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Erwin Tegtmeier: Parmenides – Begründer der Substanzphilosophie 1. Substanz als eigentlich Seiendes Was mit dem Lateinischen „substantia“ (zu Deutsch also etwa „das Tragende“) übersetzt worden ist, war hauptsächlich das Altgriechische „ousia“, wie es Platon und Aristoteles verwenden. „ousia“ ist aber von „einai“ („Sein“) abgeleitet und bedeutet schlicht „Seiendes“. Allerdings handelt es sich um eine doppelte Substantivierung von „einai“, die eine größtmögliche Verstärkung ausdrückt. Die deutsche Entsprechung von „ousia“ wäre demnach etwa „das eigentlich Seiende“. Substanz in diesem Sinne kann dann natürlich nicht eine Kategorie neben anderen sein und das ist ousia sogar bei Aristoteles nicht, obwohl er zwei Kategorien von Substanzen und acht Kategorien von Akzidenzien unterscheidet. Denn das Akzidenz („symbebekos“) ist kein eigentlich Seiendes, sondern nur etwas an einem Seienden und die Substanzkategorien sind Subkategorien. In allen Substanzontologien kann man eine Tendenz zur Einkategorien- ontologie entdecken, wenn man den Unterschied zwischen eigentlich und uneigentlich Seiendem beachtet und ernst nimmt. Das Problem des eigentlich Seienden nun hat Parmenides zuerst aufgeworfen. Allerdings ohne das gesteigerte Wort „ousia“. Ihm liegt der Abstufungsgedanke, den Platon später hereinbringt, fern. Dem eigentlich Seienden stellt er nicht ein schwächer Seiendes, sondern das Nichtseiende gegenüber. Parmenides’ eigentlich Seiendes ist denn auch nur das im strengen Sinne Seiende bzw. das Seiende, das der strengen Nachprüfung standhält. Es ist nicht ein in höherem Grade Seiendes wie bei Platon und Aristoteles. Parmenides hat im damals griechisch besiedelten Unteritalien gelebt. Die Lebensdaten sind nicht genau bekannt. Er hat jedenfalls vor Sokrates gelebt und wird deshalb zu den sogenannten Vorsokratikern gerechnet. Laut Platon ist der junge Sokrates dem alten Parmenides noch begegnet. Wie sein Lehrer Xenophanes legt auch Parmenides seine Auffassungen in dichterischer Form dar. Sein Lehrgedicht ist nicht vollständig über- liefert. Man nimmt aber an, daß die erhaltenen Fragmente dessen wesentliche Teile umfassen. Parmenides legt seine Lehre der Göttin Dike in den Mund. Da es in der griechischen Mythologie die Göttin der Gesetzlichkeit ist, kann man dies so verstehen, daß die Lehre sich auf Gesetze stützt, auf die logischen Brought to you by | Heinrich Heine Universität Düsseldorf Authenticated | 134.99.128.41 Download Date | 11/15/13 9:00 AM

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Erwin Tegtmeier: Parmenides – Begründer der Substanzphilosophie

1. Substanz als eigentlich Seiendes

Was mit dem Lateinischen „substantia“ (zu Deutsch also etwa „das Tragende“) übersetzt worden ist, war hauptsächlich das Altgriechische „ousia“, wie es Platon und Aristoteles verwenden. „ousia“ ist aber von „einai“ („Sein“) abgeleitet und bedeutet schlicht „Seiendes“. Allerdings handelt es sich um eine doppelte Substantivierung von „einai“, die eine größtmögliche Verstärkung ausdrückt. Die deutsche Entsprechung von „ousia“ wäre demnach etwa „das eigentlich Seiende“. Substanz in diesem Sinne kann dann natürlich nicht eine Kategorie neben anderen sein und das ist ousia sogar bei Aristoteles nicht, obwohl er zwei Kategorien von Substanzen und acht Kategorien von Akzidenzien unterscheidet. Denn das Akzidenz („symbebekos“) ist kein eigentlich Seiendes, sondern nur etwas an einem Seienden und die Substanzkategorien sind Subkategorien. In allen Substanzontologien kann man eine Tendenz zur Einkategorien-ontologie entdecken, wenn man den Unterschied zwischen eigentlich und uneigentlich Seiendem beachtet und ernst nimmt.

Das Problem des eigentlich Seienden nun hat Parmenides zuerst aufgeworfen. Allerdings ohne das gesteigerte Wort „ousia“. Ihm liegt der Abstufungsgedanke, den Platon später hereinbringt, fern. Dem eigentlich Seienden stellt er nicht ein schwächer Seiendes, sondern das Nichtseiende gegenüber. Parmenides’ eigentlich Seiendes ist denn auch nur das im strengen Sinne Seiende bzw. das Seiende, das der strengen Nachprüfung standhält. Es ist nicht ein in höherem Grade Seiendes wie bei Platon und Aristoteles.

Parmenides hat im damals griechisch besiedelten Unteritalien gelebt. Die Lebensdaten sind nicht genau bekannt. Er hat jedenfalls vor Sokrates gelebt und wird deshalb zu den sogenannten Vorsokratikern gerechnet. Laut Platon ist der junge Sokrates dem alten Parmenides noch begegnet.

Wie sein Lehrer Xenophanes legt auch Parmenides seine Auffassungen in dichterischer Form dar. Sein Lehrgedicht ist nicht vollständig über-liefert. Man nimmt aber an, daß die erhaltenen Fragmente dessen wesentliche Teile umfassen.

Parmenides legt seine Lehre der Göttin Dike in den Mund. Da es in der griechischen Mythologie die Göttin der Gesetzlichkeit ist, kann man dies so verstehen, daß die Lehre sich auf Gesetze stützt, auf die logischen

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Gesetze nämlich, insbesondere auf das des ausgeschlossenen Widerspruchs. Parmenides ist der erste europäische Philosoph, der eine explizit logische Beweisführung hat und der die logische Gesetzlichkeit zum Thema macht. Die Unumstößlichkeit logischer Gesetze faßt Parmenides als Festhalten durch die Göttin Dike auf.

Was die Göttin Dike als Weg des Seins in Parmenides’ Lehrgedicht verkündet und vorschreibt, ist vor allem eine strenge und konsequente Einhaltung der logischen Gesetze. Der Weg, vom dem sie abbringen will, der Weg des Nichtseins, führt über logische Nachlässigkeit und Widersprüchlichkeit, insofern auch Nichtseiendes neben Seiendem in der Erkenntnis akzeptiert wird.

Man bekommt den Eindruck, daß der Weg des Nichtseins von der Mehrheit der Menschen beschritten wird und im Laufe des Lehrgedichts erweisen sich die gewöhnlichen Dinge und die gesamte wahrgenommene Welt als Nichtseiendes. Die gewöhnliche Erkenntnis, insbesondere die Wahrnehmung, wird von Parmenides in den Bereich des Irrtums verwiesen. Parmenides gebraucht allerdings das Wort „Meinung“ (doxa) im Gegensatz zu „Wahrheit“ (alēthes) (Fragment 4, 29-30). Parmenides hebt also mit seiner Terminologie die Ungeprüftheit der gewöhnlichen Erkenntnis hervor. Seine strenge Prüfung zeigt jedoch ihre Irrtümlichkeit.

Parmenides’ Lehrgedicht lassen sich mehr oder weniger deutlich logische Beweisführungen gegen wesentliche Charakteristika der wahrgenommenen Dinge entnehmen und zwar gegen das Entstehen und Vergehen, gegen die Veränderung und gegen die Vielheit bzw. Komplexität überhaupt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß man es mit den Anfängen einer Theorie und Anwendung der Logik in der Philosophie zu tun hat und es erforderlich ist, die Beweisführungen zu rekonstruieren.

2. Das Nichtsein der wahrgenommenen Dinge

Parmenides bringt gegen das Entstehen und Vergehen (ich fasse sie als „Werden“ zusammen) vier klar auszumachende Argumente vor: das ontologische, das logische, das epistemologische und das kausale Argument. Alle vier haben als Angelpunkt die Problematik der Nichtexistenz und sie gehen von der gewöhnlichen Auffassung aus, daß Werden ein Übergang zwischen Existenz und Nichtexistenz ist. Diese Auffassung dient also allen vier Argumenten als Prämisse.

Das ontologische Argument (Parmenides Fragmente 2, 6 und 8) führt zu dem Schluß, daß Werden nicht existiert, weil es Nichtexistenz einschließt. Das logische Argument (Fragment 7) kommt zu demselben Ergebnis aufgrund des Gesetzes vom ausgeschlossenen Widerspruch und des Umstandes, daß Werden Existenz und Nichtexistenz desselben Dings in einer Konjunktion zusammenbringt. Das epistemologische Argument

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(Fragment 8,2-9) hat die Conclusio, daß Werden nicht erkennbar ist. Es geht von der Voraussetzung aus, daß Nichtexistentes nicht erkennbar ist, und daß als Ganzes nicht erkennbar ist, was zu Teilen nicht erkennbar ist. Das kausale Argument (Fragment 8) führt zu dem Ergebnis, daß Entstehen unerklärbar ist, wobei es davon ausgeht, daß Nichtexistentes nicht als Ursache in Frage kommt.

Parmenides’ Argumente gegen die Veränderung sind nicht so deutlich wie die gegen das Entstehen und Vergehen, das ganz im Vordergrund steht. Anscheinend hat Parmenides die Veränderung, also den Verlust von Eigenschaften (einschließlich relationaler Eigenschaften) und ihre Ersetzung durch andere, auch als ein Entstehen und Vergehen aufgefaßt, mithin als einen Übergang zwischen Sein und Nichtsein. Das leuchtet unter zwei Gesichtspunkten ein. Zum einen entsteht bei der Veränderung der Besitz einer bestimmten Eigenschaft durch ein bestimmtes Ding und der Besitz der durch die neue Eigenschaft verdrängten alten Eigenschaft vergeht. Zum anderen unterscheidet Parmenides nicht zwischen existenziellem und prädikativem „ist“ („estin“). Und der Verlust und der Gewinn einer Eigenschaft E durch ein Ding a ist ja ein Übergang zwischen dem Umstand, daß a E ist, zum Umstand, daß a nicht E ist, also zwischen dem Ist und dem Ist-Nicht, zwischen dem Sein und dem Nichtsein.

Parmenides’ Einwand gegen eine Vielheit von Dingen scheint zu sein, daß sie Nichtsein und Nichtseiendes voraussetzen (Fragment 8, 20-25). Er versteht dabei den leeren Raum, der die materiellen Dinge trennen müßte, um ihre Vielheit zu ermöglichen, als Nichtseiendes. Einen analogen Einwand scheint er gegen die Komplexität, also gegen die innere Geteiltheit materieller Dinge zu haben: er nimmt offenbar an, daß auch die Teile desselben Dings durch leeren Raum getrennt werden müssten.

Parmenides’ Argument gegen die Vielheit und Komplexität ist angreifbarer, weil es von mehr nicht-logischen Prämissen abhängt. Es sind Prämissen hinsichtlich der Natur des Raumes. Wer der Auffassung ist, daß der Raum in nichts anderem als räumlichen Relationen besteht, wird sie nicht akzeptieren und auch ein Verfechter einer absolutistischen Auffassung, der sich den Raum aus Orten zusammengesetzt denkt, hat guten Grund, einen leeren Raum für seiend zu halten. Im übrigen richtet sich das Argument nur gegen eine Vielheit von räumlichen Entitäten. Dadurch wird eine Vielheit oder ein Komplex von nicht-räumlichen Entitäten (wie z.B. Universalien oder Sachverhalten) nicht ausgeschlossen.

3. Parmenides’ Seinskennzeichen

Wie in der Logik heute noch üblich, schließt Parmenides von der Widersprüchlichkeit auf die Nichtexistenz der gewöhnlichen Dinge. Es blieb Kant vorbehalten, von der Widersprüchlichkeit auf eine

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bewußtseinsabhängige Existenz zu schließen, was immer das sein soll. Die Widersprüchlichkeit spielt jedoch nur in einem Teil der Argumente eine Rolle, wenn auch in dem größten und stärksten Teil. Ansonsten schließt Parmenides auch aus ihrer Unerkennbarkeit und kausalen Unerklärbarkeit auf die Nichtexistenz der Wahrnehmungsobjekte.

Aufgrund seiner Argumente stellt Parmenides dann Kennzeichen für Seiendes zusammen, eben für solches, gegen das seine Argumente nicht vorgebracht werden könnten. Die Kennzeichen sind erwartungsgemäß die folgenden: daß das Seiende nicht entsteht und nicht vergeht, daß es sich nicht verändert, daß es einfach ist, und daß es nur eines davon gibt. Parmenides behauptet damit gegen alle Wahrnehmung und allein aufgrund logischer Prüfung, daß es nur ein einfaches, unveränderliches Seiendes gibt. Er vergleicht das einzige Seiende mit einer wohlgerundeten Kugel und erläutert, daß es eine letzte Grenze habe und allseits vollendet sei, weil kein Nichtseiendes seine Homogenität beeinträchtige (Fragment 8, 50-55). Dabei tritt wieder hervor, wie stark Parmenides räumlich denkt, auch wenn er sich bewußt ist, zu vergleichen (er benutzt das Wort „isopales“).

Parmenides’ Kennzeichen des Seins (Ewigkeit, Unveränderlichkeit, Einfachheit) nun haben Philosophiegeschichte gemacht. Sie sind zu Kriterien der Substanz geworden, die bis in die Gegenwart beibehalten wurden. Allerdings ist die Ewigkeit schon früh zu relativer Dauerhaftigkeit abgeschwächt worden. Man beachte nun den Unterschied zwischen Kennzeichen und Merkmalen. Merkmale der Substanz definieren diese, Kennzeichen sind nur Charakteristika, die damit in gesetzmäßigem Zusammenhang stehen. Parmenides’ Kennzeichen stehen und fallen mit den zugehörigen Argumenten und sie setzen eine unabhängige Bestimmung des eigentlich Seienden bzw. der Substanz voraus. Dagegen definieren Merkmale erst die Kategorie.

Weil Parmenides’ Kennzeichen als Merkmale genommen wurden, ist es kaum zu einer Überprüfung der Stichhaltigkeit seiner Argumente gekommen. Zugleich hat man sie wegen des radikalen Gegensatzes ihrer Konsequenzen zu unserer Wahrnehmung herablassend behandelt, vor allem Aristoteles nahm diese Haltung ein (Aristoteles: Physica 185a).

Platon hat die Entwicklung der Substanzphilosophie entscheidend beeinflußt, zum Einen dadurch, daß er lehrte, die Beschaffenheiten („eidos“) der Wahrnehmungsdinge erfüllten die Merkmale des eigentlich Seienden, und zum Anderen durch seine Abstufung des Seienden, in der das in höchsten Grade ist, was die Merkmale voll erfüllt. Die Wahrnehmungsdinge, die die Merkmale nicht erfüllen, stuft Platon aber doch als Seiende ein, wenn auch als in geringerem Grade Seiende. Dies stand in eklatantem Gegensatz zu Parmenides’ strengem Seinsbegriff, der nur das eigentlich Seiende zuläßt und alles Andere ins Nichtseiende verweist. Aristoteles hat sich noch weiter davon entfernt, indem er neben Seinsgraden auch noch Seinsweisen unterschied im Zusammenhang mit

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seiner These der Mehrdeutigkeit des Wortes „ist“ („estin“), wobei er einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Bedeutungen dadurch herstellt, daß er eine Zentralbedeutung auszeichnet, von der die anderen abhängen sollen. Parmenides behandelt das „ist“ noch als eindeutiges Wort.

Vor allem Aristoteles hat dafür gesorgt, daß die tiefen Einsichten Parmenides’ nicht verstanden und gewürdigt wurden. Er kümmert sich im Grunde nur um das eher schwache kausale Argument. Das ontologische, meint er, sei durch seine These von der Mehrdeutigkeit des „ist“ überholt (Aristoteles: Physica 185a). Und Platon verteidigt das Nichtsein mit Beispielen, in denen das „ist“ im Sinne von „ist identisch mit“ gebraucht wird, also nicht im Sinne von „existiert“ (Platon: Sophistes 255e, 256a).

Nichtsdestoweniger, oder vielleicht gerade deswegen, sind Parmenides’ ontologisches und epistemologisches Argument immer noch Herausforderungen für die Metaphysik. Die meisten der heute verfochtenen philosophischen Analysen des gewöhnlichen Dings und seiner Erkenntnis scheitern an diesen Argumenten, z.B. diejenigen, die die Widersprüchlichkeit des Entstehens und Vergehens durch Relativierung auf Zeitpunkte vermeiden sollen. Wenn man aus Parmenides’ ontologischem Argument die Größe der Schwierigkeit einzusehen gelernt hat, wird man bereit sein, die gewöhnliche Auffassung des Werdens, in der Zeit und Existenz verquickt sind, in Frage zu stellen. Nur mit einer Trennung von Zeit und Existenz, nach der man Entstehen und Vergehen nicht mehr als Übergang zwischen Existenz und Nichtexistenz, sondern bloß als zeitlichen Anfang oder zeitliches Ende auffaßt, kann man dem ontologischen Argument entgehen. (s. Tegtmeier: Zeit und Existenz, Teil I, und ders.: Parmenides’ Problem of Becoming and its Solution). Daß eine solche Trennung ein radikales Umdenken mit weitreichenden Konsequenzen notwendig macht, verdeutlicht, wie schwer seine Argumente wiegen und wie tief seine Einsichten waren. Allerdings ist das Umdenken dabei nicht so radikal wie das von Parmenides selbst verfochtene. Es geht nur darum, das Werden anders zu denken, nicht darum, alles Werdende als Nichtseiendes zu verwerfen.

4. Parmenides’ Beschränkung

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf eine mehr als 2000jährige Geschichte der Substanzphilosophie zurückblickend, hat Gustav Bergmann fünf Komponenten des Substanzbegriffs unterschieden (G. Bergmann: Realism, Section 6), man könnte auch sagen, fünf Rollen, die man die Substanzen in der Substanzphilosophie hat spielen lassen. Diese Fünfteilung scheint mir treffend, und ich will sie deshalb auf Parmenides

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anwenden, um zu fragen, wie weit Parmenides der Substanztradition angehört und wie weit er ihr vorgearbeitet hat.

Substanzen dienen nach Bergmann 1. als Individuatoren, 2. als Träger ihrer Eigenschaften, 3. als Minimalobjekte, 4. als Fortdauerndes (über Zeit und Veränderung hinweg) und 5. als Agens. Zu der dritten Rolle erläutert Bergmann, daß er sie eigentlich nur im Hinblick auf die Substanzlehre Brentanos in die Zusammenstellung gebracht hat. Durch diese fünf Rollen löst die Ontologie mit der Kategorie der Substanz bis auf das Universalienproblem alle Grundprobleme der Ontologie, nämlich das der Komplexität (insbesondere des Zusammenhangs von Ding und Eigenschaft), das der Individuation und das der Fortdauer (dadurch, daß die Substanz immer dieselbe bleibt). Was das Substanz als Agens angeht, so wird dadurch kein ontologisches Problem im engeren Sinne gelöst, sondern eines der Biologie, zumal Aristoteles damit vor allem Organismen gerecht werden will. Außerdem fiel es den Kritikern der Substanzphilosophie nicht schwer, die Agenskonzeption als dunkel, verworren und wenig erklärungskräftig hinzustellen.

Wenn man diese Liste an Parmenides’ Substanz anlegt, so kann man feststellen, daß die Beschränkung auf eine einzige Substanz dazu führt, daß diese alle Rollen erfüllen kann, außer vielleicht der des Agens. Es tut der Vollständigkeit von Parmenides’ Ontologie keinen Abbruch, daß die Substanz nicht die Rolle des Agens spielen kann, zumal die Konzeption des Agens ohnehin diffus ist. Jedoch kommt man nicht umhin zuzugestehen, daß hier wie anderwärts die Vollkommenheit in der Beschränkung liegt. Mit nur einem Seienden stellen sich naturgemäß die meisten ontologischen Probleme gar nicht erst, wie das der Komplexität, das der Individuation, das der Relationen und das der Universalien.

Schwacher Punkt von Parmenides’ monistischer Ontologie ist zweifellos ihre gänzliche Unvereinbarkeit mit der Wahrnehmung. Da Parmenides sich in seiner Ontologie auf die Situation einer einzigen einfachen Entität beschränkt, ist sie nicht auf die Wahrnehmungswelt anwendbar. Für diese nicht-existierende Welt skizziert Parmenides auch eine Theorie, die jedoch nicht ontologisch, sondern kosmologisch ist. Platon und Aristoteles waren bemüht, den Wahrnehmungsdingen doch einen gewissen ontologischen Status zu verschaffen. Dieses Bemühen ist bei Aristoteles noch stärker und zentraler als bei Platon. In der Substanzphilosophie überhaupt ist es zentral, zumal die Substanzphilosophie die meiste Zeit mit dem Aristotelismus zusammenfällt. Bei Aristoteles hat das gewöhnliche, wahrgenommene Ding keine Halbexistenz wie bei Platon, sondern eine volle Existenz, allerdings auf Kosten seiner Eigenschaften und aller nicht-dinglichen Phänomene wie z.B. Relationen und Sachverhalten.

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Literatur

Austin, S.: Parmenides. New Haven/London 1986 Bergmann, G.: Realism. Madison 1968 Coxon, A. H.: The Fragments of Parmenides. Assen/Maastricht 1986 Owen, G. E. L.: Logic, Science, and Dialectic. London 1986 Parmenides: Über das Sein. Griechisch/Deutsch. Stuttgart 1981 Parmenides: Die Anfänge der Ontologie, Logik und Naturwissenschaft.

Die Fragmente, hrsg., übers. und erläutert von E. Heitsch. München 1974 Tegtmeier, E.: Parmenides’ Problem of Becoming and its Solution, in:

Philosophiegeschichte und Logische Analyse 2 (1999) Tegtmeier, E.: Zeit und Existenz. Parmenideische Meditationen.

Tübingen 1997 Verdenius, W. J.: Parmenides – Some Comments on his Poem.

Groningen 1942

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