sperling grundlagen und ziele naturnaher arbeit · bedeutung von spiel und bewegung für die...
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Praxisrelevante sozialpädagogische Reflexion über Grundlagen und Ziele in
der naturnahen Arbeit mit Kindern aus städtischen Wohnumfeldern
Diplomarbeit im
Studiengang Sozialpädagogik
Vorgelegt von
1. Tanja Sperling
1.1 Essen, im Januar 2003
Prüfer: Prof. Dr. M.A. Franz Tings
Zweitprüfer: Thomas Schut-Ansteeg
Universität Essen
Fachbereich 1 Philosophie, Geschichts-, Religions- und Sozialwissenschaften
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„Man muss einige der Lebensrätsel nicht
theoretisch, sondern praktisch lösen."
(Henry David Thoreau)1
1 In: Schlehufer/Kreuzinger, 1997, S. 3
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................... 5
2. Merkmale der Lebensphase Kindheit heute .................................... 8
2.1 Definition: Kindheit (in Abgrenzung zur Lebensphase Jugend)...... 8
2.2 Bevölkerung................................................................................... 9
2.3 Familie ......................................................................................... 10
2.4 Wohnen und Straßensozialisation ............................................... 11
2.4.1 Wohnung und Kinderzimmer.................................................. 11
2.4.2 Wohnumfeld........................................................................... 13
2.4.2.1 Wegfallen von Frei- und Bewegungsräumen...................... 13
2.4.2.2 Monofunktionalität städtischer Räume................................ 14
2.4.2.3 Verinselung von Lebensräumen ......................................... 14
2.4.3 Traditionelle Spielplätze ......................................................... 15
2.5 Freizeitverhalten .......................................................................... 16
2.5.1 Konsumorientierung............................................................... 16
2.5.2 Medien und Spielzeug............................................................ 17
2.5.3 Freizeitgestaltung................................................................... 20
2.5.4 Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen.......... 21
3. Naturnahe Arbeit.............................................................................. 22
3.1 Begriffsklärung............................................................................. 22
3.2 Geschichtlicher Rückblick ............................................................ 24
3.3 Zugrundeliegende Thesen und Modelle....................................... 26
3.3.1 Das dreidimensionale Persönlichkeitsmodell der Ökolo-
gischen Psychologie .............................................................. 26
3.3.2 Entwicklungsbedingte Grundlagen......................................... 28
3.3.2.1 Die kindliche Beziehung zur Natur ...................................... 28
3.3.2.2 Natur und kindliche Entwicklung ......................................... 30
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3.4 Zentrale Ziele und Inhalte ............................................................ 31
4. Projektbeschreibung: Naturerlebnisgarten des BUND in Herten 33
4.1 Das Gelände................................................................................ 33
4.2 Zielgruppen.................................................................................. 34
5. Persönlichkeitsentwicklung durch Spiel und Bewegung............. 36
5.1 Der psychomotorische Ansatz ..................................................... 37
5.2 Bewegung und Körpererfahrung.................................................. 39
5.2.1 Bedeutung für die kindliche Entwicklung................................ 39
5.2.2 Entwicklung des Selbstkonzeptes.......................................... 40
5.3 Freies Spiel als zentrale Lebensäußerung des Kindes................ 42
5.4 Kinder und Abenteuer .................................................................. 44
5.4.1 Begriffsklärung....................................................................... 45
5.4.2 Grundthemen der mittleren Kindheit ...................................... 46
5.4.2.1 Jagen und Sammeln ........................................................... 47
5.4.2.2 Sich ein eigenes Haus bauen ............................................. 48
5.4.2.3 Pflegen und Hüten .............................................................. 49
5.4.2.4 Entdecker- und Erfindergeist............................................... 50
5.4.2.5 Handwerk und Handel......................................................... 51
5.5 Der Naturerlebnisgarten als Spiel- und Bewegungsraum ............ 52
5.6 Sinneswahrnehmung ................................................................... 59
5.6.1 Bedeutung für die kindliche Entwicklung................................ 60
5.6.2 Sinneswahrnehmung im Naturerlebnisgarten ........................ 62
5.7 Fantasie und Kreativität ............................................................... 67
5.7.1 Bedeutung für die kindliche Entwicklung................................ 68
5.7.2 Anregung von Fantasie und Kreativität .................................. 69
5.7.3 Der Naturerlebnisgarten als Ort für Fantasie und Kreativität.. 70
5.8 Soziales Lernen ........................................................................... 73
5.8.1 Erlernen sozialer Grundfähigkeiten........................................ 73
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5.8.2 Freundschaften, Gruppen und Banden.................................. 75
5.8.3 Soziales Lernen im Naturerlebnisgarten ................................ 75
6. Sozialpädagogik und naturnahe Arbeit ......................................... 77
Anhang ................................................................................................... 83
Abkürzungsverzeichnis:
Abb. - Abbildung
Abs. - Absatz
Aufl. - Auflage
bzw. - beziehungsweise
ca. - circa
d.h. das heißt
etc. - et cetera
f - folgende
ff - fortfolgende
Hrsg. - Herausgeber
s. - siehe
S. - Seite
SGB - Strafgesetzbuch
T.Sp. - Tanja Sperling
vgl. - vergleiche
z.B. - zum Beispiel
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2. Einleitung
In meiner bereits mehrjährigen Praxiserfahrung in der Arbeit mit Kindern
habe ich häufig Kinder kennengelernt, die Wahrnehmungs-, Bewegungs-
oder Verhaltensstörungen zeigten.
Einige Gründe hierfür scheinen in den Lebensumständen heutiger Kinder
zu liegen. Unterhält man sich mit Kindern, so bekommt man den Eindruck,
dass diese viel Zeit vor dem Fernseher und Computer verbringen und sich
weniger draussen bewegen und spielen.
Sowohl in meiner Ausbildung, als auch privat habe ich mich schon viel mit
Möglichkeiten der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung,
insbesondere durch Spiel und Bewegung, beschäftigt.
Als ich vor 2 Jahren angefangen habe, eine Gruppe 5- bis12-jähriger
Kinder im Naturerlebnisgarten in Herten mitzubetreuen, habe ich entdeckt,
dass in der Natur viele Fördermöglichkeiten für die kindliche Entwicklung
liegen, die in den Wohnungen und im Wohnumfeld der meisten Kinder
immer mehr verschwinden.
Zudem habe ich bemerkt, dass Kinder offenbar eine besondere
Begeisterungsfähigkeit, auch für die kleinen Dinge in der Natur, besitzen.
Kinder, die aus städtischen Wohnumfeldern kommen, sind weitestgehend
von der Natur entfremdet. Wie weit diese Naturentfremdung geht,
verdeutlicht folgendes Beispiel: Bei einer 1995 gemachten Umfrage, die
nach der Farbe von Kühen fragte, gaben über 70% der Stadt- und
Landkinder an, dass die Farbe der Kuh lila sei (vgl. Seeger/Seeger, 2001,
S. 129).
Aus den zuvor genannten Gründen habe ich mich entschlossen, mich in
dieser Diplomarbeit mit den Möglichkeiten der naturnahen Arbeit mit
Kindern aus städtischen Wohnumfeldern auseinanderzusetzen. Ich werde
dazu die kindliche Lebenswelt näher betrachten und mich mit der
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Bedeutung von Spiel und Bewegung für die Persönlichkeitsentwicklung
auseinandersetzen. Diese beschreibe ich in Bezug auf naturnahe Arbeit.
Dabei ist mir durchaus klar, dass auch die Stadt fördernde, kultivierende
und anregende Wirkungen für die Entwicklung von Kindern hat. Diese
Arbeit soll auch kein illusorisches Plädoyer für „Zurück zur Natur“ sein. Sie
soll jedoch herausstellen, was Kindern, die in der Stadt aufwachsen, fehlt,
wie sie in ihrem freien Spiel und ihrer Bewegung und damit in ihrer
Entwicklung eingeschränkt werden, wie die Beziehung von Kindern zur
Natur ist und welche Rolle diese für die kindliche Entwicklung spielt.
Da die naturnahe Arbeit sehr vielfältig ist – sie reicht von Natursportarten
und Naturerfahrungsspielen über Umweltprojekte und ökologisches
Lernen bis hin zur Persönlichkeitsentwicklung durch Naturerfahrungen -
werde ich mich auf die naturnahe Arbeit im Naturerlebnisgarten
konzentrieren. Andernfalls könnte jedes Thema von mir nur oberflächlich
behandelt werden.
Zudem werde ich mich nicht damit beschäftigen, welche Möglichkeiten
man hat und auf welche Schwierigkeiten und Grenzen man stößt, wenn
man ein Projekt wie den Naturerlebnisgarten verwirklichen will. Damit
meine ich die Suche nach einem geeigneten Grundstück,
Finanzierungsmöglichkeiten und Gestaltung und Erhaltung des
Naturraumes. Ich möchte an dieser Stelle dennoch darauf hinweisen, dass
es unerlässlich ist, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, wenn
man ein solches Projekt plant.
In Kapitel 2 gehe ich zunächst auf die Merkmale ein, die die Lebensphase
Kindheit heute bestimmen. Auf diese werde ich in Kapitel 5 zurückgreifen.
In Kapitel 3 beschäftige ich mich mit allgemeinen Dingen der naturnahen
Arbeit. Nach einer Begriffsklärung und einem geschichtlichen Rückblick
beschreibe ich zugrundeliegende Thesen und Modelle, um so die
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Beziehung von Kindern zur Natur herauszuarbeiten. Abschließend gehe
ich auf die zentralen Ziele und Inhalte von naturnaher Arbeit ein.
In Kapitel 4 geht es um die Projektbeschreibung des
Naturerlebnisgartens. Die Beschreibung des Geländes soll die
Fördermöglichkeiten aufzeigen. Im Punkt 4.2 geht es mir darum, deutlich
zu machen, auf welche Zielgruppe ich mich in dieser Arbeit beziehe.
Den Hauptteil meiner Arbeit nimmt Kapitel 5 ein. Hier beschreibe ich die
Bedeutung von Spiel und Bewegung für die Persönlichkeitsentwicklung.
Dabei gehe ich auf die verschiedenen Aspekte zunächst jeweils allgemein
ein, um sie dann exemplarisch auf den Naturerlebnisgarten zu übertragen.
So werden die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung durch
naturnahe Arbeit deutlich.
In Kapitel 6 beschäftige ich mich abschließend damit, wie sinnvoll und
wichtig es ist, naturnahe Arbeit in der Sozialpädagogik einzusetzen.
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3. Merkmale der Lebensphase Kindheit heute
Um zu verstehen, warum naturnahe Arbeit mit Kindern wichtig ist, ist es
zunächst sinnvoll sich die Merkmale der heutigen Lebensphase Kindheit
anzuschauen. Nur so kann erkannt werden, was Kindern fehlt, die in
städtischen Wohngebieten aufwachsen und welche Fördermöglichkeiten
dagegen in der Natur liegen.
Da es in meiner Diplomarbeit um die Arbeit mit Kindern geht, gehe ich
jedoch als erstes auf den Begriff Kindheit ein, damit deutlich wird, um
welche Zielgruppe es sich genau handelt.
3.1 Definition: Kindheit (in Abgrenzung zur Lebensphase Jugend)
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Begriff Kindheit einzugrenzen
und zu definieren.
Klar und deutlich ist die rechtliche Definition des SGB VIII. Im §7, Abs. 1
Satz 1 heißt es:
„(1) Im Sinne dieses Buches ist 1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, [...]“
Abgegrenzt werden kann die Lebensphase durch psychologische
Kriterien. Nach Hurrelmann (vgl. Hurrelmann,1997, S. 31ff) ist ein
wichtiger Gesichtspunkt, der zur Beendigung der Lebensphase Kindheit
gehört, das Eintreten in die Pubertät. Sie markiert einen tiefgreifenden
Einschnitt in die Persönlichkeitsentwicklung. In der Kindheitsphase sind
Imitation und Identifikation mit den Eltern vorherrschende psychische
Mechanismen, um mit Anforderungssituationen zurechtzukommen. Dies
tritt im Jugendalter deutlich in den Hintergrund, eigenständig entwickelte
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Bewältigungsmechanismen entstehen. Zudem unterscheiden sich die
Entwicklungsaufgaben von Kindheits- und Jugendphase.
„Im Kindheitsalter geht es um die Entwicklung elementarer kognitiver und sprachlicher Kompetenzen, die Erstentwicklung sozialer Kooperationsformen und moralischer Grundorientierung – also um Aufgaben, deren Bewältigung und Lösung in vielerlei Hinsicht die Basis für die Entwicklungsaufgaben im Jugendalter bilden.“ (Baacke, 1992, zitiert nach: Hurrelmann, 1997, S. 34)
Die soziologische Betrachtungsweise beschäftigt sich bei der Abgrenzung
der Lebensphasen Kindheit und Jugend vor allem damit, ob
Veränderungen der sozialen Verhaltensanforderungen ein solches
Ausmaß erreichen, dass vom Übergang von einer sozialen Position in
eine andere gesprochen werden kann. Hierbei wird eine schrittweise
Erweiterung der Handlungsspielräume deutlich, die gleichzeitig eine
Erweiterung der Rollenvielfalt mit sich bringt. Dabei ist jedoch kein
genauer Zeitpunkt festzumachen, da der Übergang in verschiedenen
Bereichen zu verschiedenen Zeiten erfolgt (so z.B. mit 10-12 Jahren die
Intensivierung der Leistungsanforderungen und die mit 12-14 Jahren
einsetzende soziale Ablösung von den Eltern) (vgl. Hurrelmann, 1997, S.
39ff).
3.2 Bevölkerung
In den letzten Jahrzehnten hat sich in allen Industrieländern die
Zusammensetzung der Bevölkerung nach Altersgruppen spürbar zu
Ungunsten der Kinder und Jugendlichen verändert. Wies die
Bevölkerungspyramide in Deutschland zu Anfang des letzten
Jahrhunderts in den jungen Jahrgängen noch eine zahlenmäßig große
und breite Basis auf, die sich nach oben, in die älteren Jahrgänge,
schrittweise verkleinerte, so ähnelt die „Pyramide“ heute eher einer
hochgewachsenen, ausgefransten Tanne mit einem unten schmaler
gewordenen Stamm (vgl. Hurrelmann, 1997, S. 15ff).
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Auf die Gründe der Veränderung gehe ich hier nicht ein, dafür aber auf die
Konsequenzen für die junge Generation. Für diese wird es zunehmend
schwieriger, sich gesellschaftspolitisch Gehör zu verschaffen. Die
Verteilung der finanziellen Ressourcen wird vermutlich immer mehr zu
Gunsten der älteren Bevölkerung ausfallen. Gelder, z.B. für Kindergärten,
Schulen, Jugendhäuser und die Sicherung der öffentlichen Infrastruktur für
Kinder und Jugendliche werden im Verteilungskampf der Generationen
nur unter großen Schwierigkeiten zu bekommen sein (vgl. Hurrelmann,
1997, S. 19f).
Diese Entwicklung kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Seit
viereinhalb Jahren arbeite ich in einem Bürgerhaus in Herten und jedes
Jahr stehen weniger Geldmittel zur Verfügung. Projekte werden gestrichen
und unsere Angebote müssen mit immer weniger Material und auch immer
weniger Personal verwirklicht werden.
3.3 Familie
In den letzten Jahrzehnten hat die traditionelle Familie viele
Veränderungen erfahren. Immer mehr Kinder wachsen in
„Patchworkfamilien“, also in Familien mit Stiefeltern und Halb- und
Stiefgeschwistern auf, Ein-Eltern-Familien nehmen zu, das Aufwachsen
als Einzelkind und wechselnde Lebensabschnittspartner sind keine
Seltenheit mehr.
Ich möchte hier nicht auf alle Vor- und Nachteile eingehen, wichtig ist mir
vor allem die Verringerung der Sozialkontakte, die mit diesen
Veränderungen häufig einhergeht.
Besonders die wachsende Zahl von Einzelkindern kann künftig ein
Zurückgehen von Gratiskontakten bedeuten, die durch Verwandtschaft
zustande kommen. Denn schon in der den Einzelkindern folgenden
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Generation fehlen Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins. Zudem sind
Einzelkinder ausschließlich auf Kontakte außerhalb der Wohnung
angewiesen. Allerdings kann man keine pauschalen Aussagen zur
Sozialisation von Einzelkindern machen, da es durchaus auch positiv
ausfallende Studien gibt (vgl. Größing, 2002,S.13f; Rolff/Zimmermann,
1997, S.15f, S. 25ff).
Bei Ein-Eltern-Familien ergibt sich das Problem, dass die Kinder häufig
alleine, also auch unbeaufsichtigt, zu Hause sind (vgl. Rolff/Zimmermann,
1997, S. 28). Diese Zeit verbringen viele der Kinder vor dem Fernseher
oder dem Computer.
3.4 Wohnen und Straßensozialisation
Auch die räumlichen Bedingungen, unter denen Kinder heute aufwachsen,
haben sich in den letzten fünfzig Jahren tiefgreifend verändert. Gerade die
„Welt“ von Kindern, die in Städten aufwachsen, wird von Straßen, Autos,
Gebäuden, Fernsehen und Video beeinflusst. Von naturnahen
Lebensbereichen sind sie weitgehend abgeschnitten (vgl. Stichmann, in:
Naturschutzzentrum NRW, 1990a, S.3).
„[...] daß der Bewegungsradius von Kindern auf ein Minimum reduziert ist. Winzige Kinderzimmer, kleine, nicht kindgerecht angelegte Wohngrundstücke, zubetonierte und eingezäunte Anlagen und ein hohes Verkehrsaufkommen lassen kaum Freiräume zu. Die Bewegungsmöglichkeiten der Kinder werden oft auf „Spielplatzghettos“ begrenzt.“ (Kretschmer, 1998a, S. 16)
Da die räumliche Situation neben den familiären und sozialen
Bedingungen den nächstwichtigsten Faktor für das Kind darstellt (vgl.
Lang, 1995, S. 20), werde ich auf diese im Folgenden eingehen.
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3.4.1 Wohnung und Kinderzimmer
Erst mit der Wiederaufbautätigkeit nach 1950 ergaben sich Möglichkeiten,
Kinderzimmer einzurichten. Die Wohnungsnot in den Nachkriegsjahren
ließ dafür buchstäblich keinen Raum. Bis dahin fand man Kinderzimmer
fast ausschließlich in den Häusern des Bürgertums (vgl.
Rolff/Zimmermann, 1997, S. 66).
Fast jedes Kind kann heute allein oder mit Geschwistern über einen
eigenen Raum verfügen. Damit sind die Kinder einerseits räumlich
ausgegrenzt, haben andererseits aber auch einen Raum für sich, in dem
die Tätigkeit der Eltern eher gering ist.
Im sozialen Wohnungsbau werden 6,75 qm als Mindestnorm für
Kinderzimmer vorgeschrieben. Von genügend Platz kann dabei keine
Rede sein. Häufig sind Kinderzimmer die kleinsten Räume der Wohnung
und oft bieten sie gerade Platz für die Lagerung des angesammelten
Spielzeuges. Freie Fläche zum Spielen ist in solchen Fällen nicht mehr
vorhanden.
In der Nachkriegszeit gingen die Kinder zum Spielen nach draußen (es
gab ja auch kaum Kinderzimmer), heute verbringen sie einen Großteil
ihrer Zeit in der Wohnung bzw. in ihrem Zimmer. Diese sind jedoch in den
meisten Fällen nicht zum Herumtoben und Bewegen geeignet. Dünne
Wände und wenig Platz führen mit dazu, dass Kinder häufig stille
Tätigkeiten ausführen (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S.66ff; Kretschmer,
1998b, S. 12).
Der Umstand, dass immer mehr die Wohnung zum Spielen benutzt wird,
ist wohl auch auf das veränderte Wohnumfeld zurückzuführen, auf
welches ich im nächsten Punkt zu sprechen komme.
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3.4.2 Wohnumfeld
3.4.2.1 Wegfallen von Frei- und Bewegungsräumen
„Kindheit heute, das ist auch zunehmend ein Kampf um Frei- und Bewegungsräume.“ (Jehle, 1998, S. 23)
In der Bundesrepublik wohnen 2/3 aller Kinder in der Stadt. Daraus lässt
sich schon schließen, dass die Möglichkeiten in naturnahen Räumen zu
spielen, relativ gering sind (vgl. Gebhard, 1994, S. 79).
Sieht man sich die Veränderungen, die es seit Kriegsende auf der Straße
gegeben hat an, spielt das Auto eine herausragende Rolle. Automassen
beherrschen die Straßen, die früher von Kindern auch zum Spielen
benutzt wurden. Kinderspiele haben dort heute keinen Platz mehr (vgl.
Rolff/Zimmermann, 1997, S. 69ff), was ich aus eigenen Beobachtungen
bestätigen kann. Zur Zeit wohne ich an einer vierspurigen Straße, weit ab
von irgendwelchen Baulücken, Wiesen oder auch nur Spielstraßen. Die
Kinder „lungern“ auf dem Parkplatz hinterm Haus herum, wissen nichts mit
sich anzufangen und werden sofort vertrieben, wenn sie einmal ihrem
Bewegungsdrang freien Lauf lassen und beispielsweise auf die Garagen
klettern.
Heutige Kinder haben es allgemein schwerer, Orte und Nischen zu finden,
die sie sich aktiv und selbstbestimmt aneignen können. Auf Grünanlagen
steht meist ein Schild „Betreten verboten“ und unverplanter Raum, wie
z.B. Baulücken, sind gerade bei hoher Bevölkerungsdichte immer weniger
vorhanden (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 69ff).
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Diese Entwicklung kann ich aus meiner eigenen Kindheit bestätigen. Als
ich fünf Jahre alt war, haben meine Eltern mit als Erste in einer
Neubausiedlung gebaut. Wir Kinder hatten massenhaft Platz, um auf den
vorhandenen, unbebauten Wiesen auf Entdeckungsreise zu gehen und zu
spielen. Als meine jüngere Schwester, die nur fünf Jahre jünger ist als ich,
alt genug war, blieb ihr nur noch der eigene Garten, da die Grundstücke
mittlerweile fast alle bebaut waren.
Zum Wegfallen des Spiel- und Bewegungsraumes kommt, dass ein Teil
der Kinder heutzutage abhängiger geworden ist. Die Benutzung von
Fahrrädern ist häufig zu gefährlich, die Kinder sind auf Erwachsene
angewiesen, die sie mit dem Auto fahren (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S.
69ff).
3.4.2.2 Monofunktionalität städtischer Räume
Betrachtet man die jüngere Stadtentwicklung, so stellt man fest, dass die
Stadt immer mehr in für ganz bestimmte Zwecke errichtete Einheiten
gegliedert ist. Da gibt es die Einkaufszentren, Fußgängerzonen,
Gewerbegebiete und Sport- und Freizeitparks. Alle Einheiten dienen zur
Erledigung eines ganz bestimmten Zweckes. Andere Zwecke, wie z.B. das
Bespielen, werden weitgehend verunmöglicht. Damit bleibt den
Wohngebieten zunehmend nur die Nutzung zum Wohnen (vgl. Lang,
1995, S.20). Das führt zu einer Monotonie, die Kindern wenig
Anregungspotential und wenig abwechslungsreiche Tätigkeiten zu bieten
hat (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 65).
3.4.2.3 Verinselung von Lebensräumen
In der Nachkriegszeit und auch davor eigneten Kinder sich ihre Umwelt in
konzentrischen Kreisen an. Je älter sie wurden, desto weiter kamen sie
auf ihren Streifzügen in die Umgebung, die von der elterlichen Wohnung
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ausgingen. Heutige Streifräume haben sich zwar erheblich erweitert,
haben aber eine Form angenommen, die am ehesten als Leben auf
mehreren Inseln beschrieben werden kann. Ausgangspunkt für die Kinder
ist die „Wohninsel“, von der es zum Kindergarten, zu Freunden, zur
Schule oder zum Einkaufen geht. Die Strecken zwischen den
verschiedenen Inseln werden im Auto oder mit öffentlichen
Verkehrsmitteln zurückgelegt. Damit verschwindet der Raum zwischen
den Inseln und verkommt zum erlebnisarmen Zwischenraum. Wurde der
Weg früher zum Spazieren und Spielen benutzt, wird er heute nur noch
überbrückt (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 135f).
3.4.3 Traditionelle Spielplätze
Kinder, die draußen spielen wollen, sind häufig auf Reservate, nämlich
Spielplätze angewiesen. Etliche Untersuchungen haben jedoch ergeben,
dass Spielplätze nur in Gebieten hoher Dichte gut besucht werden, da hier
Alternativen fehlen und dass das Spiel nie sehr lange dauert (vgl.
Kretschmer, 1998b, S. 12; Gebhard, 1994, S. 81; Rolff/Zimmermann,
1997, S. 109; Seeger/Seeger, 1997, S. 21).
Ich selber erinnere mich vor allem an einen Spielplatz in der Nähe des
Hauses meiner Großeltern, auf dem ich viel Zeit mit meinem Cousin und
meiner Schwester verbracht habe. Allerdings haben wir meistens nur kurz
auf den Spielgeräten gespielt und haben uns dann den „Kletterbäumen“
am Rande des Spielplatzes zugewandt. Mit ein Grund, warum wir den
Spielplatz gerne aufgesucht haben war der, dass wir fast immer ungestört
waren, weil eigentlich nie andere Kinder dort waren. Dieses Beispiel
bestätigt die gemachten Untersuchungen.
Das mangelnde Interesse lässt sich vor allem damit erklären, dass
Sinnesanreize fehlen und nur wenig eigene Gestaltungsmöglichkeiten
bestehen. Die meisten Geräte sind fest verankert und können nur
monofunktional benutzt werden (raufklettern – runterrutschen,
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hinschaukeln – herschaukeln), Vielfältigkeit und Variabilität fehlen (vgl.
Kretschmer, 1998b, S. 12; Gebhard, 1994, S. 82; Rolff/Zimmermann,
1997, S. 109).
Ein meiner Meinung nach sehr deutliches Beispiel für fehlende
Sinnesanreize und Gestaltungsmöglichkeiten sind die uniformierten
Fertighäuschen, die auf fast jedem Spielplatz zu finden sind:
„Diese glatten Fertighäuschen haben keine Risse, eigenwillig verlaufende Proportionen und kontrastierende Materialeigenheiten, an denen sich das Auge entlangtasten könnte. Ihre Kesseldruckimprägnierung verhindert, daß die Witterungseinflüsse im Verlauf der Zeit mit den Sinnen wahrnehmbare Spuren hinterlassen.“ (Natur- und Umweltschutzakademie des Landes NRW, 2001, S.21)
Mittlerweile gibt es an etlichen Orten Aktivspielplätze oder
Bewegungsbaustellen, die die angeführten Mankos der traditionellen
Spielplätze weitgehend aufheben (vgl. Kretschmer, 1998b, S. 12). Diese
seien aber nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Auf sie werde ich hier
nicht weiter eingehen, da das im Rahmen dieser Arbeit zu weit gehen
würde.
3.5 Freizeitverhalten
Unsere Gesellschaft ist eine Konsum- und Mediengesellschaft.
Markenartikel bestimmen das Kaufverhalten vieler Kinder und
Erwachsener; Computer und Fernseher im Kinderzimmer sind keine
Seltenheit mehr; technisches Spielzeug überschwemmt den Markt; die
Freizeit vieler Kinder ist minutiös geplant - diese Liste ließe sich
problemlos weiterführen. Die nächsten Punkte beschäftigen sich mit
diesen Trends, die extreme Auswirkungen auf das Leben der Kinder
haben.
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3.5.1 Konsumorientierung
Kinder werden oftmals als „Kaufmotoren der Familie“ oder
„Markendurchsetzer“ beschrieben. Obwohl die jüngere Generation
zahlenmäßig stark abnimmt, stiegen in den letzten beiden Jahrzehnten die
Ausgaben für Kinderprodukte. Auch bei größeren Anschaffungen in der
Familie oder der Urlaubsplanung entscheiden Kinder mit. Sie haben durch
Taschengeld, Geldgeschenke und Sparguthaben reichlich Geld zur
Verfügung2.
Die Werbung hat einen besonders großen Einfluss auf die Kinder-
Konsumkultur. Kinder werden als Nachwuchskonsumenten angesehen, da
Forschungen ergeben haben, dass zwei Drittel der Kinder ihre
Markenfavoriten im Erwachsenenalter beibehalten, wenn die Einprägung
bis zum 10. Lebensjahr erfolgt.
Für die Sozialisation von Kindern bedeutet das, dass Selbstwertgefühl und
Identität zunehmend über Konsum definiert werden. Auch soziale
Beziehungen hängen häufig vom Besitz bestimmter Waren ab. Die Frage
der Warenqualität (die durch die Marke bestimmt wird) wird also zur Frage
der Lebensqualität (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 73ff).
Zur Verdeutlichung der Wichtigkeit von Markenprodukten für Kinder hier
ein Beispiel, das viele Eltern vermutlich schon in sehr ähnlicher Form
erlebt haben. Eine meiner Cousinen hat sich vor Jahren (als diese
Rucksäcke „in“ waren) einen Eastpack gewünscht. Meine Tante kaufte
daraufhin einen besonders Guten, der größer als der „In-Rucksack“ und
am Rücken extra verstärkt war. Meine Cousine brach an ihrem Geburtstag
in Tränen aus, statt sich darüber zu freuen, weil es nicht der Richtige war.
2 Dieses geben sie meiner Vermutung nach auch ohne Kontrolle der Eltern für Sachen aus, die „in“ sind. So berichtete meine Mutter von einer Schülerin, die ca. 60DM für Pokemonkarten ausgegeben hat, ohne dass sie die Erlaubnis ihrer Eltern hatte.
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Die Verkäuferin zeigte sich beim Umtausch sehr verständnisvoll, da sie
solche Geschichten ausgesprochen häufig erlebte.
3.5.2 Medien und Spielzeug
Ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil ihres Lebens ist für die
meisten Kinder der Fernseher. Diese Entwicklung begann erst in den
sechziger Jahren, verlief dann aber rasant. Fast jedes Kind hat die
Möglichkeit Fernzusehen, viele besitzen sogar ein eigenes Gerät. Im
Gesamtumfang der Freizeitaktivitäten nimmt Fernsehen laut Rolff und
Zimmermann bei heutigen Kindern den größten Teil der Zeit ein. Dabei
wird Zeit gebunden, die früher für aktive Tätigkeiten genutzt wurde (vgl.
Rolff/Zimmermann, 1997, S. 77ff).
Wichtig ist auch, dass Fernsehen als Bilderkultur besteht. Sie spricht mehr
die Gefühle als den Verstand an und appelliert an unreflektierte
Reaktionen. Bilder verlangen, im Gegensatz zu Worten, keine
Vorstellungskraft.
„Ein Beispiel: Wir lesen einem Kind ein Märchen vor, in dem z.B. ein Prinz vorkommt. Der Prinz wird zwar beschrieben - meist als jung und schön -, doch versucht das zuhörende Kind, sich im Kopf vorzustellen, wie dieser Prinz in Wirklichkeit wohl aussehen könnte. Würde dieser Prinz in einem Märchen im Fernsehen vorkommen, bräuchte das Kind als Zuschauer solche Anstrengungen nicht zu unternehmen. Das Bild des Prinzen wird rein visuell wahrgenommen, und es bedarf keinerlei aktiver Umsetzung oder Übersetzung.“ (Rolff/Zimmermann, 1997, S. 82)
Die Bilderkultur, die die Wortkultur verdrängt, könnte also, vor allem bei
„Dauersehern“, die Entwicklung kognitiver Funktionen, wie z.B. der
Fantasie, hemmen (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 81ff).
Auch andere Medien erlangten seit dem zweiten Weltkrieg in der
Sozialisation von Kindern eine stetig wachsende Bedeutung. Dazu
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gehören Kinderbücher und Computerspiele. Auf diese Medien möchte ich
exemplarisch näher eingehen, bevor ich auf Spielzeug zu sprechen
komme.
Früher sollten Kinderbücher vor allem zur Vorbereitung auf die Rolle des
Erwachsenen dienen. Heute ist für den Betrieb eines Buches vor allem
wichtig, dass hohe Auflagenzahlen erreicht werden. Heutige Kinderbücher
sind zudem dünner und es werden häufig Fotos und comicartige Formen
verwendet. Besonders beliebt sind Bücher, die Fernsehsendungen
beinhalten. Auch hier schlägt sich die Bilderkultur nieder. Muss man sich
bei unbekannten Büchern
„[...] noch lesend in eine völlig neue und unbekannte Welt versetzen, ist in den TV-nahen Kinderbüchern wegen der vorangegangenen Seherfahrung die Phantasie schon besetzt.“(Rolff/Zimmermann, 1997, S. 88)
Zudem wird häufig unkonzentrierter und zerstreuter gelesen oder
Bücherreihen werden gesammelt, ohne gelesen zu werden (vgl.
Rolff/Zimmermann, 1997, S. 85ff).
Ebenfalls weit verbreitet sind Computerspiele. Auch hier wird das Wort
komplett durch das Bild ersetzt. Die Kinder können zwar selber in das
Geschehen eingreifen (teilweise allerdings nur sehr bedingt), dennoch
erfahren sie die Welt auf einer Bühne, d.h. Primärerfahrungen3, also
Erfahrungen in einer realen Welt und aus erster Hand, werden kaum
gemacht. Zudem fehlen bestimmte sinnliche
Wahrnehmungsmöglichkeiten, es werden nur ganz bestimmte Fähigkeiten
gefördert (z.B. das Reaktionsvermögen). Ein weiterer Punkt, der meiner
Meinung nach erwähnenswert ist, ist die Vereinzelungserfahrung, die
3 „Sie [die Primärerfahrungen, T.Sp.] sind das Medium, durch das das Ich zu sich selbst kommt, Urteils-, Entscheidungs- und Handlungskompetenz ausbildet und die es in die Lage versetzen, veränderte Wirklichkeiten ganzheitlich wahrzunehmen und sie produktiv mitzuverändern.“ (Holthaus, 1995, S. 38)
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gerade Kinder machen, die sehr viel am Computer sitzen4 (vgl. Lang,
1995, S. 26ff).
Abschließend komme ich auf zwei Aspekte in Bezug auf Spielzeug zu
sprechen, die das Spiel stark beeinflussen.
• Spielmittel, die im „Medienverbund“ produziert werden: Immer mehr
Spielwaren werden in Bezug auf Fernsehsendungen produziert und
vermarktet. Spontan fallen mir zwei Beispiele von Lego ein. Zum einen
die Raumschiffe von Star Wars, von denen ein Junge im offenen
Kinderbereich, den ich teilweise leite, jede Woche ein neues
mitbrachte, zum anderen das gesamte Equipment von Harry Potter,
das es zu kaufen gibt. Diese Spielsachen haben zur Folge, dass
Kinder nur noch die Sendungen nachspielen, jegliche Fantasie und
Eigenschöpfung im Spiel jedoch auf der Strecke bleibt.
• Technisches Spielzeug: Enorm ist auch die Zunahme an elektrisch
oder mechanisch betriebenem Spielzeug. Hier tritt der Aspekt des
Bedienens in den Vordergrund, die Handlungsmöglichkeiten sind durch
die Funktionen weitgehend vorgegeben. Das Spielzeug ist demzufolge
häufig spezialisiert und monofunktional. So wird eine Puppe, die auf
Knopfdruck einen Karateschlag ausführen kann, vermutlich
vorwiegend für kampfbetonte und aggressive Spielszenen verwendet
werden (vgl. Kuhlen, 1993, S 16f).
3.5.3 Freizeitgestaltung
Immer mehr Kinder geraten neben dem Leistungsstress der Schule
geradezu in einen „Freizeitstress“. Nicht selten findet man in den
Terminkalendern vieler Kinder ein volles Wochenprogramm mit
Sporttraining, Musikschule, Ballettstunden und Nachhilfe. In vielen Fällen
sind mit Anfahrtswegen schon 30-40 Stunden der Woche fest verplant.
4 Das Gleiche gilt natürlich auch in Bezug auf den Fernseher.
76
Natürlich liegen in den vielfältigen Angeboten auch Chancen und
Möglichkeiten, die keine frühere Kindergeneration gehabt hat. Doch wann
haben Kinder da noch Zeit, zur Ruhe zu kommen oder einfach mal einen
Nachmittag zu „verspielen“? Gerade im Spiel verarbeiten Kinder die auf
sie einstürzenden Eindrücke und Erlebnisse5.
Auch die zunehmende Verunselbstständigung von Kindern könnte als eine
Folge dieser Entwicklung angesehen werden. Damit ist das Phänomen
gemeint, dass viele Kinder nur schwer etwas mit sich anfangen können,
wenn sie kein Programm haben, das ihnen sagt, was sie machen sollen
(vgl. Lang, 1995, S. 18f).
3.5.4 Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen
Individualisierung meint die Entwicklung der Gesellschaft, die Chancen
und Risiken nicht mehr auf die Gesellschaft aufzuteilen. Das Individuum
muss sein Leben allein bewältigen. Zwar kann man erreichen, was man
will, scheitern ist damit jedoch individuell begründbar.
Mit Pluralisierung ist die Optionenvielfalt gemeint. Diese gibt es sowohl in
der Erwerbsarbeit (d.h., jeder kann theoretisch jeden Beruf ergreifen
unabhängig von sozialer Schichtzugehörigkeit) als auch in privaten
Lebensformen, wie in Punkt 2.3 schon erläutert.
In den sich verändernden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Strukturen stecken sowohl Chancen als auch Risiken. Die Möglichkeiten
für den Aufbau der personalen Identität sind einerseits sehr hoch, da
traditionelle Vorgaben an Rollenverhalten und Wertorientierungen
entfallen, gleichzeitig steigen hiermit aber auch die Ansprüche an jedes
Individuum. Denn letztendlich muss jeder eigene Lösungen für die
5 Dies sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, da ich auf die Bedeutung von Spiel und Bewegung in Kapitel 5 näher eingehe.
76
vielfältigen Aufgaben und Probleme der Alltagsbewältigung finden (vgl.
Knecht, 2002, S. 2; Hurrelmann, 1997, S. 75; Preglau, 1999, S. 284f;
Magerkohl, 1999, S.3).
Auch Kinder sind durch die zuvor beschriebenen Punkte
(Freizeitgestaltung, Verinselung, Freundschaften etc.) von diesen Trends
betroffen (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 152).
„Individualisierung von Kindheit bedeutet aber auch eine frühzeitige Selbständigkeit. Manchmal müssen Kinder schon viel zu früh über ihre Lebensgestaltung selbst entscheiden. Individualisierung ruft deshalb auch die Gefahr der Überforderung hervor.“ (Rolff/Zimmermann, 1997, S. 152f)
Auf diesem Hintergrund ist es meiner Meinung nach besonders wichtig,
schon in der Kindheit dafür zu sorgen, dass sich Fähigkeiten wie
eigenständiges Handeln, Konfliktlösungsstrategien, Selbstbewusstsein
und Flexibilität entwickeln können.
4. Naturnahe Arbeit
4.1 Begriffsklärung
Ich habe mich entschieden von „naturnaher Arbeit“ zu sprechen, nicht von
Naturpädagogik, Umweltpädagogik, Ökopädagogik oder ähnlichem. Zu
diesem Entschluss bin ich gekommen, da die Begriffe in der von mir
verwendeten Literatur sehr unterschiedlich benutzt werden. Offensichtlich
gibt es keine genaue Klärung der einzelnen Begriffe. Zur Verdeutlichung
dieses „Dilemmas“ einige Beispiele:
76
So unterschieden Beer und DeHaan 1987 zwischen ökologischem Lernen,
Umwelterziehung und Ökopädagogik, übersahen laut Kalff aber die
Naturpädagogik. Mitte der 1990er Jahre wurde, ebenfalls laut Kalff
zwischen Vermittlung von Umweltwissen und -verhalten und
naturpädagogischen Aktivitäten unterschieden. Letztere haben heute ein
Repertoire, das von Freilandbiologie über sinn-orientierte Naturerfahrung
bis zu ökologischen Outdoor-Adventures reicht (vgl. Kalff, 2001, S. 19).
In seinem Buch bezieht sich Kalff auf Pestalozzis Bildungsprozess mit
„Kopf, Herz und Hand“. Dabei bezeichnet „Herz“ die Naturpädagogik, die
Persönlichkeitsentwicklung und nicht die Vermittlung von ökologischem
Bewusstsein als Ziel hat (vgl. Kalff, 2001, S. 32). „Hand“ ordnet Kalff der
Umwelterziehung und dem ökologischen Lernen zu. Hierbei geht es um
Projekte, die umweltbewusstes Handeln fördern (vgl. Kalff, 2001, S. 163ff).
Der „Kopf“ bezeichnet die Ökopädagogik, die vor allem in Form von
Zukunftswerkstätten umgesetzt wird (vgl. Kalff, 2001, S. 185ff).
Schlehufer und Kreuzinger (vgl. Schlehufer/Kreuzinger, 1997, S. 17)
haben den Begriff Ökopädagogik oder ökologisches Lernen gewählt. Sie
beziehen sich ebenfalls auf Pestalozzis Modell, bleiben aber bei diesem
einen Begriff. Gemeint ist hier ebenfalls die Persönlichkeitsbildung als Ziel,
das übergeordnete Ziel ist jedoch die Fähigkeit, das Leben so zu
gestalten, dass auch zukünftige Generationen ein lebenswertes Leben
führen können.
Das Institut für Bildung und Entwicklung spricht von Umweltbildung im
Kindergarten. Hier soll die Natur im Alltag der Kinder lebendig werden, die
Kinder sollen ökologische Zusammenhänge erfahren und sich zudem
selbstständig ihre Umwelt aneignen und so wertvolle Erfahrungen für ihre
Entwicklung machen (vgl. Institut für Bildung und Entwicklung, 2000, S.
32f). Umweltbildung meint hier also das, was Kalff als Naturpädagogik
bezeichnet, hinzu kommt aber das Erfahren ökologischer
Zusammenhänge.
76
Reidelhuber und das Naturschutzzentrum NRW sprechen von
Umwelterziehung. Auch hier geht es inhaltlich darum, die Natur mit allen
Sinnen erlebbar zu machen und Begeisterung zu wecken, diesmal vor
allem vor dem Hintergrund: Was ich liebe, das schütze ich und: Wenn ich
die Natur verändere, verändere ich auch mich selbst (vgl. Reidelhuber,
1998, S. 6f; Naturschutzzentrum NRW, 1990b, S. 28).
Die Naturschule Freiburg spricht von Naturpädagogik. Hier sollen
Naturbegegnungen ermöglicht und das Verhältnis Mensch-Natur neu
geknüpft werden. Damit soll ebenfalls ein veränderter Umgang mit der
Natur erreicht werden (vgl. www.naturschule-freiburg.de). Im Gegensatz
zu Kalffs Definition steht nicht die Persönlichkeitsentwicklung im
Vordergrund, sondern der Naturschutz.
4.2 Geschichtlicher Rückblick
Auch wenn sich die naturnahe Arbeit erst in den letzten Jahrzehnten
etabliert hat, finden sich bedeutende Grundlagen schon sehr viel früher in
der Geschichte.
Jean-Jaques Rousseau (1712-1778) lebte zur Zeit der Aufklärung.
Entgegen den Postulaten dieser Zeit, die u.a. Fördern der Vernunft,
Lernen im Unterricht, Training des Denkens und Erwerb von Wissen
deklarierten, plädierte Rousseau für ein Lernen durch eigene Erfahrung
und unmittelbares Erleben mit den Sinnen und nicht durch Belehrung.
Sein letztendliches Ziel war die Erziehung ohne Erzieher, die Natur sollte
Erziehungsmittel sein. Das Kind sollte sowohl die positiven, als auch die
negativen Folgen seines Handelns selbst erfahren können. Den Erzieher
sah Rousseau als natürlichen Anwalt des Kindes an, der schädliche
Einflüsse von diesem fernhalten sollte. Rousseaus Postulate enthielten
Sinneserfahrung, Sensibilität für das innere Empfinden und
Gewahrwerden der inneren Gefühle. Zudem gestand er Kindern, entgegen
76
der damaligen Zeit, ein Eigenrecht auf eine Lebensphase Kindheit zu (vgl.
Lehmann, 2001, S. 5; Liebig, 1999, S. 4f).
Henry David Thoreau (1817-1862) war der Meinung, dass
Naturbeherrschung, Luxus, Industrialisierung und Bequemlichkeit zum
Verlust der Unmittelbarkeit führen würden. Dadurch würde der Mensch
das Bewusstsein für seine eigenen Bedürfnisse verlieren. Er hielt die
Gesellschaft für moralisch krank. Thoreau selbst lebte zwei Jahre fernab
jeder Zivilisation, um zu beweisen, dass ein Leben mit einfachen Mitteln,
wenig Geld und dem Zurückschrauben überzogener Bedürfnisse möglich
sei. Seine Prinzipien waren Lernen durch eigene Erfahrung, durch
Versuch und Irrtum in möglichst realen Situationen und die Natur als
Lehrmeisterin. Nach Thoreau sollte jeder Mensch seinen eigenen Weg
finden. Der Erzieher sollte Partner und Unterstützer des Kindes auf der
Suche nach seinem eigenen Weg sein (vgl. Lehmann, 2001, S. 5; Liebig,
1999, S. 5).
Die Reformpädagogik (1890-1933) war durch ein ganzheitliches
Menschenbild gekennzeichnet. Zudem forderte sie eine Erziehung vom
Kinde aus, also eine aktive Rolle des Lernenden im Lernprozess.
Kritikpunkt waren die Schulen, denen man vorwarf, eine Trennung
zwischen handelndem und denkendem Menschen zu vollziehen und sich
nur auf den kognitiven Bereich zu konzentrieren. Die Großstadt wurde als
schal und langweilig empfunden. Deshalb wollte man in die freie Natur, in
der noch unmittelbares Erleben möglich war. Zentrale Ziele der
Reformpädagogik waren Erlebnis, Augenblick, Unmittelbarkeit,
Gemeinschaft, Natur, Echtheit und Einfachheit (vgl. Liebig, 1999, S. 5f;
Lehmann, 2001, S. 5f; Reiners, 1995, S. 12f).
Abschließend sei noch John Dewey (1859-1952) erwähnt, der in den USA
das Schlagwort „Learning by doing“ prägte. Er sah ein großes Problem
darin, dass der Mensch durch die Betonung der intellektuellen oder
76
kognitiven Seite sowohl von seiner unmittelbaren Umgebung als auch von
seiner emotionalen, affektiven Seite entfremdet würde. Die Menschen sind
Deweys Meinung nach mehr von Wertfragen, beispielsweise Wohlstand
und Not oder Erfolg und Versagen, betroffen als von Fragen einer nicht
greifbaren Wirklichkeit. Eine Erziehungstheorie müsste also auf Werte und
nicht auf theoretische Abstraktion ausgerichtet sein.
Nach Dewey entsteht Lernen aus dem Erfahren von Herausforderungen
und deren Bewältigung. Dabei werden Unsicherheiten und Zweifel
wahrgenommen und nach der Prüfung verschiedener Hypothesen und
deren Konsequenzen durch Aktion gelöst. Die Lösung wird dann als
Werkzeug für spätere Konflikte gespeichert. Bei diesem Prozess wird die
Erfahrung zuerst durch die Sinne wahrgenommen, dann durch den
Verstand verarbeitet und so für das Wachsen der Persönlichkeit genutzt.
Auf diesen Erkenntnissen baut Deweys Erziehungstheorie auf. Die
Hauptaufgabe der Pädagogen sah er in der Vermittlung von Denkformen
zur Bewältigung konkreter Probleme. Lernen durch Texte und Lehrer
lehnte Dewey weitgehend ab, die Aufgabe des Lehrers war seiner
Meinung nach, die physische und soziale Umwelt zur Ermöglichung
wertvoller Erfahrungen zu benutzen (vgl. Reiners, 1995, S. 11f; Lehmann,
2001, S. 6).
Die Idee, mit Kindern in die Natur zu gehen und ihnen Primärerfahrungen
zu ermöglichen, um so ihre Entwicklung zu fördern hat ihre Anfänge vor
über 250 Jahren. Dass diese Theorien sich bis heute gehalten haben, ist
für mich mit ein Beweis dafür, dass die naturnahe Arbeit mit Kindern
sinnvoll und wichtig ist.
4.3 Zugrundeliegende Thesen und Modelle
„Naturerfahrungen sind wichtig für eine gesunde körperliche, geistige und seelische Entwicklung von Kindern.“ (Lorenz, in: Institut für Bildung und Entwicklung, 2000, S. 7)
76
Auf diese Aussage gehe ich im Folgenden näher ein. Denn es geht mir
darum, zu überprüfen, welche Thesen und Modelle es gibt, die die
Wichtigkeit der naturnahen Arbeit mit Kindern stützen und begründen.
4.3.1 Das dreidimensionale Persönlichkeitsmodell der Ökologischen Psychologie
In den meisten psychologischen Schulen wird die Persönlichkeit des
Menschen als Ergebnis der Beziehung zu sich selbst und zu anderen
Menschen verstanden. Die nichtmenschliche Umwelt spielt in einem
solchen zweidimensionalen Persönlichkeitsmodell entweder gar keine
oder nur eine untergeordnete Rolle. Die psychische Entwicklung hängt
also vor allem von der Art und Qualität der menschlichen Umwelt ab. Es
ist inzwischen unbestritten, wie wichtig etwa feste Bezugspersonen für die
Persönlichkeitsentwicklung in der (frühen) Kindheit sind. Die in den ersten
Lebensjahren gemachten Erfahrungen mit Bezugspersonen bestimmen
wesentlich die Persönlichkeit und den Blickwinkel, aus dem die Welt
wahrgenommen wird. Erikson führte dafür den Begriff „Urvertrauen“ ein –
positive Erfahrungen sind demnach gute Bedingungen für ein von
Vertrauen geprägtes Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst.
Diese Bedeutung der menschlichen Umwelt soll hier auch gar nicht
bestritten werden (vgl. Gebhard, 1994, S. 14).
Aber wir Menschen leben nicht alleine auf dieser Welt. Als Teil und
Gegenüber der Natur sind wir untrennbar mit den uns umgebenden
nichtmenschlichen Objekten verbunden.
So vertritt von Dürckheim die Auffassung, dass Selbst- und Welterfahrung
kaum voneinander getrennt betrachtet werden können und das zwischen
dem lebendigen Selbst und seinem Raum ein konkretes Sinnverhältnis
besteht (vgl. v. Dürckheim, in: Gebhard, 1994, S. 15).
Rosseau betonte, dass der Mensch drei Erzieher braucht: Die Natur, den
Menschen und die Dinge (vgl. Rosseau, in: Gebhard, 1994, S. 15).
76
„Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung.“ (Rousseau, zitiert in: Gebhard, 1994, S. 15)
Die Ökologische Psychologie hat das zweidimensionale
Persönlichkeitsmodell um die dritte Dimension erweitert und hebt damit
die Konzentration auf das Individuum der traditionellen Psychologie auf,
die die Umwelt für die psychischen Prozesse zumindest als nachgeordnet
betrachtet. Es wird versucht, Person und Umwelt in eine systematische
Beziehung zu setzen. Dabei beschäftigt sich die Ökologische Psychologie
mit den verschiedensten Umwelten (z.B. Stadt, Wohnung, Schule). Der
Natur wird bis jetzt, zumindest was die Forschungsergebnisse angeht, nur
ein untergeordneter Stellenwert beigemessen. Ursache dafür könnte sein,
dass es Natur im Sinne von unberührter Natur kaum noch gibt.
Relativ übereinstimmend wird in der Ökologischen Psychologie davon
ausgegangen, dass der Mensch kein passiver Reizempfänger ist. Er steht
mit seiner Umgebung in dialektischer Spannung, interagiert mit ihr, formt
sie und wird von ihr geformt. Das Kind eignet sich seine Umwelt an. Der
Begriff Aneignung charakterisiert dabei den Prozess der
Wechselbeziehung von Kind und Umwelt (vgl. Gebhard, 1994, S. 15f).
Das dreidimensionale Persönlichkeitsmodell bezieht sich nur auf die
psychische Entwicklung, nicht auf die körperliche und geistige, zudem
geht es allgemein um Umwelt und nicht um Natur im speziellen. Dennoch
ist es meiner Meinung nach wichtig, dieses Modell als Grundlage der
naturnahen Arbeit zu erwähnen. Denn wenn nicht davon ausgegangen
werden könnte, dass die Umwelt auf die Entwicklung des Menschen
einwirkt, wären weitere Überlegungen zur naturnahen Arbeit überflüssig.
4.3.2 Entwicklungsbedingte Grundlagen
76
4.3.2.1 Die kindliche Beziehung zur Natur
Viele Autoren sprechen Kindern einen besonderen „Draht“ zur Natur zu. In
diesem Kapitel geht es darum, warum die naturnahe Arbeit insbesondere
mit Kindern Sinn macht.
Irmgard Kutsch (vgl. Natur- und Umweltschutz-Akademie des Landes
NRW, 2002, S. 5) spricht von einem in der frühen Kindheit veranlagten
emotionalen Grundgefühl, das Basis sein kann für mutiges,
eigenverantwortliches, aktives und umsichtiges Handeln im späteren
Leben.
Adolf Portmann (vgl. Portmann, in: Schiffer, 1999, S. 96) beschreibt die
„primäre Weltsicht“ der Kinder. Diese meint sowohl kultur- als auch
lebensgeschichtlich eine frühe Fähigkeit möglicher Naturerfahrungen.
Bäume, Sträucher, Wolken etc. zeigen sich in dieser Weltsicht gleichsam
beseelt. Haben wir diese Erfahrungen einmal gemacht, sprechen uns die
Dinge auch dann noch an, wenn wir den biologischen Unterschied
zwischen einem Menschen und einem Baum kennen.
Laut der Zeitschrift „Die Grundschulzeitschrift“ (in: Schiffer, 1999, S. 97)
sind Kinder im Grundschulalter noch sehr empfänglich für die Faszination
und Ausstrahlung von Phänomenen.
Diese Beobachtung kann ich aus meiner eigenen Arbeit mit Kindern in der
Natur bestätigen. Es ist faszinierend, wie lange und begeistert sich Kinder
beispielsweise mit den kleinsten Tieren befassen können, die bei
Erwachsenen vermutlich höchstens ein Schulterzucken hervorrufen.
Hart vertritt die These, dass gerade Kinder eine spezielle und innige
Beziehung zur Natur haben. Das begründet er mit einem besonders
offenen Bewusstseinszustand bei Kindern, der einhergeht mit Kreativität
und Sensibilität. Besonders wichtig ist nach Hart, dass Kinder an ihrer
physischen Umwelt besonders interessiert sind. Sie suchen nach einem
76
Verständnis der Welt, das auch Pflanzen und Tiere mit einschließt und
nach ihrem eigenen Platz. Hart ist der Überzeugung, dass diese
Sensibilität und Offenheit für die Dinge in der Natur in späteren
Entwicklungsphasen nie mehr so ausgeprägt ist (vgl. Hart, in: Gebhard,
1994, S. 68).
Aus der Tatsache, dass Erwachsene in der Natur häufig nach
Kindheitserinnerungen suchen, schließt die Umweltpsychologin Rachel
Sebba (vgl. Sebba, in: Trommer, 2000, S. 16)
„[...], dass kindliche Auseinandersetzung mit der Natur und dem landschaftlichen Nahraum von tiefgreifender Bedeutung für die spätere Beziehung zu Natur und Landschaft ist. In der Naturerfahrung des Kindes liege ein wichtiger Ausgangspunkt, sich die Welt zu erklären.“ (Sebba, zitiert nach: Trommer, 2000, S. 16)
Meines Erachtens liegt in diesen Thesen und Überlegungen eine
besondere Möglichkeit der Pädagogik, die Natur (durch gezielte Impulse)
für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern zu nutzen und dabei
gleichzeitig die Achtung vor der Natur zu fördern.
4.3.2.2 Natur und kindliche Entwicklung
Der „Arbeitshilfe zur Gestaltung naturnaher Spielräume an Kindergärten
und anderswo“ (vgl. Natur- und Umweltschutz-Akademie NRW, 2001, S.
7) liegt folgende zentrale These für pädagogisch bedeutsame
Begründungen und Kriterien für die Gestaltung von Außengeländen von
Kindergärten zugrunde, die meiner Meinung nach die Rolle, die die Natur
in der kindlichen Entwicklung spielt sehr klar und deutlich beschreibt:
In der aktiven Auseinandersetzung mit den Gegenständen und Vorgängen
der Umwelt vollzieht sich die körperliche, geistige und seelische
Entwicklung des Kindes. Dabei sind das emotionale Erlebnis und der
unmittelbare Umgang mit den natürlichen Elementen der Spiel- und
Lebensräume (z.B. Wasser, Erde, Bäume, Früchte) für eine gesunde
76
Entwicklung von grundlegender Bedeutung. In dem vielgestaltigen
Lebensraum realisiert sich die Entwicklung des kindlichen Organismus in
einem Wechselprozess mit den Vorgängen und Reizen der jeweiligen
Lebenssituation.
Dieser Wachstums- und Reifungsprozess geschieht in der handgreiflichen
Beschäftigung und sinnlichen Begegnung des Kindes mit den
Phänomenen und Gegenständen seiner Lebenswelt.
„Das Ertasten eines Gegenstandes bedeutet für das Kind nicht nur das Erfassen eines äußeren Objekts. Der Umgang mit Sand, Lehm, Holz oder anderen Materialien bewirkt vielmehr eine Zustandsveränderung. Das Kind erschließt sich die umgebende Wirklichkeit durch seine greifenden Hände, durch seine den Boden erspürenden Füße, durch seine auf-nehmenden Sinne.“ (Natur- und Umweltschutz-Akademie, 2001, S. 7)
Die Auseinandersetzung mit der natürlichen Mitwelt hat also eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung für die Entwicklung des Kindes. Das Kind
erfährt sich als Teil einer lebendigen Welt. Es nimmt die atmosphärischen
Wirkungen der naturnahen Lebensräume auf und verarbeitet sie
psychisch in positiver Weise. Die so entstehenden inneren Bilder können
im späteren Leben Maßstab dafür sein, wie der einzelne seine Umwelt
bewertet.
4.4 Zentrale Ziele und Inhalte
Nachdem ich in den vorangegangenen Punkten dargestellt habe, warum
und wie kindliche Entwicklung durch die Natur positiv beeinflusst wird,
werde ich nun die zentralen Ziele und Inhalte herausarbeiten.
Die naturnahe Arbeit mit Kindern hat zwei Hauptziele:
• Förderung der Persönlichkeitsentwicklung durch Spiel und Bewegung
(hier spielen Primärerfahrungen eine große Rolle)
76
• Kennenlernen der heimischen Tier- und Pflanzenwelt, Begreifen
ökologischer Zusammenhänge und Aufbau einer positiven Beziehung
zur Natur
Die beiden Ziele lassen sich selbst theoretisch kaum voneinander trennen.
Steht das erste Ziel im Vordergrund, fangen Kinder meiner Erfahrung nach
von selbst an zu fragen, wie bestimmte Pflanzen und Tiere heißen, welche
Pflanzen man essen kann und was die Tiere zum Leben brauchen. Sie
zeigen ein unglaubliches Interesse und Neugierde an ihrer Umgebung.
Ähnlich ist es, wenn das zweite Ziel Hauptthema ist. Geht man mit Kindern
auf Entdeckungstour, um mit ihnen Tiere und Pflanzen kennenzulernen,
machen sie automatisch Primärerfahrungen, die zum Wachsen ihrer
Persönlichkeit beitragen.
Häufig waren in der von mir verwendeten Literatur Ziele und Inhalte in
Form von Aufzählungen formuliert. Diese habe ich zusammengefasst und
ergänzt, um so ein möglichst vollständiges Bild zu erhalten (vgl. Kalff,
2001, S. 41ff; Saudhof/Stumpf, 1998, S. 6f; Trommer, 2000, S. 16; Natur-
und Umweltschutzakademie NRW, 1998, S. 22; Naturschutzzentrum
NRW, 1990a, S. 3).
In der nun folgenden Aufzählung sind die einzelnen Punkte nicht nach
ihrer Wichtigkeit oder einem anderen Muster geordnet. Die Reihenfolge ist
mehr zufällig entstanden.
• Für das Schärfen des sinnlichen Wahrnehmungsvermögens durch
Beobachten, Riechen, Schmecken, Fühlen, Hören und Sehen eignet
sich die Natur besonders gut. Allein die gleichzeitige Vielfalt der
gegebenen Reize durch wechselnden Wind, Lichteffekte, Temperatur,
Gerüche etc. stimuliert die Sinne unablässig.
• Motorische Fähigkeiten werden durch den Umgang mit Geräten und
Werkzeugen, aber auch durch Spielen in unbekanntem und unebenem
Gelände und Klettern auf Bäumen erworben und entwickelt.
76
• Durch das Begreifen ökologischer Zusammenhänge wird die
Rücksichtnahme auf die Natur, aber auch aufeinander erlernt. Die
Kinder begreifen, dass Tiere, Pflanzen und Menschen miteinander
leben und aufeinander angewiesen sind. Dabei entwickeln sie eine
positive Beziehung zur Natur, die Grundlage ist für einen späteren
verantwortungsvollen Umgang mit dieser6.
• Sprache und intellektuelle Entwicklung (z.B. Lernfähigkeit und Denken)
werden gefördert, indem die Kinder ökologische Zusammenhänge
begreifen, Fragen stellen und gemeinsam spielen.
• Durch die Natur werden Phantasie und Kreativität angeregt. Das liegt
zum einen daran, dass vorgefertigtes Spielzeug fehlt, zum anderen
aber auch an den vielfältigen Möglichkeiten, die die Natur zu bieten
hat.
• In der Natur vorhandene Rückzugsmöglichkeiten bieten Platz für Ruhe
und Geborgenheit, aber auch für Abenteuer und Geheimnisse. Die
Kinder können hier auf Entdeckungsreise gehen und sich so ihre
Umgebung spielerisch aneignen.
• Das Sozialverhalten wird positiv beeinflusst, da die ungewohnte
Umgebung neue bzw. andere Verhaltensweisen und Kooperation
fordert. Jeder kann seine Fähigkeiten konstruktiv einbringen, was
letztlich auch das Selbstbewusstsein fördert.
5. Projektbeschreibung: Naturerlebnisgarten des BUND7 in Herten
5.1 Das Gelände
6 Die positive Beziehung ist meiner Meinung nach kein Garant für umweltbewusstes Handeln, trägt aber auf jeden Fall dazu bei. 7 Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
76
Das Gelände des Naturerlebnisgartens ist 16.000 Quadratmeter groß. Im
vorderen Bereich befindet sich der 2.000 Quadratmeter große
Intensivbereich, der ausgestaltet ist mit Weidentipis, einer Lehmhütte,
Spielhügel, Lehmteich, Feuerwiese mit Lehmbackofen, Trockenmauer,
Nutzgarten und Gartenteich.
Durch ein Tor verlässt man den Intensivbereich und gelangt in den
hinteren, wild bewachsenen Teil des Gartens. Dieser Bereich ist unter
anderem mit Brombeeren bewachsen. Ein Hauptweg führt durch das
14.000 Quadratmeter große Gelände. Zudem gibt es einen Fußweg als
„Weg der Sinne“, ein „grünes Klassenzimmer“, eine Streuobstwiese, eine
Ruhezone für Tiere und Pflanzen, Hochstauden, eine Trockenmauer,
einen Totholzhaufen und vieles mehr. In diesem Bereich befinden sich
auch die bei den Kindern so beliebten Kletterbäume.
Da das gesamte Gelände durch Zäune und Büsche eingeschlossen ist,
bietet der Naturerlebnisgarten den Kindern eine geschützte Atmosphäre,
in der sie die Natur mit allen Sinnen erleben und kindgerechte
Erfahrungen sammeln können.
5.2 Zielgruppen
Im Naturerlebnisgarten gibt es im Kinderbereich zwei Zielgruppen: die
Vormittags- und die Nachmittagsgruppen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit
liegt auf letzteren, da ich eine dieser Gruppen mitbetreue. Dennoch werde
ich der Vollständigkeit halber beide Gruppen kurz beschreiben.
1. Vormittagsgruppen
Vormittags wird der Naturerlebnisgarten von Kindergartengruppen und
Schulklassen besucht. Hier liegt der Schwerpunkt auf dem zweiten
Hauptziel von naturnaher Arbeit, dem Kennenlernen der heimischen
Tier- und Pflanzenwelt. Die Gruppen kommen entweder eine Woche
76
lang jeden Vormittag und werden spielerisch an verschiedene Themen
herangeführt (z.B. Lehmbau, am Lagerfeuer mit selbstgesammelten
Früchten Marmelade zubereiten, den Teich und seine „Bewohner“
untersuchen) oder ein Jahr lang einmal im Monat und lernen die Natur
im Jahresverlauf kennen. Hier werden verschiedene Themen mit den
Kindern behandelt, die den Ablauf der Jahreszeiten charakterisieren
(z.B. Obsternte und –verarbeitung im September, Winterschlaf im
Dezember).
2. Nachmittagsgruppen
Die Nachmittagsgruppen finden in Form von Kursen statt. Diese
beinhalten jeweils acht bis zwölf Treffen und finden insgesamt von
März bis November statt. Viele Kinder sind schon jahrelang dabei,
andere machen nur ein oder zwei Kurse mit. Altersmäßig sind die
Gruppen gemischt. Die Kinder sind zwischen 5 und 11 Jahren alt. Der
Schwerpunkt liegt auf dem ersten Hauptziel, der Förderung der
Persönlichkeitsentwicklung durch Spiel und Bewegung. Die Kinder
dürfen die Nachmittage nach ihrem Interesse gestalten. Wir machen
zwar Angebote, wie z.B. Kräuter sammeln und Tee kochen, einen
Winterschlafplatz für Igel bauen oder Marmelade selber machen, diese
müssen von den Kindern jedoch nicht angenommen werden.
Erfahrungsgemäß machen jedoch die Meisten mit viel Freude bei den
Angeboten mit. Mit diesen, sowie mit Vorschlägen und Anregungen
wollen wir die Kinder bei der Auseinandersetzung mit der Natur
begleiten und unterstützen und ihnen Kompetenzerweiterung im
Umgang mit dieser, mit sich selbst und anderen ermöglichen.
Mein Ziel ist es, aufzuzeigen, wie man die Natur zur
Persönlichkeitsentwicklung nutzen kann. Damit beschäftigt sich das
nächste Kapitel. Ich gehe davon aus, wie auch schon in Punkt 3.4
erwähnt, dass Kinder in der spielerischen Auseinandersetzung mit der
Natur diese kennenlernen und so eine positive Beziehung zu ihr aufbauen.
Dieses Thema wird von mir aus den gerade genannten Gründen nur am
76
Rande und immer in Zusammenhang mit Spiel und Bewegung behandelt
werden.
Um die naturnahe Arbeit im Naturerlebnisgarten zu veranschaulichen,
finden sich im Anhang eine Reihe von Fotos, die im letzten halben Jahr
entstanden sind. Auf diese werde ich bei meinen Beispielen nicht extra
hinweisen, viele lassen sich jedoch auf den Fotos wiederfinden (s.
Anhang, S. 84-86).
6. Persönlichkeitsentwicklung durch Spiel und Bewegung
Um sich gesund entwickeln zu können, brauchen Kinder eine möglichst
vielfältige Reizumgebung. Diese wirkt sich positiv auf die
Gehirnentwicklung aus und trägt dazu bei, psychische
Entwicklungsschritte anzuregen und zu fördern. Dabei liegt das Optimum
in der Mitte von homogenen und
vertrauten Reizen auf der einen und fremden, vielleicht sogar
angsteinflößenden Reizen auf der anderen Seite.
Natürliche Umgebungen zeichnen sich sowohl durch Kontinuität, als auch
durch beständigen Wandel aus. Man denke nur an den Wandel durch die
Jahreszeiten. Damit bieten naturnahe Räume eine solche Reizumgebung,
die sowohl dem Bedürfnis nach Neuem, als auch dem nach Sicherheit und
Geborgenheit von Kindern nachkommt (vgl. Institut für Bildung und
Entwicklung, 2000, S. 29f; Oerter, in: Gebhard, 1994, S. 69).
In diesem Kapitel geht es mir darum, die Möglichkeiten und die Bedeutung
von Naturerfahrungen für die Persönlichkeitsentwicklung näher zu
betrachten.
Zunächst gehe ich allgemein auf Spiel und Bewegung ein.
Sinneswahrnehmung, Fantasie und Kreativität und soziales Lernen
behandle ich dabei noch nicht. Mit diesen Themen beschäftige ich mich in
76
den Punkten 5.6 bis 5.8 getrennt. Die Trennung dieser drei Bereiche von
Bewegung und Spiel ist eine rein theoretische. Denn im Spiel und beim
Sich-Bewegen8 werden Sinnes- und Sozialerfahrungen gemacht und
Fantasie und Kreativität können sich entfalten und entwickeln. Dennoch
scheint es mir sinnvoll, einzeln auf die eben genannten Punkte
einzugehen, um so die Wichtigkeit dieser besser herausstellen zu können.
Auch bei den Beispielen werde ich die Themen einzeln behandeln. Die
meisten sind Sinnes-, Bewegungs-, Kreativitäts- und Sozialerfahrung in
einem oder decken zumindest zwei oder drei Erfahrungsbereiche ab. Die
Beispiele werden dementsprechend mehrmals und aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachtet auftauchen.
Die Punkte, in denen es zunächst allgemein um Beschreibung und die
Bedeutung für die kindliche Entwicklung geht, sind in sofern schon auf
naturnahe Arbeit bezogen, als dass ich nur Themen behandle, die im
Naturerlebnisgarten gefördert werden. So geht es beim Spiel
ausschließlich um das freie Spiel, bestimmte Spielformen, wie z.B.
Gesellschaftsspiele, werden in dieser Diplomarbeit nicht behandelt.
6.1 Der psychomotorische Ansatz
Ich gehe in meinen weiteren Ausführungen von einem ganzheitlichen
Menschenbild aus, wie es auch Renate Zimmer, Maria Montessori und
Hugo Kükelhaus beschreiben. Der Mensch ist hierbei nur als Ganzheit zu
begreifen – Handeln setzt immer auch Wahrnehmung und Bewegung,
Denken und Fühlen voraus. Dies ist alles untrennbar miteinander
verbunden, beeinflusst sich gegenseitig und kann im Lebensalltag nicht
isoliert voneinander betrachtet werden (vgl. Seeger/Seeger, 2001, S. 14ff).
8 Renate Zimmer benutzt den Terminus „Sich-Bewegen“, um den aktiven, konstruktiven Anteil an der Bewegung hervorzuheben (vgl. Zimmer, 1998, S. 13). Diesen Begriff habe ich von ihr übernommen.
76
Zur Verdeutlichung ein Beispiel aus der naturnahen Arbeit: ein Kind hat
einen Molch gefangen und hält ihn auf der Hand. Das ist nicht nur
Sinneserfahrung. Es werden Emotionen hervorgerufen – Faszination,
vielleicht auch ein bisschen Ekel. Die Motorik ist angesprochen, denn so
ein Tier ist sehr flink und man muss aufpassen, dass es einem nicht aus
den Händen entkommt. Zudem muss das Kind sehr vorsichtig sein, denn
wenn es zu stark zupackt, kann es dem Tier leicht Schaden zufügen.
Diese Erfahrung kann auf die Situation mit anderen Kindern übertragen
werden, ist also Sozialerfahrung. Und zuletzt ist das Kind neugierig und
will alles über den Molch wissen. Hierdurch werden Kognition und
Sprache gefördert.
Dabei beziehe ich mich vor allem auf den psychomotorischen Ansatz von
Renate Zimmer, welcher bei der ganzheitlichen Betrachtung der kindlichen
Entwicklung Bereiche wie Motorik, Sprache, Emotionen, Sensomotorik,
Kognition, Identitätsbildung und Sozialverhalten in Einklang bringt (vgl.
Seeger/Seeger, 2001, S. 16f).
Die Psychomotorik stellt eine spezifische Sicht der menschlichen
Entwicklung und deren Förderung dar. Bewegung wird hierbei als ein
wesentliches Medium der Anbahnung und Unterstützung von
Entwicklungsprozessen betrachtet.
Die funktionelle Einheit von psychischen und motorischen Vorgängen,
also die enge Verknüpfung vom Körperlich-motorischen mit dem Geistig-
seelischen wird durch den Begriff „psychomotorisch“ gekennzeichnet.
„Psychomotorische Erziehung geht davon aus, daß erst durch vielseitige Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen die Grundlagen für eine harmonische Persönlichkeitsentwicklung geschaffen werden.“ (Zimmer, 1992, S. 121)
Ziel ist es, über Bewegungserlebnisse dazu beizutragen, die
Persönlichkeit zu stabilisieren. Dies wird vor allem durch
erlebnisorientierte Bewegungsangebote erreicht, die zugleich die
76
Wahrnehmung, das Körpererleben, die Körpererfahrung und das soziale
Lernen beinhalten (vgl. Zimmer, 1992, S. 121). In den folgenden Punkten
werde ich näher darauf eingehen.
6.2 Bewegung und Körpererfahrung
6.2.1 Bedeutung für die kindliche Entwicklung
Je jünger Kinder sind, desto wichtiger ist es, dass sie
Bewegungserfahrungen machen. Denn so eignen sie sich ihre Umwelt an,
erkunden und erschließen sie sich. Bewegung ermöglicht es Kindern erst,
sich mit ihrer personalen, räumlichen und materiellen Umwelt und mit sich
selbst auseinanderzusetzen (vgl. Zimmer, 1998, S. 16; Balster, 2000, S. 5;
Kretschmer, 1998a, S. 16).
Dabei werden in Abhängigkeit vom Lebensalter und von den gerade
vorhandenen Bedingungen unterschiedliche Erfahrungen vermittelt, die
damit auch unterschiedliche Bedeutungen für die Entwicklung haben. So
wird die Bewegung im Kleinkindalter vor allem zur Selbst- und
Welterfahrung genutzt, im Jugendalter stehen Sozialerfahrungen im
Vordergrund (vgl. Zimmer, 1998, S. 16/19).
Die nun folgende Aufzählung von Erfahrungen erhebt keinen Anspruch auf
Vollständigkeit, sie kann mit Sicherheit noch um einige Aspekte ergänzt
werden.
76
• Sich-Bewegen ist immer auch Selbsterfahrung (s. Punkt 5.2.2). Zudem
werden Sozial-, Sinnes- und Kreativitätserfahrungen gemacht. Auf
diese Aspekte werde ich, wie schon erwähnt, extra eingehen.
• Das Kind macht Welterfahrungen, indem es sich seine räumliche und
dingliche Umwelt aneignet, sich mit Objekten und Materialien
auseinandersetzt.
• Sich-Bewegen ist auch Ausdruckserfahrung, denn der Mensch drückt
seine Gefühle, Stimmungen und Empfindungen durch Bewegung aus.
• Ein besonderes Merkmal von Bewegungshandlungen ist die intensive
emotionale Beteiligung. Beim emotionalen Erleben kommt die Freude
an der Bewegung, am Herumtoben und Klettern zum tragen, es
können jedoch auch negative Gefühle geweckt werden, wie Unlust,
Angst oder Unsicherheit (vgl. Zimmer, 1998, S. 17ff).
Das Kind nimmt seine Welt vor allem über die Sinne und Eigentätigkeit mit
dem Körper wahr. Geistige Fähigkeiten, also Denken und Vorstellen,
spielen hier eine untergeordnete Rolle. Durch Bewegung verbindet das
Kind seine Innenwelt mit der Außenwelt, es tritt in einen Dialog mit seiner
Umwelt. Körperliche Erfahrungen und Sinneserfahrungen helfen dem
Kind, Begriffe zu bilden. Im Handeln werden Ursache- und
Wirkungszusammenhänge kennengelernt und begriffen.
Wichtig ist hierbei vor allem, dass das Kind Erfahrungen aus erster Hand
macht, dass es etwas mit den ihm zur Verfügung stehenden körperlichen
und geistigen Kräften und durch Ausprobieren schafft. So erlernt ein Kind
beispielsweise den Begriff Schwung, indem es selber an einem Ast
hängend hin und her schwingt, also sich selbst bewegt (vgl. Zimmer,
1992, S. 119).
Schaut man sich unter diesem Gesichtspunkt noch einmal die Merkmale
der Lebensphase Kindheit heute an, so wie sie in Kapitel 2 beschrieben
sind, wird Folgendes sehr schnell deutlich: Wir als Pädagogen müssen
76
dafür sorgen, dass Kinder wieder ausreichend Spiel- und
Bewegungsräume zur Verfügung haben, in denen Primärerfahrungen im
Vordergrund stehen.
Einen dieser Spiel- und Bewegungsräume stellt die Natur dar. In Punkt 5.5
werde ich darauf eingehen.
6.2.2 Entwicklung des Selbstkonzeptes
Ein sehr wichtiger Bereich ist die Auseinandersetzung mit sich selber und
damit die Entwicklung des Selbstkonzeptes. Mit dieser werde ich mich nun
näher auseinandersetzen.
Wie Kinder ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen, ob sie sich viel
zutrauen, auf andere zugehen und in Schwierigkeiten Herausforderungen
sehen oder ob sie an sich zweifeln, sich abwartend verhalten und bei
Schwierigkeiten schnell aufgeben, ist abhängig vom Bild, das sie von sich
selber haben.
Dieses Selbstbild spiegelt die Erfahrungen mit der materiellen und
sozialen Umwelt wider und die Erwartungen, die von der Umwelt gestellt
werden. Im Laufe seines Lebens entwickelt jeder Mensch ein solches Bild
über sich selbst. Im Kindesalter sind vor allem die Körpererfahrungen
entscheidend, sie können als früheste Stufe der Selbstentwicklung
angesehen werden (vgl. Zimmer, 1998, S. 24f).
Durch Bewegung und Spiel lernt das Kind seinen Körper kennen, erfährt,
wie andere ihn sehen und was sie von ihm erwarten und gewinnt so eine
Beziehung zu seiner eigenen Person. Dadurch gelangt das Kind zu
Einstellungen und Überzeugungen über sich selbst, die mit dem Begriff
Selbstkonzept beschrieben werden können.
Das Selbstkonzept entsteht aus der Erfahrung der eigenen Kompetenz,
der Überzeugung, Kontrolle über eine Situation zu haben und dem
Erleben von sinnvollem Tun. Kinder mit positivem Selbstkonzept fühlen
76
sich dabei beispielsweise schwierigen Situationen gewachsen,
übernehmen die Initiative und gehen auf andere zu.
Zum Selbstkonzept zählt die Selbsteinschätzung hinsichtlich der eigenen
Fähigkeiten und Verhaltensmerkmale, die Voraussage von Erfolg und
Misserfolg bei konkreten Handlungen und die Kompetenz und
Selbstsicherheit in sozialen Situationen. Das Selbstkonzept wird auch als
die Summe der Erfahrungen über sich selbst bezeichnet (vgl. Zimmer,
1998, S. 25).
Zu den Informationsquellen, auf die das Kind zurückgreift, um ein Bild von
sich selbst zu bekommen zählen
• Informationen über die Sinnessysteme,
• Erfahrungen der Wirksamkeit des eigenen Verhaltens,
• Folgerungen aus dem Vergleich und Sich-Messen mit anderen,
• Zuordnung von Eigenschaften durch andere (vgl. Zimmer, 1998, S.
26).
Vor allem die ersten beiden Aspekte hängen eng mit den
Bewegungserfahrungen des Kindes zusammen. Auf die
Sinneswahrnehmung komme ich in Punkt 5.6 zu sprechen, auf die
Wirksamkeit des eigenen Verhaltens gehe ich hier näher ein.
Kinder erleben in Bewegungshandlungen besonders gut, dass sie
Ursache von Effekten sind. Beim Spielen und Bewegen und in der
Auseinandersetzung mit Dingen rufen sie eine Wirkung hervor, die sie auf
sich selbst zurückführen. Die eigene Anstrengung, das eigene Können
wird direkt mit dem Ergebnis in Verbindung gebracht und führt so zu
einem ersten Konzept eigener Fähigkeiten. Gelernt wird durch
Experimentieren und Ausprobieren. Das Gefühl, etwas geschafft zu
haben, stellt die Basis für Selbstvertrauen bei Leistungsanforderungen dar
(vgl. Zimmer, 1998, S. 27).
76
6.3 Freies Spiel als zentrale Lebensäußerung des Kindes
Das Spiel hat eine immense Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung
des Kindes. Es gehört zu seinen zentralen Grundbedürfnissen, ist
sozusagen der Hauptberuf eines jeden Kindes. Freies Spiel wird
beschrieben als Möglichkeit der eigentätigen Aneignung der Umwelt des
Kindes oder der handelnden Auseinandersetzung mit dieser. Spielforscher
gehen davon aus, dass Kinder bis zum 7. Lebensjahr ca. 15.000 Stunden
spielen (müssen). Pro Tag sind das etwa 7-8 Stunden (vgl. Kuhlen, 1993,
S. 16; Müller, 2001, S. 26; Schut, 1999, S. 10).
Ein Kind, das gesund entwickelt ist, spielt von sich aus, ohne dazu
motiviert werden zu müssen. Motiviert wird es durch die Lust,
Entspannung und Spannung, die es dabei empfindet. Das Kind hat im
Spiel die Möglichkeit,
„[...] seinem inneren Drang nach Selbsterfüllung als ein sensorisch und motorisch tätiges Individuum Ausdruck zu verleihen.“ (Schut, 1999, S. 10)
Dies ist ein wesentlicher Bestandteil des Spiels. Wichtig ist dabei nicht so
sehr das Ergebnis, also beispielsweise der aufgebaute Turm, sondern
dass das Kind körperliche Aktivität entwickelt und so, einem inneren
Antrieb folgend, seinen Körper und seine Umgebung zu meistern lernt.
Kinder sind von sich aus neugierig, experimentier- und bewegungsfreudig.
Durch Spielen entwickeln sie sich und werden mit Anforderungen fertig.
Es ist der Lebensinhalt des Kindes. Daher ist es wichtig, Kindern neue
Erlebnis- und Spielräume zu erschließen. Diese laden in den meisten
Fällen selbst zum Spielen ein; es bedarf nur geringfügiger Spielimpulse
(vgl. Schut, 1999, S.10).
76
Dies erlebe ich häufig im Kinderraum des Bürgerhauses, in dem ich
arbeite. Er hat für die Kinder einen so großen Aufforderungscharakter zum
Spielen, dass es besonders bei jüngeren Kindern oft schwer ist, sie zu den
Angeboten, die man vorbereitet hat, zu motivieren. Pausen werden dann
begeistert zum freien Spielen genutzt, ohne dass wir als Pädagogen auch
nur einen Anstoß geben müssen.
Kinder spielen, um ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zu entfalten
und ihnen Gestalt zu geben. Sie wollen sich zunächst ihre eigene
Wirklichkeit spielend erschaffen und nicht die Wirklichkeitsvorstellungen
der Erwachsenen spielend erlernen.
Das spielende Kind passt dabei die Umwelt an sich an und verwandelt sie,
indem es sich von der zugeschriebenen Funktionalisierung der von ihm
verwendeten Objekte löst und diese so verwendet und wahrnimmt, dass
sie zum Spiel passen. Das Kind lernt dabei Potentialitäten, d.h. mögliche
Fähigkeiten für mögliche Situationen. Damit ist Spiel notwendig für die
vielseitige Entfaltung des Menschen (vgl. Fritz, 1993, S. 128f).
6.4 Kinder und Abenteuer
Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die Abenteuer der mittleren Kindheit,
die mit dem Schulalter beginnt und mit der Pubertät endet (also die Zeit
zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr). In dieser Zeit erobern sich Kinder
ihren Lebensraum und drängen, auf der Suche nach Abenteuern,
Erfahrungen und Erlebnissen, nach draußen (vgl. Lang, 1995, S. 7).
Nach Thomas Lang (vgl. Lang, 1995, S. 22f) gibt es zwei wichtige
Voraussetzungen, um die Pubertät zu meistern. Zum einen muss noch ein
Potential an Geheimnissen da sein, dass der Jugendliche sich erschließen
kann, zum anderen ist die Intensität von Abenteuererfahrungen in der
Kindheit von großer Bedeutung. Sie erlauben es, sozusagen im Rückgriff,
76
Erlebniswelten zu reaktivieren und zu intensivieren, die jetzt die so
wichtigen „Ich-bin-Gefühle“ vermitteln. Lang ist der Meinung, dass die
Wahrscheinlichkeit, auf Formen zurückzugreifen, die aus Action- und
Kriminalfilmen bekannt sind, und die zu delinquenten Verhaltensweisen
führen, um so größer wird, je kleiner dieser Erfahrungsschatz ist.
Auch wenn das meiner Meinung nach zu eindimensional gedacht ist,
denke ich, dass damit zumindest ein wichtiger Aspekt angesprochen ist.
Daher soll die Bedeutung des Abenteuers hier näher betrachtet werden.
6.4.1 Begriffsklärung
Was steckt hinter dem Begriff Abenteuer? Gibt die Herkunft des Wortes
vielleicht Hinweise auf die ursprüngliche Bedeutung und das Wesen des
Begriffes?
„Das Wort „Abenteuer“ ist verwandt mit dem französischen Wort l’aventure und dem lateinischen advenire. Advenire bedeutet soviel wie „auf sich zukommen“, „sich ereignen“. Das Substantiv l’aventure (franz.) oder niederdeutsch Aventuire bezeichnet ein Ereignis, eine Begebenheit, ein (kühnes) Wagnis, etwas Ungewöhnliches oder Seltsames.“ (Lang, 1995, S. 25)
Dabei sind zwei Bedeutungsinhalte auffällig: Zum einen wird ein Zeitraum
umfasst, dessen Charakteristikum ein Spannungsbogen ist. Zum anderen
fällt auf, dass die aus dem Substantiv abgeleiteten Verben wie z.B. „sich in
Abenteuer stürzen“ oder „auf sich zukommen“ fast immer reflexiv sind
(sich...). Damit drücken sie eine starke Verknüpfung mit einer aktiven
Person aus. Verben, wie „sich abenteuern lassen“ oder „beabenteuern“
gibt es dagegen nicht.
Abenteuer ist vor diesem Hintergrund eine Form des intensiven Sich-
Selbst-Erlebens. Dieses geschieht durch aktives Tun innerhalb eines
Handlungs- oder Spannungsbogens. Die Spannung entsteht, indem man
76
einen bestimmten Plan fasst bzw. sich zum Teil ungewissen Bedingungen
und den daraus folgenden Ereignissen aussetzt (vgl. Lang, 1995, S. 25f).
Thomas Schut versteht unter Abenteuer bzw. Erlebnis folgendes:
„Eng mit Abenteuer assoziiert sind die Begriffe Risiko und Wagnis. Abenteuer bedeutet immer, einen Schritt in bislang unbekanntes Territorium zu wagen. Unbekannte Territorien wollen wir eher als eine psychologische denn als eine geographische Größe verstehen. So verstanden bedeutet Risiko, in der Auseinandersetzung mit Neuem und Unbekanntem einen Schritt über die bislang vertrauten Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster hinauszugehen.“ (Schut, 1999, S. 11)
Diese Aspekte des Abenteuers tragen alle Formen der kindlichen
Entdeckung der Umwelt, das spielerische Befassen mit Bedingungen,
Dingen und Personen in sich. Dabei ist wichtig, dass das Kind
Primärerfahrungen mit allen Sinnen machen kann. Denn gerade Riechen,
Spüren, Tasten und Anfassen gehören zu den zentralsten Formen der
Wahrnehmung, Verarbeitung und des Be-greifens von Kindern (vgl. Lang,
1995, S. 26).
Mir stellt sich die Frage, wo Kinder heute noch Abenteuer, wie sie hier
definiert sind, erleben können. Denn in einer Welt zunehmender
Mediatisierung und Verstädterung wird es auch zunehmend schwieriger,
Erfahrungen mit allen Sinnen zu machen und sich neue Räume zu
erschließen (s. auch Kapitel 2).
In Punkt 5.5 werde ich auf die Möglichkeiten in der Natur Abenteuer zu
erleben eingehen.
6.4.2 Grundthemen der mittleren Kindheit
Thomas Lang beschreibt 8 Grundthemen der mittleren Kindheit, die mit
Erlebnis- bzw. Abenteuerwelten verknüpft sind, die für Kinder in diesem
76
Alter eine große Bedeutung haben, da sie ihre Spiel- und Fantasiewelt
prägen (vgl. Lang, 1995, S. 33ff):
• Jagen und Sammeln
• Sich ein eigenes Haus bauen
• Pflegen und Hüten
• Entdecker- und Erfindergeist
• Handwerk und Handel
• Freundschaften, Gruppen und Banden (s. 5.8)
• Körpererfahrungen (s. 5.1 und 5.2)
• Fantasiewelten (s. 5.7)
Auf die Themen, die ich nicht in anderen Punkten behandle, gehe ich im
Folgenden näher ein. Wie in Kapitel 2 verwende ich Beispiele aus meiner
eigenen Kindheit, um die Grundthemen zu verdeutlichen und zu
bestätigen.
6.4.2.1 Jagen und Sammeln
Vor allem für Jungen bleibt das Grundthema Jagen über die gesamte
mittlere Kindheit erhalten. Gejagt wird hierbei alles, was unter den Begriff
erlegbare Beute fällt. Dabei werden die abenteuerlichsten Vorrichtungen
gebastelt, um erfolgreich zu sein.
Lang sieht in diesem Thema eine Art „archaisches Grundmuster“, da es
sich eigentlich nicht um abgeschaute oder beigebrachte Betätigungsfelder
handelt. Es bricht in diesem Alter hervor und verschwindet in der Regel in
einem Alter von zwölf bis dreizehn Jahren wieder. Kinder haben meistens
keine echte Vorstellung, was mit der Beute passieren soll, wenn sie
tatsächlich gefangen ist. Denn in den meisten Fällen steht wirklich das
Fangen im Vordergrund, das Töten von Tieren ist nur in den seltensten
Fällen die Triebfeder (vgl. Lang, 1995, S. 24f).
76
Bei fast allen Kindern dieses Alters entbrennt aus einem nicht zu
erklärenden inneren Drang die Sammelleidenschaft. Nur selten lässt sich
zwischen dem gesammelten Objekt und dem Sammler eine echte innere
Neigung erkennen. Diese entwickelt sich meist erst in dem Maße, in dem
die Sammlung wächst. Gesammelt wird alles von Kronkorken über
Aufkleber bis zu kleinen Plastiktierchen.
Auch hierbei scheint es sich nach Lang um ein archaisches Grundmuster
zu handeln, das das Kind nicht einfach nachahmt oder beigebracht
bekommt, sondern das ein eigener Impuls ist.
Getauscht und gesammelt wird genauso gerne, wie geordnet und
ausgestellt. Oft gehört die Sammlung zum Wertvollsten und wird
manchmal gehütet wie ein geheimnisvoller Schatz (vgl. Lang, 1995, S.
35f).
Ich selber erinnere mich an Kronkorken-, Aufkleber- Poster- und
Pferdepostkartensammlungen, die sich meine Eltern und Geschwister in
langatmigen Führungen anschauen mussten und die von mir in
stundenlanger Arbeit sortiert und betrachtet wurden.
6.4.2.2 Sich ein eigenes Haus bauen
Denke ich an meine eigene Kindheit zurück, so entstehen auch Bilder von
Hütten und Höhlen an allen möglichen Plätzen. Da gab es die Höhle unter
dem Kellertreppenabsatz, Hütten gebaut mit Stühlen, Decken und
Wäscheklammern, Betten und Schreibtische mussten ebenso herhalten
wie große Kartons und Stuhlauflagen. Die Höhlen auf dem Heuboden
eines Bauernhofes, auf dem ich einige Sommerurlaube verbracht habe,
sind mir in ganz besonderer Erinnerung geblieben.
Für Kinder scheinen der Bau von Hütten und Häusern und die damit
verbundenen Spieltätigkeiten von großer Wichtigkeit zu sein. Denn auch,
wenn die meisten Stadtkinder keine Möglichkeit mehr haben, Baumhäuser
und Höhlen in Böschungen zu bauen, so finden sie zahlreiche andere
76
Möglichkeiten, um zu einem „Eigenheim“ zu kommen (vgl. Lang, 1995, S.
36).
„Wenn Kinder sich Hütten und Häuschen bauen, sind sie in ihrem Element. Sie schaffen sich Lebens- und Spielräume, die den Größendimensionen ihres Körper-Raums und ihrem Raumempfinden entsprechen. In den mit Eifer und Hingabe gebauten Hütten sind sie zu Hause, schaffen sich einen Bezugs- und Orientierungsrahmen – ihre „eigenen vier Wände“.“ (Natur- und Umweltschutzakademie NRW, 2001, S. 21)
Die Ästhetik dieser Hütten vermittelt immer einen Hauch von
Improvisation, Unfertigkeit und Wandelbarkeit. Der so vermittelte Eindruck
des Bewegten, beinahe Lebendigen wird hervorgerufen von dem Gemisch
der Materialien und der Vielfalt der Formen, die jeder Hütte ein eigenes
Gesicht verleihen (vgl. Natur- und Umweltschutzakademie NRW, 2001, S.
21).
Kinder brauchen für ihre Persönlichkeitsentwicklung Räume, in denen sie
geborgen sind, in denen sie sich orientieren können, und in denen sie ihre
Identität entwickeln können. Räume können nur die psychische und
physische Entwicklung fördern, wenn sie aktiv und sinnenvoll begriffen
und bewohnt werden können (vgl. Wagner, 1998, S. 30).
Vergleicht man diese „Anforderungen“ an Spielhäuser mit der
Beschreibung der uniformierten Fertighäuschen in Punkt 2.4.3, so wird
deutlich, dass diese nicht nur einfach langweilig sind, sondern zudem nicht
dazu beitragen, die Entwicklung von Kindern zu fördern.
6.4.2.3 Pflegen und Hüten
Thomas Lang ist überzeugt davon, dass dieser Grundimpuls sowohl bei
Mädchen, als auch bei Jungen aus dem Innersten kommt und sich
ausleben will. Ein markantes Beispiel hierfür ist der Wunsch von Kindern
nach einem Haustier, dem die meisten Eltern irgendwann nachgeben. Oft
76
leben Kinder in der Beziehung zu Tieren eine innige Zuwendung und
Fürsorge aus, die Erwachsene staunen lässt, auch wenn ihr häufig die
notwendige Kontinuität fehlt.
Ebenfalls typisch, wenn auch vor allem für Mädchen, ist das Puppenspiel.
Hierbei leben Kinder sowohl ihre seelischen Empfindungszustände als
auch den Grundimpuls des Pflegens, Betreuens und Versorgens aus.
Der Impuls muss sich nicht unbedingt auf Tiere oder Puppen beziehen,
Andere Menschen oder ein kleines Stückchen Garten können ebenfalls
zur Erfüllung und Bearbeitung beitragen (vgl. Lang, 1995, S. 27f; Gebhard,
1994, S. 97).
6.4.2.4 Entdecker- und Erfindergeist
In Punkt 2.4.2 bin ich bereits auf die Problematik der heutigen
Wohnsituation in Städten eingegangen. Trotz der Veränderungen haben
Kinder den Drang, sich Räume anzueignen, denn diese Aneignung ist
wichtig für die kindliche Entwicklung.
Kinder in der mittleren Kindheit haben einen unbezwingbaren Drang,
hinter die bekannten Dinge zu schauen. Sie wenden ihren Eltern immer
häufiger den Rücken zu und gehen auf Erkundungstour in ihr räumliches
Umfeld. Die Familie wird als langweilig und eng erlebt, die Kinder streben
aus dem familiären Umfeld heraus. Die Mauer, der Häuserblock, an dem
die Welt bis jetzt aufhörte, wird überwunden; man dringt in noch nie
erreichte Straßen und Stadtviertel vor (vgl. Lang, 1995, S. 38f).
Mein eigener Schulweg in der Grundschulzeit führte zunächst durch ein
Wohngebiet, dann an einer schnurgeraden vierspurigen Straße entlang
und dann wieder durch ein Wohngebiet. Natürlich hatten wir Kinder die
Order, auf direktem Weg nach Hause zu kommen. Aber der Weg an der
76
Straße entlang zog sich einfach endlos und war völlig ereignislos. Zum
Glück gab es auf der einen Seite des Gehweges eine Böschung, hinter
der ein Sportplatz lag. Und an einer Stelle hatten schon andere einen
regelrechten Trampelpfad angelegt, den wir dann häufig benutzten, um
auf den Sportplatz zu gelangen. Von dort ging es dann noch durch einen
kleinen Wald, der mir damals immer sehr unheimlich und geheimnisvoll
vorkam. Schließlich gelangten wir wieder auf die Straße, um auf dem
„richtigen“ Weg nach Hause zu kommen. Den Trampelpfad gibt es,
fünfzehn Jahre später, immer noch, und als ich vor einiger Zeit in der
Mittagszeit an der Stelle vorbei gefahren bin, schoben gerade ein paar
Schulkinder ihre Fahrräder die Böschung hinauf – vielleicht auf der Suche
nach einem kleinen Abenteuer...
Kinder haben jedoch nicht nur den Drang, ihre räumliche Umgebung zu
entdecken, sondern auch vor dem „Innenleben“ verschiedenster
Alltagsgegenstände machen ihre Entdeckungsreisen nicht halt. Vor allem
Jungen zerlegen mit Vorliebe Gegenstände des alltäglichen Lebens (vgl.
Lang, 1995, S. 39).
Ich selber erinnere mich an einen alten Wecker, der von mir in alle
Einzelteile zerlegt wurde und danach in einem Schuhkarton verstaubte, da
ihn niemand mehr zusammenschrauben konnte.
Aber es werden nicht nur Dinge auseinandergeschraubt. Mit genauso
großer Begeisterung werden die phantastischsten Werkzeuge und
Vorrichtungen erfunden, die die Mühsal des alltäglichen Lebens
erleichtern sollen oder Jagd- und Fanggeräte, wie sie für das Grundthema
Jagen und Sammeln gebraucht werden (vgl. Lang, 1995, S. 39f).
Deutlich wird bei all diesen Beispielen auf jeden Fall, dass es sich bei
diesem Grundthema
76
„[...] um den Ausdruck von Kindern handelt, sich ihre räumliche und gegenständliche Welt anzueignen, indem sie bereist, erforscht und entdeckt wird.“ (Lang, 1995, S. 40)
Die Erfindung von Gegenständen drückt auch die Freude aus, bestimmte
Zusammenhänge begriffen zu haben und mit ihnen konstruktiv umgehen
zu können (vgl. Lang, 1995, S. 40).
6.4.2.5 Handwerk und Handel
Eng mit dem Erfindergeist und dem Spaß, etwas selber zu bauen, ist das
Thema „handwerkliches Tun“ verbunden. Durch vielfältige Tätigkeiten und
Erlebnisse in unterschiedlichen Situationen und mit verschiedensten
Materialien kann selbstbewusste Handlungsfähigkeit entwickelt werden.
Häufig geht es Kindern hierbei weniger um das Produkt, als zumindest am
Anfang darum, die handwerkliche Technik zu begreifen und zu erlernen.
Damit ist im Übrigen nicht Basteln gemeint. Kinder wollen „richtig“ Sägen
und Hämmern. Sie sind begeistert von echter, wirklicher Arbeit, die allzu
frühem spezialisiertem Denken entgegenwirkt. Sie führt dazu, dass sich
beim Kind der Blick für das Ganze entwickelt (vgl. Lang, 1995, S. 40f;
Natur- und Umweltschutzakademie NRW, 2002, S. 5).
Das Thema Handel sei hier nur am Rande erwähnt. Es hat nur sehr wenig
mit dem Kaufladen der drei- bis fünfjährigen Kinder zu tun, zumindest hat
es eine völlig neue Dimension erhalten. Lang nennt als Beispiel Kinder,
die an irgendeiner Straße ihren Laden errichten oder Autos anhalten, um
Zölle zu erheben. Dabei ist dies in ihrer Vorstellung ein echtes Gewerbe
und ein auch preislich kalkulierter Handel (vgl. Lang, 1995, S. 41).
Auf dieses Thema werde ich im Folgenden jedoch nicht näher eingehen,
da es in der naturnahen Arbeit keine Rolle spielt.
76
Betrachtet man die Punkte 5.1 bis 5.4 und vergleicht sie mit den Zielen
und Inhalten naturnaher Arbeit, so erkennt man, dass diese mit wichtigen
Aspekten der Entwicklung von Kindern übereinstimmen.
6.5 Der Naturerlebnisgarten als Spiel- und Bewegungsraum
Nachdem in den Punkten 5.1 bis 5.4 zunächst allgemein die Bedeutung
von Spiel, Bewegung und Abenteuer behandelt wurde, werde ich hier
speziell auf Fördermöglichkeiten in der Natur eingehen. Beschreiben
werde ich diese anhand von Beispielen aus meiner eigenen Praxis. Es
handelt sich hierbei beinahe ausschließlich um eine reine Beschreibung
der Fördermöglichkeiten, da ich die Bedeutung in den vorangegangenen
Punkten dargelegt habe.
Der Wert von Naturerfahrungen liegt unter anderem in dem relativ großen
Maß an Freizügigkeit, dass Kinder hier haben. In natürlichen Umwelten
wie Wäldern, Bächen und Wiesen können sie sich selbstständig mit
diesen auseinandersetzen, sich aneignen und zum freien Spiel nutzen.
Eignen Kinder sich spielerisch die Natur an, so erweitern sie ihren
Aktionsradius und gewinnen Selbstsicherheit und emotionale Stabilität.
Zudem entsteht bei den Kindern Lebensfreude und ein Gefühl von
Freiheit, Kraft und Stärke, wenn sie sich in der Natur spüren, sich
bewegen und ihre Fähigkeiten erleben9 (vgl. Institut für Bildung und
Entwicklung, 2000, S. 29; Loewenfeld, 2002, S. 12; Hendker, 2001, S. 10).
Die Natur bietet also Freiräume, in denen Kinder im Spiel Mut,
Selbstvertrauen und Selbstsicherheit gewinnen, körperliche Fähigkeiten
erproben und eigene Grenzen kennenlernen. Die Umgebung bietet
Kindern die Möglichkeit, selber aktiv und kreativ handeln zu können.
9 Hendker ist der Meinung, dass sich Lebensfreude vor allem in der Natur entwickelt. Dieser Behauptung stimme ich zu. Ein Beweis dafür ist meiner Meinung nach, dass viele Menschen ihren Urlaub in der Natur verbringen, um sich zu entspannen und neue Kräfte „zu tanken“.
76
Während sie sich forschend und handelnd mit Natur auseinandersetzen,
setzen sie sich auch mit sich selbst auseinander. Dies ist ein wichtiger
Ausgleich zu unserer technisierten Umwelt und bietet Kindern eine
Atmosphäre der Geborgenheit. Zudem können sie sich als unmittelbarer
Teil der Natur erleben und so eine individuelle Beziehung zu ihr aufbauen
(vgl. Loewenfeld, 2002, S.12; Natur- und Umweltschutzakademie NRW,
1998, S. 21; Saudhof/Stumpf, 1998, S. 7).
Kinder werden in der Natur mit ungewohnten Situationen konfrontiert. Das
Gelände ist nicht eben und eintönig, sondern Hänge, im Weg liegende
Äste oder Kuhlen im Boden stellen eine Herausforderung dar.
„Die Kinder erfahren Niveauunterschiede im Gelände, können aus wechselnder Perspektive ihre Umgebung betrachten, lernen Niveauunterschiede zu überwinden, haben die Möglichkeit zum Rutschen, Klettern, Rollen und Laufen.“ (Städt. Kindertagesstätte der Stadt Oelde, zitiert in: Natur- und Umweltschutzakademie NRW, 1998, S. 23)
So kann schon der Weg in den Wald zu einem Abenteuer werden.
Gleichzeitig ist er Bewegungsschulung und fördert die Ausdauer (vgl.
Hillebrand, 2000, S. 16; Saudhof/Stumpf, 1998, S. 6).
Bäume, Natursteinmauern und entwurzelte Baumstämme werden zum
Klettern und Balancieren genutzt. Dabei haben Kinder die Möglichkeit,
motorische Fähigkeiten zu erlangen und ihre Geschicklichkeit zu
erproben. Sie lernen, sich etwas zuzutrauen und ihre Grenzen neu zu
setzen und zu erfahren (vgl. Hillebrand, 2000, S. 16; Natur- und
Umweltschutzakademie NRW, 1998, S. 26). Die Entwicklung des
Selbstkonzeptes wird positiv gefördert (s. Punkt 5.2.2).
Sehen wir uns einmal genauer die Fähigkeiten an, die ein Kind braucht
und die gefördert werden, wenn es auf einen Baum klettert: Damit man die
Äste benutzen kann, müssen sie „begriffen“ werden. Ein Kind kann sich
erst hochziehen und festhalten, wenn es weiß, wohin es greifen muss. Die
Füße müssen die unterschiedlichen Aststärken erkennen, damit das Kind
76
getragen wird. Zudem muss es vorsichtig sein, denn ein Baum hat
herausstehende Haken, die Rinde ist rau, Harz klebt und Nadeln stechen
(vgl. Institut für Bildung und Entwicklung, 2000, S. 95).
Die Sinne sind also viel mehr angesprochen, es werden mehr Fähigkeiten
benötigt, als bei einem industriellen Klettergerüst. Bei diesem ist zwar das
Restrisiko geringer, da es keine morschen Äste geben kann, aber
interessanter und eindrücklicher ist mit Sicherheit das Klettern auf einem
lebenden Baum.
Das Gelände des Naturerlebnisgartens bietet Kindern die gerade
beschriebenen Möglichkeiten. Vor allem im wild bewachsenen Teil gibt es
ausreichend Kletterbäume und umgestürzte Baumstämme, die von den
Kindern mit großer Begeisterung zum Klettern und Balancieren genutzt
werden. Auch die Lehmhütte wird von den Kindern oft zum Klettern
benutzt, denn das Dach ist mit Weiden zugewachsen und bietet einen
idealen Rückzugsraum für zwei bis drei Kinder. Zudem gibt es einen
Spielhügel, der häufig zum Herunterrollen und –rennen und zum
Fangenspielen benutzt wird.
Auch das Grundthema Jagen und Sammeln kommt in der Natur nicht zu
kurz. Bei unseren Kindern ist erfahrungsgemäß eine der ersten Fragen:
„Können wir die Käscher, Siebe und Schalen haben?“ Am Teich können
sich die Kinder stundenlang und mit großer Ausdauer beschäftigen. Dabei
werden die Siebe mit Stöcken verlängert, um auch die Tiere aus dem
hinteren Teil des Teiches zu erreichen und erfindungsreich Gerätschaften
entwickelt, die ins Wasser gelegt werden, damit Tiere hineinschwimmen.
So leben die Kinder ihren Erfindungsgeist aus.
Auch das Sich messen mit anderen spielt hier eine, wenn auch
untergeordnete Rolle. Wer hat die meisten Tiere in seiner Schale? Sind es
eher ganz kleine und damit nicht so interessante Tiere, oder die
beliebteren Molche, Libellenlarven und Schnecken.
76
Ganz nebenbei lernen die Kinder hier ökologische Zusammenhänge und
Abhängigkeiten kennen. Dafür eignet sich der Teich laut des
Naturschutzzentrums NRW durch seinen begrenzten Lebensraum
besonders gut (vgl. Naturschutzzentrum NRW, 1990, S. 24). Denn haben
Kinder ein Tier in der Schale, dann zeigen sie einen unglaublichen
Wissensdurst: Welches Tier frisst was? Welche Tiere dürfen nicht
zusammen in eine Schale, weil das eine das andere frisst? Wie atmen die
Tiere? Warum kann der Wasserläufer übers Wasser laufen? Die Liste der
Fragen ließe sich beliebig fortsetzen.
Dabei werden auch die intellektuelle- und die Sprachentwicklung
gefördert. Die Kinder erweitern ihren Wortschatz und stellen oft selbst die
Zusammenhänge her – sie lernen ganz nebenbei.
Am Beispiel der Teichtiere lässt sich auch die Beseelung der Natur durch
jüngere Kinder erfahren. Ist man mit einer Kindergartengruppe am Teich,
hört man Sätze wie: „Der Wasserläufer freut sich.“ „Die Schnecken
bedanken sich bei uns, wenn sie rauskommen, weil wir sie ins Wasser
(Schale) getan haben.“ Tieren und auch Pflanzen werden menschliche
Eigenschaften zugesprochen. Damit haben Kinder, wie bereits in Punkt
3.3.2.1 erwähnt, einen besonderen Zugang zur Natur.
Besonders beliebt bei den Kindern ist es, auf Froschfang zu gehen. Neben
den verschiedenen Sinnen, die gefördert werden (darauf gehe ich in Punkt
5.6 ein), bedarf es auch einiger motorischer Fähigkeiten. So muss man
sich zuerst langsam anschleichen, darf keine hektischen Bewegungen
machen und muss den Frosch dann im richtigen Augenblick schnell und
gezielt mit dem Käscher ergreifen. Hier bestätigt sich die Meinung von
Lang (vgl. Lang, 1995, S.35), dass das Fangen im Vordergrund steht.
Denn ist der Frosch erst einmal in seinem Behälter, erlebe ich es häufig,
dass er schnell uninteressant wird. Erst seine Freilassung weckt noch
einmal das Interesse. Der Fänger jedoch ist der „Held des Tages“ und
sehr stolz auf seinen Fang.
76
Der zweite Aspekt von Jagen und Sammeln ist ebenfalls zu beobachten,
wenn auch nicht so ausgeprägt. Gesammelt werden beispielsweise mit
großer Begeisterung leere Schneckenhäuser, die die Kinder im Teich
finden.
Eine Teilnehmerin nimmt zu jeder Jahreszeit typische Pflanzen oder auch
Pflanzenteile mit nach Hause, um ihr Zimmer damit zu schmücken.
Gerade wenn man draußen ist, sind feste Rückzugs- und
Schutzeinrichtungen wichtig und scheinen oft unverzichtbar. Dahinter liegt
der Wunsch nach Schutz, Intimität und Selbstbestimmung.
Wenn man mit Kindern in die Natur geht, geht es „nur“ um die Errichtung
mehr oder weniger spontan entwickelter Konstruktionen, die die Kinder
zum Spiel nutzen können. Hierbei geht es vor allem um das Bauen und
Gestalten, das Rücksicht nimmt auf das Gelände, die naturräumlichen
Gegebenheiten und ökologische Aspekte der Materialwahl und –
verarbeitung. Zwei Beispiele für solche Konstruktionen sind „Höhlen“ aus
Ästen und Zweigen und kleine Bretterbuden. Kommen Kinder immer
wieder in ein bestimmtes Gelände zurück, bauen sie auch gerne und
engagiert an umfangreicheren, robusteren Hütten (vgl. Österreicher, 2002,
S. 20f).
Besonders beliebt sind bei unseren Kindern die Brombeerhecken-Höhlen.
Diese haben sie mit Heckenscheren in die Brombeerhecken im hinteren
Bereich des Gartens geschnitten. Besonders die Mädchen verbringen dort
sehr viel Zeit und richten die Höhlen mit Material, das sie in der Natur
finden häuslich ein. Die Jungen sind vor allem an der Entstehung der
Höhlen interessiert.
Außerdem gibt es zahlreiche Weidentippis und die Lehmhütte. Diese
befinden sich immer in einem Zustand der Unfertigkeit, werden von den
Kindern jedoch in kleinen Schritten immer mehr vollendet. Diese Hütten
76
werden meiner Erfahrung nach nicht so sehr zum Spielen, sondern eher
zum Bauen benutzt.
Das Grundthema Pflegen und Hüten lässt sich in der naturnahen Arbeit
meist nur über Pflanzen und Beete bearbeiten. Es gibt zwar einige
Kindergärten und auch Schulklassen, die Tiere halten oder regelmäßig
(Schul-)Bauernhöfe besuchen (vgl. auch Natur- und
Umweltschutzakademie NRW, 1998, S. 33/48/55), aber das ist meiner
Erfahrung nach doch eher die Ausnahme.
Auch im Naturerlebnisgarten gibt es keine größeren Tiere (z.B.
Kaninchen), die gepflegt werden müssen und die Pflege der Beete ist bei
den Kindern weniger beliebt. Nur sehr sporadisch beschäftigen sie sich
damit und ich habe auch noch nicht erlebt, dass ein Kind von alleine auf
die Idee gekommen wäre, sich mit der Pflege eines Beetes zu
beschäftigen (im Gegensatz zum Teich oder zum Lehmbau). Hier muss
immer ein Betreuer mitmachen und helfen.
Das liegt zum Teil vermutlich daran, dass Kinder Pflanzen nicht so sehr
als Objekte betrachten, mit denen sie sich persönlich beschäftigen
würden, sondern sie sind beruhigender Hintergrund, dessen Einzelteile
vor allem zum Spiel benutzt werden (vgl. Gebhard, 1994, S. 166). So zeigt
eine Studie von Jannson,
„[...] daß gerade Pflanzenteile deshalb als Spielobjekte sehr gut geeignet sind, weil sie veränderbar sind, weil sie „lose Teile“ (Blätter, Äste, Früchte) liefern und sich auf diese Weise den manipulativen Aktionen der Kinder anpassen.“ (Gebhard, 1994, S. 166)
Pflanzenmaterialien werden gegessen, gesammelt und als Werkzeug
gebraucht. Außerdem werden Bäume und Sträucher zum Klettern und
Budenbau genutzt (vgl. Gebhard, 1994, S. 166; Österreicher, 2002, S. 31).
Ich denke, dass dieser Aspekt in etlichen Beispielen von mir bestätigt wird.
Die Kinder setzen sich handelnd mit ihrer Umwelt auseinander, erlernen
Begriffe und Ursache- und Wirkungszusammenhänge (s. Punkt 5.2).
76
Im Naturerlebnisgarten können unsere Kinder auf Entdeckungsreise
gehen und sich ihr Umfeld aneignen. Selbst wenn das Gelände nicht
unbekannt ist, gibt es immer wieder etwas Neues zu entdecken. So lebte
einige Zeit eine Igelfamilie in einer Ecke des Gartens, im Herbst können
Äpfel gepflückt und gesammelt werden, die Vegetation verändert sich im
Laufe der Jahreszeiten und ist so immer wieder neu.
Besonders beliebt für Entdeckungstouren ist das nahe Gelände des
Sienbeckbaches. Der Bach und ein Teich liegen in relativ
unübersichtlichem Gelände mit hohem Gras und Büschen, durch die
teilweise nicht mal Trampelpfade führen. Dennoch ist das Gelände in sich
abgeschlossen, so dass unsere Kinder auch mal alleine in kleinen
Gruppen losziehen können. Sie versuchen immer wieder, den Bach so
weit wie möglich zu verfolgen, streifen durch das hohe Gras und kommen
auch schon mal mit einem Frosch oder anderen Fängen zurück. Aufgeregt
und glücklich erzählen sie dann von ihren kleinen Abenteuern und
Erlebnissen.
Nach kürzester Zeit fangen einige Kinder an, mit den ihnen zur Verfügung
stehenden Naturmaterialien einen Staudamm zu bauen. Beim Spielen und
Entdecken vergeht die Zeit erfahrungsgemäß viel zu schnell und meistens
gibt es Proteste, wenn wir ankündigen, es sei Zeit, sich auf den Rückweg
zu machen.
Gerne betätigen die Kinder sich auch handwerklich. Angebote von unserer
Seite, wie beispielsweise Lehmbau, der Bau eines Winterlagers für Igel
oder der Bau von Nisthilfen für Wildbienen werden meist begeistert, vor
allem von den Jungen, aufgenommen. Die Kinder haben hier die
Möglichkeit, ihre Fertigkeiten mit den verschiedenen Werkzeugen zu
erlernen und diese zu vertiefen (bei den Nisthilfen werden z.B. mit Hilfe
eines Bohrers Löcher in Baumstammscheiben gebohrt). Dabei entwickelt
76
sich, wie bereits in Punkt 5.4.2.5 erläutert, selbstbewusste
Handlungsfähigkeit und der Blick fürs Ganze.
Der Naturerlebnisgarten, stellvertretend für naturnahe Arbeit allgemein,
eignet sich nach den hier aufgeführten Beispielen ausgesprochen gut, um
Spiel und Bewegung zu fördern und Kinder in ihrer Abenteuerlust zu
unterstützen.
6.6 Sinneswahrnehmung
Kinder leben heutzutage in einer paradoxen Situation. Auf der einen Seite
werden ihre Sinne ständig überbelastet, z.B. durch blinkende, grelle
Werbetafeln und rasante Schnitte im Film, auf der anderen Seite werden
ihre Sinne zu schwach und zu einseitig gereizt und angeregt (vgl.
Loewenfeld, 2002, S. 12; Hirler, 1999, S. 18).
Vor allem durch die einseitige Überreizung des Sehsinns verlieren wir,
nicht nur Kinder, die Fähigkeit, genau hinzublicken, nicht nur auf rasche
Bewegungen und grelle Farben zu reagieren – wir stumpfen ab (vgl.
Hirler, 1999, S. 18; Schlehufer, 1995, S. 286).
Schon in Kapitel 2 wird deutlich, dass es mit sinnlichen Erfahrungen nicht
zum Besten steht. Anregungsarme Wohnumfelder, das Wegfallen von
Streifräumen und Sekundärerfahrungen durch Fernsehen und Computer
bestimmen das Leben vieler Kinder.
Mir geht es nun darum, herauszustellen, wie wichtig dennoch
ganzheitliche sinnliche Erfahrungen für Kinder sind, die in einer
Gesellschaft aufwachsen, die besonders auf den Sehsinn, vielleicht noch
auf das Gehör fixiert ist (vgl. auch Kalff, 2001, S. 146).
76
6.6.1 Bedeutung für die kindliche Entwicklung
Sich-Bewegen ist immer auch Sinneserfahrung. Kinder erschließen sich
die Welt der Begriffe über das Angreifen, sie lernen durch Wahrnehmung
und Bewegung. Dabei ist im sinnlichen Wahrnehmen ein Sich-Spüren und
ein Erspüren der Mit- und Umwelt gegeben (vgl. Zimmer, 1998, S. 17;
Schaffner, 2001, S. 16; Größing/Größing, 2002, S. 72).
Die Wahrnehmung, also die Aufnahme und Verarbeitung von Reizen aus
dem eigenen Körper und der Umwelt, erfolgt über die verschiedenen
Sinnesorgane. Die Systeme, die den Sinnesorganen entsprechen, lassen
sich unterteilen.
Zum einen gibt es die Nahsinne. Dazu zählen Tast- und Spürsinn,
Geruchssinn, Geschmackssinn, Gleichgewichtssinn und Tiefensensibilität
(Dies ist die Wahrnehmung aus Muskeln, Sehnen etc. Sie trägt wesentlich
zur Vorstellung vom Körper und dessen Bewegungsfähigkeit bei.). Die
Informationen der Nahsinne, vor allem die des Tast- und Spürsinnes und
des Gleichgewichts- und Bewegungssinnes sind von fundamentaler
Bedeutung für die Handlungsfähigkeit, die sich im Laufe der Entwicklung
immer mehr differenziert und für das Selbstvertrauen des Kindes.
Zum anderen gibt es die Fernsinne, denen Hörsinn und Sehsinn
zugeordnet sind. Sie erlauben dem Individuum eine größere Reichweite,
da es keinen direkten Kontakt zum Wahrnehmungsgegenstand
aufnehmen muss (vgl. Brand/Breitenbach/Maisel, 1988, S. 51ff).
Über die Sinnessysteme nimmt der Mensch Informationen über seine
Umwelt und aus seinem Körper auf, selektiert und koordiniert sie, ordnet
sie ein und verarbeitet sie. Sinnesreize werden dabei auch individuell
gedeutet. Das Individuum interpretiert sie entsprechend der bisher
gemachten Erfahrungen und Erwartungen. Sinnliches Wahrnehmen ist
also ein aktiver Vorgang. Der Mensch kann hierbei gestaltend auf seine
Umwelt einwirken (vgl. Zimmer, 1998, S. 17; Schaffner, 2001, S. 16;
Größing/Größing, 2002, S. 72).
76
„Unsere Sinne sind unsere Tore zur Welt, über sie können wir die Welt wahrnehmen, zu ihr in Beziehung treten. Sinneswahrnehmungen sind die Grundlage jeder Erfahrung und jeder Erkenntnis. Die Sinnesorgane ermöglichen uns, eine Beziehung zwischen Innenwelt und Außenwelt herzustellen.“ (Schlehufer, 1995, S. 285)
Die Sinnesorgane sind als Sensoren zu verstehen, die die Meldungen der
Außenwelt an das Zentrale Nervensystem (ZNS) weitergeben. Hier
werden sie, wie schon bei Zimmer beschrieben, abgewogen, sortiert,
gespeichert, bewertet und anschließend an die Muskulatur oder andere
Reaktionsformen weitergeleitet. Die Nachrichten werden im ZNS mit den
bereits vorhandenen Informationen verglichen und immer weiter
ausgebaut.
Je umfassender und ganzheitlicher die Sinne angesprochen werden,
desto individueller und intensiver kann sich das Gehirn, der wichtigste Teil
des ZNS beim Kind, entwickeln. Dabei muss beachtet werden, dass die
Zeit von der Geburt bis ca. zum 10. Lebensjahr als entscheidender
Lebensabschnitt für die kindliche Entwicklung angesehen werden muss
(vgl. Seeger/Seeger, 1997,S. 22).
Jean Ayres nennt den neurologischen Prozess, bei dem vom eigenen
Körper und von der Umwelt ausgehende Sinneseindrücke geordnet
werden, sensorische Integration. Sie ermöglicht dem Menschen, seinen
Körper innerhalb der Umwelt sinnvoll einzusetzen. Sensorische Integration
bedeutet Verarbeitung von Information. Dabei hat das Gehirn die Aufgabe,
die Information zu integrieren (vgl. Ayres, 1998, S. 322).
Die Grundannahme von Ayres ist, dass Bewegung als Träger der
Wahrnehmungsintegration und damit der Gesamtentwicklung des Kindes
zu sehen ist. Sie unterstreicht die besondere Verflochtenheit von
Bewegung und Wahrnehmung (vgl. Fischer, 2001, S. 141).
76
Es ist also vor allem in diesem Lebensabschnitt wichtig, die
Sinneswahrnehmung von Kindern zu fördern, d.h., Kindern (Frei)räume zu
bieten, in denen sie mit allen Sinnen wahrnehmen und sich entfalten
können.
6.6.2 Sinneswahrnehmung im Naturerlebnisgarten
Laut Anke Schlehufer bietet die Natur eine so unzählige Vielfalt an Reizen,
dass sie der beste Ort ist, um die Sinne zu schulen. Nimmt man sich in der
Natur genügend Zeit, so stößt man ganz von selbst auf immer neue
Möglichkeiten, seine Sinne spielerisch und meditativ zu verfeinern (vgl.
Schlehufer, 1995, S. 286).
Auch Karin Hobelsberger beschreibt die Natur als die beste Schule für die
Sinne (vgl. Hobelsberger, in: Institut für Bildung und Entwicklung, 2000, S.
126).
„Sie [die Kinder, T.Sp.] erleben ihren Körper durch den Kontakt mit den Elementen und somit die Stimulation der Sinne. Abseits vom Lärm unseres Alltags finden die Kinder die Schönheit und Intensität der Stille.“ (Hendker, 2001, S. 10)
Der Naturerlebnisgarten bietet Kindern ebenfalls eine Vielzahl an
Sinnesreizen. Ich kann also die Meinungen von Schlehufer, Hobelsberger
und Hendker bestätigen. Allein durch die Tatsache, dass wir bei jedem
Wetter draußen sind, wird die Haut stimuliert. Sonne kann warm sein oder
auch stechend. Regen erleben die Kinder in unterschiedlichsten Formen:
ein warmer leichter Sommerregen fühlt sich ganz anders an, als heftiger
kalter Regen im Herbst, der von Wind begleitet wird.
Hier ist im Übrigen ein Umdenken vieler Eltern erforderlich. Einige Kinder
kommen bei jedem Wetter, doch viele Eltern gehen davon aus, dass der
Kurs nur bei gutem Wetter stattfindet. So erhielt ich einmal von einem
Mädchen auf die Frage, warum sie beim letzten Mal nicht dagewesen sei,
die erstaunte Antwort: „Es war doch schlechtes Wetter.“
76
Dabei birgt gerade unterschiedliches Wetter unendliche Spiel- und
Erfahrungsmöglichkeiten. Hierzu zwei Beispiele: Ist das Gelände des
Naturerlebnisgartens vom Regen aufgeweicht, so ist schon das Sich-
Bewegen völlig anders, als wenn der Boden hart und staubtrocken ist. Die
Lehmgrube ist nach heftigem Regen viel mehr mit Wasser gefüllt, als in
längeren Schönwetterperioden und kann daher anders zum Spielen
benutzt werden.
Auch die Geräusche, das vielfältige Licht- und Schattenspiel, die
unterschiedlichen Farben und Formen reizen die Sinne der Kinder.
Beim Klettern auf Bäumen und beim Balancieren werden der Tast- und
der Gleichgewichtssinn angesprochen. Im Gegensatz zu Klettergerüsten
auf Spielplätzen hat die Rinde von Bäumen, wie schon in Punkt 5.5
beschrieben, ihren ganz eigenen Charakter.
Auch beim Lehmbau wird der Tast- und Spürsinn stimuliert. Lehm ist
matschig, bei kaltem Wetter wird auch der Lehm kalt, im Sommer ist er
vielleicht angenehm kühl.
Beim Lehmbau kommt noch eine andere Komponente hinzu: Sich richtig
dreckig machen dürfen. Hier erlebe ich die Kinder sehr unterschiedlich.
Viele Kinder machen sich gerne dreckig. So ging ein Junge im letzten
Kurs als erstes immer in die Lehmgrube und kam erst wieder mit einem
zufriedenen Grinsen heraus, wenn er richtig schlammbespritzt war. Zwei
andere Kinder waren irgendwie fasziniert vom Lehm, konnten diesen aber
offensichtlich nicht lange auf der Haut ertragen. Als sie sauberes Wasser
haben wollten und ich fragte, ob sie denn was anderes machen wollten,
antworteten sie: „Nein, aber wir müssen uns erst waschen.“ Ein anderes
Mädchen war überhaupt nicht zum Lehmbau zu überreden.
Hier werden auch die Einflüsse der Eltern deutlich, denn „sich dreckig
machen“ ist oft nicht erlaubt, die Kinder sind es nicht mehr gewohnt.
Häufig haben sie in ihrer Umgebung auch gar keine Möglichkeit, sich
76
dreckig zu machen. Wo findet man in zubetonierten Wohngegenden
schon Schlammlöcher oder Erdhügel.
Fasziniert sind die Kinder auch davon, den Boden zu untersuchen. Hier
wird ebenfalls der Tast- und Spürsinn gefördert, wenn in der Erde
gebuddelt wird.
Die gefundenen Tiere, sowohl die aus der Erde, als auch die aus dem
Teich, werden von den Kindern auf die Hand genommen. Dabei werden
ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Ein Regenwurm ist feucht
und kringelt sich auf der Hand, eine Blattwanze krabbelt, eine kleine
Spinne ist so leicht, dass ihre Bewegung nicht mehr als ein Kitzeln ist.
Zudem ist sie sehr schnell. Ein Molch wiederum ist nass und hat mehr
Gewicht als die anderen Tiere.
Gleichzeitig lernen die Kinder die Tiere kennen, erfahren, wie sie leben
und welche Funktion sie in der Natur haben. Dies wirkt sich, wie schon in
Punkt 5.5 beschrieben, positiv auf die intellektuelle- und die
Sprachentwicklung aus.
An dieser Stelle komme ich noch einmal auf das Thema Froschfang
zurück. Gehen die Kinder auf Froschfang, so sind sie mit ihren Sinnen
dabei. Zunächst lauschen sie konzentriert und angespannt. Hören sie
einen Frosch, so müssen sie die Richtung ausmachen, aus der das
Quaken kommt. Danach müssen sie den Frosch im hohen Gras, zwischen
den Pflanzen entdecken. Hierbei ist der Sehsinn gefragt, denn oft ist die
Farbe des Frosches kaum von den Farben des Hintergrundes zu
unterscheiden. Die Kinder lernen wieder, genau hinzuschauen, auf kleine
Dinge zu achten – eine Fähigkeit, die in unserer schnelllebigen Zeit oft
verlorengeht.
Der angelegte Weg der Sinne stimuliert die Organe durch die Fußsohlen.
Heutige Fußböden und oft auch Spielplätze und Schulhöfe sind stumpf
und hart. Die Füße können nicht mehr das Profil ergreifen, sie hinterlassen
76
keine Spuren und erfahren keine differenzierten Abdrücke vom Boden her.
Sinnes-Wege öffnen Kindern Lauf-, Spiel- und Gehwege, die ein vitales
Er-Gehen ermöglichen. Das Wohl-er-Gehen wird von Fuß aus gefördert
(vgl. Natur- und Umweltschutzakademie NRW, 2001, S. 38).
Feuer übt auf Kinder von je her eine große Faszination aus. Durch die
Wärme, das flackernde Licht und die knisternden Geräusche werden
ebenfalls die Sinne angeregt. Man sollte Kindern das „Zündeln“ nicht
verbieten, sondern mit ihnen zusammen immer wieder Feuer machen, sie
auf die Gefahren hinweisen und das Experimentieren ermöglichen. Dazu
gehören laut Lang auch Backen und Kochen über dem offenen Feuer (vgl.
Lang, 1995, S. 52f).
All dies ermöglichen wir unseren Kindern im Naturerlebnisgarten. Der
Lehmbackofen und die offene Feuerstelle werden gerne und ausgiebig
genutzt. Während wir Marmelade, Tee oder Apfelmus kochen, bleibt den
Kindern genügend Zeit, in geschützter Atmosphäre mit dem Feuer zu
experimentieren.
Das Sammeln und Zubereiten von Nahrung in der Natur wird von Schiffer
als Festmahl für den Sinneshunger beschrieben (vgl. Schiffer, 1999, S.
106). Er nimmt als Beispiel das Kochen von Brombeermarmelade. In
seiner Beschreibung habe ich die Kinder des Naturerlebnisgartens
wiedergefunden. Im Duft eines sonnigen Spätsommertages Brombeeren
zu suchen, die Kratzer der Stacheln auf der Haut zu spüren und
zwischendurch von den Beeren zu naschen, das alles spricht die Kinder
ganzheitlich an. Anschließend der Duft beim Kochen, das Warten, bis die
Marmelade endlich fertig ist und der erste Probelöffel. Die Kinder sind
meistens sehr stolz auf das fertige Produkt, wollen nicht alles sofort essen,
sondern etwas mit nach Hause nehmen und zeigen die gefüllten Gläser
stolz ihren Eltern, wenn sie am Ende des Nachmittags abgeholt werden.
76
Die Kinder haben gleichzeitig wieder ein Stück mehr Selbstvertrauen
erlangt, denn sie haben selber etwas geschafft.
Bedenkt man nun, dass heutzutage eigentlich alle Lebensmittel einfach im
Supermarkt gekauft werden, so wird klar, dass Kinder dringend Erlebnisse
wie das eben Beschriebene brauchen. Und zwar sowohl für ihre
Entwicklung, als auch, um den Bezug zur Natur nicht völlig zu verlieren,
bzw. wiederzuerlangen.
An kälteren Tagen kochen wir häufiger Kräutertee mit selbstgepfückten
Kräutern aus dem Biogarten, der sich an das wildbewachsene Gelände
anschließt. Hier zeigt sich erneut der Wissensdurst von Kindern. Sie
wollen die Namen der Pflanzen kennenlernen, durch Riechen und
Schmecken versuchen sie herauszubekommen, ob es sich beispielsweise
um Zitronenmelisse, Kamille oder Pfefferminze handelt. Kinder freuen
sich, wenn sie Pflanzen wiedererkennen und erweitern ganz nebenbei ihr
Wissen über die heimische Pflanzenwelt.
Oft müssen wir auch gar keine Vorschläge machen, sondern die Kinder
kommen mit ihren Ideen zu uns. So haben sie im letzten Kurs an einem
Nachmittag Äpfel gesammelt und gepflückt und dann gefragt, ob wir
daraus nicht in der nächsten Stunde Apfelmus kochen könnten. Solche
Ideen werden von uns gerne aufgegriffen und die Kinder sind umso
begeisterter bei der Sache.
6.7 Fantasie und Kreativität
Auch Fantasie und Kreativität geraten in der heutigen Zeit immer mehr ins
Hintertreffen. Vor allem der Punkt 2.5.2 zeigt dies sehr deutlich. Die
Verdrängung der Wortkultur durch die Bilderkultur, Spielzeug, bei dem
Fernsehsendungen das Spiel bestimmen und monofunktionale Spielmittel
76
lassen kaum noch zu, dass Kinder ihre eigene Fantasie und Kreativität
entwickeln und ausleben.
Ein Beispiel aus der Kindheit meiner jüngeren Schwester verdeutlicht
diese Entwicklung: Meine Eltern lehnten Spielzeug mit Batterien
konsequent ab. Da viele Spielsachen jedoch nur mit Batteriebetrieb zu
kaufen waren, hatten wir dieses zwar, es kamen aber keine Batterien
hinein. Meine Schwester hatte in ihrer Puppenküche einen Mixer. Eines
Tages war ein Freund zu Besuch, nahm den Mixer, drückte auf den Knopf
und legte ihn mit den Worten: „Der ist ja kaputt“, zur Seite. Meine
Schwester nahm ihn, machte Motorgeräusche mit dem Mund und
erwiderte: „Wieso? Geht doch.“
Meines Erachtens wird hier klar, dass Fantasie und Kreativität auf der
Strecke bleiben, wenn Kinder hauptsächlich mit Spielzeug spielen, dessen
Funktionen eindeutig vorgegeben sind, keine andere Deutungsmöglichkeit
zulassen und auf Knopfdruck funktionieren. Der Junge in meinem Beispiel
konnte sich offensichtlich nicht vorstellen, dass der Mixer funktioniert und
ihn daher nicht in sein Spiel einbeziehen. Dabei war hier nur eine sehr
geringe Fantasietätigkeit nötig, denn der Mixer war ja schon vorhanden
und musste nicht erst, z.B. aus einem Stück Holz, erdacht werden.
Aber was ist so wichtig an Fantasie und Kreativität? Um die Beantwortung
dieser Frage geht es im folgenden Punkt.
6.7.1 Bedeutung für die kindliche Entwicklung
Neben der zu erobernden realen Welt gibt es für Kinder eine zweite, die
Fantasiewelt. In ihr sieht Thomas Lang ein weiteres Grundthema der
mittleren Kindheit. Kinder brauchen Fantasie, um ihre alltägliche
Lebenswirklichkeit gegenwartsbezogen bewältigen und tragfähige
76
Perspektiven für ihr zukünftiges Leben entwickeln zu können (vgl. Lang,
1995, S. 45; Grüneisl, 2000, S. 9).
Gerd Grüneisl bezeichnet die Fantasie als Produktivkraft des Menschen.
Durch sie kann der Mensch Dinge, Werkzeuge und Tätigkeitsformen
immer wieder weiterentwickeln und neu erfinden (vgl. Grüneisl, 2000, S.
8).
„Die besten Möglichkeiten für das Wachsen, Blühen und Gedeihen der Phantasie sind mit dem [freien, T.Sp.] kindlichen Spiel gegeben, in dem das Kind Welt erfährt und gestaltet. Spielen ist die sichtbare Seite der Phantasie.“ (Schiffer, 1999, S. 110)
Fantasie hat eine entwicklungsfördernde Rolle. Kinder verarbeiten im
kreativen Spiel ihre Erlebnisse, die so unbewusst auf ihre Bedeutung und
Wichtigkeit hin erfahren und aussortiert werden. Dabei hat das Spiel
heilende und regenerative Funktionen, wenn z.B. im Rollenspiel ein
Konflikt mit den Eltern verarbeitet wird (vgl. Lang, 1995, S. 46; Beier,
1997, S. 14; Kuhlen, 1993, S. 16).
Kinder flüchten nicht in Fantasiewelten. Sie benutzen ihre Fantasiekräfte
als Handlungsmotive und können jeder Zeit in die Wirklichkeit
zurückkehren. Der Stoff der kindlichen Spiele ist die Wirklichkeit, sowohl
inhaltlich, als auch materiell. Für eine positive Fantasieentwicklung ist es
daher entscheidend über diese verfügen zu können. Denn der Nährboden
der Fantasietätigkeit ist beschränkt auf die Erfahrungsmöglichkeiten im
Rahmen der eigenen Lebenswirklichkeiten (vgl. Grüneisl, 2000, S. 11).
Nicht zuletzt ist Sich-Bewegen Kreativitätserfahrung. Kinder setzen eigene
Ideen in Bewegung um. Dadurch, dass sie selbst etwas schaffen,
hervorbringen und verändern, erleben sie Kreativität. Mit Hilfe der eigenen
Fantasie können Probleme oder Bewegungsaufgaben gelöst werden.
Beim Tanzen entstehen z.B. eigene Ideen, die mit dem Körper umgesetzt
76
werden und zu neuen und einmaligen Bewegungen führen (vgl. Zimmer,
1998, S. 19).
Betrachtet man die Lebensumstände heutiger Kinder und die Rolle, die
Fantasie und Kreativität spielen, so wird deutlich, dass es Aufgabe der
Pädagogik sein muss, Kindern Räume zu schaffen, in denen wieder Platz
ist für kreatives Spiel und Fantasie.
6.7.2 Anregung von Fantasie und Kreativität
In Punkt 2.5.3 bin ich schon auf das Problem der Verunselbstständigung
von Kindern zu sprechen gekommen, die von einem Programm zum
nächsten „wandern“ und es mit der Zeit immer schwieriger finden, etwas
mit sich anzufangen, wenn ihnen keiner sagt, was sie tun sollen.
Der Kabarettist Richard Rogler spricht sarkastisch von „Freiheit
aushalten“. Freiheit meint hier, Situationen und Gelegenheiten zu
meistern, die nicht eindeutig, abgeschlossen und streng reglementiert
sind. Diese Fähigkeit muss, wie viele andere auch, erlernt werden,
verdient aber vermutlich, so Österreicher, einen besonders hohen
Stellenwert. Denn wer mit sich selbst etwas anfangen kann, eigenes
Interesse für seine Umgebung entwickelt und sich selbst strukturiert, wird
in hohem Maße imstande sein, andere Kompetenzen zu entwickeln (vgl.
Österreicher, 2002, S. 25).
Demzufolge ist es wichtig, Kindern diese Freiheit zu ermöglichen und sie
nicht ständig mit Programmpunkten und Angeboten „zu überschütten“.
Denn so können sie ihre Fantasie und Kreativität entfalten und entwickeln,
die sie brauchen, um mit sich selbst und ihrer Umgebung etwas anfangen
zu können.
76
Eine weitere Möglichkeit, Fantasie und Kreativität zu fördern, ist das
Bereitstellen von Materialien, die keine Verwendungsvorgabe haben.
Haben Kinder eine große Menge dieser Materialien zur Verfügung, so
ermöglicht und erfordert das einen offenen Handlungsprozess. Dieser
steht im Gegensatz zu vielen Werk- und Bastelmaterialien, die Kinder zur
Verfügung haben, deren Verwendung aber häufig festen Vorgaben
unterliegt. Die Kinder müssen sich selbst ein Ziel setzen und zunächst das
Mögliche und Machbare erkunden. In solchen Situationen schöpfen Kinder
weit mehr als sonst aus ihrer Fantasie und lernen, auf sich selbst zu
bauen. Hierbei werden emotionale, praktische und kognitive Fähigkeiten
gebraucht, um erfolgreich zu sein (vgl. Österreicher, 2002, S. 26ff).
6.7.3 Der Naturerlebnisgarten als Ort für Fantasie und Kreativität
Die Natur eignet sich sehr gut, um die in Punkt 5.7.2 beschriebenen
Möglichkeiten der Anregung von Fantasie und Kreativität zu verwirklichen.
Allein die Umrisse der natürlichen Umgebung, die oft vieldeutig, unscharf
und verschiedenartig sind, regen Fantasie und Kreativität an (vgl.
Loewenfeld, 2002, S. 12; Trommer, 2000, S. 16). Als Beispiele fallen mir
Wolken und Bäume ein, die in ihren Formen oft Figuren oder Gesichter
erkennen lassen.
Die Materialien, die Kinder in der Natur zum Spielen vorfinden sind
ebenfalls vielfältig und es gibt keine Vorgaben zum Verwendungszweck.
Fantasie, Eigentätigkeit und Kreativität können dadurch von den Kindern
ausgelebt werden (vgl. Natur- und Umweltschutzakademie NRW, 1998, S.
29; Gebhard, 1994, S. 82).
„[...], ohne vorgefertigtes Spielzeug, mit geheimnisvoll wirkenden Bäumen und ungewohnten Geräuschen wird die Fantasie und Kreativität der Kinder angeregt. Dinge aus der Natur werden in einen ihrer Gedankenwelt entsprechenden Sinnzusammenhang gestellt. [...] Die Kinder sind zu eigenem Handeln herausgefordert, was einer
76
passiven Konsumhandlung entgegenwirkt.“ (Saudhof/Stumpf, 1998, S. 7)
Auch der Naturerlebnisgarten bietet diese Möglichkeiten. Was die Kinder
zum Spielen brauchen, müssen sie sich in der Natur suchen, denn
industrielles Spielzeug gibt es nicht. Und im Gegensatz zu meinen
anderen Kursen, die in geschlossenen Räumen stattfinden und bei denen
häufig Dinge wie Stofftiere oder Pokemonfiguren mitgebracht werden,
habe ich es im Naturerlebnisgarten noch nie erlebt, dass ein Kind
Spielzeug von zu Hause mitgebracht hat. Ganz offensichtlich bietet die
Natur genug Anregungspotential und das übliche Spielzeug kann zu
Hause bleiben.
Viele Kinder, vor allem die, die schon seit Jahren kommen, haben keine
Probleme, den Nachmittag über etwas mit sich selbst anzufangen. Sie
sprühen vor Tatendrang und kommen auf immer neue Ideen. Da wird der
Graben, der von der Lehmgrube aufs dahinter liegende Gelände führt,
freigemacht und die Lehmgrube entwässert, Lehmbau betrieben, auf
Bäume geklettert und vieles mehr. Und das alles, ohne dass wir als
Pädagogen auch nur eine Anregung geben müssten.
Bei einigen Kindern bemerke ich jedoch ganz deutlich, dass sie Probleme
haben, eigene Ideen zu entwickeln und einfach frei zu spielen. Diese
Kinder müssen „an die Hand“ genommen werden. Wir müssen mit ihnen
gemeinsam spielen und bauen und können uns nur ganz allmählich
zurückziehen und die Kinder ihrem freien Spiel überlassen.
Abschließend zum Thema Fantasie und Kreativität noch einige konkrete
Beispiele:
• In einer Stunde fand ein Junge einen Stock, den er den ganzen
Nachmittag über als seinen Hund mit sich herumtrug. Als er schon im
Auto saß, musste er noch einmal zurück, um sich von seinem „Hund“
zu verabschieden. Verglichen mit Spielzeughunden, die sogar von
76
alleine bellen und mit dem Schwanz wedeln, muss sehr viel Fantasie
verwandt werden, um in einem Stock einen Hund zu sehen.
• In Punkt 5.5 bin ich schon auf das Einrichten der Brombeerhöhlen zu
sprechen gekommen. Da die Mädchen hier ausschließlich
Naturmaterialien verwenden, müssen sie ihre Fantasie gebrauchen.
Holzstücke werden zu Tellern und Blüten zu Lampen, die von der
Decke hängen.
• Eine Gruppe hat in einer Ecke des Gartens ein großes Mandala zum
Thema Herbst gelegt. Dabei wurden ausschließlich Naturmaterialien
verwandt (Äste, Blätter, Beeren, Tannenzweige, Steine, etc.). Laut
Schlehufer und Kreuzinger ermöglicht Kunst in der Natur einen
besonders tiefen Zugang zum Lebendigen, da die Personen in einen
intensiven persönlichen Dialog mit der Natur treten und die
Aufmerksamkeit für Farben, Formen und Strukturen besonders hoch ist
(vgl. Schlehufer/Kreuzinger, 1997, S. 118).
• Ein Mädchen schmierte beim Lehmbau eine Stelle des Weidentipis mit
Lehm zu und benutzte diese Stelle dann, um immer wieder Bilder in
den feuchten Lehm zu malen. War ein Bild fertig, wischte sie den Lehm
glatt, um mit einem neuen zu beginnen.
6.8 Soziales Lernen
6.8.1 Erlernen sozialer Grundfähigkeiten
Die sozialen Grundfähigkeiten des Menschen bilden sich im frühen
Kindesalter aus. Die Erprobungs- und Aktivierungsfelder für diese
Fähigkeiten sind dabei Bewegungshandlungen, denn Sich-Bewegen ist
immer auch Gemeinschafts- und Sozialerfahrung. Dabei nimmt das
Bewegungsspiel in seinen vielfältigen Ausprägungen eine
76
herausgehobene Stellung ein. Hier erleben und erfahren Kinder
unmittelbar, dass Kooperation nötig ist, dass Regeln vereinbart und
eingehalten werden müssen.
Zusätzlich werden Grundlagen der Kommunikation erworben, wenn Kinder
sich über Regeln einigen, einmal nachgeben müssen und sich ein anderes
Mal durchsetzen können. Sie müssen sich absprechen, Rücksicht nehmen
und sich einfühlen (vgl. Größing/Größing, 2002, S. 71; Zimmer, 1998, S.
17).
Bis ungefähr zum 10. Lebensjahr benötigen Kinder etwa genauso viel Zeit,
um sich mit der Organisation des Spiels auseinanderzusetzen, wie für das
Spiel selber. Sie diskutieren beispielsweise darüber, wer als nächstes mit
Fangen dran ist, welche Regeln gelten, ob jemand gemogelt hat und wer
ausscheiden oder weiter mitmachen darf10.
„Die teilweise sehr heftig geführten Auseinandersetzungen auf der „Regie-Ebene“ des Spiels sind für die soziale Entwicklung des Kindes von nicht zu unterschätzender Bedeutung, lernt es doch, gemeinsam mit anderen soziale Regeln auszubilden und auf deren Einhaltung zu achten.“(Fritz, 1993, S. 72)
Kinder erfahren im Spiel, dass es Grenzen gibt und sie ihre Fähigkeiten im
Rahmen dieser Grenzen entfalten müssen. In der Organisation des Spiels
lernen sie, dass ihre eigene Sicht und ihre eigenen Impulse nicht die
einzig möglichen und gültigen sind. Sie erfahren und verstehen die
Sichtweisen und Vorstellungen der Mitspieler und können sie in ihre
Spielvorschläge mit einbeziehen. Dabei ahmen sie unbewusst häufig die
Umgangsformen ihrer Mitmenschen (z.B. die von Eltern, Erzieherinnen
und anderen Kindern) nach und verinnerlichen sie (vgl. Fritz, 1993,S. 72f;
Zimmer, 2002, S. 32).
Renate Zimmer hat eine Liste von sozialen Grundqualifikationen
zusammengestellt, die in Bewegung und Spiel erworben werden können. 10 Dies kann ich aus meiner Arbeit mit Kindern bestätigen.
76
Diese sollen eine Richtung angeben, die im Hinblick auf eine soziale
Erziehung durch Spiel und Bewegung angestrebt wird. Es handelt sich
hierbei um umfassende Kompetenzen, die nur in kleinen Schritten und
langfristig erreicht werden können:
• Soziale Sensibilität: z.B. sich in die Lage eines anderen
hineinversetzen; die Bedürfnisse anderer erkennen und im eigenen
Verhalten berücksichtigen,
• Regelverständnis: z.B. vereinbarte Regeln verstehen und einhalten;
selber einfache Regeln aufstellen,
• Kontakt- und Kooperationsfähigkeit: z.B. im Spiel Beziehungen zu
anderen aufnehmen; gemeinsam Aufgaben lösen; sich verbal mit
anderen auseinandersetzen,
• Frustrationstoleranz: z.B. Bedürfnisse aufschieben; mit Misserfolgen
umgehen lernen; sich in eine Gruppe einordnen können,
• Toleranz und Rücksichtnahme: z.B. Bedürfnisse anderer tolerieren;
Schwächere ins Spiel integrieren; die Andersartigkeit anderer
respektieren (vgl. Zimmer, 2002, S. 32f).
Daher ist es wichtig, dass Kinder nicht nur Spiele nachspielen, sondern
selber Spiele erfinden und Regeln variieren. Gleichzeitig mit der Zunahme
der Fähigkeit zur Organisation des Spiels wächst das Verständnis für
andere. Die Bereitschaft, das Vergnügen der Spielpartner mit dem
eigenen Vergnügen zu verbinden, steigt (vgl. Fritz, 1993, S. 74).
In Punkt 2.5.3 bin ich auf die verplante Freizeit von Kindern eingegangen
und auf das Problem, dass Kinder häufig kaum noch Zeit haben, einen
Nachmittag zu „verspielen“. Es scheint aber ausgesprochen wichtig zu
sein, dass Kindern die Möglichkeit gegeben wird, ohne Anleitung von
außen gemeinsam zu spielen, um so soziale Fähigkeiten entwickeln zu
können.
6.8.2 Freundschaften, Gruppen und Banden
76
Etwa vom 7. bis zum 12. Lebensjahr bilden Kinder Gruppen und Banden,
deren Struktur oft davon gekennzeichnet ist, dass es sich um Kinder
gleichen Alters und gleichen Geschlechts handelt. Sie treffen sich nach
der Schule und verbringen in den Ferien häufig ihre gesamte Freizeit
zusammen. Neben diesem Gruppenleben oder im Wechsel zu ihm werden
auch Zweierfreundschaften eingegangen, die in ihrer Intensität und
Ausschließlichkeit oft noch das Bandenleben übertreffen. Häufig handelt
es sich hierbei um Begegnungen mit Freunden oder Freundinnen, die
einen das ganze Leben hindurch begleiten.
Bei diesem Punkt handelt es sich um das letzte der 8 Grundthemen der
mittleren Kindheit von Thomas Lang, das von mir noch nicht behandelt
wurde. Es steht im Zusammenhang mit der Aneignung sozialer
Fähigkeiten, denn in der Gruppe Gleichaltriger und den ersten wirklich
engen Freundschaftsbeziehungen werden Grundformen des
menschlichen Zusammenlebens erfahren, erprobt und erlernt. Toleranz
und die Fähigkeit zur friedlichen Koexistenz werden eingeübt (vgl. Lang,
1995, S. 42f).
6.8.3 Soziales Lernen im Naturerlebnisgarten
Meistens sind Naturerfahrungen mit sozialen Kontakten und
gemeinsamen Erlebnissen verbunden. Das Sozialverhalten in der Gruppe
wird durch gemeinsames Spielen, Bauen und durch das Bestehen von so
manchem Abenteuer gestärkt. Durch positive Naturerfahrungen wird die
Achtsamkeit und Wertschätzung für andere Lebewesen und auch für
andere Menschen gefördert. Kinder lernen, dass Menschen, Tiere und
Pflanzen miteinander leben und aufeinander angewiesen sind. Vor allem
Fähigkeiten wie Vertrauen oder Sich-Einlassen auf andere können
entwickelt und erprobt werden (vgl. Kreuzinger, in: Institut für Bildung und
Entwicklung, 2000, S. 31; Naturschutzzentrum NRW, 1990, S. 3).
76
Im Naturerlebnisgarten haben die Kinder ebenfalls verschiedenste
Möglichkeiten, ihre sozialen Fähigkeiten zu erproben und zu erweitern.
Dadurch, dass die Gruppe zum einen aus Kindern besteht, die schon sehr
lange in den Naturerlebnisgarten kommen, zum anderen bei jedem Kurs
neue Teilnehmer dazukommen, haben die Kinder einen sehr
unterschiedlichen Erfahrungsschatz, was Naturerfahrungen angeht. Hier
erlebe ich es häufig, dass die erfahrenen Kinder den Neuen die
Spielmöglichkeiten zeigen, mit ihnen zusammen an den Teich gehen und
erklären, was man beachten muss, wenn man dort Tiere fangen will oder
sie in die Technik des Lehmbaus einweisen. So sind die neuen Kinder von
Anfang an in die Gruppe integriert.
Häufig müssen die Kinder auch Absprachen untereinander treffen. So z.B.
am beliebtesten Kletterbaum. Wenn viele Kinder gleichzeitig dort sind,
müssen sie zum einen festlegen, wer wann auf den Baum darf, zum
anderen müssen die Kinder, die gerade klettern, sich einigen, wer wohin
klettert, ohne, dass sie sich in die Quere kommen.
Auch am Teich kommt es manchmal zu kleineren Konflikten, da die
großen Käscher die beliebtesten sind, wir aber nur zwei davon haben. Die
Kinder müssen sich abwechseln. Hierbei werden die von Renate Zimmer
beschriebenen Grundqualifikationen gefördert (s. Punkt 5.8.1).
Des Öfteren organisieren die Kinder auf dem Spielhügel Fangspiele oder
Ähnliches. Die Auswirkungen auf das Sozialverhalten sind in Punkt 5.8.1
beschrieben. Auch beim Bau der Staudämme (s. Punkt 5.5) müssen die
Kinder Absprachen treffen und sich organisieren: Wo ist die beste Stelle
für einen Staudamm? Wer baut an welcher Stelle? Welches Material wird
verwandt? Meist werden die ganze Zeit über solche Fragen diskutiert und
unterschiedliche Vorstellungen in Einklang gebracht.
76
Im Umgang mit Tieren und Pflanzen lernen die Kinder rücksichtsvolles
Verhalten. Als Beispiel fällt mir hier ein Junge ein, der schon sehr lange in
den Naturerlebnisgarten kommt und vor allem am Anfang häufig durch
aggressives Verhalten gegenüber anderen Kindern auffiel. Dieser Junge
zeigt anderen Kindern, wie sie kleine Tiere auf die Hand nehmen können,
ohne diese zu verletzen und ermahnt sie, ja vorsichtig mit den Tieren
umzugehen.
Der Junge hat das Verhaltensmuster „Vorsicht und Rücksichtnahme“ in
Bezug auf Tiere erlernt, es ist also vorhanden und muss dann auf den
Umgang mit den Mitmenschen übertragen werden11.
7. Sozialpädagogik und naturnahe Arbeit
In dieser Arbeit ging es mir darum, die Möglichkeiten naturnaher Arbeit für
die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern herauszuarbeiten. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass ich mich nur mit einem Aspekt naturnaher Arbeit
beschäftigt habe und mich daher auch nur auf diesen beziehen kann.
Bevor ich zu einem abschließenden Fazit komme, werde ich zunächst
kurz die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel zusammenfassen.
Es ist deutlich geworden, dass Kinder, die in städtischen Wohnumfeldern
aufwachsen, immer mehr in ihrem Spiel- und Bewegungsraum
eingeschränkt werden. In den Vordergrund treten dagegen
Sekundärerfahrungen, die besonders vor dem Fernseher und dem
Computer gemacht werden.
Für eine gesunde und ganzheitliche Entwicklung ist es jedoch
unerlässlich, dass Kinder Primärerfahrungen machen, also spielen und
11 Auf die Transferhilfen und –schwierigkeiten werde ich im Rahmen dieser Arbeit nicht eingehen, da sie ausschließlich bei diesem einen Beispiel Thema sind.
76
sich bewegen. Daher ist es Aufgabe der Pädagogik, Kindern wieder (Frei-
)Räume zu schaffen, in denen sie die Möglichkeit dazu haben.
Die in Kapitel 2 beschriebenen Merkmale stellen Entwicklungstrends dar,
die nicht pauschal und einheitlich auf alle Kinder übertragen werden
können. Geht man jedoch davon aus, dass diese Trends sich in den
nächsten Jahren weiterentwickeln, so muss man auch davon ausgehen,
dass die Aufgabe der Pädagogik einen immer höheren Stellenwert
einnehmen wird.
In Kapitel 5 habe ich anhand des Beispiels des Naturerlebnisgartens
verdeutlicht, welche Möglichkeiten die Natur als Spiel- und
Bewegungsraum bietet. Dabei ist meines Erachtens klar geworden, dass
diese sehr vielfältig sind. Motorik, Sinneswahrnehmung, Fantasie und
Kreativität werden gefördert. Die Kinder erlernen soziale Fähigkeiten,
Sprache und Intellekt entwickeln sich weiter. Zudem erleben sie sich als
Teil der Natur, begreifen ökologische Zusammenhänge und können eine
positive Beziehung zur Natur aufbauen. Dabei erleben die Kinder
Lebensfreude und Kraft, die beim Sich-Bewegen, vor allem in der Natur,
entstehen.
Die besondere Beziehung, die Kinder zur Natur haben, ermöglicht ihnen
einen Zugang zu dieser, der Jugendlichen und Erwachsenen nicht möglich
ist.
Bezogen auf Sozialpädagogik bedeutet das meiner Meinung nach, dass
es sinnvoll und wichtig ist, naturnahe Arbeit vermehrt als Methode
einzusetzen.
Sinnvoll ist der Einsatz naturnaher Arbeit allein deshalb, weil die Natur
Möglichkeiten für die kindliche Entwicklung bietet, die sonst häufig mit viel
Materialaufwand und Planung, z.B. in Spielaktionen, ermöglicht und
verwirklicht werden müssen.
Wichtig ist der Kontakt mit der Natur für Kinder, weil sie sich so als Teil der
Natur erleben, eine individuelle Beziehung zu dieser aufbauen und sich
76
spielerisch mit sich selbst, ihrer personalen, räumlichen und materiellen
Umwelt auseinandersetzen können.
Aufgabe der Pädagogen ist meines Erachtens, den Kindern in der Natur
eine geschützte Atmosphäre zu bieten, in der sie ohne Angst, dafür aber
mit Spaß und Freude diese Erfahrungen machen können. Die Pädagogen
sollten die Kinder dabei begleiten, sich aber dennoch zurückhalten. Das
bedeutet, dass sie die Kinder spielen und ihre eigenen Lösungen finden
lassen müssen, dass sie mitspielen, ohne gleich korrigierend und
belehrend einzugreifen. So können sich bei den Kindern Selbstvertrauen,
Sicherheit und Selbstständigkeit entwickeln und schließlich zur Entfaltung
der Persönlichkeit führen.
Obwohl naturnahe Arbeit in der von mir benutzten Literatur fast
ausschließlich positiv beschrieben wurde, stellt sie meiner Ansicht nach
kein „Wundermittel“ für die kindliche Entwicklung dar. Dazu hängt diese
von zu vielen Faktoren (wie z.B. von der familiären Situation) ab.
Für mich ist naturnahe Arbeit jedoch eine ausgezeichnete Methode, um
die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und Kindern gleichzeitig die
Natur wieder näher zu bringen. Sie steht neben vielen anderen Methoden,
die in der Sozialen Arbeit angewandt werden.
Abschließend komme ich daher zu dem Ergebnis, dass naturnahe Arbeit
in der Sozialpädagogik verstärkt genutzt werden sollte, da sie Kindern
eine ganzheitliche Entwicklung und einen Zugang zur Natur und damit
auch zu sich selbst ermöglicht.
76
Anhang
Ziele und Inhalte naturnaher Arbeit
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Naturnaher Spielbereich Sozialer Aspekt
z.B. Kommunikation, Interaktion mit
Partnern
Sensomotorik z.B.
visuelle, akustische und taktile Wahrnehmung
Motorik z.B.
Grob-, Feinmotorik Koordinationsfähigkeit
Begreifen ökologischer
Zusammenhänge, positive Beziehung zur
Natur
Fantasie und Kreativität
z.B. Naturmaterialien
als Spielzeug
Sprache und intellektuelle Entwicklung
z.B. Wortschatz, Lernfähigkeit
Platz für Ruhe und Geborgenheit,
für Abenteuer und Entdeckungsreisen
76
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76
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76
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