Sowjetunion nach Osten blickte, ist abge� aut: Zeitgenös-

„Alte Jungfer“ mit 25 Lenzen

Zwischen Krieg und Frieden

Wo bleibt Tolstojewski?

WAHLEN 2011/2012

PUTINS RÜCKKEHRMEDWEDJEW RÄUMT DEN KREML OHNE ERKLÄRUNG

Endlich besteht Klarheit: Wladimir Putin wird für das Präsidentenamt kandi-dieren, Dmitri Medwedjew übernimmt seinen Posten als Premierminister. Die liberale Öffentlichkeit fühlt sich von Medwedjew getäuscht: War er also doch nur Platzhalter? Oder setzte das Scheitern des liberalen Parteiprojekts Ge-rechtes Russland am Ende den Schlussstrich unter seine Karriere als Präsi-dent? Ein Stimmungsbild aus Russland. SEITEN 2 UND 3

Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion von Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich.

www.russland-heute.deEin Projekt vonRUSSIA BEYONDTHE HEADLINES

Wie ein Oligarch sich am Kreml die Zähne ausbiss.

SEITE 3

PolitikMit Vergünstigungen bei Zoll und Steuern lockt Kaliningrad Investoren. Die Firma Hipp ist dem Ruf gefolgt.

SEITE 4

WirtschaftIgor Rasterjajew: ein Mann, eine Seele, ein Akkordeon

SEITE 12

Porträt

Mittwoch, 5. Oktober 2011 Die deutsche Ausgabe von Russland HEUTE erscheint exklusiv als Beilage in:

sische Autoren werden selten übersetzt, auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober wird kaum ein russischer Titel zu � nden sein. Glaubt man der Übersetzerin Christiane Körner, wissen Fran-zosen und Italiener mehr über russische Literatur als die Men-schen hierzulande. „Gibt es in Deutschland ein spezielles Pro-

blem mit Russland und der rus-sischen Literatur, verquickt mit Verbrechen, Schuld und schein-barer Sühne im 20. Jahrhundert?“, fragt sie.Konstantin Miltschin wirft einen kritischen Blick auf die Schrift-steller seines Landes und kommt zu einem überraschenden Schluss: Die beste russische Literatur

kommt derzeit aus der Schweiz und aus Jerewan. Sachar Prilepin, Autor und Re-gimekritiker, beklagt den Bedeu-tungsverlust der Literatur in Russ-land: „Schreib, was du willst – die Mächtigen scheren sich keinen Deut darum.“

September, Internationale Buchmesse Moskau: Ein Besucher vertieft sich in Michail Bulgakows Klassiker „Der Meister und Margarita“.

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Page 2: Russland HEUTE

2 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUPolitik

" 2008 haben über 52 Millio-nen Bürger für Medwedjew gestimmt. Möchte er ihnen

nicht erklären, warum er sich plötz-lich entschieden hat, seinen Posten zu verlassen?” WLADIMIR WARFOLOMEJEW, STELLVERTRETEN-

DER CHEFREDAKTEUR RADIO ECHO MOSKAUS

" Kein Grund zur Freude. Der beste Moment, um auf Sport-fernsehen umzuschalten.”

ARKADIJ DWORKOWITSCH, ENGER BERATER VON

DMITRI MEDWEDJEW (PER TWITTER)

" Ohne Systemwechsel wird es keine Bewegung nach vorn geben. Und ohne diesen

Wechsel könnten wir sechs Jahre verlieren. Dieses sollte der zukünfti-ge Präsident ernsthaft bedenken.”MICHAIL GORBATSCHOW, LETZTER PRÄSIDENT

DER UDSSR

" Dmitri Anatoljewitsch und Wladimir Wladimirowitsch haben die einzig richtige

Entscheidung getroffen. Ich bin er-leichtert – die Partei hat nun zwei charismatische Figuren.”ALEXANDER TKATSCHOW, GOUVERNEUR DER

REGION KRASNODAR

" Die inoffizielle Nummer eins ist wieder die offizielle Num-mer eins. Den eigenen Bür-

gern sollte man nichts vorheucheln: Wenn ein Politiker populär ist und ihm die Mehrheit vertraut, sollte er auch Präsident werden.”MAXIM SARKISOW ÜBER FACEBOOK

" Die Korruption wird wachsen, Menschen werden auswan-dern. In meinem Leben wird

sich gar nichts ändern: Ich stehe seit zehn Jahren in Opposition zu Putin.”WLADIMIR RYSCHKOW, OPPOSITIONSPOLITIKER

" Wir haben bekommen, was wir verdienen. Ich rate aber niemandem, unser wunder-

schönes Land zu verlassen. Stattdes-sen sollten wir lernen, unsere innere Freiheit zu entwickeln und die richti-gen Entscheidungen zu treffen.”JURI SCHEWTSCHUK, ROCKMUSIKER

" Jetzt sind alle zufrieden: Pu-tins Fans sind glücklich, und der Rest hat begriffen: Die

vierjährige Show „Präsident Med-wedjew“ ist vorbei, die Dinge dür-fen wieder beim Namen genannt werden: In Russland gibt es keine Demokratie, sondern nur Menschen, die die Macht usurpiert haben und sie nie mehr abgeben.”DMITRI GUDKOW, JUGENDSPRECHER DER PARTEI

GERECHTES RUSSLAND

" Medwedjews de-jure-Wechsel in die Partei der Gauner und Diebe ist das Beste, was pas-

sieren konnte. Endlich wurden den Gaunern die Plädoyers für ihre poli-tische Prostitution genommen, denn ihr Schutzargument „Ich spiele im Team Medwedjew“ ist damit passé. Uns allen ist klar geworden, dass Medwedjew die letzten vier Jahre nur Wache geschoben hat.”ALEXEJ NAWALNY, KORRUPTIONSBEKÄMPFER

" Putin hat sich richtig ent-schieden. Er wird seinen Teil der Arbeit machen, die Bür-

ger sollten den ihren tun.”FRITZ MORGEN, BLOGGER

ZITATEWas halten Sie von einer dritten Amtszeit Putins?

Alles bleibt beim Alten

Es ist leicht, Wladimir Putin zu kritisieren. Über die Jahre riefen die Seiten der Moscow Times Putin beständig und zu Recht dazu auf, die wachsende Korruption, selektive Justiz und den Rückgang der Demokratie in Angriff zu nehmen.Putins Erklärung, dass er 2012 für das Präsidentenamt kandidiere, öffnet neuen Sorgen über das Schicksal der Demokratie und der Zivilgesellschaft Tür und Tor. Doch eine dritte Amtszeit Putins bedeutet nicht den Weltuntergang. Hier sind fünf Gründe für aus-ländische Investoren, Putins Rück-kehr zu begrüßen.

1. Die Ungewissheit, wer 2012 kandidieren wird, ist vorbei.

Obwohl Putin seit Langem als Ka-pitän am Staatsruder gilt, ver-wirrte der Mangel an Klarheit von Seiten Putins und Medwedjews darüber, wer kandidieren wird, Investoren seit Monaten, wenn nicht seit Jahren.

2. Die „Reset-Politik“, also der Neustart zwischen den USA

und Russland, wird sich fortset-zen. Die Verbesserung der Bezie-hungen zu Washington wurde überwiegend Medwedjews ver-meintlich liberaleren Politik zu-gutegehalten. Nun steht außer Zweifel, dass Putin durchweg die Verantwortung trug und damit auch den Reset bewerkstelligte. Die gute Nachricht für Investo-ren ist die, dass der Neustart ein spektakulärer Erfolg gewesen zu sein scheint und wegen der vielen gemeinsamen strategischen Inte-ressen zwischen den USA und Russland – von Afghanistan bis zum Nahen Osten – seine Gültig-keit behalten wird. Unter Putin werden beide Seiten in der Lage sein, ihren Reset auf die Wirt-schaft auszuweiten. Diese scheint bereits Früchte zu tragen: Eine Vereinbarung über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorga-nisation ist zum Greifen nahe. Eine Art Reset hat sich auch mit der EU vollzogen, und es gibt gute Gründe zu erwarten, dass sich die Wirtschaftsbeziehungen unter einem Präsident Putin weiter ver-bessern werden.

Wladimir Putin will in den Kreml zurück. Er hatte die Wahl: Er hätte den Geist der Verfassung wahren, als Premier weiter den Haushalt und die Gesetzgebung kontrollie-ren und sich als wichtigste poli-tische Figur im Lande allmählich in einen russischen Den Xiaoping verwandeln können. Doch er hat sich anders entschieden. Ob er an seine Bestimmung glaubt oder dem Drang seiner Freunde in der Führungsspitze folgt, die den Hals nicht voll bekommen können, ist dabei irrelevant. Wich-tig ist, dass er das Recht usurpier-te, 24 Jahre lang Präsident zu sein. Die Tandem-Partner gestehen ein, dass Medwedjews Präsidentschaft die getarnte dritte Amtszeit Pu-tins war. Putin macht das Land zur Geisel seiner Entscheidungen und seines alternden Teams. Die Präsidentschaften Putins un-terschieden sich sehr. Von libera-len Wirtschaftsreformen über die unverblümte Nationalisierung, vom „Tauwetter“ mit den USA bis hin zum Georgien-Kon� ikt haben wir alles gesehen. Putin 2012 wird ein anderer sein. Doch nicht etwa, weil er sich wandelt, sondern weil das zweite Jahrzehnt des 21. Jahr-hunderts neue Herausforderun-gen bringt. Die Turbulenzen auf den Weltmärkten etwa. Wichtiger aber sind die immensen Heraus-forderungen an das russische Staatsschiff, das immer mehr einer rostenden Titanic ähnelt.Wäre die Titanic bei ihrer Jung-fernfahrt nicht gesunken, würde sie heute ständig Leck schlagen, ihr Korpus müsste immer wieder ge� ickt werden, in der Hoffnung,

3. Stabilität. Wenn Putin in sei-nen elf Jahren an der Macht

eins bewiesen hat, dann dies: Er ist ein starker Führer, der daran interessiert ist, Russland Stabili-tät zu bescheren. Seine Methoden haben Korruption hervorgebracht und Sorgen über den Zustand der Demokratie und der Zivilgesell-schaft ausgelöst. Aber gleichzei-tig hat sich das Investitionsklima seit den chaotischen 90ern merk-lich verbessert, unter anderem durch die Verabschiedung von wichtigen Gesetzen, die Anlegern erlauben, in einem durchschau-baren – wenn auch oft verletzten – juristischen Rahmen zu arbei-ten. Hinzu kommt ein stetiger An-stieg des Lebensstandards, der zu wachsender Verbrauchernachfra-ge geführt hat.

4. Die Yukos-Übernahme wird nicht neu aufgerollt. Viele

Investoren zerbrechen sich längst nicht mehr den Kopf über die Fragwürdigkeit des juristischen Angriffs auf den ehemaligen Yu-kos-Chef Michail Chodorkowski und die Übernahme seines Kon-zerns. Aber es besteht die Befürch-tung, dass der Skandal wieder-aufgegriffen und die Vermögens-werte neu verteilt werden könnten. Putins Präsidentschaft würde die-sen Ängsten ein Ende setzen. Die beschlagnahmten und auf den Staatskonzern Rosneft übertra-genen Werte werden an Ort und Stelle bleiben.

5. Die Hoffnung auf weitere Verbesserungen des Investi-

tionsklimas wächst. Dmitri Med-wedjew wurde von Putin für die Rolle des Ministerpräsidenten vor-geschlagen. Die Experten debat-tieren darüber, ob er sich am bes-ten zum Ministerpräsidenten, viel-leicht zum Vorsitzenden des Verfassungsgerichts oder auch zum Sprecher der Staatsduma eigne. Doch auf welchem Posten Medwedjew am Ende auch lan-det, Investoren dürfen hoffen, dass er in der Lage sein wird, das Mo-dernisierungs- und Antikorrup-tionsprogramm auszubauen, wel-ches er zum Wahrzeichen seiner Präsidentschaft gemacht hat.

Die ungekürzte Fassung dieses Leitartikels erschien in

The Moscow Times

dass sie noch hält. Jedoch wird ihr Korpus – Gesetze, Gerichte und Exekutive – von Korruption, Telefonjustiz und käu� ichen Me-dien zerstört. Die Vorstellung, man könne die jetzige Situation ein-frieren, ist trügerisch. Der Rost ist viel zu tief eingedrungen. Die nötige radikale Modernisierung hat bereits begonnen, doch genau das fürchtet Putin: Im Falle einer Generalüberholung droht das ganze Schiff auseinanderzubre-chen wie einst die Sowjetunion.Der Schiffsantrieb – die Wirt-schaft – gibt positive Impulse: Viele junge Menschen streben nach Selbstverwirklichung. Doch der Kapitän hat vergessen, dass ein Motor regelmäßig geölt werden muss. Putin, der einst versprach, sich um die Wirtschaft zu küm-mern, appellierte nicht an sie in seiner Wahlrede: kein Wort über den Kampf gegen Korruption, die Loslösung der Wirtschaft von Gas und Öl oder Justizreformen. Er appellierte an die, die ihre Gehäl-ter aus dem Haushalt beziehen.Viele aktive junge Menschen – die eigentliche Leistung des Motors – reagieren auf Putins Absicht einer faktisch lebenslangen Herr-schaft im Kreml auf ihre Weise. Die Frage ist nicht mehr, ob aus-wandern, sondern wohin. Das ist im Umfeld des Kapitäns ebenso wenig klar, wie die Frage, ob eine intellektuell verarmende Nation die Herausforderungen der Zu-kunft meistern kann. Und oft braucht es für ein ramponiertes Schiff nicht einmal einen Eisberg, es reicht schon ein falsches Manöver.

Die ungekürzte Fassung erschien in Vedomosti

LEITARTIKEL IN THE MOSCOW TIMES26. SEPTEMBER 2011

SERGEJ ALEKSASCHENKOVEDOMOSTI

WLADIMIR PUTIN STEUERT AUF EINE DRITTE AMTSZEIT ZU. BEFÜRWORTER

PREISEN DIE STABILITÄT, GEGNER FÜRCHTEN EIN ENDE DER MODERNISIERUNG

Wen möchten Sie als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2012 sehen?

Gute Zeiten für ausländische Investoren

Unser Staatsschiff Titanic wird weiter rosten

REU

TERS

QUELLE: LEVADA

Page 3: Russland HEUTE

3Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau Politik

wiktor djatlikowitschfür russland heute

es schlug wie eine Bombe ein, als Michail Prochorow die Führung der gerechten sache übernahm – oligarchen halten sich von der Politik fern. doch das gastspiel währte nur kurz.

In seinem riesigen Arbeitszimmer in der Moskauer Innenstadt, mit einer gläsernen Kuppel statt eines normalen Dachs über dem Kopf, lässt Michail Prochorow Wasser-melonen vom eigenen Feld servie-ren. Er erzählt schlüpfrige Anek-doten im Grenzbereich zur Zote und bestätigt seinen Ruf, ein aus-gebuffter, an Siege gewöhnter Geschäftsmann zu sein. Das Tref-fen ist fast ein Jahr her, und da-mals dachte niemand im Traum daran, dass Michail Prochorow, laut Wirtschaftsmagazin Forbes mit 18 Milliarden Dollar dritt-reichster Russe, in die Politik gehen würde.Inzwischen hat Prochorow inner-halb kürzester Zeit einen vielver-sprechenden politischen Aufstieg und seinen jähen Absturz erlebt. Im Juni wählte die Partei Prawo-je Delo (Gerechte Sache) ihn zum Vorsitzenden. Doch Prochorow wurde den Regierungsstrategen, und da vor allem dem Chefideo-logen Wladislaw Surkow, zu selbstständig, und Mitte Septem-ber stürzte er über eine vom Kreml initiierte Parteirevolte. Der Ge-schlagene beschimpfte Surkow als „Drahtzieher“ und gelobte: „Ich werde alles dafür tun, dass er ab-

Parteien Michail Prochorow sollte eine liberale Partei etablieren. die schuld für sein scheitern gibt er dem Kreml

Pressekonferenz, 14. september: Michail Prochorow gelobt den Parteivorsitz. Beim Parteitag am tag darauf wurde er abgesetzt.

andrej dunajew zeigt orange.

tritt.“ Es war der erste offen aus-getragene Konflikt zwischen einem Oligarchen und Vertretern des Machtapparats seit dem Fall Chodorkowskis. Prochorow ist ein Mensch, der an Niederlagen nicht gewöhnt ist.

klassische oligarchenkarriereDer Aufstieg Michail Prochorows ist in vielem typisch für die „Oli-garchen“, wie man jene nennt, die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion sehr schnell zu gro-ßem Reichtum gelangten. Als Sohn eines mittleren Sowjetfunk-tionärs erhielt er eine solide Aus-bildung an der Staatlichen Fi-nanzakademie, war in der Jugend-organisation Komsomol aktiv, wurde Mitglied der Kommunis-tischen Partei. 1989 heuerte er bei der Interna-tionalen Bank für wirtschaftliche Zusammenarbeit an, wo er auch seinen Geschäftspartner Wladi-mir Potanin kennenlernte. Anfang der 90er-Jahre gründeten die beiden die Internationale Finanz-gesellschaft und später die Onek-simbank als Grundlage ihres Wirtschaftsimperiums. Zum Milliardär machten Michail Prochorow die berühmt-berüch-tigten Privatisierungspfandauk-tionen der Jelzin-Ära, bei denen sich das Duo Prochorow-Potanin für einen Spottpreis die Mehr-heitsanteile mehrerer Großbe-triebe sicherte, allen voran der Erdölgesellschaft Sidanko sowie des Buntmetallriesen Norilsk Nikel.

Prochorows weiterer Werdegang ist – trotz des Bruchs mit seinem Geschäftspartner Potanin – eine einzige Erfolgsgeschichte. Selbst aus der Wirtschaftskrise ging er als Sieger hervor. Als sich die Mi-sere anbahnte, stieß er Aktiva im Umfang mehrerer Milliarden Dol-lar ab und kaufte mit dem Erlös bankrotte Unternehmen auf. Prochorow pflegte gleichzeitig gute Kontakte zu den Mächtigen, akzeptierte ihre Spielregeln und zeigte Verständnis für „die sozi-ale Verantwortung des Unterneh-mertums“, die der Kreml so gern im Munde führt. Russlands Basketball musste vorangebracht werden? Procho-row machte ZSKA Moskau mit viel Geld zu einem europäischen Vorzeigeclub. Es galt, die Innova-tionsfreude Russlands zu bewei-sen? Prochorow brachte die Pro-duktion des russischen Hybridau-tos „Yo-Mobil“ in Schwung.

kurs auf die wahlenIn diesem Frühjahr war der Kreml auf der Suche nach einer konkur-renzfähigen liberalen Partei. Es galt, die Legitimität der Duma-Wahlen zu untermauern und den Konflikt zwischen Regierung und liberaler Öffentlichkeit zu ent-schärfen. Der Kreml brauchte eine Persönlichkeit wie Prochorow – medienerfahren, erfolgreich, loyal. Michail Prochorow kam nicht umhin, mit dem Kreml Abspra-chen darüber zu treffen, was als statthaft und was als unzulässig zu gelten habe. „In Russland exis-tieren für Parteien Beschränkun-gen, und zwar strikte“, erläutert der Politologe Alexej Makarkin die Spielregeln der hohen Politik. „Die erste Beschränkung: Man sollte keine Kontakte zur margi-nalen parteilosen Opposition der Straße unterhalten. Die zweite: Man darf den gesetzten politischen Rahmen nicht allzu weit über-schreiten, keine Themen aufgrei-fen, die der Führungsspitze un-angenehm sind, kein fremdes Wählerfeld beackern, vor allem nicht das der Regierungspartei Einiges Russland.“

Für Michail Prochorow waren derartige Absprachen vertretbar, er kannte das aus seiner Unter-nehmertätigkeit. „Es gibt münd-liche Verträge ‚nach dem Ehren-kodex‘, und es gibt juristische Ver-einbarungen. Während in den 90ern die mündlichen Absprachen dominierten, sind heute alle zu den Standards des russischen oder westlichen Rechts übergegangen“, glaubte er.Die Tatsache, dass in Russlands Politik die Zeit der verbalen Ab-machungen „nach dem Ehrenko-dex“ noch längst nicht vorbei ist, wollte Prochorow offenbar nicht wahrhaben. Am Ende war es ge-rade die unterschiedliche Ausle-gung von getroffenen Absprachen, die ihn zu Fall brachte.

nach eigenen regelnIm Mai gab Prochorow bekannt, die Parteiführung der Gerechten Sache zu übernehmen. Die Par-tei war vor einigen Jahren aus der heruntergewirtschafteten Oppo-sitionspartei SPS hervorgegangen und galt als liberaler Testballon des „Parteienschöpfers“ Wladis-law Surkow, stellvertretenden Lei-ter der Kreml-Verwaltung. Prochorow startete voller Ener-gie in den Wahlkampf. Er gewann fähige, bei den Machthabern in Moskau aber ungeliebte Vertreter des öffentlichen Lebens für seine Partei. In Kaliningrad entfernte er die komplette Regionalführung der Gerechten Sache und setzte an die Parteispitze einen tüchti-gen und populären Organisator von Massenprotesten, die es hier vor anderthalb Jahren gegeben hatte. Prochorow war es auch, der den rigorosen Antidrogenaktivis-

ten Jewgeni Roisman – eine am-bivalente, für viele Wähler aber charismatische und beliebte Figur – ins Boot holte. Als Gegenspieler zu Einiges Russ-land hätte die Gerechte Sache etliche Stimmen hinzugewinnen können, wenn sie sich einen sozi-aleren Anstrich gegeben hätte. Doch Prochorow gab lieber den ideologiefreien Populisten, der schillernde Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens um sich schart und die Gerechte Sache als Par-tei des Fortschritts präsentiert. Es müsste ihm von Anfang an klar gewesen sein, dass er als „klassi-scher Liberaler“, wie ihn die Machthaber sehen wollten, die für den Duma-Einzug nötigen sieben Prozent der Wählerstimmen nicht zusammenbekommen würde. Die Kreml-Strategen hingegen begrif-fen nur zu gut: Alles, was Procho-row oberhalb von 5 bis 7 Prozent einfährt, würde zu Lasten von Ei-niges Russland gehen.

Mehr als eine statistenrolle„Prochorow war die Rolle des Sparringspartners zugedacht, aber er hat einen echten Kampf begonnen“, meint Politologe Gleb Pawlowskij, der im Sommer selbst aus dem präsidialen Thinktank entlassen wurde. „Irgendwann wollte ihm Surkow seine eigenen Kandidaten für die Wahllisten aufzwingen.“ Prochorow hinge-gen sei überzeugt gewesen, Med-wedjew und Putin hätten ihm eine Carte blanche in die Hand gege-ben, und lehnte die Kandidatu-ren ab. „Es ist zum offenen Konflikt gekommen, Putin und Medwedjew ließen Prochorow fal-len, und der in politischen Intri-gen erfahrenere Surkow konnte Prochorow als Parteivorsitzenden durch Konkurrenten innerhalb der Partei stürzen lassen“, erklärt Pawlowskij.Der siegesgewohnte Unternehmer wollte auch in der Politik nicht nur präsent sein, sondern siegen. Hier liegt der Ursprung für sei-nen Konflikt mit Surkow, dem Strippenzieher. Zurück bleibt eine Partei, die ihre Chancen auf den Einzug in die Duma verspielt hat, und ein Oli-garch, der nun gelobt, nicht einmal als Wähler an den Parla-mentswahlen teilzunehmen. „Trotz meiner 20 Jahre in der Wirtschafts- und Geschäftswelt hatte ich noch gewisse Illusionen. Gestern sind sie mir genommen worden“, schrieb er nach der Nie-derlage in seinem Blog. „Meine Fehler liebe ich genauso wie meine Erfolge“, sagte er sei-nerzeit. „Weil sie mir die Grenze des Möglichen zeigen, die man nicht überschreiten darf.“ Gren-zen, die allzu eng sind, um die Po-litik in Russland auch nur ein Jota interessanter und unberechenba-rer zu machen.

Wiktor Djatlikowitsch leitet das Ressort Politik des Wochen-magazins Russkij Reportjor.

Millionen Rubel – etwa 20 Millionen Euro – hat Michail Prochorow nach eigenen Angaben in den Wahlkampf der Gerechten Sache gesteckt.

800zahl

der irrtum des Milliardärs

" Trotz meiner zwanzigjährigen Erfahrung in der Wirtschafts- und Geschäftswelt hatte ich

noch gewisse Illusionen. Gestern sind sie mir genommen worden."in seineM Blog

zitat

Michail Prochorow

Partei Prawoje delo – die gerechte sacheParteivorsitzender: Andrej DunajewGegründet: 2008Ausrichtung: (Wirtschafts-)liberalPrawoje Delo entstand, als die finan-ziell ruinierte Oppositionspartei SPS mit zwei kleineren Parteien fusionier-te. Politisch unterstützte sie Präsident Dmitri Medwedjew. Der Einfluss des Kreml auf die Partei ist bekannt, ihr Vorsitzender hofft allerdings für die Zukunft auf mehr Unabhängigkeit.

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Page 4: Russland HEUTE

4 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskauwirtschaft

hipp oder Möhren vom Marktinvestition Das bayerische Unternehmen produziert Babynahrung in Kaliningrad, dem früheren Königsberg

astrid thoMsenfür rUsslanD HeUte

Man muss viel Fantasie haben, Mut oder Pioniergeist, um die region kaliningrad als Produk-tionsstandort zu wählen. oder man kann einfach nur gut rechnen. hipp hat gerechnet.

Und doch fragt man sich auf den 50 Kilometern Fahrt von Kalinin-grad nach Mamonowo, nahe der polnischen Grenze: warum gera-de hier? Hinter den Alleebäumen ziehen sich brachliegende Flächen bis zum Horizont. Büsche und Dis-teln wachsen mannshoch. Wer von der Landstraße abbiegt, findet heruntergekommene Wohn-blocks, metergroße Schlaglöcher. Ab und zu tauchen prächtige Vil-len auf, Fremdkörper in der öden Landschaft. Es sind Datschen wohlhabender Russen, die am Fri-schen Haff ihre Wochenenden verbringen.Kurz vor der Grenze zu Polen ändert sich das Bild. In Mamono-wo herrscht ein reges Treiben. Im gepflegten Stadtzentrum warten Taxis auf Geschäftsleute mit Ak-tentaschen, es gibt ein Restaurant, in dem Büroangestellte zu Mittag essen, und ein Hotel, das komplett ausgebucht ist.

investition mit BundesgarantieDas Betriebsgelände von Hipp liegt einen Kilometer vom Bahn-hof entfernt inmitten einer grü-nen Wiese. Nur ein Nachbar-grundstück ist ebenfalls bebaut. „Mamonowo ist ökologisch gese-hen eine sehr saubere Gemeinde, wir haben das getestet“, sagt Natalia Sliwka. Die 36-jährige Geschäftsführerin hat in Sankt Petersburg Betriebswirtschaft studiert und in Berlin beim Un-ternehmensberater Roland Ber-ger gearbeitet.Sliwka wirkt wie die Verkörpe-rung der Hipp-Philosophie: „Das Beste aus der Natur, das Beste für die Natur.“ Sie wird nicht müde zu betonen: „Wir sind die Besten, wir haben den höchsten Stan-dard.“ Ihre Assistentin Natalia Romanowa sagt mit einem leisen Seufzen zum Arbeitsstil ihrer Chefin: „Gut reicht ihr nicht, es muss sehr gut sein!“Vor vier Jahren begann die Firmengruppe aus Pfaffenhofen bei München mit der Planung des Werks, es lockten Steuererspar-nisse und Zollvergünstigungen. Hipp nahm eine Bundesgarantie zur Absicherung gegen politische Risiken in Anspruch. Sie soll vor Enteignungen schützen, die Risi-ken von sozialen Unruhen mini-mieren und den Kapitaltransfer ins Ausland sichern.Hipp investierte 20 Millionen Euro und erwarb ein 15 Hektar großes Werksgelände. Zwei Brunnen wurden gebohrt, Strom- und Gas-leitungen gelegt, eine Kläranlage sowie ein Kesselhaus zur Dampf- und Heißwassererzeugung gebaut. Im September 2009 öffnete die Fa-brik ihre Pforten. Das Personal wird vor Ort oder an den Produk-tionsstätten in Deutschland und Ungarn geschult. Ein normaler Arbeiter erhält zwischen 15 000 und 25 000 Rubel pro Monat (375 bis 625 Euro).

saft für die kleinen:Produktionslinie an dem hipp-standord in kaliningrad

unternehmen um kaliningrad

In der Region Kaliningrad gibt es 3664 Unternehmen ausländischer Investoren. Deutschland liegt mit 450 Unterneh-men knapp hinter Polen (459) auf Platz drei. Den ersten Platz hält Litauen mit 1078 Unternehmen. Den Status eines Residenten haben 66 Firmen. Einer der Pioniere in Kaliningrad war BMW: Bereits seit 1999 lassen die Bayern hier im Werk Awtotor Autos montieren. Weitere deutsche Unter-nehmen sind der Autozulieferer Gram-mer, der Hersteller von Kränen und Ölförderanlagen Baltkran und das Bauunternehmen Stieblich.

Natalia Sliwka ist stolz darauf, dass fast alle, die sie zu Produk-tionsbeginn eingestellt hat, noch heute im Werk tätig sind. Die Be-reitschaft russischer Arbeitskräf-te, ihren Job häufig zu wechseln, ist normalerweise sehr hoch. „Wir ködern hier niemanden mit allzu hohen Löhnen“, sagt sie. Stattdes-sen gibt es für gute Leistungen Prämien. „Und wir erwarten im Gegenzug, dass unsere Werte ver-innerlicht werden.“

apfelmus vom FassSeit Juli 2011 ist auch Hipps Han-delsmarke Bebivita auf dem rus-sischen Markt. Sie hat keine Bioqualität und ist wie in Deutsch-land kostengünstiger als die Haus-marke Hipp. Unter dem Firmen-namen Ameko-Kaliningrad pro-duziert Hipp die Bebivita-Produkte ebenfalls am Standort Mamono-wo. Vor der Werkseröffnung be-lieferten Hipp-Niederlassungen aus Österreich, Ungarn und Deutschland die Russische Föde-ration. Diese Aufgabe soll nun das neue Werk in Mamonowo kom-plett übernehmen.Die Grundstoffe für die Babynah-rung kommen als Fassware oder tiefgefroren direkt aus den Ur-sprungsländern oder über einen Umweg aus Deutschland. Je nach Order wird die gewünschte Roh-ware nach Mamonovo geliefert. Das Hipp-Werk in Pfaffenhofen

koordiniert die Lieferungen, aus Deutschland kommt auch das Ver-packungsmaterial und die Etiket-ten. Die Vermarktung der ferti-gen Produkte und deren Verkauf in Russland und der GUS regelt ein hauseigenes Marketingunter-nehmen in Moskau. Die Produktionsräume in Mamo-nowo wirken im Gegensatz zu den gut gefüllten Lagerhallen für Roh- und Auslieferungswaren leer und sehr übersichtlich. Der Standort kann 40 Millionen Gläschen Ba-bynahrung pro Jahr produzieren, allerdings wird diese Zahl mo-

mentan noch nicht erreicht. Ge-naue Mengen nennt die Firmen-führung nicht.

Biokartoffeln aus kaliningradHipp hat geplant, den Anbau von Biogemüse im weiteren Umland von Kaliningrad zu fördern, um die Produkte dann direkt zu ver-arbeiten. Ein steiniger Weg, denn viele Felder liegen seit Jahren brach. Ein Landwirt, der zuvor in Deutschland geschult wurde, liefert voraussichtlich in diesem Herbst zum ersten Mal seine Bio-kartoffeln. Der Kartoffelanbau-

er war zu einem Gespräch und einem Betriebsbesuch nicht bereit. Den russischen Markt für Baby-nahrung, der im Jahr 2010 ein Vo-lumen von etwa 626 Millionen Euro hatte, muss Hipp sich mit 30 Firmen aus Europa, den USA und Russland teilen. Hipp hält daran einen Anteil von knapp fünf Prozent. Zum Verkauf der Marke Bebivita liegen noch keine Zah-len vor. Wer zurzeit als Kunde in russi-sche Supermärkte geht, sucht manchmal vergeblich nach der Marke Hipp, Bebivita dagegen ist in den Regalen für Babynahrung sehr präsent.Wie wichtig ist den russischen Müttern biologische Kindernah-rung? „Das Bewusstsein, sich ohne allzu großen Aufwand gesund zu ernähren, entwickelt sich langsam in den Köpfen“, sagt Sliwka. Eine große Konkurrenz zu den Fertigprodukten sind im Moment noch die russischen Gemüsegär-ten. „Ich kaufe bei den Babusch-kas auf dem Markt und koche selbst“, antworten viele Frauen, auf Gläschennahrung angespro-chen. Aber auch in Russland spielt der Faktor Zeit eine immer grö-ßere Rolle im Familienleben: 2010 wuchs der Gesamtmarkt für Ba-bynahrung um 17,5 Prozent.

steuern, Pacht und zollSeit 2006 (und mindestens bis 2031) ist die Region um Kaliningrad zur Sonderwirtschaftszone (SWZ) ernannt worden. Das dazugehörige Gesetz sieht den Sonderstatus eines „Resi-denten der SWZ“ vor: „Resident“ wird eine juristische Person, die innerhalb von drei Jahren mindestens 150 Millio-nen Rubel (3,75 Millionen Euro) in die SWZ investiert. Weitreichende Steuer- und Zollvergünstigungen sollen aus-ländische Investoren in die Region lo-cken. In den ersten sechs Jahren muss der Resident weder Gewinn- noch Vermögenssteuer zahlen, ab dem

siebten bis zum zwölften Jahr wird nur die Hälfte des in Russland festge-setzten Steuersatzes erhoben.Am Beispiel von Hipp lässt sich gut zeigen, welche Vorteile bei der Verzol-lung entstehen: Die Einfuhr der Roh-ware in die SWZ Kaliningrad ist zoll-frei, auch bei der Ausfuhr besteht Zollfreiheit, wenn das Endprodukt durch die Weiterverarbeitung seinen Zollcode geändert oder eine mindes-tens dreißigprozentige Wertschöp-fung erfahren hat. Wird also beispiels-weise der Rohstoff Apfelpüree zu ei-nem Glas Babynahrung verarbeitet,

ändert sich der Zollcode und die Aus-fuhr ist zollfrei.Neue Investoren können das Land für die Industrieansiedlung erwerben oder pachten. Die Höhe der Pacht wird mit der Verwaltung der SWZ ausgehandelt. Laut Gesetz bleibt der Pachtzins während der gesamten Dauer des Investitionsprojekts unver-ändert. Die Frage, ob die Erschlie-ßungskosten des Betriebsgeländes vom Staat oder Residenten getragen werden, ist Einzelfallentscheidung.

weitere informationenGebietsregierung Kaliningrad www.economy.gov39.ru/de/

ekonomika-i-investicii-de/oez-kgd-de

das werksgebäude von hipp vor den toren Mamonowos

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5Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau wirtschaft

wirtschafts- kalender

foruMdeutsch-russisches foruM Biotechnologie10. OktOber, messe hannOver

Seit Jahren arbeiten deutsche und russische Wissenschaftler bei der Biotechnologie eng zusammen. Das Forum richtet sich an Fachpublikum, Politiker und Journalisten.

owwz.de ›

regionenwirtschaftstag der regionpskow12. OktOber, russisches kOnsulat bOnn, waldstrasse 42Ob Autoproduktion, Landwirtschaft, Infrastruktur oder Tourismus – die Re-gion Pskow zeigt sich deutschen In-vestoren von ihrer besten Seite.

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konferenzstaat und Bürger12. bis 14. OktOber, gesellschaftskam-mer, miusskaya PlOschchad 7, mOskau

Wirtschaft, soziale Verantwortung, Rechtswesen und der Bürger – wie stehen sie in Russland zueinander? Prominenter Thinktank diskutiert.

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chancenkarriereBörse russland26. OktOber, 14-19 uhr, ihk düsseldOrf

Für Studenten oder junge Nach-wuchskräfte mit Russischkenntnissen bietet sich hier die Gelegenheit, Entscheider aus Unternehmen mit Russlandfokus zu kontaktieren und Einstiegsmöglichkeiten zu finden.

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weniger Bücher, weniger autoren:Verlage setzen auf serien

literatur der russische buchmarkt zwischen wirtschaftskrise und waldbränden

dmitri gluchowskis endzeitroman „Metro 2033“ machte sein russischer Verlag prompt zur Buchreihe.

konstantin Miltschinfür russland heute

die auflagen sinken, die Verkaufszahlen gehen zurück. Verleger versuchen, sich mit gewinnträchtigen „projekt-serien“ zu retten. für innovative neue autoren ist kaum platz.

Bemühen wir zunächst einmal die offizielle Statistik. Die Föderale Agentur für Presse und Medien musste jüngst einräumen, dass der russische Buchmarkt 2010 um acht Prozent geschrumpft sei und die Umsätze von 1,66 auf 1,53 Milli-arden Euro sanken. Die Bücher-kammer als das für die statisti-sche Erfassung sämtlicher in Russ-land herausgegebener Titel zuständige staatliche Gremium erklärte im September, dass die Gesamtauflage in den ersten acht Monaten des Jahres 2011 um vier Prozent gesunken sei. In Verlags- und Autorenkreisen machen furchteinflößende Gerüchte von einem noch gravierenderen Markt-einbruch um 15, wenn nicht gar um 25 Prozent die Runde.

e-Books und raubkopienEs gibt viele Gründe für diesen Verfall. Eine Rolle spielt sicher die Wirtschaftskrise, deren Folgen der Buchmarkt nach wie vor zu spü-ren bekommt. Daneben war das vergangene Jahr denkbar ungüns-tig für die Büchermacher: Die wirtschaftlich gut aufgestellten

Regionen Zentralrusslands wur-den von Bränden heimgesucht, die Menschen flüchteten über den Sommer aus den Städten in ihre Datschas oder in den Urlaub, nie-mand kaufte Bücher. Und als drit-ter Faktor wäre der Einzug der E-Books zu nennen. Dmitri Gluchowski, Autor des Er-folgsromans „Metro 2033“, schil-dert: „Mein Verleger sagt, bei allen großen, bekannten Schriftstel-lern in Russland gingen die Auf-lagen zurück. Ich glaube, nicht deshalb, weil die Leute weniger

lesen, sondern weil sie dazu jetzt elektronische Lesegeräte und Smartphones benutzen, auf die sie Raubkopien herunterladen. Dass in Russland gegenwärtig eine Re-volution des Lesens im Gange ist, habe ich an mir selbst gespürt.“Gluchowskis „Metro 2033“ ver-kaufte sich seit 2007 mehr als eine halbe Million Mal, der Roman wurde damit zu einem Marken-zeichen für den prosperierenden russischen Buchmarkt. Seinerzeit gab es eine Vielzahl erfolgreicher verlegerischer Initiativen. Es ist

2007 und 2008 noch zehn Millio-nen Exemplare jährlich, so waren es 2010 nur 5,4 Millionen. Die Krise im Verlagswesen wirk-te sich zwangsläufig auf den Buch-handel aus, auch hier schrumpf-ten die Erlöse. „In Russland gibt es keinen unabhängigen Buchver-trieb“, erklärt Boris Kuprijanow, Gründer der Moskauer Indepen-dent-Buchhandlung Falanster. „In den Online-Supermärkten findet man nicht einmal die Hälfte des-sen, was erscheint, und obendrein liegt der Aufpreis bei 100 bis 150 Prozent. Der Leser wird hier weder Bücher eines kleinen Ver-lags noch Titel aus dem Programm eines großen Verlagshauses fin-den, der kein Bestseller ist, son-dern eine Auflage von unter 2000 Exemplaren hat. Und auf einen annehmbaren Preis braucht er schon gar nicht zu hoffen.“

klassiker neu aufgelegtEine rettende Nische hat der Markt der Gegenwartsliteratur in den sogenannten „Projektserien“ gefunden, also in Buchzyklen, die auf Motive bekannter Werke oder Computerspiele zurückgreifen. So musste der bahnbrechende Roman „Die bewohnte Insel“ der Schrift-stellerbrüder Arkadi und Boris Strugazki, der zu den Klassikern der sowjetischen Fantastik zählt, nach einer niveaulosen Verfilmung als Basismaterial für eine ganze Serie minderwertiger Bücher her-halten. Auf dem Gebiet der Sci-ence-Fiction debütierende junge Autoren bedienen die Konjunk-tur, indem sie die fantastische Welt der Strugazkis einfach mit „mo-dernen“ Helden bevölkern, statt selbst literarische Universen zu erschaffen. Die angespannte Lage auf dem Buchmarkt schlägt als ideelle Krise auch auf die eigentliche Li-teratur zurück.

klarisa pulsonPrOfil

hat sich die nachfrage in den letz-ten jahren verändert?In der Krise wurde mehr Fanta-sy, historische Literatur und Psy-chologie gelesen. Bei der moder-nen Literatur geht es bergab.

weil die realität belastend ist?Genau. Ich wurde in die Jury eines Literaturpreises berufen. Und bei der Auswahl der Bücher habe ich so viel von dieser „Wirklichkeit“ gelesen, dass ich einige Autoren gerne zum Psychologen geschickt hätte!

frau kamenewa, lohnt es sich heute, Bücher zu verkaufen?Der Profit im Buchhandel war schon immer geringer als in an-deren Branchen, aber wir verdie-nen schon etwas. Bis zuletzt war die Situation allerdings stabiler.

was bedeutet „bis zuletzt“?Ende 2010, Anfang 2011 ging bei uns der Umsatz herunter, in man-chen Bereichen um bis zu 20 Pro-

ist das e-Book denn eine echte konkurrenz für das gedruckte Buch?Nein, obwohl die Verkaufszahlen rapide wachsen: im Jahr 2010 bei uns um 300 Prozent!

können sie sagen, dass die rus-sen durchaus bereit sind, dafür geld auszugeben?Ja. Ich habe Mitarbeiter, die nur E-Books lesen. Sie haben mir er-klärt: „Wenn die elektronische Version eines Buches gleichzeitig mit der Druckversion erscheint, würden wir das E-Book kaufen. Aber wenn ein Buch erscheint, und es gibt die elektronische Ver-sion nicht im Handel, dann laden wir natürlich das E-Book illegal herunter.“ Besonders problema-tisch ist die Situation mit auslän-dischen Verlagen: Sie haben Angst, uns die Rechte an elektronischen Büchern zu verkaufen, weil unser Schutz des geistigen Eigentums sie nicht zufriedenstellt.

Dieser Beitrag erschien im Magazinprofil

barowsk hat jüngst jemand ein Buch bestellt. Das Buch selbst kos-tete 230 Rubel, und für die Liefe-rung hat er 1000 bezahlt. In Russ-land mit seinem großen Territo-rium sollte man „Print on demand“ entwickeln, das heißt in den wich-tigen Städten in Sibirien, dem Ural und dem Fernen Osten kleine Dru-ckereien etablieren, die Bücher in Auflagen von 100 oder 200 dru-cken können. Dann muss man keine Lastwägen durch die Ge-gend fahren lassen oder große La-gerhallen bezahlen.

keine fünf Jahre her, da investier-ten große Verlage wie AST oder Eksmo hohe Summen in die Wer-bung, klebten die Städte mit Re-klameplakaten zu, rückten ihre Autoren durch Zeitungsanzeigen und Fernsehspots ins öffentliche Blickfeld.Nun ist es anders: Große Namen und Projekte sucht man vergebens, selbst bei den marktführenden Granden der Gegenwartslitera-tur sinken die Auflagen rapide. Verkaufte Darja Donzowa, die Meisterin des ironischen Krimis,

Keine Panik vor dem E-BookinterView marina kamenewa

die direktOrin des buchkaufhauses mOskwa im herzen

der hauPtstadt über die leselust der russen

zent, in Buchhandlungen auf dem Land sogar um 40 Prozent. Ich sehe dafür vier Gründe: den Ein-fluss der Makroökonomie, allge-mein sinkendes Interesse an Bü-chern, die Konkurrenz der Inter-netgeschäfte und E-Books.

ist der unterschied zwischen städ-ten wie Moskau und den regionen wirklich so gravierend?Der Unterschied ist katastrophal. In den Regionen ist das Angebot sehr mager, die Lieferungen dau-ern lang und sind teuer. In Cha-

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6 www.russland-heute.de Russland Heute

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskaudas thema

konstantin Miltschinfür russland heute

die einen imitieren westliche autoren, die anderen arbeiten sich noch immer an der sowjet-union ab. die wahren Perlen ihrer literatur übersehen die russen da manchmal selbst.

Frischer wind aus jerewan

ab 12. OktOber geht es in frankfurt um bücher aus

der ganzen Welt. WO steht die russische literatur?

literatur FrankFurter BuchMesse

Bis 2008, Jahr der Wirtschafts-krise, war alles einfach: Die lite-rarische Massenware arbeitete sich unisono am realistischen Roman ab. Autoren wie Sergej Minajew wählten die angelsäch-sische urbane Prosa als Vorbild und projizierten ausländische Su-jets auf russische Realien. Ein anderer Trend war der „Gla-mour-Roman“ mit Geschichten ehrgeiziger Schönheiten, die in den entsprechenden Gesellschafts-kreisen nach ihrem Traumprin-zen Ausschau halten. Dieses Genre verkörpert unübertroffen Oksa-na Robski. Derartige Bücher zeichneten das Bild einer Gesellschaft, in der die Zahl der Büroangestellten wuchs und der Erdölboom eine Klasse von Müßiggängern hervorgebracht hatte. Zugleich gaben sie den aus der Provinz in die Großstädte strö-menden Zugereisten Strategien zum täglichen Überlebenskampf an die Hand.Demgegenüber verweigerte sich die „hohe Literatur“ hartnäckig der Gegenwart. Die Mehrheit der

[email protected]

Werke, die in den letzten zehn Jah-ren den russischen Booker-Preis erhielten, thematisiert die Vergan-genheit, bevorzugt die sowjetische. Selbst Olga Slawnikowas Zu-kunftsroman „2017“ und Wassili Aksjonows im 18. Jahrhundert an-gesiedelter Text „Voltairianer und Voltairianerinnen“ verweisen den Leser auf die Sowjetzeit. Die mit den Gespenstern der Ver-gangenheit kämpfenden Schrift-steller hörten auf, sich mit dem traditionell ureigensten Anliegen

russischer Literatur zu befassen: einer geistigen Aufarbeitung und Ausdeutung der Realität. Sieht man einmal von Wiktor Pe-lewin und Wladimir Sorokin ab. Pelewin bringt Herbst für Herbst einen neuen Roman heraus, in dem er die Träume und Ängste paro-diert, die die Gesellschaft wäh-rend des zurückliegenden Jahres bewegten. In ähnlicher Manier schreibt auch Sorokin, wenn auch radikaler.Als einem der ganz Wenigen gelang es dem Historiker und Fernsehmoderator Alexander

Archangelski mit seinem 2008 erschienenen Roman „Der Preis der Abtrennung“, das Feld der Massenliteratur neu zu beackern. Archangelski beschreibt präzise und stilistisch brillant die russi-sche Hauptstadt in Zeiten des Erdölüberflusses.

ehrliches leben im FalschenEin „seltenes Exemplar“ ist Jew-genij Grischkowjez, der eine Brü-cke zwischen „hoher Literatur“ und Massenliteratur zu schlagen versucht. Er begann als Schau-spieler mit Ein-Mann-Stücken, die mehr an die amerikanische Stand-up-Comedy erinnerten, denn an klassisches russisches Theater. Seine Erinnerungen an den Wehrdienst bei der russischen Marine („Wie ich einen Hund aufaß“) machten ihn bekannt. 2004 erschien sein erster Roman „Das Hemd“ im Stil des Realis-mus, aber grundehrlich und mitreißend.Für einige Aufmerksamkeit sorg-te Sachar Prilepin, Tschetscheni-enveteran und Mitglied der radi-kalen „Nationalbolschewiken“. Mit „Sanka“ ging er den Weg eines jungen Revolutionärs aus der rus-sischen Provinz, der sich gegen das Regime stellt. Auch in „Grjech“ (Die Sünde) blieb er diesem An-satz treu: Darin nämlich versucht der Protagonist, sich in einer er-drückenden Wirklichkeit mensch-

die „hohe literatur“ verweigert sich hart-näckig der gegenwart und vergisst damit ihr wichtigstes anliegen.

koMMentar

mehr als nur Pelewin und sorokin

Auf wirtschaftlichem Gebiet sind die russisch-deutschen Beziehungen aus-gezeichnet – das hat die Umarmung von Wladimir Putin und Gerhard Schröder bei der Eröffnung der Nord-Stream-Pipeline Anfang September eindrucksvoll illustriert. Schlechter sieht es in literarischer Hinsicht aus. Klassiker wie Lew Tolstoi werden zwar neu ins Deutsche übertragen, und dass es lesbare russische Krimis und Thriller gibt, von Boris Akunin bis zu Dmitri Gluchowski, hat sich auch her-umgesprochen. Aber wo bleibt die anspruchsvolle Gegenwartsliteratur?

christiane körner

übersetzerin

Als Russland 2003 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war, brachte jeder deutsche Verlag seinen russi-schen Titel. Seitdem ist nicht viel passiert.Welche russischen Literaten kennt man im deutschsprachigen Raum? Ljudmila Ulitzkaja, Wladimir Sorokin und Viktor Pelewin, Bestsellerautoren, die für die konventionalisierte Post-moderne stehen, werden hierzulande mit schöner Regelmäßigkeit gedruckt. Aber das sind Ausnahmen. Autoren zwischen 35 und 55, die noch in der Sowjetunion sozialisiert wurden, aber literarisch ganz unterschiedlich auf dieses Erbe reagieren, fehlen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt fast ganz. So ist Andrej Gelassimows

„Durst“, der brillante Text über einen entstellten Tschetschenien-Heimkeh-rer, mit fast zehn Jahren Verspätung endlich auf Deutsch erschienen. End-lich wurde auch Michail Schischkins „Venushaar“ übersetzt. Doch die Pro-sa von Olga Slawnikowa, Dmitri By-kow, Oleg Sajontschkowski, Alexej Iwanow oder Maxim Ossipow gibt es bis heute nicht auf Deutsch zu lesen. Von Andrej Terechow, Roman Sent-schin, Igor Sachnowski oder Michail Jelisarow wurde jeweils nur ein Buch übersetzt, und das ist lange her.Alle diese Autoren sind Träger oder Finalisten der drei wichtigsten russi-schen Literaturpreise, die meisten standen mit unterschiedlichen Werken auf den Shortlists. Was man in Russ-land liest und schätzt, kennt man in Deutschland nicht. Anders steht es mit der russischen Prosa bei unseren Nachbarn: Fast alle

der Genannten sind ins Französische übersetzt, von Gelassimow sind be-reits vier Titel erschienen. Auch in Ita-lien wird russische Literatur häufiger publiziert als bei uns. Liegt es an der Krise des Buchmark-tes? An der Konkurrenz der sowjeti-schen Nachfolgestaaten im Osteuro-pa-Segment der Verlage? Am Schmuddel- und Mafiaimage, das Russland nicht loswird? Franzosen und Italiener scheint das nicht zu stö-ren. Gibt es in Deutschland ein spezi-elles Problem mit Russland und der russischen Literatur, verquickt mit Ver-brechen, Schuld und scheinbarer Süh-ne im 20. Jahrhundert? An russische Prosa stellen die Verla-ge, im Vergleich zu anderen Ländern, hohe Ansprüche. Zu schwerfällig, zu deprimierend komme das Russische daher, oder zu verkopft. Und über-haupt, die deutschen Lesegewohn-

heiten seien eben andere. Dabei be-klagen längst nicht alle Texte die Härte der menschlichen Existenz, es gibt hochkomische, satirische, absur-de und dabei sehr leichtfüßige Prosa, und die ganz junge Generation schert sich nicht um Konventionen und legt literarisch geradezu abenteuerlich los. Dass nun kürzlich ein paar Texte von Autoren um die 30 übersetzt wurden, von Natalja Kljutscharowa, Dmitri Dergatchev, Wladimir Lort-schenkow, nährt neue Hoffnungen. Vielleicht kommt man sich dem-nächst ja auch literarisch wieder näher.

Die Autorin ist freie Über-setzerin, Lektorin und Dozen-tin. Zuletzt er-schien von ihr „Das schönste Proletariat der Welt: Junge Erzähler aus Russland“ bei der edition suhr-kamp.

liche Werte wie Ehrlichkeit und Humanität zu erhalten.Die russische Literatur krankt an ihrer zentralistischen „Haupt-städtischkeit“: Bücher, die in der Provinz spielen, haben in der Regel keine Chance, überregional bekannt zu werden. Eine der we-nigen Ausnahmen ist „Sergejew und das Städtchen“ (2004), in wel-chem Autor Oleg Sajontschkows-kij die Provinz mit feinem Opti-

mismus umspült. Im letzten Jahr sorgte Roman Sentschins „Jelty-schewy“ für Aufsehen, ein Buch über einen Polizisten, der mit sei-ner Familie in ein Dorf zieht. Nach und nach zerfällt die Familie. Sentschin zerstörte den Mythos, dass die Rückkehr ins einfache Landleben die Probleme Russ-lands lösen kann.2008 hat die Wirtschaftskrise der Massenliteratur arg zugesetzt.

zeit zum träumen: in russi-schen Bestseller-listen stehen klassische romane ganz oben.

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7Russland Heute www.russland-heute.de

eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau das thema

eine russische familieWie eine typisch russische familie lebt,

wie sie sich entspannt, was sie sich leisten kann und wovon sie träumt.

Thema der nächsten AusgabeNoch frischer als aus dem Druck – das russland heute E-Paper

russland-heute.de/e-paper

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konstantin Miltschinfür russland heute

einen Feuchtwanger, remarque oder thomas Mann hatte vor 30 jahren fast jeder sowjethaushalt im Bücherregal. Von der aktu-ellen deutschen literatur wissen die russen aber nur wenig.

In den ersten Monaten des Jah-res 2011 belief sich die Gesamtauf-lage aller Übersetzungen aus dem Deutschen auf zwei Millionen Ex-emplare. Zum Vergleich: Über-setzungen aus dem Französischen erschienen mit einer Auflage von 4,7 Millionen, aus dem Englischen sogar mit 25 Millionen Exempla-ren. Was auch damit zu tun hat, dass Franzosen und Engländer das Interesse an Übersetzungen aus ihren Sprachen durch Zu-schüsse und Stipendien für Ver-leger und Übersetzer fördern und ihre Autoren beständig ins Blick-feld rücken.

„drei kameraden“ ist der dauerbrenner

Kaum war das Schriftsteller-handwerk einigermaßen einträg-lich geworden, sanken die Hono-rare aufs Neue, und damit auch die Zahl derjenigen, die Lust auf dieses Handwerk verspüren. In der „hohen Literatur“ sind kaum Tendenzen auszumachen. Geht der Kurs einmal in Rich-tung dokumentarischer Roman, machen bald darauf Reiseberich-te das Rennen, dann wieder erlebt die historische Prosa eine Renaissance. Was alle Strömun-gen eint, ist die Angst vor litera-rischen Experimenten. Einzige Ausnahme: der im deutschsprachigen Teil der Schweiz lebende Michail Schi-schkin, der in Romanen wie „Wsjatie Ismaila“ (Die Eroberung Ismails) exzessiv mit Sprache und literarischen Formen spielt. Der Erfolg Schischkins und an-derer, in einem nichtrussischen Sprachmilieu lebender, dabei jedoch Russisch schreibender Autoren mag eine neue Tendenz aufzeigen: Eines der stärksten Bücher der letzten Jahre war Mi-riam Petrosjans Roman „Dom, wkotorom“ (Das Haus, in dem), eine überwältigende Melange aus Fantasy und psychologischem Roman. Petrosjan lebt und arbei-tet im armenischen Jerewan.

Konstantin Miltschin ist Literaturkritiker bei der Zeitschrift Russki Reporter.

autor anzahl ausgaben auflage in Mio.

1 arthur conan doyle 67 1,90

2 alexandre dumas d. Ä. 71 1,55

3 stephenie meyer 19 1,46

4 agatha christie 113 0,81

5 sidney sheldon 77 0,66

Schon vor Beginn des Kalten Krieges blickten die Sowjets vol-ler Neid über den Ozean, trotz aller vorgetragenen Ablehnung des Kapitalismus. Stalin sand-te Filmleute nach Hollywood und Architekten nach New York, um das Gesehene dann in der Sowjetunion umzusetzen. Und 1935 reiste das berühmtes-te Schriftsteller-Duo der Sow-jetunion in die USA.Ilja Ilf und Jewgenij Petrow waren Satiriker, und so be-schreiben sie ihre Begegnungen mit Kapitalisten, Arbeitern und Arbeitslosen, Indianern und In-tellektuellen mit spritzigem Humor. Das Schönste ist jedoch

Vor allem offenbart sich aber ein ernsthafteres Problem: Die deut-sche Literatur wird nicht mehr als etwas Ganzheitliches wahr-genommen. Der französischen, englischen oder norwegischen Li-teratur spricht man diese Ganz-heitlichkeit noch zu. Manch russischer Leser hat etwas von Julia Franck gelesen, von Herta Müller, ein anderer viel-leicht den vollständig übersetz-ten Günter Grass. Eine Vorstel-lung, was im literarischen Leben Deutschlands als Ganzem vor sich geht, haben jedoch nur Litera-turexperten. Dem deutschen Literaturbetrieb fehlt es heute an Kultfiguren. Im Grunde gibt es da noch immer nur Günter Grass. Vor einigen Jahren hätte der deutschsprachi-ge Schweizer Autor Christian Kracht beinahe Kultstatus er-langt. Aus der Riege der deutschen Schriftsteller der ersten Hälfte

was liest russland? die internationalen autoren mit den höchsten auflagen

neues iM herBst

ilja ilf, jewgenij Petrow: „das einstöckige amerika“

Russische Literatur entsteht nicht nur in Russland: Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion schreiben Menschen auf Russisch, ebenso wie die Emigranten in den USA und in Deutschland.Der 32-jährige Wladimir Lort-schenkow wuchs am Baikalsee auf, am Polarkreis und in Bela-rus. Am Ende hat es ihn in Mol-dawiens Hauptstadt Chisinau verschlagen. Der tiefgründige schwarze Humor, mit dem er das Leben im „Armenhaus Europas“ umspielt, hat ihn in Russland be-rühmt gemacht.Die Bewohner des Dorfes Larga leben schlecht und träumen von Italien. Endlich entschließen sich

Den 1907 geborenen Warlam Schalamow traf das Stalin’sche Terrorsystem mit voller Härte. Seine Odyssee durch die lebens-feindliche Kolyma-Region im Fernen Osten Sibiriens dauerte 17 Jahre. Wie durch ein Wun-

Der 43-jährige Sergej Lukianen-ko wurde mit „Wächter der Nacht“, spätestens aber mit des-sen Verfilmung 2004 in Russland und weltweit berühmt. Den Reiz seiner „Wächter“-Romane macht die Verbindung fantastischer Ele-

wladimir lortschenkow: „Milch und honig“

warlam schalamow: „die auferweckung der lärche“

sergej lukianenko: „der falsche spiegel“

des 20. Jahrhunderts ist Thomas Mann nach wie vor populär, eben-so Erich Maria Remarque, des-sen Werke – vornehmlich „Drei Kameraden“ – auch heute noch in Russland erscheinen und zur Schullektüre gehören. Das Ge-heimnis des Remarque’schen Erfolgs mag darin liegen, dass

„Drei Kameraden“ von einer in-tensiven Freundschaft handelt, die den Protagonisten hilft, unter schwierigsten Umständen zu überleben. Aus dem gleichen Grunde erfreuen sich Alexandre Dumas’ „Drei Musketiere“ in Russland bis zum heutigen Tage größter Beliebtheit.

die Offenheit, mit denen sie auf das fremde Land blicken. Nach über 70 Jahren hat dieses wun-dervolle und reich bebilderte Buch es nach Deutschland geschafft.

Eichborn, 693 S., 65 Euro. Das Buch ist im August erschienen.

zwei, ihrem Traktor „Flügel zu verleihen“ und in jenes sagenum-wobene Land zu fliegen. Gleich-zeitig fasst auch der Präsident Moldawiens diesen Entschluss.

Atrium, 224 S., 18 Euro. Das Buch erschien im September.

der überlebte Schalamow, 1982 starb er in Moskau.Mit „Die Auferweckung der Lär-che“ erscheint nun der vierte und letzte Band seiner „Erzählungen aus Kolyma“, minutiöser, schnör-kelloser Beschreibungen des höl-lischen Alltags im Gulag, der die Leben von Millionen von Men-schen zerstörte, der ihre Arbeits-kraft ausbeutete, um für den Staat Gold aus der Erde zu holen.Das Buch ist Teil einer deutschen Werksausgabe Schalamows, der einzigen außerhalb Russlands.

Matthes & Seitz, 512 S., 29,90 Euro. Erscheint im Oktober.

mente mit der postsowjetischen Realität aus. „Der falsche Spie-gel“, bereits das 16. ins Deutsche übertragene Buch, ist eine düs-tere Zukunftsvision, in der die Menschen in den Tiefen des In-ternets gefangen sind. Die russische Science-Fiction erlangte in den 60er-Jahren Welt-ruhm mit den Strugatzki-Brü-dern. Den heutigen Thron der Sci-ence-Fiction muss sich Lukianen-ko mit Dmitri Gluchowski teilen, Autor von „Metro 2033“.

Heyne, 576 S. , 14,99 Euro. Erscheinungsdatum: 9. November 2011

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8 WWW.RUSSLAND-HEUTE.DE RUSSLAND HEUTE

EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUGesellschaft

SVETLANA ILLARIONOVAEXKLUSIV FÜR RUSSLAND HEUTE

Früher war die Ehe für viele Russinnnen der einzige Weg in die Unabhängigkeit. Heute ist es oft genau umgekehrt. Wohl-stand und Emanzipation haben das Frauenbild verändert.

„Ich bin 25 Jahre alt und noch immer nicht verheiratet! Was soll ich tun? In fünf Jahren will mich keiner mehr!“, schlägt die Blog-gerin Irina in einem der russischen Frauenforen Alarm. Ihre Tor-schlusspanik teilt die 26-jährige Anastasija: „Ich bin auch noch un-verheiratet. Das kann so nicht weitergehen.“ Was junge Deutsche wohl zum Lä-cheln bringt, löst bei Russinnen Panikattacken aus. Eine Heirat besiegelt in Russland nicht nur den traditionellen Bund fürs Leben, sie ist auch ein Symbol des gesellschaftlichen Aufstiegs. Daher heiratet man nach wie vor jung – mit 23,5 Jahren, während die Deutschen im Durchschnitt mit 30,2 ihr Jawort geben. Daran hat sich trotz steigender Schei-dungsraten nichts geändert.

Trauschein muss sein„Ich wollte schon immer früh hei-raten, wie meine Eltern“, erzählt die 25-jährige Maria Osokina. Mit 18 lernte sie ihren damals 23-jäh-rigen Mann kennen. Nach weni-gen Monaten schon machte er ihr einen Heiratsantrag. Das Motiv? „Ohne Trauschein zusammenzie-hen, das hätten meine Eltern nie-mals geduldet“, erklärt sie und suchte das Eheglück. „Auch des guten Rufs wegen und der Stabi-lität“, sagt die jetzige Mutter.So oder ähnlich erklären die meis-ten russischen Frauen ihren Heiratswunsch. „Ansehen und Stabilität sind die Schlüsselbe-griffe“, erläutert Soziologin Irina Perstnjewa. Vor allem in ländli-chen Gebieten, in denen eine alleinstehende Frau über 25 als „alt“ oder gar als „alte Jungfer“ gelte, sei die frühe Eheschließung eine Art lukratives Geschäft: Für die Provinzlerin, wirtschaftlich vom Mann abhängig, bedeute der Ehering finanzielle Sicherheit, dem Mann beschere er gesell-schaftlichen Rückhalt. Auf dem

Was russische Frauen wollenPartnerschaft Russinnen sehen sich nicht länger als „nachwachsende Rohstoffe“ für die Volkswirtschaft

Aljona Popowa, 39, führt in die Selbständigkeit: Ihr virtuelles Grün-derzentrum Startup Women unterstüzt Frauen mit Geschäftsideen.

Auf ins Eheglück: Brautparaden haben in Russland Tradition.

INFO

Grenzenlose LiebeDeutsche Männer stehen bei Russin-nen hoch im Kurs und umgekehrt. Nach Angaben des Statistischen Bun-desamtes gaben 2010 in Deutschland 1892 Russinnen einem Deutschen das Jawort, 2006 waren es noch 140 we-niger. In Wahrheit sind diese Zahlen wesentlich größer, denn viele heiraten aufgrund beidseitiger bürokratischer Hürden in einem Drittland.Wenn man(n) eine Russin heiraten und mit ihr in Deutschland leben will, muss er neben eigenen Unterlagen (Auskunft beim Standesamt) die Ge-burtsurkunde und Wohnortbescheini-gung der zukünftigen Frau sowie einen Passvermerk über ihren Famili-

enstand im russischen Inlands- oder Reisepass vorlegen. Dazu Dokumente zu früheren Ehen wie Scheidungspa-piere oder Sterbeurkunden. Wichtig: Standesämter verlangen beglaubigte Übersetzungen. Auf Antrag erteilen sie bei einer persönlichen Anmeldung der Eheschließung eine Befreiung vom Ehefähigkeitszeugnis. Hält sich die russische Verlobte noch in der Heimat auf, ist außer dem Einkom-mensnachweis eine Vollmacht nötig nebst einer beglaubigten Passkopie. Für die Einreise zur Eheschließung ist ein Sondervisum erforderlich. Das Wichtigste sind jedoch: Liebe, Harmo-nie und gegenseitiges Verständnis.

Land sei eine Partnerschaft ohne Trauschein noch heute eine Schan-de für die Frau. Darin zeigt sich der enorme Unterschied zu den russischen Metropolen. Marina, 28-jährige Wahlmoskauerin und Single, be-kommt ihn immer zu spüren, wenn sie ihre Familie in Wolgograd be-sucht. Jedes Mal lädt die Ver-wandtschaft potenzielle Ehepart-ner zum Kaffeekränzchen: Mal ist es ein junger Kollege der Mut-ter, mal der nette Sohn einer Fa-milienfreundin. Die Kandidaten darf stets die Mutter bestimmen. Die tut sich bei solchen Verkupp-lungsversuchen aber nicht immer leicht: „Ich bin eine Weltmeiste-rin im Überbrücken peinlicher Gesprächspausen“, lacht Marina.

Doch die Familie meine es eigent-lich gut mit ihr: „Mit 28 kann man gerade noch so auf den letzten Wagen des abfahrenden Zugs aufspringen.“ Mit zunehmendem Wohlstand wei-chen jedoch traditionelle Famili-enwerte den „bürgerlichen Bezie-hungen“, wie in Russland Part-nerschaften ohne Trauschein genannt werden. Laut einer Um-frage des Meinungsforschungsin-stituts FOM halten den Trauschein nur noch 18 Prozent der Großstäd-ter für obligatorisch, 63 Prozent der Befragten sei die Heiratsur-kunde egal. Knapp 60 Prozent teilen jedoch die Ansicht, dass Paare heiraten sollten, wenn sie später einmal Kinder haben wollen.

Gewollte EinsamkeitIn russischen Großstädten hat sich das Heiratsverhalten in den ver-gangenen zehn Jahren dem hohen Stellenwert der Ehe zum Trotz stark verändert: Viele Frauen verzichten ganz auf eine Partner-schaft und bleiben lieber allein. Gründe für die „gewollte Einsam-keit“ seien die veränderte Rolle des Mannes in der Familie sowie die � nanzielle Emanzipation der Frauen, erklärt Demograf Sergej Sacharow: „Es gibt keine Jäger und Sammler mehr. In einer durchschnittlichen Großstadtfa-milie hat heute eher die Frau die Hosen an.“ Der Ehemann als Versorger sei daher passé. Die Frauen entschei-den sich immer häu� ger für Kin-

der außerhalb der Ehe und ziehen sie alleine groß – vorausgesetzt, das Einkommen reicht. Sacharow spricht von einer „Krise der Tra-ditionsehe“. Gleichzeitig bilde sich aber eine neue Beziehungsstruk-tur der Paare heraus, die auf einer Gleichberechtigung von Mann und Frau basiere.

Schlechte Aussichten für geschiedene FrauenEin weiterer Grund, warum der frühe Eheeintritt auf der Beliebt-heitsskala sinkt: Zu oft zerbricht der Traum vom Treueschwur bis zum Tode. „Das Beste an einer frühen Ehe ist die frühe Schei-dung“, behauptet Natalja Troschi-na. Die Moskauerin heiratete mit 20, ein Jahr später kam das Kind, prompt danach die Scheidung. Na-talja nutzte ihre Chance, wieder neu anzufangen. Heute ist sie Abteilungsleiterin einer großen Bank, mit 27. „Hätte ich mit der Scheidung bis zu meinem 50. Le-bensjahr gewartet, wäre ich mit leeren Händen dagestanden, � nanziell gesehen und was einen Partner betrifft“, resümiert die Moskauerin. In der Tat haben Russinnen mit zunehmendem Alter immer schlechtere Chancen auf dem Hei-ratsmarkt: Während 90 Prozent der Männer über 30 eine neue Partnerin � nden, bleibt über die Hälfte gleichaltriger Frauen Sin-gle. Die Gründe sind ebenso lapi-dar wie beängstigend: Kinder aus der Vorehe und die alarmierend hohe Sterblichkeitsrate unter Männern. In der Altersgruppe der 50-Jährigen gibt es in Russland etwa 15 Prozent weniger Männer als Frauen, bei den 60-Jährigen sind es nur noch halb so viele Män-ner und bei den 70-Jährigen nur noch ein Viertel so viele.

Hauptsache glücklichDa ist guter Rat teuer, möchte sich eine russische Frau wiederverhei-raten. Nach ihrer Scheidung woll-te Anna Minajewa eigentlich nichts mehr mit Männern zu tun haben. „Ich hatte begriffen, dass ich mich nur auf mich selbst ver-lassen kann“, beschreibt die inzwischen alleinerziehende Mut-ter ihre damalige Enttäuschung. Ihr Mann sei einfach gegangen, Alimente zahle er nicht. Mit der Zeit drohte die Einsamkeit sie zu erdrücken, über das Internet lern-te sie ihren zukünftigen, zweiten Mann kennen – einen Deutschen. Nun paukt die 30-Jährige unre-gelmäßige Verben und Gramma-tik. Nach der Hochzeit in Moskau will die Familie nach Deutsch-land ziehen.Anna gehört zu der eher beschei-denen Gruppe von sieben bis elf Prozent russischer Frauen, die von einem ausländischen Prinzen träumen, über 50 Prozent ziehen jedoch einen einheimischen Bräu-tigam vor. Die anderen rund 40 Prozent sagen, dass es ihnen egal sei, Hauptsache, sie werden glück-lich. Davon träumen wohl alle Frauen, egal aus welchem Land sie kommen.

ZAHLEN

11 Prozent der russischen Frauen könnten es sich durchaus vorstellen, einen

Mann aus dem Ausland zu heiraten und Russland zu verlassen.

23 Jahre jung ist eine rus-sische Frau, wenn sie zum Traualtar schreitet.

Daran hat auch die hohe Scheidungs-rate nichts geändert.

30 Jahre alt ist eine deut-sche Frau, wenn sie zum Traualtar schrei-

tet. Karriere und Selbstverwirklichung zögern die Ehe immer weiter hinaus.

Auf dem Land steht die Ehe noch immer für finanzielle Sicherheit und gesellschaftlichen Rückhalt.

In einer durchschnitt-lichen Großstadtfamilie hat heute eher die Frau die Hosen an – der Mann als Versorger ist passé.

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eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, Moskau reisen

kurioses aus deM alltag

Sarah Jessica Parker, 46, mach-te in Moskau die Bekanntschaft mit den ungestümen Emotionen des russischen Mannes. Die ame-rikanische Schauspielerin aus der Serie „Sex and the City“ weilte in der Stadt, um ihren neuen Streifen „I don’t know how she does it“ vorzustellen. Parker wollte unbedingt das Bol-schoi-Theater besuchen, für sie „eines der sieben Weltwunder“. Einziges Problem: Das Bolschoi wird derzeit renoviert, die Er-öffnung ist für den 28. Oktober

Dmitri Gubernijew, Sportkom-mentator des Kanals Rossija, hätte sein zu loses Mundwerk beinahe den Job gekostet. Die erste Halbzeit im Moskauer Fußballmatch Spartak – ZSKA (Endstand 2:2) war gespielt, auf den Bildschirmen flimmerte Wer-bung. Im Internet aber ging die Übertragung weiter, und Tausen-de Zuschauer konnten nun hören, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.Igor Akinfejew, Torhüter von ZSKA, hatte sich schwer am Knie verletzt. Gubernijew nahm das

Dass die Liebe der Russen zu ihren Haustieren über alles geht, erfuh-ren in diesem Sommer die Italie-ner. Als der 47-jährige Stanislaw Rybtschinskij, schwerreicher Be-sitzer der ChimExim Trading Group, nach einem Spaziergang durch Genua in seine Luxussuite ins Grand Hotel Savoia zurück-kehrte, musste er zu seinem Be-dauern feststellen, dass sein Toy Terrier Johnny fehlte. Frau Rybtschinskaja vermutete sofort, dass die Räuber des Toy Terriers genau gewusst hatten, was sie suchten: „Johnny gehört zu einer seltenen Rasse und ist sehr teuer.“ Dass außer dem Hund nur Haus-schuhe und ein Gürtel gestohlen wurden, bestätigte ihren Verdacht: Hundediebe stehlen persönliche Dinge des Herrchens, damit das Tier nicht in Panik ausbricht. Von der italienischen Polizei forder-ten die Rybtschinskijs, die Mitar-beiter des Hotels mit Hilfe eines Lügendetektors zu befragen. Die Hotelleitung zögerte, ebenso wie die italienischen Carabinieri. Daraufhin schaltete Rybtschins-kij das russische Konsulat in Genua ein und – nach Angaben des Corriere della Sera – einhun-dert Tierärzte. Aber auch 10 000 Euro Finderlohn halfen nicht: Bis heute ist Johnny verschollen. (mga)

die legende von sarah jessica Parker und dem don juan vom Bolschoi

warum sportkommentatoren ihr Mikrofon rechtzeitig ausschalten sollten

oligarchenterrier vermisst

geplant. Doch Oleg Donzow, Chef der Wachbrigade, machte für die Amerikanerin den Weg frei – und gewährte ihr eine Sonderführung. Zum Dank signierte Parker Don-zows entblößte Brust. Dessen nicht genug – der Wachmann wollte seine Verehrung mit einem herz-haften Kuss untermauern. Parker rettete sich mit einem spitzen Schrei. Den kopflosen Wachmann erwarten nun nicht nur Probleme mit seinem Arbeitgeber, sondern auch ein ernstes Gespräch mit sei-ner Ehefrau. (mga)

zum Anlass, über den Ersatztor-wart Wjatscheslaw Malafejew zu sinnieren: „Hoffentlich wird Akinfejew bald wieder fit, sonst wird es nämlich lustig. Wir haben entscheidende Spiele vor uns, und zwischen den Pfosten steht jetzt Sch...!“ Am nächsten Tag fielen die rus-sischen Medien über Gubernijew her. Er ruderte zurück: „Das war doch nur für die Ohren meiner Kollegen bestimmt.“ Sein Sender verstand keinen Spaß und sperr-te den Unglückskommentator für mehrere Monate. (mga)in russland entblößen auch harte Männer mal ihre Brust.

abseits: spartak-Fan gubernijew muss zukünftig schweigen.

ehemalige Proletarierbleibe: das hotel ukraina gehört jetzt zur radisson-gruppe und zählt vier sterne.

tino künzelfür russland Heute

schon in den dreißigerjahren blickte stalin mit neid auf die wolkenkratzer new Yorks. nach dem krieg bekam Moskau seine eigenen hochhäuser. die kosten spielten keine rolle.

Ab und zu brauchte auch der athe-istische Sowjetmensch ein Zeichen von oben. Und es wurde ihm ge-sandt: das Pionierlager Artek auf der Halbinsel Krim, die Volks-wirtschaftsmesse in Moskau, die Moskauer Metro – Vorboten des

berüchtigte (und 1953 hingerich-tete) Chef des sowjetischen Ge-heimdienstes. Auf den Baustellen kamen Tausende Zwangsarbeiter aus dem Gulag zum Einsatz – und deutsche Kriegsgefangene. Die Stabilität des Baugrunds wurde verschiedentlich mit neuen inge-nieurstechnischen Verfahren sichergestellt. Die Kosten spielten in dem Fall keine Rolle.

Allein die Lomonossow-Univer-sität schlug mit 2,6 Milliarden Sowjetrubel zu Buche, etwa 650 Millionen US-Dollar. Das war mehr, als der Staat im Fünfjah-resplan für den Wiederaufbau Sta-lingrads bereitstellte.An exponierten Standorten rund um die Innenstadt gelegen, wie Ecktürme einer Burgmauer, er-innern die neoklassizistischen Monumentalbauten selbst an Bur-gen. Die „Schwestern“ ähneln sich mit ihrem jeweils hohen, sich nach Art aztekischer Pyramiden in Stu-fen verjüngenden Mittelturm und mehr oder weniger verschachtel-ten Seitenflügeln. Der Grundriss variiert, wie auch das opulente Dekor an Zinnen, Figuren und Reliefs – die reinste Zitatensamm-lung mit Anleihen von Renais-sance und Barock bis hin zu alt-russischer Kirchenkunst. Nicht zu verleugnen ist die Ähn-lichkeit mit amerikanischen Vorläufern wie dem New Yorker

willkommen im Burgenland

architektur die „sieben schwestern“ Moskaus symbolisierten den Wiederaufbau und zeichnen heute die stadt ausMunicipal Building von 1914. Diese Tatsache war ideologisch problematisch und verlangte nach einer Erklärung: Man hätte die kapitalistischen Kommerztempel zwar studiert, aber nur, um sie weiterzuentwickeln. In Manhat-tan diktierten die Grundstücks-preise ihre Form: Viele Räume ver-fügten nicht über Tageslicht, ihre Fenster gingen auf finstere Hin-terhöfe hinaus. Dem sozialisti-schen Sowjetmenschen, der im Mittelpunkt allen Bauens stehe, sei so etwas nicht zuzumuten.

neues leben in alten MauernDie „sieben Schwestern“ zehren heute oft von ihrem früheren Glanz. In der Lomonossow-Uni-versität sei nur das Zentralgebäu-de noch „grandios“, erzählt Jura-student Pjotr. Die Wohnheime in den Seitenflügeln seien jedoch „ziemlich ramponiert“. Die Zim-merchen von sieben Quadratme-tern, insgesant 6000, strahlten alten Sozialismus-Charme aus: „Dort hat sich seit der Eröffnung 1953 nichts getan.“ In der Moder-ne angekommen sind dagegen die beiden Hotels. Das 1954 eröffne-te Leningradskaja wurde 2006 bis 2009 von Grund auf saniert und steht heute als Fünf-Sterne-Haus unter Verwaltung der Hilton-Gruppe. Das Ukraina, 1957 am Moskwa-Ufer eingeweiht, heißt seit 2010 nach dreijähriger Reno-vierung Radisson Royal Hotel und wurde soeben zum zweiten Mal in Folge zu „Russlands führen-dem Luxushotel“ gekürt.

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kommunistischen Himmelreichs auf Erden, das irgendwann kom-men musste, war der realsozialis-tische Alltag auch noch so grau. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trug Josef Stalin in Moskau ganz dick auf: Der Sow-jetdiktator wollte nach innen und außen das Selbstbewusstsein der Siegernation demonstrieren. An-fang 1947 beschloss der Minister-rat den Bau von acht „Vielgeschos-sern“. Am 7. September, zum 800. Stadtgeburtstag, war Punkt 13 Uhr Grundsteinlegung. Die „Viel-geschosser“ wurden als „Zucker-

bäckerbauten“ bekannt und die „sieben Schwestern“ genannt, ein achtes Gebäude wurde nicht realisiert. Längst sind sie ein Wahrzeichen Moskaus: die Lomonossow-Uni-versität auf den Sperlingsbergen, mit ihren 240 Metern erst 1990 vom Frankfurter Messeturm als höchstes Gebäude Europas abge-löst, das Außen- und Transport-ministerium, zwei Wohnanlagen sowie die Hotels Ukraina und Leningradskaja.Die Oberaufsicht über die Bauar-beiten hatte Lawrenti Beria, der

allein die lomonossow-universität kostete 2,6 Milliarden rubel - mehr als der Wiederaufbau stalingrads.

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eine Beilage der russischen tageszeitung rossijskaja gaseta, MoskauMeinung

Russland Heute: Die deutsche Ausgabe von Russland Heute erscheint als Beilage in der Süddeutschen Zeitung. Für den Inhalt ist ausschließlich die Redaktion der tageszeitung Rossijskaja Gaseta, Moskau, verantwortlich. Verlag: Rossijskaja Gaseta, ul. Prawdy 24 Str. 4, 125993 Moskau, Russische Föderation tel. +7 495 775-3114 fax +7 495 988-9213 e-mail [email protected]

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wir autoren rufen in die wüste

der russische Schriftsteller hat ein ambivalentes Ver-hältnis zur Staatsmacht.

Das geht bereits auf Alexander Puschkin zurück, der innerhalb weniger Tage Gedichte mit kon-trären politischen Ausrichtungen verfasste.Zunächst schrieb er an die nach Sibirien verbannten Dekabristen: „Die starken Fesseln geh’n ent-zwei, die Kerker stürzen, an den Toren seid ihr zur Freiheit neu geboren.“ Bald darauf räsonierte er staatsmännisch über das Schicksal dieser Aufrührer: „Auf Gutes hoffend und auf Ruhm, schau ohne Angst ich in die Zu-kunft: Die Anfangszeit von Peters Tun hat auch ein Aufstand einst verdunkelt.“ Der Sinn der Vers-zeilen ist schlicht: Nun ja, ein paar Offiziere und Poeten sind aufge-hängt worden, die übrigen Unru-hestifter nach Sibirien verfrach-tet. Aber unter Peter dem Großen hat es Schlimmeres gegeben. Hundert Jahre später schrieb Ossip Mandelstam, die Macht sei „so widerwärtig wie die Hände eines Barbiers“. Aber es verging nicht viel Zeit, bis er schwor: Wer immer ihn von seinem Jahrhun-dert loszureißen versuche, werde sich das Genick brechen.Der russische Schriftsteller ist häufig Anhänger des Staates und Revolutionär zugleich. „Revoluti-onär“ meint im weitesten Sinne die höchste Freiheit des Geistes. In diesem Sinne erscheint der Lebensweg des „großen proleta-rischen Schriftstellers“ Maxim Gorki nicht paradox, sondern ge-

radezu traditionell. Erst diente er sich in Wort und Tat der bolsche-wistischen Revolution an, um die Monarchie zu stürzen, und dien-te danach treu dem neuen Cäsa-rentum. Fjodor Dostojewski wäre einstmals beinahe als Rebell hin-gerichtet worden, ging dann jedoch als Monarchist und Kon-servativer in die Geschichte ein.

Schauen Sie sich die Granden der russischen Literatur einmal ge-nauer an: Sie werden in einer Per-son einen Kämpfer gegen und für die Staatsmacht finden. Das gilt für Gogol, Tolstoi, Tschechow und Jessenin, für Pasternak oder Sol-schenizyn, ja sogar für Brodski. Es wäre eine sträfliche Simplifi-zierung, das Leben eines sowje-tischen Schriftstellers auf den vehementen Kampf gegen die Sowjetmacht zu reduzieren. Eben-so falsch lagen die sowjetischen Literaturwissenschaftler bei der Deutung der Klassiker des 19. Jahrhunderts, die hinter jeder Zeile Lermontows oder Turgen-jews Hass auf den Zaren und seine Satrapen zu erkennen glaubten.

am letzten Oktobersonntag werden in Deutschland wie überall in der EU die Uhren

von der Sommerzeit auf die im Winter geltende Normalzeit zu-rückgestellt. Nur für Russland bleibt die Zeit stehen. Denn in die-sem Frühjahr hat Präsident Dmit-ri Medwedjew entschieden, dass die Russische Föderation nicht mehr mitzieht, und hat den Wech-sel von Sommer- und Winterzeit abgeschafft.Medwedjews grundsätzliche Ent-scheidung ist vollkommen richtig: Die ganze Idee, die Uhren um eine Stunde im Frühling vorzustellen, um sie dann im Herbst wieder zu-rückzudrehen, ist unsinnig. Die Begründung, dadurch Energie ein-zusparen, hat sich schon seit Lan-

entscheidung in die falsche richtung

sachar Prilepin

SchriftSteller

ingoMannteufel

JournaliSt

gem als falsch erwiesen. Das deut-sche Bundesumweltamt hat be-rechnet, dass die Stromeinsparung für Beleuchtung durch den Mehr-verbrauch an Heizenergie mehr als ausgeglichen werde, weil durch die geänderten Zeiten die Haupt-heizzeit ebenfalls vorverlegt wurde. Zudem sind die verwal-tungstechnischen Kosten für die zweimalige Zeitumstellung im Jahr zu berücksichtigen. Auch die negativen Auswirkungen auf die chronobiologischen Prozesse bei vielen Menschen, die Mediziner festgestellt haben, darf man nicht unterschätzen. Der willkürliche Eingriff in die Zeit rechnet sich also nicht – weder ökologisch noch finanziell.Doch auch wenn Medwedjews Ver-fügung im Kern richtig ist, so hat er Russland damit einen Bären-dienst erwiesen. Denn nun steht die Russische Föderation in Sa-

Schreib, was du willst: über die Staatsmacht, die heimat, die Zukunft. Die Mächtigen scheren sich keinen Deut darum.

chen Uhrzeit gegenüber Europa als eigenartiger Sonderling dar, ist eine Zeitinsel, abgekoppelt vom europäischen Gleichklang. An-statt die Chance genutzt zu haben, in Europa für ein Aussetzen der Zeitumstellung zu werben und dann in einigen Jahren vielleicht gemeinsam diesen Unsinn abzu-schaffen, hat Medwedjew sich für einen russischen Alleingang entschieden. Und was sich noch ungünstiger auswirken dürfte: Er hat die Ende März 2011 begonne-ne russische Sommerzeit zur ewi-gen Normalzeit erklärt. Das hat zur Folge, dass Moskau nun wäh-rend der europäischen Winterzeit nicht mehr zwei, sondern drei Stunden Zeitunterschied zu Ber-lin aufweist. Erst im Frühjahr 2012, wenn Europa zur Sommer-zeit übergeht, wird die Differenz zu Moskau wieder nur zwei Stun-den betragen.

Mit seiner Entscheidung hat der sonst so glühende Modernisierer und Europäer Medwedjew Russ-land also von Europa „zeitlich“ entfernt. Und zwar mit ganz prak-tischen Folgen für den Alltag. Für den kommerziellen sowie kultu-rellen Austausch zwischen Russ-land und Mitteleuropa, vor allem Deutschland, ist es absolut kon-traproduktiv, dass die Zeitdiffe-renz künftig für ein halbes Jahr noch größer wird: Wenn der deut-sche Manager um neun Uhr in sein Berliner Büro kommt, dann ist es für den russischen Kollegen in Moskau oder Sankt Petersburg schon zwölf Uhr und der Vormit-tag fast vorbei. Und wenn dem deutschen Kollegen am späten Nachmittag noch etwas einfällt, kann es sein, dass sein russischer Kollege schon seinen Arbeitstag beendet hat und auf dem Weg nach Hause ist.

Sinnvoll ist eine Zeitumstellung in diese Richtung also nicht. Es wäre auch das genau umgekehr-te Szenario denkbar gewesen. Medwedjew hätte im Oktober 2011 von der Sommerzeit auf die Win-terzeit umstellen können und im Frühjahr 2012 den europäischen Unsinn mit der Sommerzeit nicht mitzumachen brauchen. Damit wäre Russland im nächsten Som-mer auf eine Stunde Zeitdifferenz an Europa herangerückt, was die Kommunikation zwischen den Ländern für alle erheblich erleich-tert hätte. Und er hätte nicht nur praktisch, sondern auch symbo-lisch ein gutes Signal für die rus-sisch-europäische Partnerschaft gesetzt.

Ingo Mannteufel ist Russland-experte und Leiter der russi-schen Redaktion der Deutschen Welle.

In zweihundert Jahren weltlicher Literaturgeschichte standen russische Schriftsteller und Mäch-tige stets in einem Verhältnis wechselseitiger Anziehung und Abstoßung. Sie redeten miteinan-der, und das auf Augenhöhe, selbst wenn die Repräsentanten der einen Seite die der anderen ver-nichteten. Erst in den letzten ein-einhalb Jahrzehnten begann sich dieser Status zu verändern. Und ich weiß nicht, ob zum Guten oder zum Schlechten. Die Staatsmacht nimmt die Lite-ratur – und die Kunst insgesamt – nicht mehr als etwas wahr, das den Sinn des Daseins prägt und im Kontext der Machtausübung reale Bedeutung besitzt. Zar Nikolai I. gerierte sich noch als persönlicher Zensor Pusch-kins. Stalin versah die Werke Platonows mit der Randnotiz „Ha-lunke!“. Michail Gorbatschow wusste den Wert des Wortes zu schätzen und suchte aufrichtig die Nähe bald des einen, bald des an-deren „Geistesgebieters“.Dass nun Dmitri Medwedjew den Wunsch verspüren könnte, zwar nicht als Zensor, aber doch als auf-merksamer Leser und Gesprächs-partner von Dmitri Bykow oder Wiktor Pelewin zu agieren, kann ich mir nicht vorstellen. Ebenso wenig, dass Wladimir Putin ein Buch von Eduard Limonow oder Wladimir Sorokin aufschlüge und an den Rand schriebe: „Halun-ke!“. Und dass Medwedjew und Putin den persönlichen Kontakt zu einem Stanislaw Kunjajew su-chen könnten, ist ganz und gar undenkbar. Ich kenne keinen einzigen Grund, weshalb Präsident und Premier schöngeistige Bücher in die Hand

nehmen sollten. Medwedjew wirkt souverän mit seinem modernen technischen Spielzeug, Putin ist sehr fotogen beim Skifahren oder am Steuer eines Flugzeugs. Beide zusammen geben ein gelungenes Bild ab in einer Sportbar, wo sie die Übertragung eines Fußball-spiels verfolgen und sich dazu ein Bierchen gönnen.Ein russischer Schriftsteller hat wohl nie so ruhig gelebt wie heute. Er braucht keine Angst zu haben, lautstark beschimpft, mit den Füßen getreten oder für ein ket-zerisches Werk aufgehängt zu werden. Hier gibt es die Staats-macht, dort gibt es die Schrift-steller. Sie leben separat. Die seltenen, pflichtschuldigen Begeg-nungen verströmen meilenweit den Ruch von Sinnlosigkeit. Nun ja, Boris Akunin und Ljud-mila Ulitzkaja machen sich für Michail Chodorkowski stark. Doch, doch, da erinnerten kurz vor dem letzten Neujahr zwei Rocklegenden in einem Brief daran, dass der Oligarch nicht ein zweites Mal für etwas verurteilt werden könne, wofür er bereits seine Strafe verbüßt habe. Immerhin herrscht bei uns De-mokratie. Willst du etwas schrei-ben, schreib es ruhig. Willst du dich für jemanden einsetzen, dann tu es. Sagen kannst du alles. Über dich, die Heimat, die Zukunft, die Staatsmacht. Diese Demokratie hat nur einen einzigen Makel. Die Mächtigen scheren sich keinen Deut darum.

Der Autor Sachar Prilepin wen-det sich mit scharfer Zunge ge-gen das Regime. Voraussichtlich im Frühjahr 2012 erscheint sein Roman „Sanka“ auf Deutsch.

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAU Feuilleton

empfiehltKULTUR-KALENDER

PREISGERD-BUCERIUS-FÖRDERPREISE FREIE PRESSE OSTEUROPASBIS 24. OKTOBER

Noch bis zum 24. Oktober können interessierte Journalisten Zeitungen oder Kollegen für die Förderpreise vorschlagen, die jährlich von der ZEIT-Stiftung vergeben werden.

zeit-stiftung.de/home/index.php?id=126 ›

KLASSIKVALERY GERGIEV DIRIGIERT PETER TSCHAIKOWSKY28. BIS 30. OKTOBER, FESTSPIELHAUS BADEN-BADEN

Gergiev dirigiert an drei Abenden zu-sammen mit dem Orchester des Mari-insky-Theaters und renommierten So-listen wichtige Werke Tschaikowskys.

festspielhaus.de ›

WISSENSCHAFTLOMONOSSOW-TAGE29. BIS 30. OKTOBER, VORTRAGSSAAL DER BIBLIOTHEK IM GASTEIG, MÜNCHEN

Vor 300 Jahren wurde Michail Lomo-nossow geboren. Filme und Vorträge deutscher und russischer Wissen-schaftler erzählen über den Begrün-der der ersten russischen Universität.

mir-ev.de; www.gasteig.de ›

ERFAHREN SIE MEHR ÜBER RUSSISCHE KULTUR AUFRUSSLAND-HEUTE.DE

PETER CLAUSFÜR RUSSLAND HEUTE

Über den Zweiten Weltkrieg schien im Kino schon alles erzählt, ein deutsch-russisch-ukrainischer Film überrascht nun mit einer höchst ungewöhnlichen Perspektive.

Die Uraufführung des Films von Achim von Borries im August auf dem Filmfestival von Locarno löste heftige Diskussionen aus. Die Kritiker stritten. Das Publikum auf der Piazza Grande, wo den Film an die achttausend Zuschau-er sahen, reagierte hingegen einhellig mit Zustimmung, Ergrif-fenheit und Beifall.„4 Tage im Mai“ spielt im gleich-sam leeren Raum-Zeit-Gefüge zwischen Noch-Krieg und Noch-nicht-Frieden auf einer Insel vor der deutschen Ostseeküste. Es ist Anfang Mai 1945. Acht Männer der sowjetischen Armee besetzen ein Waisenhaus. Eine couragier-te Exilrussin (Gertrud Roll), nach der Oktoberrevolution hierher ge-flohen, hat das Heft fest in der Hand. Sie kennt nur ein Ziel: Die ihr anvertrauten Kinder müssen überleben. Die Situation spitzt sich zu, als rund einhundert Soldaten der Deutschen Wehrmacht von der Insel nach Dänemark � iehen wol-len, weg von der Roten Armee zu den Engländern, bei denen sie auf eine schonendere Behandlung hoffen.

Front zwischen Gut und BöseZwischen den feindlichen Trup-penresten fürchten die Mädchen des Waisenhauses um ihr Über-leben. Nur ein Junge ist dabei: Den dreizehnjährigen Peter (Pavel

Nachricht aus dem Niemandsland Kino Der Spielfilm „4 Tage im Mai“ überrascht – für manche ist er gar ein großer Schritt in Richtung Versöhnung

saß lange Zeit in Militärhaft. Das wird nur angedeutet, doch es prägt sich dem Zuschauer unmittelbar ein und macht die tiefe Humani-tät des Hauptmanns glaubwürdig. Da steht ein Mensch, kein Uni-formträger, kein Ideologe. In sei-ner Figur haben Drehbuch, Regie und Darstellung Hervorragendes geleistet, ohne in Sentimentalität und Klischees abzugleiten. Viele bekannte Klassiker des An-tikriegs� lms kommen einem in den Sinn: „Die Brücke“, „Die Kra-niche ziehen“, „Komm und sieh“, „Das alte Gewehr“. Sie alle ent-larvten auf unterschiedliche Weise ideologischen Pathos und die Greuel des Zweiten Weltkriegs. Woran liegt es, dass „4 Tage im Mai“ deren überwältigende Emo-tionalität und Stringenz nicht durchgängig umsetzen kann? An Simplem: Der Einsatz von illus-trierender Musik ist an manchen Stellen geradezu störend. Es stellt sich der Verdacht ein, dass die Ge-fühle der Zuschauer über den Soundtrack manipuliert werden sollen. Als hätte Achim von Bor-ries nicht genug Vertrauen in die Kraft der Bilder und Dialoge gesetzt.

Über seine Bilder und Dialoge ent-faltet sich jedoch die ganze Wir-kung des Films. Der Wahn des Krieges wird in den zerschunde-nen Gesichtern der Soldaten, in den alten Augen des Jungen, in der von erduldetem Leid gepräg-ten Körpersprache der Frauen auf erschütternde Art deutlich. Eine Besonderheit von „4 Tage im Mai“ ist seine Besetzungslis-te: Die deutschen Soldaten wer-den von deutschen Schauspielern gespielt, die russischen von rus-sischen. So konsequent gab es das noch nie in einem Film dieses Genres. Aleksei Guskov erzähl-te denn auch in Locarno, dass diese Art des Castings für ihn und seine Landsleute geradezu befreiend gewirkt habe. Einer sei-ner russischen Kollegen, Jahr-zehnte nach der Zeit der Film-handlung geboren, ergänzte: „Für mich ist durch die Dreharbeiten der Krieg zwischen dem deut-schen und meinem Volk erst jetzt wirklich beendet.“ Das klingt in deutschen Ohren pathetisch. Wer einmal in Russland war, weiß, dass die Wunden nach wie vor nicht verheilt sind. Insofern ist der Film brandaktuell.

Wenzel) haben die Schrecken der vorausgegangenen Kriegsjahre früh reifen lassen. Er ist kein Kind mehr, aber auch kein Mann. Doch der Junge fühlt sich als Patriot. Geprägt von der Nazipropagan-da sieht er in den Russen nur den Feind, den es zu bekämpfen gilt. Bei dem Versuch gerät er zwischen die Fronten und muss erkennen, dass es nicht um Deutsche und Russen geht, sondern, ganz grund-sätzlich, um Gut und Böse.Drehbuchmitautor und Regisseur Achim von Borries bedient keine der üblichen Antikriegs� lmmus-ter. Seine Inszenierung ist kam-merspielartig, dabei effektsicher auf der Klaviatur der Dramatik spielend. Indem er weitgehend auf Pathos und Kampfhandlungen verzichtet, gelingt es ihm, die Ab-surdität allen Mordens im Namen einer Ideologie bloßzustellen. Konzentriert auf das scheinbar Kleine, wird die große Welt ab-gebildet. Wobei um der Spannung willen nicht verraten sei, welchen unerhörten Verlauf die Geschich-te nimmt. Nur so viel: Eindrucks-voll, geradezu brutal, wird wie-der einmal deutlich, dass eine kategorische Einteilung in Gut und Böse nicht möglich ist.

Echte Gefühle, wenig Pathos„4 Tage im Mai“ verfolgt konse-quent die emotionalen Wandlun-gen seiner Figuren. Jeder muss auf seine Art durch die Hölle gehen. Peter allen voran. Sein Gegenüber, ein Hauptmann der Roten Armee (Aleksei Guskov), hat die Hölle längst hinter sich. Der Krieg hat ihm den Sohn genommen. Er selbst, weil er einmal gegen einen Befehl auf Vernunft gesetzt hat,

Herr Guskow, wie würden Sie die Rol-le des Hauptmanns beschreiben, den Sie in „4 Tage im Mai“ spielen?Er hat im Krieg seine ganze Familie ver-loren und ist dennoch bereit, sein eige-nes Leben zu opfern, um die deutschen Kinder zu retten.Worin unterscheidet sich der Film von anderen Kriegsfilmen?Der Film handelt nicht vom Krieg, son-dern von Menschen, die in den letzten Kriegstagen zu menschlichen Werten zurückkehren, die wieder Ehemänner, Väter und Brüder werden und ihr Leben riskieren, um andere zu schützen.Der Zweite Weltkrieg hat für Russ-land und Deutschland eine besonde-re Bedeutung. Aber früher gab es wenig Verständigung. Warum?Deutsche und Russen sehen diesen Krieg unterschiedlich. Für die Deutschen ist er wie eine Geschichtsstunde, Vergangen-heit. Für die Russen ist er noch sehr le-bendig, ist eng verbunden mit dem Stolz auf das eigene Land, mit den sehr emoti-onalen Feiern zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai. Deshalb ist es schwierig, zu dem Thema ein gemeinsames Projekt zu ma-chen und nicht die Veteranen zu beleidi-gen oder diejenigen, in deren Familien Menschen gestorben sind. Einerseits darf man nicht die historische Wahrheit ver-fälschen, andererseits wollten wir aber zeigen, dass wir alle Menschen sind, dass Russen und Deutsche Fehler machen und sich irren, aber dass wir trotz allem die gleichen Werte vertreten.Wie lief die Zusammenarbeit zwi-schen russischen und deutschen Schauspielern?Unser Film ist nicht nur auf finanzieller Ebene eine Koproduktion, sondern auch auf künstlerischer. Bei den Dreharbeiten war es sehr interessant, Meinungen auszutauschen und die unterschiedli-chen Sichtweisen auf die Protagonisten zu diskutieren. Und es gab sehr viele Diskussionen. Aber es waren besondere Momente, wenn sich aus diesen ge-meinsamen Überlegungen am Ende eine Lösung herauskristallisierte. Werden sich die Reaktionen auf den Film in Russland und Deutschland unterscheiden?Der Film wurde schon auf dem Film-festival von Locarno und auf dem Festival „Fenster nach Europa“ im russischen Wyborg gezeigt. Die Zu-schauer reagierten ähnlich. Sie waren sehr berührt und lachen an denselben Stellen – und verstummen auch an denselben Stellen.

INTERVIEW

„Für uns ist der Krieg lebendig“

Zunächst empfindet Peter (Pawel Wenzel) für Hauptmann Kalmykow (Alexej Guskow) nur Hass, der jedoch bald in Sympathie umschlägt.

4 Tage im MaiKinostart: 29. September 2011Regie, Drehbuch: Achim von BorriesProduzent: Stefan Arndt

Darsteller: Pavel Wenzel, Alexej Guskow, Grigory Dobrygin, Angelina Häntsch, Gertrud Roll, Alexander Held, Martin Brambach, Sergey Legostaev,Merab Ninidze

www.4tageimmai.x-verleih.de

Alexei Guskow, Darsteller des Haupt-manns Kalmykow über „4 Tage im Mai“.Von Anastasia Gorokhova

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EINE BEILAGE DER RUSSISCHEN TAGESZEITUNG ROSSIJSKAJA GASETA, MOSKAUPorträt

ANASTASIA GOROKHOVARUSSLAND HEUTE

Er erzählt von der Straße, von einfachen Soldaten und Mähdrescherfahrern. Mit wahren Geschichten hat sich Igor Rasterjajew in die Her-zen der Russen gesungen.

Das größte Open Air Russlands, unweit von Moskau. Knapp 170 000 Besucher huldigen verschiedenen Rockgrößen, allesamt lebende Legenden, die mehrere Generati-onen geprägt haben. Dann kommt Igor: schwarzes Shirt, schwarze Jeans, Turnschu-he, zerzaustes Haar. Er setzt sich vor das Mikro und beginnt zu sin-gen. Seine einzige Begleitung: eine rote „Tschaika“-Ziehharmonika, die er virtuos beherrscht. Ein sug-gestiver Song folgt auf den nächs-ten: „Kosakenlied“, „Der Russi-sche Weg“, „Kamille“ und der Superhit „Kombajnjory“ (Mäh-drescherfahrer) – die Festivalbe-sucher können ihn mitsingen.Der junge Mann auf der Bühne hält kurz inne und sieht auf das Publikum. Zehntausende jubeln. Ihm stockt der Atem, er lacht schüchtern, bedankt sich. Igor Rasterjajew, der YouTube-Star mit Harmonika, ist überwältigt.

Zwischen Stadt und DorfSieht man seine Videos im Netz, könnte man meinen, Igor fahre tagtäglich mit dem Traktor über die weiten Kornfelder Südruss-lands, kippe gläserweise Selbst-gebrannten, um dann zu seiner Harmonika zu greifen und Lie-der über den Alltag auf dem Land oder den Großen Vaterländischen Krieg zu singen. Auf seinen per Mobiltelefon aufgenommenen Clips sieht man Dorfbewohner bei der Arbeit, wogende Felder oder Schnee, so weit das Auge reicht. Und ihn mittendrin. Um das Kli-schee perfekt zu machen, fehlte nur noch die „Schapka-Uschan-ka“ – die Pelzmütze. Doch ganz so einfach lässt sich die Geschich-te Rasterjajews nicht erzählen. Er singt zwar über das Dorfleben, hält sich aber nur saisonweise auf dem Land auf. Eine „doppelte Staatsbürgerschaft“ hat er, wie er sagt. Igor Rasterjajew stammt aus einer Sankt Petersburger Künstlerfa-milie und lebt heute in einer typischen Platte. Er ist gelernter Schauspieler und arbeitet seit acht Jahren in einem Musik- und Dra-mentheater. Davor spielte er für Kinder, und da meistens das Kro-kodil. „Am Anfang jeder Vorstel-lung musste ich erklären, was ich überhaupt darstelle“, erinnert er sich lachend. Auch heute über-nimmt er keine Titelrollen, son-

Sing wie du lebst, leb wie du singstMusik Igor Rasterjajew rührt die russische Seele mit Musikvideos über YouTube. Eine realmusikalische Begegnung

Igor Rasterjajew wird 1980 in Sankt Petersburg geboren. 2002 absolviert der damals 22-Jährige in derselben Stadt die Theaterhochschule und ar-beitet danach als Schauspieler beim Theater Buff. 2004 kommen seine „Wolgograder Gesichter“ heraus, 2006 erhält er einen überregionalen Schauspielpreis für „originelle Neben-rollen“. 2009 erfolgt sein Durchbruch in der Musik: Er schreibt den Song „Kombajnjory“ – Mähdrescherfahrer – und wird über YouTube damit in der gesamten Russischen Föderation be-kannt. Im Februar 2011 präsentiert Igor Rasterjajew sein erstes Album „Der Russische Weg“, einige Monate später wird ihm der Musikpreis „Step-penwolf“ verliehen. Seine mit dem Handy aufgenommenen YouTube-Vi-deos erreichten im Sommer 2011 über neun Millionen Klicks.

Igor Rasterjajew

KURZVITA

GEBURTSORT: ST. PETERSBURG

GEBURTSJAHR: 1980

BERUF: VOLKSSÄNGER

YouTube, seinen Erfolg, den er selbst nicht versteht.Die plötzliche Berühmtheit ist ihm fast peinlich. Mit der Veröf-fentlichung seines Erfolgssongs über die Wolgograder Mähdre-scherfahrer hatte er nichts zu tun. „Das ist ein altes Lied, ich habe es schon 2009 geschrieben, alle meine Freunde kannten es längst.“ Einer von ihnen nahm den Song mit dem Handy auf und stellte das Ganze online. Man sieht einen wie immer leicht zerknit-terten Igor in der Küche, im Hin-tergrund eine Flasche Sonnen-blumenöl. „Weit weg von den gro-ßen Städten, wo es keine teuren Läden gibt, dort leben andere Menschen, über die man sonst nicht singt. – Man zeigt sie in kei-ner Soap, denn sie passen nicht ins Bild. – Auch das Internet schreibt nicht über sie, es ist so, als gäbe es sie nicht“, singt er. Von seiner Ehrlichkeit könnten sich manche Stars etwas ab-schneiden, meinen seine Fans. „Du schreibst, wie du lebst, und lebst wie du schreibst“, kommen-tieren sie auf seiner Homepage.

Was ist Patriotismus?Er selbst sagt: „Ich mache doch einfach nur das, was ich kann. Ich schreibe über das, was ich sehe.“ Patriotisch ist seine Erscheinung, ebenso wie die Texte seiner Lie-der. Doch er behauptet, er könne mit dem Begriff „Patriotismus“ nichts anfangen. „Obwohl“, meint er dann nachdenklich, „diesen Sommer bin ich auf dem Motor-rad über die Felder gefahren. Sie gehörten meinen Vorfahren. Frü-her war dort ein ganzes Dorf – Rasterjajewo. Heute sind das verfallene Häuser, verarmte Men-schen, verlassene Felder, als ob eine Horde Barbaren durchgezo-gen wäre. Als ich das sah, musste ich weinen. Vielleicht ist das Patriotismus?“ „Der Russische Weg“, sein Lied über den Großen Vaterländischen Krieg, steht in den Radiocharts auf Platz eins. An ein Musiklabel binden will sich Igor Rasterjajew dennoch nicht. Seine Freiheit ist ihm mehr wert als Geld und Er-folg. Als der Chef des staatlichen Jugendkommitees ihm einen pro-fessionellen Videoclip über die „Mähdrescherfahrer“ anbot, wil-ligte er erst ein und schickte das Filmteam später zum Teufel. „Das Musikarrangement hat sich über-haupt nicht nach mir angehört“, sagt er. „Ich bin nur dann krea-tiv und lebensfähig, wenn ich an nichts gebunden bin. Ich muss Ge-gensätze spüren, Unsicherheit und Chaos. Als ob das Eis, auf dem ich � sche, einen ganz leichten Riss bekommt.“

Erst lernte Igor Rasterjajew Gitarre. Dann kam er zum ureigensten russischen Instrument: der „Tschaika“-Zieharmonika.

nen Ort Konzerte, immer auf einem der fünfzehn Höfe, in denen zum Großteil seine Verwandt-schaft lebt. Früher war es die Gitarre, auf der er Rockklassiker zum Besten gab, mit 18 brachte ihm ein Kommili-tone von der Theaterschule das Harmonikaspiel bei. „Das ist unser eigentliches Instrument, nicht die Balalaika, wie man häu-fig im Ausland denkt“, erklärt Igor, bevor er seine mittlerweile aus fünf verschiedenen Harmo-nikas bestehende Sammlung genau beschreibt. Nie hat er eine Musikschule von innen gesehen. „Was ist schon dabei, ist doch ein-fach“, sagt er achselzuckend.Aus seinen alljährlichen Sommer-ferien brachte Igor Geschichten mit, die er nach und nach ausfor-mulierte. Eigentlich wollte er ja keine Lieder, sondern Bücher schreiben. Sein erstes veröffent-lichte er 2004, „Wolgograder Gesichter“ hieß es: Kurzgeschich-

ten, begleitet von seinen Zeich-nungen der Menschen, die darin vorkamen. An der Fortsetzung arbeitet er seit sieben Jahren. „Langsam müsste ich es mal beenden“, sagt er nach-denklich und nippt an seinem „Sbiten“ – einem meist alkohol-freien Heißgetränk aus Honig und Gewürzen. Apropos Alkohol: Igor trinkt keinen – dem ersten Ein-druck zum Trotz –, sogar Nicht-raucher ist er.

Lieder über Menschen, die es nicht gibtDafür singt er in „Kamille“ über den Alkoholtod junger Dorfbe-wohner: „Keine Arbeit, kein Zu-hause, nur das Fläschchen und das Gläschen. Statt Wasja und Roman – Kornblumen und Kamille auf ihren Gräbern.“ Rasterjajew singt über Russland auf eine Art und Weise, wie es lange niemand getan hat. Das erklärt die Millionen Klicks bei

dern „markante Charaktere“, wie er es nennt. „Beatboxer, Alkoho-liker, am besten gelingen mir Sol-daten“, gibt er zu, und seine grü-nen Augen blitzen schelmisch.

Fische fangen und singen Igor Rasterjajew hat trotz seiner äußerlich ruhigen Art ein über-bordendes Temperament. Es könn-te an den kosakischen Wurzeln seines Vaters liegen. Denen hat er es auch zu verdanken, dass er von klein auf jeden Sommer 36 Stun-den mit dem Zug in das Dorf Ra-kowka fuhr, 170 Kilometer von Wolgograd entfernt.Wie in jedem Jahr hat er auch in diesem seinen 31. Geburtstag dort gefeiert. Stolz zeigt er auf dem zerkratzten Display seines Han-dys ein Video, auf dem man ihn sieht, wie er mit braungebrann-tem Oberkörper stolz einen Fisch präsentiert. „Nichts Besonderes, um die vierzig Kilo“, erklärt Igor. Seit Jahren gibt er in dem klei-

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" Im Sommer bin ich über die Felder gefahren. Sie gehörten meinen Vorfahren. Früher war

dort ein ganzes Dorf. Heute sind es verfallene Häuser, verarmte Menschen. Als ich das sah, musste ich weinen.”RASTERJAJEW ÜBER DAS DORF RASTERJAJEWO

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