seelsorge und logotherapie - gle international · 2017. 11. 24. · die psychische dimension...
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Seelsorge und
Logotherapie
Gemeinsamkeiten, Unterschiedeund Grenzen
Abschlussarbeit für die Ausbildung in Logotherapie und existenzanalytischer Beratung und
Begleitung
Marlies GroßHasenkoppel 17
23730 Neustadt (Holst.)
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Die Logotherapie ist die konkrete Anleitung zur Sinnfin-dung und Sinnrealisierung. Ihr Ziel ist die sinnvolle Exis-tenz.
Der Hörende ist der Gebende und der Sprechende empfängt. Das Wort, das „Fleisch geworden ist“, scheint durch die Person des Seelsorgers hindurch.
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AbstractChristliche Seelsorge setzt eine Beziehung zum Menschen und zu Gott voraus.
Beides muss ausgewogen sein. Dazu benötigt der Seelsorger eine Vorgehens-
weise, die ihm hilft mit dem Menschen umzugehen und dabei den Bezug zur
Transzendenz nicht aus den Augen zu verlieren. Die Logotherapie mit ihrem
dreidimensionalen Menschenbild, das dem Menschenbild der Bibel sehr ähnelt,
ist dazu geeignet.
Prerequisite for christian spiritual counselling is a relationship to people and to
God. Both of them has to be well balanced. The spiritual counsellor requires a
method of working which enables him to deal with the person involved without
losing sight of transcendency. Logotherapy is most suitable as it has a three-
dimensional idea of Man which is very similar to the idea of Man found in the
Bible.
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InhaltsverzeichnisVorwort
Einleitung
Hauptteil
1. Das Menschenbild 1.1. Bedeutung für die Therapie1.2. Das Menschenbild Viktor Frankls1.3. Das Menschenbild der Bibel
2. Die Logotherapie 2.1. Was ist Logotherapie?2.2. Woher stammt die Logotherapie?2.3. Wo wird Logotherapie eingesetzt?2.4. Wie wird mit der Logotherapie gearbeitet?2.4.1. Sinnerfassungsmethode2.4.2. Sokratischer Dialog
3. Seelsorge3.1. Seelsorge in der Bibel3.2. Überblick über die Geschichte der Seelsorge3.3. Theologie oder Psychologie3.4. Biblisch-therapeutische Seelsorge3.4.1. Was ist biblisch-therapeutische Seelsorge?3.4.2. Ausgangslage des Menschen, der Seelsorge sucht, und Ziel der Seelsorge3.4.3. Was zeichnet christliche Seelsorge aus?3.4.4. Die Fähigkeiten des Seelsorgers 3.5. Der Unterschied von Seelsorge und Beratung
4. Logotherapie als hilfreiche Beratungsform für die Seelsorge
Schluss Seelsorge, wie ich sie versteheWie sollte der Seelsorger sein?
Literaturverzeichnis
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VorwortVon Kindheit an besuchte ich mit meinen Eltern eine kleine freie Kirchen-
gemeinde. Solange ich mich zurückerinnern kann, saß ich im Gottesdienst und
hörte Predigten zu. Ich erlebte, dass man, wenn Menschen Probleme hatten, mit
ihnen betete und sie segnete und dabei erwartete, dass das als Hilfe ausreicht.
Ich erlebte bei mir und anderen: Das genügt selten. In der Gemeinde lernte ich
einige Menschen kennen, die mit ihren Problemen gar nicht fertig wurden. Für
sie gab es weder eine Institution noch Person, an die sie sich wenden konnten.
Hatten sie Glück, dann trafen sie auf einen Mitchristen, der ihnen zuhörte und
sie nicht mit einem vorgefertigten, vermeintlich frommen Satz abfertigte.
Ich habe eine einschneidende Erinnerung an den Selbstmord einer Pasto-
renfrau, die ich sehr schätzte. Sie litt seit Jahren unter schweren Depressionen,
mit denen in unserer Kirche keiner umgehen konnte. Für mich blieb von diesem
tragischen Geschehen ein schmerzlicher Nachgeschmack und das Empfinden,
hier wurde ein wichtiger Bereich des Lebens ausgeblendet. Für den hätte es
eigentlich Hilfe geben müssen.
Während meiner Pubertät hatte ich, wie andere Jugendliche auch, große
Probleme und hielt sehnsüchtig nach jemandem Ausschau, mit dem ich einmal
über meine Situation „vernünftig“ sprechen konnte. In meiner Not schrieb ich
einem Pastor, den ich für vertrauenswürdig hielt. Er nahm sich Zeit und antwor-
tete mir mit einem ausführlichen Brief, der mich aufbaute und mir sehr half.
Im Alter von 23 Jahren zog ich mit meinem Mann nach Berlin um. Wir
engagierten uns in einer großen, sehr lebendigen freien Gemeinde. Es waren die
siebziger Jahre, die Hippie-Zeit. In unserer Kirche sammelten sich viele Jesus-
People, d.h. junge Menschen, die aus der Gesellschaft ausgestiegen waren. Sie
hatten häufig Erfahrungen mit Drogen und Alkohol. Einige von ihnen lebten
auf der Straße. Sie fingen an, sich mit Gott zu beschäftigen, die Bibel zu lesen
und sie entschieden sich, Christen zu werden. Die jungen Leute hatten viele
schlimme Erfahrungen aufzuarbeiten. Mein Mann und ich kümmerten uns um
eine Gruppe von etwa zehn von ihnen. Dieses „Kümmern“ umfasste alles vom
Haarschneiden bis zur Beratung über den Umgang mit Geld. Darüber hinaus
waren wir stets für ein persönliches Gespräch über ihre Probleme bereit.
Diese Erfahrung hat meine Vorstellung von Seelsorge geprägt. Wir haben
uns einfach um die Menschen gekümmert, aus dem Gefühl heraus, mit der Bibel
in der Hand, ohne weitere Vorbildung. Die Ergebnisse waren überzeugend, die
meisten jungen Leute stabilisierten sich und wurden lebenstauglich. Zu einigen
haben wir bis heute einen engen Kontakt.
Die geschilderten Erfahrungen im seelsorgerlichen Bereich haben in mir
den Wunsch geweckt, Methoden psychotherapeutischer Art zu erlernen, um
besser und effektiver helfen zu können.
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Als ich selbst in einer Lebenskrise steckte, empfahl mir meine Therapeu-
tin, mich mit Viktor Frankl und der Logotherapie zu beschäftigen: „Ich glaube,
das ist etwas für Sie!“
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EinleitungDas Thema »Seelsorge und Logotherapie« wählte ich für diese Ausar-
beitung, weil ich zu dem Thema selbst viele Fragen hatte. Als Seelsorger sollte
ich den ganzen Menschen im Blick haben. Die Überlieferung, hier speziell die
der lutherischen Kirche, verbaut mir das häufig. Aus Tradition entwickelt sich
schnell Gesetzlichkeit und damit werden die Anteile des Menschen ausgegrenzt,
die außerhalb dieser „Gesetze“ liegen. Im Gegensatz dazu lese ich in der Bibel
von Freiheit, von Befreiung aus Sklaverei, von Freude und Begeisterung. In dem
Zusammenhang stelle ich mir oft die Frage: Wie kann ich das in der Seelsorge
vermitteln?
Die Seelsorge selbst besitzt keine wissenschaftliche Methode. Viele Seel-
sorger arbeiten so gut sie können. Was auch bedeuten kann, dass sie es falsch
machen, wenn sie nur Regeln und Gesetze als Rezept parat haben. Es stellt sich
die Frage: Sehe ich als Seelsorger, wenn Leidende in die Seelsorge kommen, den
Menschen und seine Bedürfnisse oder biete ich nur vorgefertigte Antworten?
Wenn ich anstrebe, dass das Leben des Menschen gelingen und er gesunden soll,
setzt es voraus, dass ich mich ihm zuwende und erforsche, was ihm fehlt und
was er braucht. Es gilt, ihn auf seinem Weg zu begleiten. Dazu benötige ich als
Seelsorger ein Gerüst, eine passende Methode, die mir vorgibt: Wie kann ich mit
dem Menschen umgehen, der zu mir kommt und Hilfe erhofft? Wie sieht die
geeignete Form der Beratung aus und wie passt sie zu mir, zu meinen Erfahrun-
gen und dem, was ich weitergeben will?
Um zu erklären, weshalb ich die Logotherapie als Beratungsform für die
Seelsorge wähle, beginne ich mit der Beschreibung des Menschenbildes der Bibel
und der Logotherapie und zeige, wie ähnlich sie sich sind. Ich bin überzeugt,
dass es sich am Menschenbild einer Beratungsform entscheidet, ob sie sich für
die Seelsorge eignet oder nicht. Im darauf folgenden Kapitel beschreibe ich die
Logotherapie, ihre Entstehung und ihre philosophischen Hintergründe. An-
schließend stelle ich die Tradition der Seelsorge dar und schildere meine Vorstel-
lung von Seelsorge. Zum Schluss begründe ich, warum ich die Logotherapie für
die Beratungsform der Wahl im Bereich der Seelsorge halte.
Wegen der sprachlichen Einfachheit und guten Lesbarkeit benutze ich in
meiner Arbeit die männliche Form. Selbstverständlich sind damit auch die Frau-
en gemeint, schließlich bin auch ich eine.
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Hauptteil
1. Das Menschenbild
1.1. Bedeutung für die Therapie
In der heutigen Zeit besitzt der Mensch in Mitteleuropa kein einheitliches
Menschenbild mehr, sondern er kombiniert viele verschiedene Vorstellungen,
die er aus verschiedenen Religionen und Philosophien übernimmt. Ich erwähne
das an dieser Stelle, weil das Menschenbild von Therapeut und Klient möglichst
ähnlich sein sollte, damit zwischen ihnen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut
werden kann.
Um dem Klienten umfassend zu helfen, braucht der Therapeut eine Vor-
stellung von den verschiedenen Seinsweisen des Menschen, zumindest von Soma
und Psyche. Die Achtung der noetischen (geistigen) Dimension ist hilfreich, aber
nicht notwendig für den Erfolg der Therapie. Andererseits haben christliche Kli-
enten oft Bedenken gegenüber einem Therapeuten, von dem sie befürchten, dass
er die noetische Dimension nicht respektiert. Der Therapeut sollte zumindest
Verständnis für das Weltbild des Klienten aufbringen. Alle Therapieschulen ver-
wenden ein spezifisches Menschenbild. Sie definieren, ob und wann ein Mensch
krank ist und beschreiben die möglichen Heilungsansätze. Dazu erklärt Viktor
Frankl: »So ist es denn das Anliegen der Existenzanalyse, das unbewusste, implizite Men-
schenbild der Psychotherapie bewußt zu machen, zu explizieren… Denn das Menschen-
bild des Psychotherapeuten kann unter Umständen ein solches sein, daß es der Neurose des
Patienten geradezu in die Hände arbeitet. Es kann nämlich selber ein durchaus nihilisti-
sches sein.« (Frankl 1999, S. 198) Deshalb ist es wichtig, dass der Therapeut sich
über sein Menschenbild im Klaren ist und es darstellen kann.
1.2. Das Menschenbild Viktor Frankls
Viktor Frankl beschreibt sein Menschenbild, in dem er ein Beispiel aus der
Naturwissenschaft verwendet. Wenn man z.B. drei Körper auf eine Grundfläche
projiziert, sie zweidimensional abbildet, erhält man in dem konkreten Beispiel
jeweils eine Kreisfläche als Abbildung. Man wäre versucht, diese Körper für
identisch zu halten. Berücksichtigt man aber die dritte Dimension, die Höhe, so
stellt sich heraus: Bei einem der Körper handelt es sich um eine Säule, bei dem
zweiten um einen Kegel und bei dem dritten um eine Kugel. Frankl verwen-
det dieses Beispiel dazu, um aufzuzeigen: Die dritte Dimension verändert mein
Verständnis vom Gegenstand völlig. Frankl überträgt dieses Beispiel auf den
Menschen. Sehe ich nur die zwei Dimensionen Körper und Seele und betrachte
ausschließlich ihre Wirkungen und Wechselwirkungen, erhalte ich ein unzurei-
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chendes Bild und ziehe falsche Schlüsse. Der Mensch ist also mehr als Körper
und Seele, er ist auch Geist. Durch diese dritte Dimension stellt er sich völlig
anders dar. Probleme, die im Bereich des Geistes entstehen, z.B. eine existenziel-
le Leere, können nun anders verstanden und behandelt werden. Sieht man den
Menschen nur zweidimensional, gelingt es nicht sie zu verstehen. (Vgl. Frankl
1999, S. 25f)
Die somatische Dimension entspricht dem Körper des Menschen. Er
nimmt seine Umwelt durch die Sinne wahr, kann ertasten und wird berührt. Er
vermag zu erkranken und er reagiert auf seine Umwelt.
Die psychische Dimension entspricht der Seele des Menschen. Sie ist der
Sitz der Emotionen, der Triebe, des Erlebens, des Fühlens und Empfindens, des
instinktiven und konditionalen Reagierens. Die Seele „überwacht“ die leibliche
Verfassung, indem sie Bedürfnisse und Empfindungen zeigt. Sie nimmt Infor-
mationen von innen und außen auf und bildet sie als Gefühle, Stimmungen,
Gewöhnungen, Neigungen und Eigenschaften der Persönlichkeit ab. Sie ist das
Bindeglied zwischen körperlicher und geistiger Dimension. (Vgl. Khienast 2000,
S. 49) Sie kann erkranken und ist eng mit dem Körper verknüpft. Seele und
Körper reagieren miteinander und aufeinander.
Die noetische Dimension entspricht dem Geist des Menschen. Er ist nicht
abhängig von Seele und Körper. Er entscheidet und handelt, er erkrankt nicht.
Die Freiheit des Geistes besteht darin, dass er wählen kann, wie er sich entschei-
det. Diese holistische (ganzheitliche) Sicht findet man heute auch in der Psycho-
therapie: »Neuere humanistische und systemische Ansätze in der Psychologie gehen von
einer Ganzheit des Menschen aus (holistische Sichtweise), zu der neben Körper und Seele
auch die religiöse, die geistliche Dimension des Menschen gerechnet wird.« (Herrendorf
2002, S. 80)
Die noetische Dimension ist mit der Person des Menschen identisch. Das
zeige ich in den folgenden Punkten:
Die Person des Menschen …
• kann existenziell, also in Freiheit und Verantwortung, entscheiden.
• vermag sich mit der Außen- und der Innenwelt auseinanderzusetzen.
• kann sich nach außen öffnen und abgrenzen und so einen Dialog führen.
• ist sinn- und wertorientiert, d.h. sie braucht eine Richtung, auf die sie
hinarbeitet.
• ist über das Gewissen mit der Überwelt (Transzendenz) verbunden.
• ist einmalig, kausalgenetisch nicht von den Eltern abzuleiten, sondern
etwas Neues.
• ist schöpferisch, sie kann, was sie geerbt hat und was sie an Erziehung
und Sozialisation genossen hat, neu gestalten, sodass Unvorhersehbares
entsteht.
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• kann sich distanzieren, sie kann sich mit sich selbst auseinandersetzen.
• kann sich selbst transzendieren, sich mit sich selbst an eine Sache oder
Person hingeben.
• ist potent, frei, kraftvoll.
• ist dynamisch, sie kann sich entwickeln und kann sich selbst ergreifen
und darstellen.
Frankl beschreibt sein Menschenbild nicht in hierarchischen Ebenen,
sondern in Dimensionen, die miteinander verknüpft sind. Die psychische und
die somatische Dimension hängen sehr eng zusammen, Krankheiten der einen
Dimension werden auch in der anderen sichtbar. Beide Dimensionen können na-
turwissenschaftlich erforscht werden. Die noetische Dimension ist nur phänome-
nologisch zu erfassen. Die noetische Dimension ist der Sitz des Gewissens. Dieses
ist ein Teil des geistig Unbewussten, das der tragende Grund aller bewussten
Geistigkeit ist. So erklärt Frankl z.B., dass es nicht nur ein triebhaftes und ein
kollektives Unbewusstes gibt, sondern auch ein geistig Unbewusstes. Der Geist
ist getragen vom Unbewussten. »…wir kennen und anerkennen nicht nur ein trieb-
haft Unbewußtes, sondern auch ein geistig Unbewußtes, und der Logos, … wurzelt im
Unbewußten.« (Frankl 1987, S. 58)
Das Gewissen als Teil dieses Geistes ist ein komplexes Wahrnehmungs-
organ, es ist prälogisch, präreflexiv und prämoralisch. Es erhellt den personalen
Lebensraum des Menschen zwischen Innenwelt, Außenwelt und Biografie und
erspürt, was jeweils zu tun ist. Es integriert Intuition und Vernunft und es ist die
Brücke zur Transzendenz. Frankl schreibt über das Gewissen: »Ist es doch gerade
die Aufgabe des Gewissens, dem Menschen „das Eine, was not tut“, zu erschließen.… Es
geht also um etwas absolut Individuelles, um ein individuelles „Sein-sollen“ – das da-
her auch von keinem generellen Gesetz, von keinem allgemein formulierten „moralischen
Gesetz“ (etwa im Sinne des Kantschen Imperativs) gefaßt werden kann, sondern eben von
einem „individuellen Gesetz“ (Georg Simmel) vorgeschrieben wird; es ist überhaupt nicht
rational erkennbar, sondern eben nur intuitiv erfaßbar.« (Frankl 1999, S. 67f)
1.3. Das Menschenbild der Bibel
Der Mensch ist das Wesen, das den Anruf des Göttlichen versteht. Er be-
sitzt Geist vom göttlichen Geist (s. Schöpfungsgeschichte). Er ist das Geschöpf,
dem von Gott Entscheidungsfreiheit mitgegeben ist (s. Paradies). Deshalb
werden in der Bibel Geist, Seele und Körper angesprochen. »Darum sollst du den
Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.«
(5. Mose 6, 5)1 Dass dieses Bild von den drei Dimensionen des Menschen für
die Juden wichtig ist, wird dadurch deutlich, dass sie das „Höre Israel“, in dem
dieser Satz vorkommt, zweimal am Tag beten.
1 Wenn nicht anders bezeichnet, sind die Bibelzitate aus der Einheitsübersetzung 1980
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Auch im Neuen Testament wird der Mensch in drei Dimensionen gesehen:
»Der Gott des Friedens heilige euch ganz und bewahre euren Geist, eure Seele und euren
Leib unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid, wenn Jesus Christus, unser Herr kommt.« (1.
Thessalonicher 5, 23) Die Bibel sieht und versteht den Menschen als Einheit von
Geist, Seele und Körper. Diese Einheit ist die Grundlage unserer Kultur und
Ethik.
Weiterhin spricht die Bibel vom Herzen (= Gewissen), in dem die Ent-
scheidungen für das Leben fallen. In der Bibel wird das Wesen, der Kern der
menschlichen Person, als das Herz bezeichnet. Im Herzen plant der Mensch und
entscheidet sich. Die Entscheidungen über das eigentliche Leben des Menschen,
das Leben aus Gott, das den ganzen Menschen erfasst, fallen im Herzen. Fol-
gende Bibelstellen belegen das: »Des Menschen Herz plant seinen Weg….« (Sprüche
16,9) »Warum hast du in deinem Herzen beschlossen so etwas zu tun? « (Apostelge-
schichte 5,4b) »… denn dein Herz ist nicht aufrichtig vor Gott.« (Apostelgeschichte
8,21) (Vgl. Rienecker 1985, S. 598)
Bei Blaise Pascal fand ich eine Definition des Begriffes „Herz“, die den
biblischen Begriff gut erklärt. »Das Herz erscheint als Ort des Glaubens, der „fides“,
die im Gegensatz zur „ratio“ der empfängliche Ort göttlicher Gnade und einer sich dieser
Gnade opfernden Hingabe ist.« (Blaise Pascal in: Eduard Zwierlein, S. 17)
Das Herz, bzw. das Gewissen hat seinen Sitz in der geistigen Dimension.
Hier entscheidet der Mensch, wie er sich verhält, bzw. wie er handelt. In dieser
Dimension kann der Mensch sich von sich selbst distanzieren und sein Denken
und Handeln beurteilen. Er kann sich in dieser Dimension transzendieren, d.h.
sich ausrichten auf die Welt um ihn herum und auf Gott.
In dem biblischen, ganzheitlichen Verständnis vom Menschen werden
Körper, Seele und Geist als Aspekte eines einheitlichen Ganzen gesehen. Das
bedeutet zum einen, dass mögliche Störungen immer den ganzen Menschen
angehen und zum anderen, dass es unzulässig ist, die Spiritualität abzukoppeln.
Vor diesem Hintergrund ist dann auch jeder Mensch prinzipiell fähig, die Welt,
die er erlebt, zu transzendieren.
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2. Die Logotherapie
2.1. Was ist Logotherapie?
Logotherapie ist die konkrete Anleitung zur Sinnfindung und Sinnrealisie-
rung. Ihr Ziel ist die sinnvolle Existenz.
Viktor Frankl nennt seine Therapie in den Anfängen „Existenzanalyse
und Logotherapie“. Unter „Existenzanalyse“ versteht man den Fachbegriff für
die Anthropologie, also die theoretische Grundlage. Sie wurde inzwischen von
Alfried Längle zu einer Psychotherapierichtung weiterentwickelt. „Logotherapie“
ist die Umsetzung seiner Anthropologie, die Praxis.
Das griechische Wort „Logos“ lässt sich mit Sinn, Geist, Vernunft und
Wort übersetzen. Im Zusammenhang mit Logotherapie bedeutet Logos „Sinn“
aber auch Geist oder das Geistige (das Noetische). Bei der Logotherapie geht es
um den existenziellen Sinn, das heißt, es gilt, die beste Möglichkeit des Han-
delns, der Einstellung und des Erlebens in der jeweiligen Lebenssituation zu
finden.
Existenz bedeutet Leben, Dasein, in die Welt kommen, im Gegensatz zum
Vegetieren. Während in dem Wort „vegetieren“ steckt, dass das so beschriebene
Wesen, Opfer und hilflos ausgeliefert ist, wird „Existenz“ als aktives, verantwor-
tungsvolles Handeln beschrieben. Existenzanalyse bedeutet also, dabei zu helfen,
sein Leben verantwortungsvoll und mit Zustimmung zu führen.
Die Logotherapie …
• ist eine Therapieform, mit deren Hilfe der Klient seinen Sinn im Leben
finden kann.
• befasst sich mit der Bewusstmachung des Geistigen. Während es in der
Psychoanalyse Freuds um bewusst machen der unbewussten Triebhaftig-
keit geht, zeigt Frankl, dass das Unbewusste viel mehr umfasst. Nicht nur
Böses, Bedrohliches, sondern auch Gutes, für den Menschen Wegweisen-
des, Lebenswichtiges.
• trainiert den Menschen, auf seinen geistigen Bereich zu achten und damit
auch auf seine Person und sein Gewissen, die in diesem Bereich angesie-
delt sind. Das erzeugt verstärkte Verantwortlichkeit und die Fähigkeit zur
Sinnfindung.
• hilft dem Patienten, sein Dasein zu erhellen und die eigenen Möglichkei-
ten zu erfassen.
• ist eine Sinn- und Wertetherapie, die den Menschen als frei und verant-
wortlich betrachtet und ein ganzheitliches Menschenbild vertritt.
• geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich viel mehr ist als seine
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Symptome und Störungen. Für die Behandlung bedarf es dann einer ganz-
heitlichen Therapie, die nicht nur Symptome und Konflikte „repariert“,
sondern sich am ganzen Menschen orientiert.
• gibt den Sinn nicht vor, da es keine allgemein gültige Antwort auf die Fra-
ge nach dem Sinn im Leben gibt, sondern sie hilft konkreten Menschen in
einer konkreten Situation einen konkreten Sinn zu finden. Frankl erklärt,
der Sinn wird nicht erfunden, sondern von dem jeweiligen Menschen für
sich gefunden.
• ist als Ergänzung zur Psychotherapie gedacht. In der Psychotherapie wer-
den lebensbehindernde Probleme bearbeitet und gelöst. Die Logotherapie
sollte sich nach Frankl an die Psychotherapie anschließen, wenn es um die
konkrete Sinnfrage geht. Frankl meint: Es geht dem Menschen nicht um
die Wiederherstellung innerpsychischer Zustände seiner Seele, sondern
darum, einen Sinn zu erfüllen und Werte zu verwirklichen. »Nur in dem
Maße, in dem der Mensch den konkreten und persönlichen Sinn seines Daseins
erfüllt, erfüllt er auch sich selbst.« (Frankl 1997, S. 75)
2.2. Woher stammt die Logotherapie?
Der geistesgeschichtliche Kontext
Die wichtigste philosophische Richtung in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg
ist die Existenzphilosophie. Frankl setzt sich mit bedeutenden Philosophen wie
Max Scheler, Karl Jaspers und Martin Heidegger auseinander. – Es würde den
Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Gedankengänge dieser Philosophen und
ihren Einfluss auf Viktor Frankl darzustellen. – Die Anthropologie Frankls, die
Existenzanalyse, ist aus dem Dialog mit der Existenzphilosophie entstanden.
Das naturwissenschaftliche Umfeld Anfang des 20. Jahrhunderts
Die Naturwissenschaft und die Technik entwickeln sich seit dem19.
Jahrhundert rasant. Es entsteht ein optimistischer Glaube an die unbegrenzte
Machbarkeit der Dinge, die Welt kann nach den Vorstellungen des Menschen
gestaltet werden, die vollkommene Gesellschaft und der perfekte Staat erschei-
nen möglich.
Man versucht die Gesetze der Naturwissenschaften, neu entdeckte und
alte, auf alle möglichen Wissenschaftsbereiche anzuwenden, darunter auch auf
die Geisteswissenschaften. Nur das Tatsächliche, das sinnlich Erfassbare, das
Messbare, wird als sichere Erkenntnisquelle akzeptiert. Sich mit dem Metaphy-
sischen zu befassen, hält man für Zeitverschwendung. Dabei werden komplexe
Sachverhalte auf elementare Prinzipien reduziert. Deshalb spricht man kritisch
von Reduktionismus. Psychisch-geistige Prozesse werden durch messbare physi-
sche Vorgänge zu erklären versucht. Dabei werden neue Einsichten gewonnen,
wie z. B. beim Behaviorismus. Es darf aber nicht außer Acht gelassen werden,
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dass man dann nur einen sehr kleinen, begrenzten Bereich im Blick hat. Wie das
naturwissenschaftliche Beispiel Frankls mit den drei Dimensionen zeigt, kommt
man zu völlig falschen Schlüssen, wenn die eine oder andere Dimension wegge-
lassen wird. Dagegen wendet sich Frankl: »Aber die Gefahr liegt … darin, daß
die Spezialisten – generalisieren. … sie schlagen alles über einen Leisten. Die terribles
généralisateurs aber bleiben nicht einmal bei ihrem Leisten, sondern verallgemeinern ihre
Forschungsergebnisse. Als Neurologe stehe ich dafür ein, daß es durchaus legitim ist, den
Computer als ein Modell zu betrachten, sagen wir für das Zentralnervensystem. Der Fehler
liegt erst in der Behauptung, der Mensch sei nichts als ein computer. Der Mensch ist ein
computer. Aber er ist zugleich unendlich mehr als ein computer.« (Frankl 1982, S. 26f)
Das psychologische Umfeld Frankls
Zu dieser Zeit haben die Gedanken des Reduktionismus ihren Platz und
ihre Wirkung auch in der Psychologie. Der naturwissenschaftliche Reduktionis-
mus bewirkt ein existenzielles Vakuum, und die Psychologie dieser Zeit geht von
diesem reduzierten Menschenbild aus. Im 19. Jahrhundert wird die Seele, die
vorher den Menschen mit der metaphysischen Ebene verbindet, zur Psyche, die
man nur noch im naturalistischen Zusammenhang versteht.
Die Psyche wird in diesem Konzept nur als strukturelle Weiterentwick-
lung und Verfeinerung tierischer Triebe gesehen. Sie ist Sitz der Emotionen und
der Problemlösefähigkeiten. Indem der Mensch sich aus der Natur versteht
und sich nach naturwissenschaftlichen Kategorien beurteilt, geht er an seinem
entscheidenden Wesen vorbei. Die Naturwissenschaft kann das Wesen des Men-
schen nicht erklären. Daraus folgt, der Mensch verliert das Bewusstsein für sein
Wesen.
Diese Einstellung wird von der Psychologie übernommen. Freud und Ad-
ler legen die Grundlagen der Psychotherapie. Sie erhalten neue Einsichten in die
seelischen Zusammenhänge und entwickeln neue Verfahren im Umgang mit der
Psyche. Aber sie haben das Problem, dass sie der reduktionistischen Geisteshal-
tung verhaftet sind, nämlich, dass es eine Art Mechanik der Seele gibt und dass
es nur darum geht, die unbewussten Zusammenhänge zu entlarven. Es geht nur
noch um Demaskierung und das Entlarven neurotischer Motivationen. Dazu er-
klärt V. Frankl: »… wir sind uns dessen bewußt, daß wir Freud nicht mehr und nicht
weniger verdanken, als die Erschließung einer ganzen Dimension des psychischen Seins.«
(Frankl 1982, S. 12) »Auch Freud glaubte, das Wesentliche an der Psychoanalyse seien
Mechanismen wie Verdrängung und Übertragung, während es sich in Wirklichkeit um die
Vermittlung eines tieferen Selbstverständnisses durch eine existentielle Begegnung handel-
te.« (Frankl 1982, S. 13)
Man muss von Freud und Adler ausgehen, wenn weiter gedacht werden
soll. Sie haben die Grundlage erarbeitet. Menschsein bedeutet Bewusstsein
(Freud) und Verantwortlich-sein (Adler). Aber Frankl wendet sich gegen die Re-
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duktion des Menschen auf innerpsychische Mechanismen. Er sagt, Psychoanalyse
und Individualpsychologie seien beide einseitig. »Der Traum eines halben Jahrhun-
derts ist ausgeträumt: der Traum nämlich, der einer Mechanik der Seele und einer Technik
der Seelenheilkunde gegolten hatte….« (Frankl 1999, S. 190f)
Konrad Lorenz schreibt im Vorwort von „Der Mensch vor der Frage nach
dem Sinn“: »Ein echter Massenwahn der heutigen Menschheit besteht in dem Irrglauben,
es habe nur dasjenige reale Existenz, was sich in der Sprache der exakten Naturwissen-
schaften ausdrücken und quantifizierend beweisen läßt. Damit wird die ganze Welt der
Emotionen, werden menschliche Würde und Freiheit kurzum alles, was einen wirklichen
Wert darstellt, für Illusion erklärt.« (Frankl 1999, S. VIII) Dieses Zitat zeigt, dass
manche Wissenschaftler auch am Ende des 20. Jahrhunderts immer noch in der
philosophischen Richtung des Reduktionismus denken.
Weil Frankl zuerst den Menschen und seine Not sieht, lässt er sich nicht
vom Zeitgeist einschränken, sondern entwickelt Wege, die den Menschen wei-
terbringen. »Die Geburtsstunde der Psychotherapie hatte geschlagen, als man daranging,
hinter körperlichen Symptomen die seelischen Ursachen zu sehen, … jetzt aber gilt es noch
einen letzten Schritt zu tun und hinter dem Psychogenen, … den Menschen in seiner geis-
tigen Not zu schauen – um von hier aus zu helfen.« (Frankl 1982, S. 17)
2.3. Wo wird Logotherapie eingesetzt?Die Logotherapie …
• begleitet und hilft bei der Sinnsuche. Sie ist gedacht als Ergänzung zu al-
len Formen von Psychotherapie, aber sie ist auch unabhängig von Psycho-
therapien in vielen Berufsfeldern einsetzbar.
• ist eine Beratungsform bei Sinnkrisen. Es gilt dabei, Phänomene zu
erkennen und sie ohne Wertung zu sehen. Dabei geht es nicht um Krank-
heit oder Gesundheit, sondern um sinn-voll oder sinn-leer.
• ist geeignet als Krisenberatung, Prophylaxe, Behandlung beziehungs-
weise Begleitung bei leichten Neurosen, und wenn der Logotherapeut
Erfahrung hat, auch geeignet als Begleitung bei Psychosen.
• ist gedacht als Begleitung des Patienten auf der Suche nach dem „Einstel-
lungswert“, dem Wert, der im Ertragen eines unabänderlichen Schicksals
liegt. Wenn der Patient lernt, sich geistig und seelisch auf sein Leiden
einzustellen und damit umzugehen, bedeutet das Heilung der Seele.
• ist eine spezifische Therapie für noogene Neurosen. Das sind psychophysi-
sche Krankheiten mit den Wurzeln im Geistigen, z.B. geistiges Problem,
moralischer Konflikt, existenzielle Krise.
• ist eine unspezifische Therapie für psychogene Neurosen. Die u.a. mit
Paradoxer Intention2 und Dereflexion3 behandelt werden können.
• ist ein Spezialgebiet der Existenzanalyse, das sich der Analyse, Prophylaxe
2 Paradoxe Intention und3 Dereflexion sind Behandlungstechniken, die Viktor Frankl selbst entwickelt hat.
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und Therapie von Sinnproblemen und insbesondere der Behandlung von
Sinnverlusten widmet.
• ist weiter einsetzbar in den Bereichen Pädagogik, Sozialarbeit, Seelsorge
und Erwachsenenarbeit, besonders in der Richtung einer ethischen Erzie-
hung, einer Gewissensverfeinerung, einer Erziehung zu mehr Freiheit und
Liebe.
2.4. Wie wird mit der Logotherapie gearbeitet?
Es gibt eine ganze Reihe von Methoden, die in der Logotherapie einge-
setzt werden, neben der Paradoxen Intention und der Dereflexion, sind das
auch verschiedene Methoden von Schülern Frankls. Es würde zu weit führen,
alle gebräuchlichen Methoden vorzustellen, darum beschreibe ich nur zwei: Die
Sinnerfassungsmethode – weil ich sie am liebsten anwende – und den Sokrati-
schen Dialog, der mir im Beratungsgespräch ebenso hilfreich ist.
2.4.1. Sinnerfassungsmethode
Die Sinnerfassungsmethode4 ist eine Methode Alfried Längles, die er aus
Überlegungen Viktor Frankls entwickelt hat. Um den Sinn des Klienten zu
finden, werden bei der Sinnfindung vier Stufen durchlaufen, die sich auf die
Grunddimensionen menschlicher Interaktion mit der Welt beziehen.
Wahrnehmen - Informationsverarbeitung, Erkennen, Wahrnehmen, was ist. Was
ist mein Halt?
Fühlen - Wertempfinden, einen emotionalen Bezug herstellen zu den Aufga-
ben, die ich habe. Über Beweggründe neu nachdenken.
Werten - Urteilen, Entscheiden, zu sich selber stehen und zu den eigenen
Werten und Vorlieben, Authentizität, Individuation.
Handeln - Ausführung, Praxis. Ich setze das, was mir wert ist, in die Praxis um.
Es beginnt ein Dialog zwischen Berater und Klient, in dem der Klient auf
der ersten Stufe (Wahrnehmen) erzählt, was ihn bewegt. Er wird dazu angelei-
tet, das Faktische zu beschreiben, genau hinzuschauen was ist und die Realität
zu erkennen. Dem Klienten wird dann geholfen, eine emotionale Beziehung
(Fühlen) zu seinen Umständen aufzunehmen und zu äußern. Das braucht Zeit
und Begegnung zwischen Berater und Klient. Der Klient entwickelt die Fähig-
keit zu fühlen, was ihm wichtig ist und was er mag. Zwischen den ersten beiden
Stufen wird man so lange wechseln, bis eine gute Basis erarbeitet ist, um eine
Hierarchie der Werte und Möglichkeiten des Klienten zu erhalten. Dann geht
es zur dritten Stufe (Werten). Der Klient wägt seine Werte ab und stellt sich zu
4 Vgl. Längle 2001, S. 18f
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seinen Werten. Er wählt, er entscheidet. Die vierte Stufe ist dann die Umsetzung
der eigenen Werte. Diese Werte führen zum Sinn. Existenzieller Sinn schließt
ein: Realitätsbezug, Emotionalität, Freiheit und Gewissenhaftigkeit, Verbindlich-
keit, Verantwortung und Aktivität. Hier wird auch klar, dass der Sinn im Leben
für jeden Menschen etwas völlig anderes sein muss, da jeder Mensch andere und
sehr eigene Vorlieben und Werte hat.
2.4.2. Sokratischer Dialog
Über Sokrates wird berichtet, dass er von sich sagte: „Ich weiß, dass ich
nichts weiß.“ Das ist die Basis seiner Gesprächsmethode. Wer zu wissen glaubt,
weil er eine vorgefertigte Meinung hat, der hat keine Chance, seinen Gesprächs-
partner wirklich zu verstehen.
Der erste Schritt der Gesprächsführung des Sokrates besteht deshalb dar-
in, vermeintliches Wissen zu hinterfragen. Er ist deshalb durch „Ironie“ gekenn-
zeichnet, das ironische Enthüllen des vermeintlichen Wissens als Nichtwissen.
Der zweite Schritt ist nun nicht die Formulierung einer Antwort. So-
krates sucht den Menschen zu der Einsicht zu führen, dass er das Wissen im-
mer selbst gewinnen muss, dass es nie als bloßes Wissen von außen vermittelt
werden kann. Sokrates will nicht beeinflussen, sondern durch die „Hebammen-
kunst“ sein Gegenüber dazu bringen, selbst Einsicht zu gewinnen. Die freie
lebendige, selbständige Antwort des anderen soll entbunden werden. Der andere
soll die Antwort selbst finden.
Dieses Lehrgespräch hat die Aufgabe, dem Menschen die Möglichkeit zum
schöpferischen Einfall zu eröffnen. (Vgl. Scharfenberg 1972, S. 51f)
–22–
3. Seelsorge
Anknüpfend an Kapitel 1.2. sei noch mal wiederholt: Die Seele wirkt sich
mit ihrer Befindlichkeit auf den Körper aus. Beide beeinflussen sich gegenseitig.
Deshalb spricht man auch vom Psychophysikum. Wenn der Körper krank ist,
behandelt man ihn. Genauso verlangt die Seele danach, dass sich jemand um sie
kümmert, wenn sie erkrankt. In beiden Fällen braucht der Mensch Hilfe. Zu-
ständig sind Ärzte, Therapeuten, Berater und Seelsorger. Sie alle haben verschie-
dene Vorstellungen, wie sie sich kümmern sollen. Seelsorge geht aber über das
Sich-kümmern hinaus. Sie ist ein „Tendenzgeschäft“, denn Seelsorge hat immer
Seele und Geist des Menschen im Visier. Sie sieht den Bezug zur Transzendenz
und sie will eine Sehnsucht nach Gott entfachen, denn in Gott ist das Heil.
Jahrhunderte lang hat die Kirche für sich in Anspruch genommen, für die
Seele zu sorgen. Als dann im letzten Jahrhundert die Psychotherapie in Fachkrei-
sen bekannt wurde, konkurrierten Seelsorge und Therapien miteinander, welche
Herangehensweise die Richtige sei.
3.1. Seelsorge in der Bibel
In der Bibel finden sich Vorbilder seelsorgerlichen Verhaltens. Z.B. im
Alten Testament stehen gute „Behandlungstipps“ für depressive Menschen. In
1. Könige 19 wird Folgendes beschrieben: Elia der Prophet ist ausgebrannt, weil
er sich im Kampf gegen Isebel verausgabte. Zwar war er siegreich, aber jetzt ist
er völlig erschöpft. Seinen Diener schickt er weg und geht in die Wüste. Dort
wünscht er sich den Tod. Er hat eine depressive Phase, in Zusammenhang mit
einem Burnout-Syndrom. Elia legt sich schlafen. Gott schickt ihm einen Engel.
Der weckt ihn und gibt ihm zu essen. Elia schläft weiter. Eine Schlafkur mit gu-
ter Versorgung. Der Engel weckt ihn noch einmal und gibt ihm wieder zu essen
und schickt ihn zum Gottesberg Horeb. Elia geht 40 Tage und 40 Nächte. (Er
bekommt Bewegung und eine Schlafentzugskur „verordnet“.) Erst nach dieser
„Behandlung“ redet Gott mit ihm.
Ein weiteres Beispiel für Seelsorge ist im Buch des Propheten Jona be-
schrieben. Das ganze Buch handelt davon, wie Gott sich um den „frustrierten“
Propheten Jona kümmert und ihm immer wieder erklärt, warum nichts so läuft,
wie er sich das vorstellt.
Die Psalmen sind das Gebetbuch der Juden und der Christen. Christliche
Psychologen raten depressiven Kranken einige Psalmen oder Psalmabschnitte
zu ihrem eigenen Gebet zu machen, weil die Texte zur Sprache bringen, was
der Mensch empfindet. Die Menschen um ihn herum können seine Situation oft
nicht nachvollziehen. In den Psalmen fühlt sich der kranke Mensch oft verstan-
den. »Meine Tage sind wie Rauch geschwunden, meine Glieder wie von Feuer verbrannt.
Versengt wie Gras und verdorrt ist mein Herz, so daß ich vergessen habe, mein Brot zu
–23–
essen. Vor lauter Stöhnen und Schreien bin ich nur noch Haut und Knochen.« (Ps. 102,
4-6)
Jesu Verhalten in den Evangelien besitzt seelsorgerische Züge: Zum
Beispiel im Gespräch mit der samaritischen Frau (Johannes-Evangelium 4). Er
beginnt das Gespräch. – Zu der Zeit ist es Israeliten weder erlaubt mit Frauen,
noch mit Samaritern zu sprechen oder zu essen, bzw. zu trinken. – Und Je-
sus eröffnet das Gespräch mit den Worten: „Gib mir zu trinken“. Das ist sehr
ungewöhnlich. Aber er erkennt, dass diese Frau Probleme hat, denn sie kommt
mittags zum Brunnen. Alle anderen schöpfen ihr Wasser am Abend, wenn es
kühl ist. Sie meidet offenbar die anderen Menschen. Jesus geht auf sie ein und
hilft ihr.
Auch in den Briefen des Paulus findet man seelsorgerische Beispiele. Z.B.
in den Briefen an Timotheus kümmert sich Paulus um ihn persönlich, indem er
ihn ermutigt und ihm Ratschläge für seine Lebensweise gibt. »Trink nicht nur
Wasser, sondern nimm auch etwas Wein, mit Rücksicht auf deinen Magen und deine häu-
figen Krankheiten.« (1. Timotheus 5,23)
2. Timotheus Kapitel 1
» …in meinen Gebeten, in denen ich unablässig an dich denke.« (Vers 3)
»…ich denke an deinen aufrichtigen Glauben,…« (Vers 5)
»Halte dich an die gesunde Lehre,...« (Vers 13)
»Bewahre das dir anvertraute kostbare Gut...« (Vers 14)
3.2. Überblick über die Geschichte der Seelsorge
Von den Anfängen bis Mitte des 20. Jahrhunderts.
Seelsorge ist für das Zusammenleben der Menschen wichtig, deshalb fin-
det sich der Begriff in der Geschichte immer wieder. Im christlichen Sinn ist mit
dem Begriff Seele die unsterbliche Seele gemeint.
Bei den griechischen Philosophen gab es geistliche Begleitung. Sokrates
galt als Führer von Seelen. Besonders in der Stoa war geistliche Begleitung ver-
breitet. Plutarch, Epiktet und Seneca galten als eine Art Beichtväter, die durch
ihr Beispiel die Menschen zu einem moralisch höher stehenden Leben führen
wollten.5
Das Wort Seelsorge taucht bei Platon zum ersten Mal auf. Er versteht dar-
unter die Sorge um die Vervollkommnung der unsterblichen Seele durch gute
Führung (Psychagogia)6. Die Seele ist nach Platon dem Körper verhaftet, der ihr
Streben nach wahrer Erkenntnis hindert. Durch Gespräche und Begleitung wird
die Seele geläutert.
5 Vgl. Grün 1991, S. 96 Vgl. Dieterich 2001, S. 43
–24–
Im frühen Christentum ist Seelsorge nicht so sehr Seelenführung und Be-
gleitung, sondern Unterstützung im Kampf gegen die Sünde.
Bei den Wüstenvätern7 wird die Frage nach dem Seelenheil deutlicher
gestellt, als bei den Griechen, und doch geht es auch hier um das Reifen der
Seele. Wie kann ich der werden, als der ich von Gott her gedacht bin? Wie kann
Selbstwerdung gelingen? Die Wüstenväter entwickeln im Bereich der Seelsorge
Formen der Kontemplation, Hilfen zur Begegnung mit Gott selbst.8
Die mittelalterlichen Christen verstehen unter Seelsorge mehr die Aus-
einandersetzung mit der Sünde, als Gefahr für das Seelenheil. Es geht nicht um
die Reifung der Seele. Dieser Kampf gegen die Sünde wird durch das Sakrament
der Beichte institutionalisiert. Die Seelsorge geschieht hier in der Beichte.
Ignatius von Loyola strebt danach den konkreten Willen Gottes zu erken-
nen, und die Menschen dazu zu führen, auf die inneren Bewegungen der Seele
zu achten. Die Exerzitien des Ignatius von Loyola haben heute wieder an Bedeu-
tung gewonnen. Sie geben Hilfen zur Meditation und Kontemplation. Seelsorger
finden gute Bedingungen vor, mit denen sie arbeiten können, um Menschen in
ihrer Entwicklung zu helfen.9
Martin Luther sieht seine ganze Theologie als Seelsorge. Seelsorge ist so-
zusagen die Grundlage von Luthers Leben und Werk. Mit seiner Theologie geht
ein Perspektivenwechsel einher. Zentrum ist nicht mehr der Mensch mit Fähig-
keit zu Reue und Buße, sondern der vergebende Gott in Christus. In diesem
Zusammenhang bedeutet Seelsorge Trost für den Menschen und Erfahrung der
Vergebung.
1. Seelsorge ist Gottes Tat, d.h., Seelsorge ist Dienst im Auftrag Gottes.
2. Seelsorge ist realitätsbezogen. Zudem wird das Böse objektiviert und da-
durch bekämpfbar.10
3. Seelsorge wird entklerikalisiert u. zur Gemeindefunktion. Alle Christen
sind imstande, sich gegenseitig Trost zu spenden (Priestertum aller Gläu-
bigen).
Lutherische Kirche: Besonders der dritte Punkt von Luthers Seelsorgeleh-
re, nämlich, dass alle Christen zur Seelsorge befähigt sind, nimmt mit der Zeit
in der lutherischen Kirche ab. Die Idee vom Priestertum aller Gläubigen verliert
sich und letztlich wird dann nur noch den Pastoren diesbezüglich Vertrauen
entgegen gebracht.
Nach Luther hat sich die lutherische Kirche nach und nach in ihren Struk-
turen so sehr verkrustet, dass es Pastoren zuletzt kaum möglich ist, persönliche
Worte mit Christen zu wechseln, ohne einen offiziellen Anlass. Der Umgang der
Pastoren mit den Gemeindegliedern muss, wenn man den Büchern über Seelsor-
ge glauben soll, sehr förmlich sein.
7 Zusammenfassende Bezeichnung für die Begründer des christlichen Mönchtums in Ägypten und Palästina. 8 Vgl. Grün 1991 S. 79 Vgl. Grün 1991 S. 710 Vgl. Luthers Vorschlag, immer das zu tun, was der Teufel nicht will.
–25–
Eduard Thurneysen, ein Schweizer Seelsorgelehrer11, zitiert einige Seelsor-
ger und ihre Auffassung von Seelsorge. Asmussen z.B. bezieht das seelsorgerliche
Gespräch nur auf die Anlässe bei Amtshandlungen wie Taufe bzw. Taufanmel-
dung, Eheschließung, bzw. Anmeldung von Traupaaren, und auf Trauerfälle und
Besuche bei Kranken und Sterbenden. Er sagt weiter, dass nur der Pfarrer das
Wort der Sündenvergebung sprechen darf und offensichtlich geht es bei Asmus-
sen nur um Sündenvergebung. Thurneysen fragt, wo denn dann die Menschen
bleiben, die einen Pfarrer aufsuchen wollen, ohne eine Amtshandlung zu brau-
chen, einfach weil sie ein inneres Problem haben. Sind die abzuweisen?12
August Vilmar z.B. beschränkt die Seelsorge auf das Amt des Pfarrers und
der Kirchenältesten und die Pflege der christlichen Zucht in der Familie und
der Gemeinde. Bei den älteren Seelsorgelehrern besteht eine große Abneigung
gegenüber allem spontanen Handeln in der Seelsorge.13
Es ist problematisch, wenn alle Kommunikation über Gott und den Glau-
ben am Pastor hängt, weil er das nicht bewältigen kann. Er wird seinen Gemein-
degliedern nicht gerecht.
Im Laufe der Kirchengeschichte wird der Begriff der „Seelsorge“ mehr
und mehr unter der Vorstellung gesehen, dass das Wort Gottes verkündigt wird,
um dem Menschen seine Schuld vor Augen zu führen und ihn dann aus Gnade
frei zu sprechen. Es geht mehr um die Vermittlung des Willens Gottes, als um
die Begegnung mit Gott selbst. Es geht um die Vorschrift, wie Menschen leben
sollen, statt um Hilfe, wie man leben kann.
Pietismus: Im 17. Jahrhundert beginnt eine Erneuerungsbewegung in der
evangelischen Kirche. Sie bricht die Verkrustungen und Erstarrungen der Kirche
auf. Sie entdeckt die Wichtigkeit des Einzelnen im Bezug zu Gott – der Pietis-
mus. Wenn in der lutherischen Kirche die Gruppe, bzw. Gemeinde das Wichtige
ist, zu der der Einzelne zwangsläufig gehört, ist es im Pietismus der Einzelne,
der wichtig ist, um den sich gekümmert wird. Aus diesen Individuen bildet sich
die Gemeinde. Seelsorge wird als Erbauung und Stärkung des Glaubens gese-
hen. Deshalb ist für Pietisten Seelsorge sehr wichtig und nimmt im Geschehen
der Gemeinde einen großen Raum ein. Dazu gehört z.B. bei den Herrnhutern
gemeinsames Leben und dass Gerhard Teerstegen viel Zeit auf Seelsorgebriefe
verwandt hat.
Der Pietismus bleibt aber in der Kirchenlandschaft speziell. Er ist auf
kleine Gruppen beschränkt, die ihrerseits in der Gefahr stehen, sich in Förmlich-
keit zu verfestigen.
Zusammenfassung
Die Geschichte der Seelsorge verdeutlicht, dass es immer ein Bedürfnis
nach Seelsorge gab. Die Intention wechselte. Mal stand der Mensch mit seiner 11 Geb. 1888, er setzt sich mit der Entwicklung der Seelsorge in der lutherischen Kirche auseinander.12 Vgl. Thurneysen 1948, S. 1513 Vgl. Thurneysen 1948, S. 16
–26–
Entwicklung mehr im Blick, mal der Kampf mit der Sünde und die Erlangung
des Seelenheils. Wenn der Fokus auf das Seelenheil des Menschen überhand-
nahm, standen immer wieder Menschen auf, denen die Entwicklung des Men-
schen wichtig war. Nur indem der Mensch wird, was er werden kann und soll,
vermag er auch für seine Seele zu sorgen. »Religiosität – so haben wir ja schon gehört
– ist nur dort echt, wo sie existentiell ist, wo also der Mensch nicht irgendwie zu ihr
getrieben ist, sondern sich für sie entscheidet.« (Frankl, 1992 S. 55)
Im Neuen Testament erkenne ich Beispiele von Seelsorge, die den ganzen
Menschen berücksichtigen. Es geht um das Reich Gottes und um den Bezug zu
Gott, es geht aber auch um die Fragen des Menschen und um seine Krankhei-
ten und Probleme. Was Jesus in den Evangelien vorlebt, ist sehr praktisch und
anschaulich, nicht abgehoben und theoretisch. Er gibt Rat, Hilfe und hört den
Menschen zu. »Christus selbst hat ganz konkret den Menschen angeredet, und zwar
bestimmte Menschen in bestimmten Situationen.« Stattdessen hat sich eine Tradition ge-
bildet, »die lehrmäßig weitergegeben wurde, wenn auch in der Geschichte der christlichen
Kirche immer wieder Ansätze für neue Gesprächsbildungen gefunden werden können.«
(Scharfenberg 1972, S. 62) In der kirchlichen Tradition schematisierte sich der
Umgang mit den Gläubigen. Das Ziel war, dass bestimmte Formen bzw. Ver-
haltensweisen erfüllt wurden. Es ging nicht mehr um den Einzelnen, sondern
um eine Gruppe, die Gemeinde. Dabei war es unwichtig, wie es um den einzel-
nen Menschen stand, Hauptsache, sein „Seelenheil“ war gesichert. Es wurden
Techniken eingeführt und Regeln aufgestellt, um das zu gewährleisten, wie z. B.
die Beichte. Weil der Mensch aber in dem Sinne nicht „funktioniert“, lässt sich
religiöses Leben nicht regeln. Die Menschen machen nicht mit.
»Der Glaube hat nicht die Wahl, ob er sich dem Gespräch stellen will. Er über-lebt
nur im Gespräch. …[Damit wird klar]: daß wir nicht mehr an einen blinden Gehor-
sam binden können, daß wir nicht mehr in väterlicher Autorität führen können, sondern
daß es nur darum geht, im gleichberechtigten Umgang zur Mündigkeit zu verhelfen, …«
(Scharfenberg 1972, S. 63)
3.3. Theologie oder Psychologie
Der Weg der Seelsorge ins 21. Jahrhundert.
Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine grundlegende Neuorien-
tierung der Seelsorge. Auslöser war die Auflösung alter Ordnungen und Werte.
Heute nimmt der Mensch verbindliche Weisung von der Kanzel nicht mehr
an. Früher waren die Menschen in einer „halbwegs geordneten Welt“ dazu eher
bereit. Das fest gefügte Bild, wie der Einzelne sein Leben zu führen hat, änderte
sich durch die Industrialisierung der Gesellschaft, es änderte sich durch Auto-
risierung der öffentlichen Meinung und durch Abwendung von der exklusiven
Alleingeltung der Kanzel. Die Säkularisierung entzog das Denken und Tun
der Menschen der religiösen Kontrolle. Unter anderem kam es durch die zwei
–27–
Weltkriege zur Existenzangst vieler Menschen, zur Zunahme von Einsamkeit
und Depression. Da boten sich die Erkenntnisse und Methoden der Humanwis-
senschaften für die Seelsorge an, vor allem die Psychologie. Jetzt war Zuhören
gefragt, nicht Verkündigen und Zusprechen wie früher.
Das Zeitalter der Industrialisierung zwang zur Hinwendung zur wirkli-
chen Welt und ihrer Nöte. Die Zeit der Pauschalantworten, der gestanzten Wei-
sungen und der ein für alle Mal gültigen Ratschläge ging unwiederbringlich zu
Ende. Es entstanden Seelsorgetheorien, in die neue psychologische Erkenntnisse
über die menschliche Persönlichkeit aufgenommen wurden. Mit dem Einzug der
Psychotherapie in die Allgemeinbildung und die große Verbreitung von psycho-
therapeutischen Techniken im 20. Jahrhundert entstanden therapeutisch ausge-
richtete Seelsorgeschulen. Seelsorge wurde Gegenstand einer wissenschaftlichen
Disziplin. Die Berufspraxis der Seelsorge war durch die psychologischen Metho-
den besser lernbar und überprüfbar als früher.
Aus der oben beschriebenen Situation sind im 20. Jahrhundert zwei Seel-
sorgerichtungen entstanden, auf die ich näher eingehen will. Auf der einen Seite
ist da die kerygmatische14, verkündigende Seelsorge, auf der anderen Seite die
beratende, therapeutische Seelsorge.
Die kerygmatische Seelsorge betont, dass die Kirche Ort und Kontext
der Seelsorge ist. Das Ziel ist die Wiedereingliederung der Menschen in die
Gemeinde. Die Seelsorge ist kein Ich-Du-Gespräch, sondern auf die Gemeinde
hin ausgerichtet. Der Seelsorgelehrer Eduard Thurneysen versteht Seelsorge als
Verkündigung, versucht aber, einen Schritt auf die Psychologie zu zugehen.
Das verkündigte Wort Gottes in der Seelsorge soll dem Menschen seine
Schuld vor Augen führen und ihn aus Gnade freisprechen. Zielpunkte sind dar-
um Beichte und der Zuspruch des Evangeliums. Positiv daran ist: Die kerygma-
tische Seelsorge ist theologisch reflektiert. Die Seelsorger werden entlastet, weil
das Wesentliche von Gott erwartet wird und nicht von ihnen. Der Mensch ist
nur Zeuge, Gott der eigentlich Handelnde. Darin liegen auch die Schwächen der
Konzeption. Die Seelsorge als Verkündigung steht in Gefahr, dass Hilfesuchende
eher angepredigt, als angehört werden. Natürlich hat es auch Gespräche mit den
Menschen gegeben, die Vorgehensweise hing von der Einstellung des Pastors ab.
Generell lässt sich aber sagen, dass die kerygmatische Seelsorge dazu neigte, von
oben herab Heilsaussagen zu verkünden oder dem Menschen seine Schuld vor
Augen zu führen und ihn zur Buße zu rufen.
Die verkündigende Seelsorge ist nur bedingt lehr – und lernbar und in
ihrer Praxis nur schwer zu überprüfen. Thurneysen lehnt die Psychologie im Zu-
sammenhang mit Seelsorge nicht ab, aber sieht sie im Status einer Hilfswissen-
schaft, die eine Ergänzung sein kann, aber nicht das Wichtigste. »Das Ansprechen
des Menschen im Seelsorgegespräch setzt Menschenkenntnis voraus: Die Seelsorge bedarf
darum der Psychologie als einer Hilfswissenschaft, die der Erforschung der inneren Natur 14 Kerygma = Predigt, Verkündigung
–28–
des Menschen dient, und die diese Kenntnis vermitteln kann. Sie hat sich dabei kritisch
abzugrenzen gegen ihr wesensfremde weltanschauliche Vorraussetzungen, die mitlaufen,
…« (Thurneysen 1948, S. 174)
Ein wichtiger Vertreter der beratenden, therapeutischen Seelsorge,
oder auch Pastoralpsychologie, ist Joachim Scharfenberg. Scharfenberg setzt sich
mit der kerygmatischen Seelsorge auseinander. Er sagt, dass durch die theo-
logische Reflexion die Begriffe „Gespräch“ und „Verkündigung“ so starr um-
klammert sind, dass die Lehre von der Seelsorge nicht mehr praktikabel ist. Der
Seelsorger ist so gebannt vom Vollzug der Verkündigung als „Zielvorstellung der
Seelsorge“, dass das Gespräch nur noch ein „Vorwand für die Verkündigung“ ist,
und dass der Mensch, der in die Seelsorge kommt, gar nicht in der Lage ist, seine
eigentliche Frage zu stellen. »So hält der Seelsorger meistens Antworten auf Fragen
bereit, die gar nicht gestellt werden: Theorie und Praxis brechen auseinander.« (Scharfen-
berg 1972, S. 10) In den 70iger Jahren ging in christlichen Kreisen der Spruch
um: „Jesus ist die Antwort.“ In Studentenkreisen ergänzte man: „Und was ist
die Frage?“
Scharfenberg, ausgebildeter Psychoanalytiker, kommt zu einem ganz
anderen Ansatz. Er will nicht fertige Lösungen bieten. Er geht vom Menschen
aus und fragt, was ihn bewegt, wo der Konflikt liegt. Er entwickelt Gesprächs-
formen, die erlernbar und nachvollziehbar sind. Z.B. setzt er im Gespräch den
„Sokratischen Dialog“ ein, der jetzt in vielen Beratungsformen, so auch in der
Logotherapie, angewendet wird. Die Form der Seelsorge wird methodisch nach-
prüfbar, und es kommt zu einer wissenschaftlichen Entwicklung.
Scharfenberg setzt sich intensiv mit dem Gespräch und der Sprache
auseinander. Das Problem ist, dass Sprache sich nicht auf Information reduzie-
ren lässt. Jeder assoziiert mit einer Wortfolge etwas anderes, Eigenes. Bei den
Symbolen in der kirchlichen Sprache ist es ebenso. Wenn die Bilder nicht mehr
verstanden werden, nützt es nicht, wenn ich davon rede. »Das Sprechen miteinan-
der ist also „nur ein gegenseitiges Wecken des Vermögens des Hörenden« zitiert Scharfen-
berg Wilhelm v. Humboldt. (Scharfenberg 1972, S. 28) Wenn wir mit den alten
Sprachformen und Symbolen heute kaum noch etwas anfangen können, wir
Redenden nicht, und die Hörenden auch nicht, dann dürfen wir nicht einfach
Floskeln sagen. Wenn wir reden15, dann muss es aus dem eigenen Erleben kom-
men.
Joachim Scharfenberg zeigt außerdem, dass in der Bibel Heilung immer
wieder mit dem Wort gekoppelt ist. »Es bleibt verwunderlich, daß der Zusammen-
hang zwischen Heilung und Sprache bisher so wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, da
doch der gesamte biblische Sprachgebrauch dem Wort die schlechterdings entscheidende
heilende Funktion zumißt.« (Scharfenberg 1972, S. 35)
Beispiele: Im Alten Testament: »… er sandte sein Wort und machte sie gesund
und errettete sie, daß sie nicht starben.« (Psalm 107,20 Luther 1963) oder im Neuen 15 Jesus sagt: „Seid Zeugen“, d.h., redet von dem, was ihr gesehen habt.
–29–
Testament: Jesus weckt Lazarus auf, er heilt den Kranken am Teich Bethesda,
nachdem er mit ihm gesprochen hat, er führt ein langes Gespräch mit der Frau
am Jakobsbrunnen. Der Leser hat bei dem Gespräch das Gefühl, es führe auf
Abwege, aber am Ende hat die Frau etwas verstanden.
Voraussetzung für pastoralpsychologisches Lernen ist die Selbsterfahrung
des Seelsorgers. Ausgangspunkt dieser Forderung ist Freuds Formel: „Ich kann
andere nur soweit erkennen, als ich mich selbst erkannt habe.“
In der Frühphase der beratenden, therapeutischen Seelsorge entstand ein
gewisses Defizit bei der Frage nach den theologischen Inhalten, das Methodische
bekam mehr Gewicht als der Inhalt. Darum warfen Vertreter der kerygmati-
schen Seelsorge den therapeutisch Orientierten vor, sie hätten die Theologie an
die Psychologie verraten. Umgekehrt kam der Vorwurf vonseiten der therapeuti-
schen Seelsorge, dass durch die starke Betonung der Theologie und des Wortes,
über die Köpfe der Menschen hinweggeredet und ihnen nicht wirklich geholfen
würde. Ja, durch falsch verstandene christliche Erziehung wurde Schlimmes an-
gerichtet – man spricht heute von »Gottesvergiftung«. (Seitz 1985, S. 148)
Meiner Ansicht nach sollte es bei dieser Diskussion nicht um einen Streit
der Wissenschaften Theologie und Psychotherapie gehen, sondern der Mensch,
der in Not ist, sollte im Blickpunkt stehen. Die neuen Seelsorgerichtungen bie-
ten den Vorteil, dass sie sich stärker um die Seele kümmern. Den Leidenden wird
in ihren Depressionen, Ängsten und Krisen zugehört und geholfen. Die biblisch-
therapeutische Seelsorge entwickelt ein partnerschaftliches Beziehungsgesche-
hen. Sie nimmt eine anthropologische Sichtweise ein.
Mit der Zeit verändert sich die evangelische Seelsorge. Viele der Verände-
rungen kommen durch den Dialog mit den Wissenschaften zustande.
• Z.B. orientiert man sich nicht mehr ausschließlich an der Tiefenpsycho-
logie, sondern geht mehr zu Kurztherapien über und sucht effektivere,
preiswertere Gesprächsmethoden.
• Frankls Stimme, der Mensch unserer Zeit leide an existenzieller Frustrati-
on und Sinnverlust, findet größere Beachtung.
• Der Psychoanalytiker Eysenck sagt: Es gilt nicht mehr nur einfühlend zu
verstehen, sondern auch Korrekturen auszusprechen und zu neuen Positio-
nen zu verhelfen.
• Es wird aus dem psychologischen Bereich der Wissenschaft geäußert: Der
Mensch dürfe auch einmal auf seinen Willen hingewiesen werden.
• Rogers Methode wird überprüft – sollte man nur einfühlend reflektieren
oder bleibt man dem anderen das Gegenüber schuldig?
• Versuch von Pastoralpsychologen, dem biblischen Wort mehr Gewicht zu
geben und nicht nur die gelingende Kommunikation als Therapeutikum
zu sehen. (Vgl. Seitz 1985, S. 144)
–30–
3.4. Biblischtherapeutische Seelsorge
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstehen viele verschiedene Seelsorge-
schulen. Dabei geht es auch immer wieder um Versuche der Annäherung beider
Extreme: der kerygmatischen und der beratenden Seelsorge. Von beiden Seiten
gibt es Versuche, Teile des anderen Bereichs zu integrieren. So entsteht die Rich-
tung der biblisch-therapeutischen Seelsorge. Einer ihrer Vertreter ist Prof. em.
Dr. Manfred Seitz16. Seine Vorstellung von Seelsorge, die berät, aber den Bezug
zum Wort Gottes nicht verliert, fasse ich aus mehreren Vorträgen zusammen.
3.4.1. Was ist biblischtherapeutische Seel sorge?
Seitz zeigt an einem Beispiel, wie für ihn Seelsorge aussieht: Drei Freun-
dinnen sitzen beim Kaffeekränzchen. Die Gastgeberin erzählt, dass sie Sorgen
mit ihrer Tochter hat. Deren Freund sei ihr unsympathisch und passe nicht zur
Familie. Weil sie ihrer Tochter das so direkt gesagt hat, war die beleidigt und
Mutter und Tochter verstehen sich seit dem nicht mehr gut. Die eine der beiden
Freundinnen bedauert die Mutter und erklärt sich mit ihr solidarisch. Die zweite
Freundin hält sich bedeckt und denkt erst einmal über das Gespräch nach, be-
sonders darüber, was hinter der Geschichte steckt. Sie spricht auch mit ihrem
Mann über die Problematik. Später ruft sie die Gastgeberin an und lädt sie zu
sich nach Hause, zu einem Gespräch ein. Im Gespräch wird das Problem der
Mutter deutlich, denn es geht um etwas Grundlegendes: Sie muss ihre Tochter
ins Leben entlassen und das fällt ihr schwer und dazu braucht sie Beistand und
vielleicht ein Stück Begleitung. (Vgl. Seitz 1985, S. 74 ff)
Seelsorge hat für mich mit diesem Angebot zu tun – „komm, wir spre-
chen noch einmal über dein Problem“. Persönliches Bemühen um den Einzel-
nen hat die höchste Priorität in der Kirche, so gesehen ist Seelsorge eine Sache
der Gemeinde. Man sieht den Mitmenschen und hilft ihm, seine Probleme zu
klären. Gelegenheit zur Seelsorge ist dabei in einfachsten Lebenssituationen ge-
geben. Diese Art der Seelsorge können an sich alle Gemeindeglieder leisten. Ich
schränke das ein, weil der Seelsorger für menschliches Leid sensibel sein sollte.
Außerdem ist es hilfreich, aber nicht zwingend nötig, wenn er eine diesbezüg-
liche Ausbildung abgeschlossen hat, um bestimmte grundlegende Zusammen-
hänge im Leben der Menschen zu verstehen, die er bei sich selbst bearbeitet hat.
Seelsorge ist nach Seitz:
1. »…beistehen in den Grundsituationen des Lebens vom Evangelium her.
2. Ihr Adressat ist der ganze Mensch in seiner von Gott entfremdeten Geschöpflichkeit.
3. Ihr Ziel ist sein Heilwerden durch das helfende Gespräch im Bekenntnis des Glau-
bens.« (Seitz 1985, S. 73)
16 geb. 1928. Er war Professor für Pastoraltheologie an der Universität Erlangen und ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Psychotherapie und Seelsorge“ Onken-Verlag.
–31–
3.4.2. Ausgangslage des Menschen, der Seelsorge sucht und das Ziel der Seelsorge
Ausgangslage des Menschen, der Seelsorge sucht
• Der Mensch ist ratbedürftig
Der heutige Mensch ist grundsätzlich ratbedürftig. Das hat mit der
gegenwärtigen Menge des Wissens und der Information zu tun. Man braucht
heute viel Zeit und Energie, um sich einen Überblick über ein Wissensgebiet zu
verschaffen. Deshalb wendet man sich oft an einen Fachmann, der einem das,
was man wissen will, konzentrierter vermittelt und es »…hängt mit der Verände-
rung der mitmenschlichen Beziehung in der technischen Welt zusammen. In ihr sieht sich
der Mensch z.B. durch eine immer rasanter werdende Problemgeschwindigkeit einer zu-
nehmenden Selbstentfremdung ausgesetzt, die sich in Orientierungslosigkeit und Verhalten-
sunsicherheit äußert. Das Überlieferte reicht nicht mehr aus um das Neue einzuordnen.«
(Seitz 1985, S. 101)
• Er ist vierfach bezogen
Der Mensch ist nach Seitz vierfach bezogen.
1. Ich Du (Gott, Schöpfer)
2. Ich du (die Bezugspersonen)
3. Ich Dinge (die Welt)
4. Ich Ich (die eigene Person)
Als Berater muss man darauf achten, ob und wie die Beziehung des Klien-
ten in diesen vier Bereichen gestaltet ist. Eine meiner Klientinnen hatte sich so
sehr auf ihre Arbeit fixiert, auf den Hausbau und Aufbau eines Geschäftes, dass
ihr alles andere wegbrach. Sie hatte keine Freunde mehr, der Mann verließ sie,
das Geschäft musste sie abgeben und sie fiel in eine Depression, weil sie auch zu
sich selbst keinen Bezug hatte.
Es ist daraufhin zu wirken, dass die vier Bezugsebenen im Gleichgewicht
sind. Werden einige Bezüge stärker ausgebildet als andere, so entsteht Un-
gleichgewicht – Unordnung. Also auch, wenn der Mensch einseitig den Bezug
zum Du – zu Gott zu stark ausbildet und die anderen Bezüge vernachlässigt,
entsteht ein Ungleichgewicht und es ergeben sich Probleme. (Vgl. Seitz 1985, S.
76f)
In der Seelsorge muss es immer um den ganzen Menschen in allen seinen
Bezügen gehen.
Ziel der Seelsorge
• Der Mensch entwickelt sich in allen vier Bereichen.
Das Ideal der Beratung und Seelsorge wäre, dass der Mensch, der Seelsor-
ge sucht, sich in allen seinen Daseinsbezügen so entwickelt, dass er ausgewogen
lebt und mit sich im Reinen ist.
–32–
• Er hat eine Weltanschauung.
Dieser Mensch sollte im Laufe der Beratung über seine Werte und sein
Weltbild Klarheit gewinnen. Dazu soll der Seelsorger ihm verhelfen. Natürlich
wird der Seelsorger zur passenden Zeit sein eigenes Weltbild darstellen, aber der
Klient hat letztlich die Entscheidung für sich selbst zu tragen.
• Er übernimmt Verantwortung.
Der Therapeut darf seinem Klienten niemals die Verantwortung abneh-
men, er darf keine Entscheidungen vorwegnehmen, wie es die Tendenz in der
kerygmatischen Seelsorge war. Frankl sagt: »Im Gegenteil, es ist gerade die Aufgabe
der Existenz-analyse [und der Logotherapie], den Menschen dahin zu bringen, wo er
selbständig aus seiner bewußtgewordenen eigenen Verantwortung heraus zu den eigensten
Aufgaben vordringt und den nun nicht mehr anonymen, vielmehr einmaligen und einzig-
artigen Sinn seines Lebens findet.« (Frankl 1999, S. 218)
• Er transzendiert sich selbst
Der biblisch-therapeutische Seelsorger will erreichen, dass der Klient so
gut mit sich ins Reine kommt, dass er in der Lage ist, über sich hinauszugehen
und sich für eine Sache oder einen Menschen einzusetzen. »Mensch sein heißt auch
schon über sich selbst hinaus sein. Das Wesen der menschlichen Existenz liegt in deren
Selbst-transzendenz, möchte ich sagen. Mensch sein heißt immer schon ausgerichtet und
hin-geordnet sein auf etwas oder auf jemanden, hingegeben sein an ein Werk, dem sich der
Mensch widmet, an einen Menschen, den er liebt, oder an Gott, dem er dient.« (Frankl
1982, S. 33)
3.4.3. Was zeichnet christliche Seelsorge aus?
Im Neuen Testament steht ein Bericht, der all das enthält, was für mich
christliche Seelsorge ausmacht: Jesus ist gestorben. Seine Jünger verkriechen sich
vor Angst. Zwei von ihnen wandern nach Emmaus. Sie trauern und reden über
die schrecklichen Erlebnisse der letzten Tage. Es gesellt sich ein dritter Mann
dazu, läuft mit ihnen und erklärt die Zusammenhänge von dem, was ihnen ge-
schehen ist. Sie sind von dem Gespräch so angenehm angeregt, dass die Jünger
den un-bekannten Mitreisenden am Ende ihres Wegs einladen und bitten, mit
ihnen zu Abend zu essen. Erst ganz am Schluss erkennen sie, dass es Jesus selbst
ist, der sie begleitet und ihnen hilft, die Erlebnisse zu verstehen. (Vgl. Lukas-
Evangelium 24,13 ff)
Die Jünger haben ein Problem. Sie wissen keine Lösung. Der, der helfen
kann, in diesem Fall Jesus, bietet sich zum Gespräch an. Er hört zu und geht auf
die Probleme ein und beantwortet ihre Fragen. Jesus stellt sich selbst zurück.
(Schließlich hätte er vieles von sich zu berichten.) Er wartet ab, bis die Jünger
–33–
so-weit sind, verstehen zu können. Diese Erzählung verdeutlicht mir die Aspekte
der christlichen Seelsorge.
So auch der Seelsorger: Er kümmert sich. Er geht u.U. auch auf den Men-
schen zu, der ein Problem hat, wie in dem Beispiel der drei Damen beim Kaffee-
kränzchen. »„Sorge“ [ist] nach theologischem Verständnis die Christus entsprechende,
ganzheitlich-fürsorgliche Hinwendung zum konkreten Menschen. Nicht das Ängstliche,
sondern das Sich-Erbarmende und seine Dichte macht den Sorgecharakter der Seelsorge
aus.« (Seitz 1985, S. 89) Im Alten Testament steht der Begriff „cura – sich küm-
mern“ für Sorge. (Vgl. Seitz 1985, S. 88) Hier ist nicht von Angst und Furcht
die Rede, sondern von Fürsorge und Dienst. Das Beistehen gehört für mich zum
Sich-kümmern.
Christliche Seelsorge besteht »im vorbehaltlosen Annehmen des von sich und
Gott entfremdeten Menschen« (Seitz 1985, S. 106) und ich meine, sie besteht auch
darin, den Menschen anzunehmen, der weder von sich noch von Gott entfrem-
det ist. Unter christlicher Seelsorge verstehe ich, jeden Menschen vorbehaltlos so
anzu-nehmen, wie er ist. Ich denke, so sollte es sein! Das ist schwer und wir alle
wissen, dass wir diesem Anspruch nicht gerecht werden können. Aber es sollte
unser Ziel sein.
Die christliche Seelsorge geschieht im Angesicht Gottes oder „coram deo“
wie Seitz sagt. »Christliche Seelsorge ist nur da vorhanden, wo der Mensch so gesehen
wird, wie Christus, bzw. die Schrift ihn sieht.« (Seitz 1985, S. 78)
Christliche Seelsorge achtet auf alle vier Beziehungsrichtungen des Men-
schen. Wenn sie im Lot sind, dann herrscht Friede. Also auch hier ist wichtig,
den ganzen Menschen im Blick zu haben und nicht nur einen Teil. Scharfenberg
meint das Gleiche, wenn er bemängelt, dass man Beratung und Seelsorge häufig
so auf-teilt, dass man in der Seelsorge nur den Bezug zu Gott im Auge hat und
die anderen Bezüge in die Beratung ausgliedert. »Es erscheint mir deshalb völlig
unmöglich, bei der Frage nach dem Seelsorgegespräch von zwei voneinander getrennten Be-
reichen her zu denken, wie dies in der Gegenwart noch immer wieder versucht wird, daß
man meint, alle Gleichgewichtsstörungen des Menschen mit seiner Umwelt oder auch in
sich selber den säkularen Institutionen überlassen zu können, während es ledig-lich darauf
ankomme, eine Diagnose zu stellen, die feststellt, ob der Mensch in seinem Gleichgewicht
gegenüber Gott gestört ist, daß also sein Gottesverhältnis nicht in Ordnung ist.« (Schar-
fenberg 1972, S. 61f)
Ein wichtiger Aspekt der christlichen Seelsorge kommt in dem Beispiel
von den Emmausjüngern vor. Jesus offenbart sich erst am Schluss, als alles
gesagt ist. Das heißt, wir müssen achtsam sein und den Bezug zu Gott und dem
Wort nicht vorschnell äußern, sondern auf den Menschen eingehen und den
richtigen Zeit-punkt abwarten. Dazu erklärt Seitz: »Eine andere Frage ist freilich,
die nach der Form, nach dem Modus dieses Wortes, nach seiner Aufdringlichkeit oder
Unaufdring-lichkeit, ja nach seinem u.U. notwendigen Verschweigen, nach seiner Situa-
–34–
tionsbezogenheit. Denn: einer Überwältigung, einer Vergewaltigung des anderen redet das
NT17 niemals das Wort. Die neue Sorge wahrt den Abstand, zu dem die Ehrfurcht vor
dem geschöpflichen Leben des anderen nötigt.« (Seitz 1985, S. 94)
3.4.4. Fähigkeiten des Seelsorgers
Der Seelsorger sollte …
1. auf den Klienten zu gehen und ihm zuhören, sich auf ihn einlassen.
2. dem Klienten beistehen, solidarisch sein, Fürsprecher sein (Parakletos).
3. sich hinter die Probleme des Klienten zurückstellen. Dazu gehört auch,
dass er seine christliche Position nicht zu früh ins Gespräch bringt und
christliche Sichtweisen nicht überstülpt. Er stellt seinen Auftrag Seelen
zum Heil zu führen hinter die Freiheit des anderen zurück, sich selbst zu
entscheiden und seinen Weg zu suchen.
4. nicht Rat erteilen, sondern den Klienten durch aktives Zuhören, sokrati-
sches Gespräch usw. dahin leiten, dass er selbst findet, was ihm weiterhilft.
5. sich um alle vier Bezugsebenen kümmern.
6. alle Einsichten, Erkenntnisse und auch seinen Glauben nur in Form von
Ich-Botschaften als eigene Erfahrung und nicht als feststehende Wahrheit
äußern. Nur so entfalten auch die Bibelverse ihre Botschaft.
7. Ich-Stärke haben, um aushalten zu können, womit ein Ratsuchender
kommt. Er darf selbst nicht in eine Abwehrhaltung geraten (bagatellisie-
ren usw.).
Michael Dieterich, Leiter des Instituts für praktische Psychologie und Be-
ratung IPP, hat Seelsorger in der Ausbildung nach ihrem Erfolg in der Beratung
befragt.
Nach ihrer Meinung war die Beratung erfolgreich wenn …
• die Perspektive des Ratsuchenden übernommen wurde.
• der Ratsuchende sich wertgeschätzt fühlte.
• das Problem eingegrenzt und eine nachvollziehbare Diagnose gestellt wur-
de (musste nicht die „richtige“ sein!).
• der Seelsorger Flexibilität, bzw. Kreativität, Sensibilität und Unkonventio-
nalität zeigte.
• die Untersuchung der Ursachen für die Störung vorläufig zurückgestellt
wurde.
• der Ratsuchende intensiv in den Prozess einbezogen wurde (Selbstmanage-
ment).
• durch Achtung des Glaubens des Klienten Vertrauen entstehen konnte.
17 Neues Testament
–35–
Weniger erfolgreich war die Arbeit dann, wenn …
• der Berater von sich selbst nicht überzeugt war.
• das somatische Ausmaß der Störung über- oder unterbewertet worden ist.
• vorschnell okkulte Belastungen angenommen wurden.
• andere Monokausalitäten als Störungsursache angenommen worden sind.
• eine zu schnelle Heilung erwartet wurde.
• eine zu intensive bzw. freundschaftlich-nahe Bindung mit dem Ratsuchen-
den ein-gegangen wurde. (Vgl. Dieterich 2006, S. 12f)
3.5. Der Unterschied von Seelsorge und Beratung
Bei dem Unterschied von Seelsorge und Beratung stimme ich mit Man-
fred Seitz überein.
Beratung
Es ist schwer, Beratung und Seelsorge abzugrenzen, denn die Übergänge
sind fließend. Der Berater hat in der Regel eine solide Ausbildung. Er weiß mit
menschlichen Problemen und Krisen umzugehen. Er hat gelernt, psychische
Krankheiten zu erkennen und die Ratsuchenden notfalls auch zum Arzt zu
schicken. Der Berater sieht bei den Bezügen des Menschen auf die drei Bezüge
Ichdu, IchDinge, Ichich, während der Seelsorger auch das Ich Du
(Gott) im Blick haben sollte.
Beratung ist in der Kirche notwendig, weil Berater das fachliche Wis-
sen und Können mitbringen, um dem Ratsuchenden beizustehen. Der Berater
braucht keine theologische Legitimation (vgl. Seitz 1985, S. 146f). Er kann bei
Bedarf seinen Klienten an einen Seelsorger weiterreichen und sollte „seine theo-
logischen Partner“ in Anspruch nehmen, „zur Sache rufen“, wie Seitz meint.
Es gibt auch außerhalb der Kirche Beratung. Warum wird sie innerhalb
der Kirche gebraucht? Viele Christen äußern Angst, zu einem Berater zu gehen,
der kein christliches Menschenbild hat, oder ihren Glauben nicht respektiert.
Der Weg zum christlichen Berater fällt ihnen leichter. Außerdem hat der Berater
im Bereich der Kirche die Möglichkeit, wenn er kann, und möchte in Richtung
Seelsorge zu arbeiten.
Seelsorge
Der Hauptunterschied zur Beratung besteht darin, dass der Seelsorger
auch den Ich Du (Gott) Bezug im Auge hat.
Wenn die Seelsorge die Methoden der Beratung integriert, dann kann
man mit Seitz erklären: »Wesen, Intention, Mittel und Ziel der Seelsorge sind dem-
zufolge: psychologische und theologische Deutung des Verhaltens des Seelsorgers und des
–36–
Rat-suchenden; zielgerichtete Interaktion der Partner; kontrolliertes und methodisches
Ge-spräch; Auflösung der Ratlosigkeit, Aktivierung des Möglichen, optimale Problem-
bewältigung durch den Ratsuchenden selbst.« (Seitz 1985, S. 102)
Theologische Aspekte in das seelsorgerliche Gespräch einzubringen, ohne
in die problematische kerygmatische Seelsorge zu verfallen, fällt modernen
Seelsorgern schwer. Das sagt auch Manfred Seitz über Gesprächserfahrungen
mit Psychologen und Psychoanalytikern. »Sie sagen, daß häufig sie es seien, die in
Gruppen mit Pfarrern und Christen anzeigen und aussprechen müßten, daß es sich jetzt
um ein theologisches Problem handele, das zu besprechen sei. Es fällt ihnen auf, daß die
Fähigkeit, den Glauben im Gespräch auszudrücken und zu ihm zu stehen, außerordent-
lich schwach entwickelt … sei.« (Seitz 1985, S. 149)
Menschen, die in die Seelsorge kommen, haben in erster Linie die Erwar-
tung, dass die Seelsorger Zeit haben und dass sie aussprechen können, was sie
be-wegt. Die eigentliche Aufgabe der Seelsorge ist, der Klage Raum zu geben.
Denn Raum geben heißt trösten. Das steht im Gegensatz zu „einengen“, was
im Wortstamm mit Angst zu tun hat. Es geht um Kommunikation, wechselsei-
tiges Geben und Nehmen. »Dabei ist der Hörende der Gebende, und der Sprechende
empfängt. Das Wort, das „Fleisch geworden ist“, scheint durch die Person des Seelsorgers
hin-durch.« (Piper 1985, S. 14)
–37–
4. Logotherapie als hilfreiche Beratungsform für die Seelsorge
Für Seelsorger kann die Logotherapie die Beratungsform der Wahl sein.
Sie beinhaltet alle Techniken, die eine gute Beratung als Handwerkszeug
braucht. Darüber hinaus bietet sie eine Philosophie, die es ermöglicht, über die
noetische Dimension des Menschen und in dieser über das Gewissen den Bezug
zur Trans-zendenz herzustellen. Also ist die Logotherapie eine Hilfe, gerade die
spezifisch seelsorgerische Dimension, die Beziehung IchGott zu gestalten. Sie
ist zur Reli-gion hin offen. Dazu erklärt Riemeyer: »Es ist auffällig, dass sich vor
allem Theologen, Pädagogen, Sozialarbeiter und Philosophen für die Logotherapie und
ihre Anwendung interessiert haben; denn gerade für diese Fachgebiete ist eine Anthropo-
logie und eine Wert- und Sinnorientierung von großer Bedeutung.« (Riemeier 2002, S.
36)
Mit der Logotherapie steht mir ein Gedankengut und Vokabular zur
Verfügung, das mich befähigt, über Gott und den Glauben so zu sprechen, dass
es auch ein Mensch versteht, der kirchenfern, aber suchend ist, und der den
internen „Jargon“ und die Symbolik nicht versteht. Auch mir als Seelsorger
erleichtert die Logotherapie das Gespräch über Gott und meinen Glauben, weil
ich manches Insidervokabular selbst als nicht treffend und eher abgedroschen
empfinde.
Die Ziele der Logotherapie (Entwicklung der Möglichkeiten des Men-
schen, Verantwortung für sein Handeln, Sinnerfüllung und Selbsttranszendie-
rung) kann ich direkt in die Seelsorge übernehmen, denn hierin stimme ich mit
Frankl überein. Was ich zusätzlich in der Seelsorge anstrebe, ist, beim Klienten
das Ver-trauen zu Gott zu stärken. Ich will ihm helfen, sich auf Gott verlassen
zu können. Das ist eine Entwicklung, das bedeutet, einen Weg zu gehen. Auf
diesem Weg helfen mir die Gedanken Frankls weiter. Z.B. dem Klienten zu hel-
fen, sich zu entwickeln und ihm nichts aufzuoktroyieren. »Es geht ja nicht darum,
daß wir dem Patienten einen Daseinssinn geben, sondern einzig und allein darum, daß
wir ihn instand setzen, den Daseinssinn zu finden, daß wir sozusagen sein Gesichtsfeld
erweitern, so daß er des vollen Spektrums personaler und konkreter Sinn- und Wertmög-
lichkeiten gewahr wird.« (Frankl 1997, S. 72)
Frankl definiert Gläubigkeit allerdings nicht direkt als einen Glauben
an Gott, sondern als den Glauben, dass das Leben einen Sinn hat und dass ich
diesen Sinn finden kann. Aber er sagt auch, dass dieser Sinnglaube über sich
selbst hinaus weist. »Wenn die Psychotherapie das Phänomen der Gläubigkeit nicht als
ein Glauben an Gott, sondern als den umfassenderen Sinnglauben auffasst, dann ist es
durchaus legitim, wenn sie sich mit dem Phänomen des Glaubens befaßt und beschäftigt.
Sie hält es dann eben mit Albert Einstein, für den die Frage nach dem Sinn des Lebens
stellen religiös sein heißt.« (Frankl 1999, S. 75)
–38–
Weiter erklärt Frankl, dass der Sinnglaube auf die Transzendenz verweist.
»Mag nun die Religion für die Logotherapie auch noch so sehr „nur“ ein Gegenstand sein,
…so liegt sie ihr doch zumindest sehr am Herzen, und zwar aus einem einfachen Grund:
im Zusammenhang mit Logotherapie meint Logos Sinn. Tatsächlich geht menschliches
Dasein immer schon über sich hinaus, weist es immer schon auf einen Sinn hin. In diesem
Sinne geht es dem Menschen in seinem Dasein nicht um Lust [Freud] oder um Macht
[Adler], aber auch nicht um Selbstverwirklichung, vielmehr um Sinnerfüllung. In der Lo-
gotherapie sprechen wir da von einem „Willen zum Sinn“. …der Sinnglaube des Menschen
ist, im Sinne Kants, eine transzendentale Kategorie.« (Frankl 1992, S. 62f)
Durch diese Gegenüberstellung wird deutlich, was die Logotherapie für
die Seelsorgeberatung so attraktiv macht. In der Beratung werden von den
Daseinsbezügen des Menschen nur die Bereiche: der Mensch als Gegenüber, die
Sachwelt und das eigene Ich erfasst. In der Logotherapie geht es auf dem Weg
zur Werteverwirklichung, zum Sinn in Richtung Transzendenz.
Ich verstehe die christliche Seelsorge so, dass der Seelsorger sich küm-
mert, dass er sich ganzheitlich, fürsorglich zum Menschen wendet, dass er den
Menschen, der sich von sich selbst und von Gott entfremdet hat, vorbehaltlos
annimmt und ihm beisteht. Ich als Seelsorger soll Zeuge sein und nur das ver-
mitteln, was ich selbst lebe und erlebt habe.
Die Logotherapie befähigt mich, mich um den Klienten zu kümmern, der
sich entwickeln will. Ich kann dabei behilflich sein, dass der Klient Verantwor-
tung für sein Leben übernimmt, dass er zu dem wird, der er sein könnte, dass
er eine Weltanschauung entwickelt. Das sind Kategorien der Logotherapie, die
ich auch in der Seelsorge einsetzen kann, um dem Klienten bei der Umsetzung
seines Glaubens zu helfen, damit er die Fragen für sich beantworten kann: Wie
kann ich sinnvoll leben? Wie kann ich mich auf das Leben einlassen, das mich
anfragt? Diese Fragen stellen sich auch dem Glaubenden, denn Jesus sagt von
sich: „Ich bin das Leben.“
–39–
SchlussSeelsorge, wie ich sie verstehe
Ich verbrachte mein ganzes Leben im Bereich der Kirche. Dabei empfand
ich, dass es zu wenig gläubige Menschen gab, denen man ein Problem anver-
trauen konnte, die damit sorgfältig umgegangen sind und einem keine schnel-
len, vor-gefertigten Antworten gaben. Mir begegneten viel zu wenige Christen,
die zur Seelsorge befähigt waren, oder wenigstens ein Gespür für den Bedarf
an Seelsorge hatten. Meine Sicht auf die Seelsorge ist durch meine persönliche
Erfahrung geprägt. Ich erlebte so viel schlechte Seelsorge und erlebe sie noch
heute, dass ich mich damit auseinandersetzen wollte. Ich höre immer wieder
Äußerungen wie: „Der Mensch sollte sich nicht so viel um sich selbst drehen“.
(Gemeint war: „Der sollte lieber mal mit anpacken.“) Unter den engagierten
Gläubigen ist gut fundierte Seelsorge noch wenig verbreitet.
Vor meiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen Seelsorgearten
ahnte ich nicht, dass es so zahlreiche Strömungen gibt. Ich staunte über die Ver-
treter der kerygmatischen Seelsorge. Nach meiner Beobachtung ist die Zahl der
Menschen zu groß, die ihr Leben lang Gottesdienste besuchten, ohne dass ihnen
dadurch ge-holfen wurde. Weder durch die Predigt, weil sie ohne persönliche
Anleitung das Gehörte nicht umsetzen konnten, noch durch den Gottesdienst,
weil sie sich vielleicht so an die Form gewöhnt hatten, dass sie sie nicht zu einer
persönlichen Entwicklung anregte. Einerseits braucht der Mensch Informati-
on, die kann in der Gruppe geschehen, aber dann braucht er Rat, das Gehörte
individuell umzusetzen. Es reicht dem Einzelnen nicht, wenn nur der Gruppe
verbale Hilfe angeboten wird. Der Arzt untersucht mich auch einzeln und nicht
als Gruppe, es sei denn, es handelt sich um eine Epidemie. Gewöhnlich erwar-
te ich, dass er sich Zeit für mich nimmt und mich individuell untersucht und
behandelt.
Wie sollte der Seelsorger sein?
Ich las in einem Buch für Pastoren eine Begebenheit, die mich sehr be-
rührt hat, weil ich ähnliche Erfahrungen gemacht habe. Eugene Peterson18,
kommt als junger Student in den Semesterferien nach Hause. Er hat Probleme,
wie es mit ihm weitergehen soll, und er sucht Rat. Er wendet sich an seinen
Pastor. Nachdem dieser ihm fünf Minuten zugehört hat, weiß er schon, dass sein
Problem mit Sex zu tun hat. Sie verabreden noch ein weiteres Treffen, bei dem
Peterson zu dem Er-gebnis kommt: Der Pastor selbst hat das Problem, nicht er
– Peterson. Er sucht sich einen anderen Mann, der den Ruf eines Heiligen hat.
Es stellt sich schnell heraus, der hört sich gerne selbst reden, »[Er] hielt … mir 18 Schriftsteller und Pastor
–40–
unablässig Vorträge über den Epheserbrief. Ich hatte vorher keine Ahnung gehabt, dass die
Bibel so langweilig sein konnte.« (Peterson 2000, S. 192) Ziemlich frustriert spricht
er mit einem Freund über seine Lage. Der empfiehlt ihm, es doch einmal mit
einem Mann aus dem Ort zu versuchen, der recht bekannt ist, weil der als eine
Art Hausmeister alle Reparaturarbeiten durchführt. Er gilt als einfach, aber sehr
gläubig. Nach einigem Zaudern spricht Peterson diesen Mann an. Sie treffen sich
und er erlebt jemanden, der lange Zeit nur zuhört. «[Er] war der erste Mensch,
den ich erlebt habe, der dem Nichtwissen und Nichtkümmern den Vorrang gab.« Er be-
schreibt ihn: »Großzügig, einladend, ablehnend gegenüber geistlichen Klischees, Verach-
tung für geschniegelte Frömmigkeit, sich mit mir zusammen schrittweise voranwagend in
einer schlichten Gemeinschaft.« (Peterson 2000, S. 192)
Ich kenne einen Pastor, der außerdem ausgebildeter Mediziner ist. Er
benutzte häufiger den Begriff, dass das Wort Gottes »verstoffwechselt« werden
müsse, damit es nützt und lebendig wird. Das ist Seelsorge, wie ich sie verste-
he: Einem Menschen, der an Gott glaubt, zu helfen, als Christ zu leben. Dem
Menschen zu helfen, der Fragen an Gott hat, Antworten zu finden. Er soll dabei
in seinen vier Bezügen ausgewogen sein: zum Du, zum Ich, zu den Dingen und
zu Gott.
Dafür erscheint mir die Kombination von Seelsorge und Logotherapie
geeignet. Mit der Logotherapie gelingt es mir, dem Menschen zu helfen, selbst
Ent-scheidungen zu treffen und Verantwortung für sein Leben zu übernehmen.
Und darüber hinaus seinen Sinn im Leben zu suchen und zu finden. Das ent-
spricht für mich dem Kern der biblischen Botschaft.
–41–
Literaturverzeichnis
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Dieterich, Michael: Einführung in die allgemeine Psychotherapie und Seelsorge.
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Frankl, Viktor E.: Der unbewusste Gott. Psychotherapie und Religion, dtv,
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Frankl, Viktor E.: Die Psychotherapie in der Praxis. Piper, München, Zürich 1997
Frankl, Viktor E.: Logotherapie und Existenzanalyse. Piper, München, Zürich
1987
Grün, Anselm OSB: Geistliche Begleitung bei den Wüstenvätern. Vier Türme,
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Peterson, Eugene: Der verlorene Hirte, Brockhaus, Wuppertal, 2000
Piper, Hans-Christoph: Krankenhaus-Seelsorge heute. In Berliner Hefte für
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Riemeyer, Jörg: Die Logotherapie Viktor Frankls, Quell, Gütersloh, 2002
Rienecker, Fritz (Hg.) : Lexikon zur Bibel. Brockhaus, Wuppertal 1985
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Seitz, Manfred: Praxis des Glaubens: Gottesdienst, Seelsorge und Spiritualität.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1985
Thurneysen, Eduard: Die Lehre von der Seelsorge. Chr. Kaiser, München 1948
Eduard Zwierlein: Blaise Pascal. Panorama, Wiesbaden