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Leseprobe Combrink, Thomas Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 © Suhrkamp Verlag Suhrkamp BasisBibliothek 122 978-3-518-18922-1 Suhrkamp Verlag

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Page 1: Suhrkamp Verlag · Butze und Kellereingang verbarg. In den Keller ging sie nie, da sie nicht verschüttet werden wollte. Als die Augen wieder einigermaßen Funktion hatten, sah sie

Leseprobe

Combrink, Thomas

Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945

© Suhrkamp Verlag

Suhrkamp BasisBibliothek 122

978-3-518-18922-1

Suhrkamp Verlag

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»Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt am8. April 1945 zählt zu den ergreifendsten Zeugnissen derBombardierung deutscher Städte durch die Alliierten. Do-kument und Imagination beteiligen sich hier gleicherma-ßen an der ›Recherche verlorener Zeit‹, wie es W. G. Sebaldgenannt hatte.« Neue Zürcher ZeitungDiese Ausgabe der »Suhrkamp BasisBibliothek – Arbeits-texte für Schule und Studium« bietet nicht nur AlexanderKluges Erzählung, sondern auch einen Kommentar, deralle für das Verständnis der Erzählung erforderlichen In-formationen enthält: ein biografisches Porträt des Autors,ein Essay zumhistorischen Kontext, die Entstehungs-, Text-und Rezeptionsgeschichte, Deutungsansätze, Literaturhin-weise sowie detaillierte Wort- und Sacherläuterungen.Thomas Combrink, geboren 1976, studierte Literaturwis-senschaft, Anglistik und Philosophie in Bielefeld und hatüber Helmut Heißenbüttel promoviert. Er ist Mitarbeiterim literarischen Bereich bei Alexander Kluge.

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AlexanderKlugeDerLuftangriff aufHalberstadtam8. April1945Mit einem Kommentar

von Thomas Combrink

Suhrkamp

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Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April1945. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008.

In Absprache mit dem Autor wurden vom Herausgeber desBandes an einigen Stellen Kürzungen und Korrekturenvorgenommen.

Erste Auflage 2014OriginalausgabeSuhrkamp BasisBibliothek 122

© Text: Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008© Kommentar: Suhrkamp Verlag Berlin 2014Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffent-lichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk undFernsehen, auch einzelner Abschnitte.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mi-krofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Ver-lages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verar-beitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: pagina GmbH, TübingenDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmUmschlagabbildung: Regina Schmeken /Süddeutsche Zeitung PhotoUmschlaggestaltung: Regina Göllner und Hermann MichelsPrinted in Germany

ISBN: 978-3-518-18922-1

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Inhalt

Alexander Kluge, Der Luftangriff auf Halberstadtam 8. April 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Zu Alexander Kluges Leben und Werk . . . . . . . . . . 91

Geschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Der Bombenkrieg gegen Deutschland im ZweitenWeltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95Halberstadt am 8. April 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Entstehung, Drucke und Rezensionen . . . . . . . . . . . 103

Deutungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

Wort- und Sacherläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

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Der Luftangriff auf Halberstadt am8. April 1945

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I

[Abgebrochene Matinee�-Vorstellung im »Capitol«, Sonn-tag, 8. April, Spielfilm »Heimkehr« mit Paula Wessely undAttila Hörbiger] Das Kino »Capitol« gehört der FamilieLenz. Theater-Leiterin, zugleich Kassiererin, ist die Schwä-5

gerin, Frau Schrader. Die Holztäfelung der Logen, des Bal-kons, das Parkett sind in Elfenbein gehalten, rote Samtsitze.Die Lampenverkleidungen sind aus brauner Schweins-leder-Imitation. Es ist eine Kompanie Soldaten aus derKlus-Kaserne zur Vorstellung heranmarschiert. Sobald der10

Gong, pünktlich 10 Uhr, ertönt, wird es im Kino sehr lang-sam, den dazwischengeschalteten Spezialwiderstand hatFrau Schrader gemeinsam mit dem Vorführer gebaut, dun-kel. Dieses Kino hat, was Film betrifft, viel Spannendes ge-sehen, das durch Gong, Atmosphäre des Hauses, sehr lang-15

sames Verlöschen der gelbbraunen Lichter, Einleitungs-musik usf. vorbereitet worden ist.Jetzt sah Frau Schrader, die in die Ecke geschleudert wird,dort, wo die Balkonreihe rechts an die Decke stößt, einStück Rauchhimmel, eine FSprengbombeG hat das Haus ge-20

öffnet und ist nach unten, zum Keller, durchgeschlagen.Frau Schrader hat nachsehen wollen, ob Saal und Toilettennach FVollalarmG restlos von Besuchern geräumt sind. Hin-ter der Brandmauer des Nachbarhauses, durch die Rauch-schwaden, flackerte Brand. Die Verwüstung der rechten25

Seite des Theaters stand in keinem sinnvollen oder dra-maturgischen Zusammenhang zu dem vorgeführten Film.Wo war der Vorführer? Sie rannte zur Garderobe, von woaus sie die repräsentative Eingangshalle (geschliffene Glas-Pendeltüren), die Ankündigungstafeln sah, »wie Kraut30

und Rüben« durcheinander. Sie wollte sich mit einerLuftschutz-Schippe daranmachen, die Trümmer bis zur14-Uhr-Vorstellung aufzuräumen.

9Der Luftangriff auf Halberstadt

(franz.) Veran-staltung, dieam Vormittagstattfindet

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Dies hier war wohl die stärkste Erschütterung, die das Kinounter der Führung von Frau Schrader je erlebt hatte, kaumvergleichbar mit der Erschütterung, die auch beste Filmeauslösten. Für Frau Schrader, eine erfahrene Kino-Fach-kraft, gab es jedoch keine denkbare Erschütterung, die die 5

Einteilung des Nachmittags in vier feste Vorstellungen (mitMatinee und Spätvorstellung auch sechs) anrühren konnte.Inzwischen kam aber die F4. und 5. AngriffswelleG, die ihreBomben ab 11.55 Uhr auf die Stadt abwarf, mit einemekelhaften und »niedrigen« Brummton heran, Frau 10

Schrader hörte den Pfeifton und das Rauschen der Bom-ben, die Einschläge, so daß sie sich in einer Ecke zwischen

10 Der Luftangriff auf Halberstadt

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Butze� und Kellereingang verbarg. In den Keller ging sienie, da sie nicht verschüttet werden wollte. Als die Augenwieder einigermaßen Funktion hatten, sah sie durch daszersplitterte Fenster der sogenannten Butze eine Kette vonSilber-Maschinen in Richtung der Gehörlosen-Schule ab-5

fliegen.Jetzt kamen ihr doch Bedenken. Sie suchte sich einen Wegüber die Trümmerstücke, die die Spiegelstraße bedeckten,sah den Volltreffer, der in die Eisdiele, Eckhaus Spiegel-straße, eingeschlagen war, kam Ecke Harmoniestraße an,10

gruppierte sich zu einigen Männern des FNSKKG, die mitSturzhelmen, ohne Fahrzeuge, in Richtung des Rauchesund des Brandes blickten. Sie macht sich den Vorwurf, dasCapitol im Stich gelassen zu haben. Sie wollte zurückeilen,wurde von Männern daran gehindert, da mit dem Einsturz15

der Häuserfronten in der Spiegelstraße gerechnet wurde.Die Häuser brannten »wie Fackeln«. Sie suchte nach einembesseren Ausdruck für das, was sie so genau sah.Spätnachmittag hatte sie sich zur Hauptmann-Loeper-Straße (sie sagt nach wie vor Kaiserstraße)/Ecke Spiegel-20

straße vorgearbeitet, ein Platz, durch fünf aufeinander-stoßende Straßen gebildet; sie stand neben dem Betonpfei-ler, der Stunden zuvor eine Normal-Uhr getragen hatte,und sah schräg hinüber auf das nunmehr niedergebrannteCapitol.25

Noch immer war Familie Lenz nicht benachrichtigt, diesich zur Zeit in Marienbad� aufhielt. Die Theaterleiterinkonnte jedoch unmöglich ein Telefon erreichen. Sie umgingdas Trümmergrundstück des ehemaligen Kinos und drangvom Hof des Nachbargrundstücks zum Keller-Notaus-30

gang vor. Sie hatte Soldaten aufgegriffen, die ihr mit Hak-ken beim Eindringen halfen. Im Kellergang lagen etwa6 Besucher der Matinee, die Heizungsrohre der Zentral-heizung waren durch Sprengwirkung zerrissen und hattendie Toten mit einem Strahl Heizwasser übergossen. Frau35

11Der Luftangriff auf Halberstadt

Verschlag

Böhm. Kurort;nach dt. Beset-zung 1938zum›ReichsgauSudetenland‹gehörig

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Schrader wollte wenigstens hier Ordnung schaffen, legtedie gekochten und – entweder durch diesen Vorgang oderschon durch die Sprengwirkung – unzusammenhängendenKörperteile in die Waschkessel der Waschküche. Sie wolltean irgendeiner verantwortlichen Stelle Meldung erstatten, 5

fand aber den Abend über niemand, der eine Meldung ent-gegennahm.Sie ging, nun doch erschüttert, den langen Weg zur F»Lan-gen Höhle«G, wo sie im Umkreis der Familie Wilde, diewährend des Angriffs dorthin geflüchtet war, ein Wurst- 10

brot kaute, dazu löffelten sie gemeinsam aus einem Ein-machglas Birnen. Frau Schrader fühlte sich »zu nichtsmehr nütze«.

[Katastropheneinsatz einer Kompanie Soldaten in derPlantage, von Anfang an zu spät] Die Kompanie, abzüg- 15

lich der 6, die den Keller des Capitols gewählt hatten,hatte das Kino durch die Notausgänge verlassen und kamin Kolonne bis Blankenburger Bahn. Die Männer warfensich dort während des Angriffs in die Gärten der Villen.Später erhielten sie Befehl, zur Rettungsstelle I im Ge- 20

bäude des Lehrer-Proseminars� in der Plantage zu mar-schieren. Sie wurden dort eingewiesen zum Luftschutzun-terstand Plantage, gegenüber den Backsteingebäuden derKliniken. Dieser öffentliche Unterstand war durch 3 Voll-treffer getroffen. Sie gruben also gegen 100 zum Teil übel 25

zugerichtete Leichen, teils aus dem Erdreich, teils aus er-kennbaren Vertiefungen, die den Unterstand gebildet hat-ten. Was dieser Arbeitsgang nach ausgraben und sortierenweiter nützen sollte, war schleierhaft. Wohin sollte dasgebracht werden? Waren Transportmittel vielleicht vor- 30

handen?Neben dem Schutz-Unterstand befand sich, in Schrägstel-lung, noch das Schild: »Beschädigung oder Mißbrauch die-ses öffentlichen Luftschutz-Unterstandes wird polizeilich

12 Der Luftangriff auf Halberstadt

Ort, an demLehrer ausge-bildet werden

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verfolgt – Der Oberbürgermeister als OrtspolizeibehördeMertens.«In einigen Metern Entfernung vom ehemaligen Unterstandwaren die beim Ausheben der Gräben angefallenen Ra-senabschnitte für die Zeit nach dem Kriege aufeinander5

gelagert. Diese Stapel, jeweils 2 Handbreit Erde und zu-nächst gestorbenes Gras, waren in Ordnung. Das Graswar jedoch nicht absolut tot, sondern fristete seit 1939eine Art dürftiges Grasleben und sollte nach damaligerÜberzeugung der Gartenbau-Verwaltung in der Zeit nach10

dem Krieg wieder die Außenhaut des Parks vervollstän-digen. Es handelte sich um hundertjährigen wertvollenRasen, sogenannte Grasnarbe. Für diese Wiedererwek-kung war jetzt, da die Stadtverwaltung andere Sorgen alsdie Wiederanlage der Plantage hatte, die organisatorische15

Grundlage entfallen. Die ordentlich geschichteten Haufensahen aus wie Särge. Sie paßten insofern äußerlich zu derSammlung der Toten, die die Soldaten auf der verbliebe-nen Wiese aufbereitet hatten, zwischen umgestürzten Bäu-men, auf denen noch im 18. Jahrhundert, als sie angelegt20

wurden, FSeidenraupenG beheimatet waren. Es handeltesich um einen vertrackten Anschein, denn natürlich warendie aufeinandergepackten Grasboden-Reste als Särgeüberhaupt nicht brauchbar.

[Der unbekannte Fotograf] Der Mann wurde in der Nähe25

des Bismarck-Turms/Spiegelsberge von einer Militärstreifegestellt. Er hielt den Fotoapparat noch in der Hand, inseinen Jackentaschen fanden sich belichtete Filme, Roh-film�, Fotozubehör. In der Nähe des Tatorts, d. h. in derNähe der Stelle, von der er zuletzt fotografierte, befinden30

sich die FEingänge zu unterirdischen AnlagenG, die in denFels gesprengt sind und in denen Rüstungsproduktionuntergebracht ist.Der Führer der Militärstreife beabsichtigte, den Unbe-

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UnbelichtetesFilmmaterial

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kannten oder Spion im ersten Angriff zu überführen, undfragte ihn deshalb: Was haben Sie da fotografiert?Der Unbekannte behauptete, er habe aus dieser Ferne diebrennende Stadt, seine Heimatstadt, in ihrem Unglück fest-halten wollen. Er behauptete, Inhaber eines Fotogeschäfts 5

am Breiten Weg zu sein, habe von allem Besitz als Fotografnur Fotoapparat und Filme an sich gerafft und sei überFischmarkt, Martiniplan, Westendorf, dann über Mahn-dorf in Richtung Spiegelsberge vorgedrungen. Der Strei-fenführer macht ihn sogleich darauf aufmerksam, daß dies 10

den Tatbestand des Eindringens in den militärischen Sperr-bereich der Höhlen beinhalte. Daß Sie vom Breiten Wegkommen, ist ganz unglaubwürdig, hielt er dem Täter vor,weil von dort überhaupt niemand aus der Stadt herausge-kommen sein kann. Der Streifenführer, angesichts der 15

hochrangigen Ereignisse dieses Tages an eine verhältnis-mäßig langweilige Waldstelle gebannt, konnte nicht hof-

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Foto des unbekannten Fotografen Nr. 1: Fischmarkt, Blick auf Brei-ter Weg, links Cafe Westkamp.

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fen, an diesem Tag einen besseren Fang als diesen zumachen.Sobald die Soldaten, den Gefangenen von Süden die Molt-kestraße herunter vor sich hertreibend, zum Kommandan-tur�-Gebäude durchzudringen versuchten, sahen sie, daß5

diese »Kommandantur«, in 50 Meter Entfernung durchdie Rauchschleier, ein Berg aus Backstein, Eisenteilen usf.war. Im Ausweichquartier fühlten sich die Offiziere durchdie Vorführung des Fotografen in ihren Verrichtungen ge-stört. Sie nahmen den Apparat an sich. Die belichteten10

Filme wurden einem Dienstfahrzeug mitgegeben.Je nachdem, ob ein Beweis vorlag, mußte der Mann inMagdeburg erschossen werden. Was soll jetzt noch imApril Spionage im Berggelände? fragte Oberleutnant vonHumboldt. Es war aber denkbar, daß der Feind mit sehr15

kleinen Flugzeugen die verborgenen Höhleneingänge derunterirdischen Rüstungswerke suchte.

15Der Luftangriff auf Halberstadt

Nr. 2: Martiniplan, links Südpfeiler der Martinikirche. Im Hinter-grund das Lokal »Saure Schnauze«.

Dienststelle

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Die Soldaten, die im Besitz eines handschriftlichen Zettels,auf dem die Verhaftung bescheinigt war, den Gefangenendurch die Richard-Wagner-Straße führten, hofften, daß inWehrstedt tatsächlich irgendein Transport nach Magde-burg organisiert wäre oder daß noch ein Personenzug vor 5

dem jetzigen Bahngelände hielt, der nach Magdeburgführe, sie hätten sonst nicht gewußt, was sie mit dem Mannanfangen sollten. Ob die Wachsoldaten den Unbekanntenauf dessen Vorstellungen hin, auch von einigen Zweifelnbewegt hinsichtlich des Sinns ihres Tuns, in einer so ver- 10

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Nr. 3: Eingang Schmiedestraße.

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heerenden Umgebung freiließen oder ob wegen der Ex-plosion eines Blindgängers� in der Nähe Heineplatz dieWachsoldaten einen Moment abgelenkt waren, so daß erentfloh, weiß man nicht.

[Friedhofsgärtner Bischoff] Bischoff zieht pferdbespannt5

auf seinem Tafelwagen� 4 Särge durch die Gröperstraße.Die Ausbeute des frühen Morgens: Harsleben (Altbauer,

17Der Luftangriff auf Halberstadt

Nr. 4: Fliehende, Westendorf, stadtauswärts.

Munition, dienach Abwurfo. Abschussnicht (voll-ständig) explo-diert istWagen mitoffener, tafel-förmiger Lade-fläche, ohnefeste Seiten-wände

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1 Fl. Johannisbeer, 4 Eier), 1 Leiche aus Mahndorf (In-spektor, 1 Fl. Eierlikör, in Lappen verpackt, 2 Bratwürste),2 Leichen aus dem Eiskeller des Kreiskrankenhauses,Frischoperierte. Die Friedhofsgärtnerei muß die Fuhrenselber machen, da das Bestattungsunternehmen »Pietät« 5

keine Fahrzeuge hat.Wegen Vollalarms dürfte sich Bischoff schon längst nichtmehr auf der Straße aufhalten, müßte die Fuhre anhalten,eines der wackeligen Fachwerkhäuser betreten, den Kelleraufsuchen. Lieber verschnellert er das Tempo, gibt den 10

Kutschpferden Peitschenschläge zu hören, neben die Oh-ren. Jetzt sieht er schräg rückwärts die Staffeln des Bom-berverbandes von Osten her. Die Leichen dürfen nichtumgeworfen werden vom Luftdruck. Bischoff fühlt sichwegen der Beigaben und Geschenke in 2 Fällen verpflich- 15

tet. Er kann nicht das Fahrzeug anhalten, die Pferde irgend-wie anbinden und noch in irgendeinen Kellereingangrennen. »Sane schänen fare sind’n tir verjenejen.«1

1 = »Solche schönen Pferde sind ein teures Vergnügen.«

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Nr. 5: Gegenüber Hauptpost.

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Bischoff jagt die Alt-Gräber-Straße hinauf zu den neuenAnlagen. Dort hebt er die Särge vom Wagen und stellt sieaufeinander. Danach steigt er in eine der offenen Gruben,so daß er nur ein Stück Himmel über sich sieht, Bläue,welche die Augen schmerzt.5

»Macht alle alten Jahre neu,macht alle Zeiten satt.«2

Von den Erschütterungen in der Mittel- und Unterstadtrieselt Erdkruste von der Aufschüttung herunter. Bischoffist schläfrig, schon früh losgefahren. Immer noch keine10

Maschinen in seinem Blickausschnitt nach oben. Weil oh-nehin Überstunden auf ihn zukommen, kuschelt er sich, dieDreckjacke, die er trägt, hat er auf dem Boden ausgebreitet,und macht ein Schläfchen. Damit er Vorrat hat.

2 Er sagt das auf platt.

19Der Luftangriff auf Halberstadt

Nr. 6: Letzter Standpunkt des Fotografen.

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[Die Turmbeobachterinnen, Frau Arnold und Frau Zacke]Auf dem Turmumgang des Glockenturms der Martinikir-che sind Frau Arnold und Frau Zacke, luftschutzdienstver-pflichtet, als Turmbeobachterinnen aufgestellt. Sie habensich auf Klappstühlen hier eingerichtet, Taschenlampen, 5

die tagsüber nicht gebraucht werden, Thermosflasche mitBier, Brotpakete, Ferngläser, Sprechfunkgeräte. Sie sindbei ÖLW (Öffentliche Luftwarnung) hierher aufgestiegen,sind noch mit dem Rundblick durch die Ferngläser be-schäftigt, da sehen sie von Süden her zwei in die Höhe 10

gestaffelte Formationen. Sie geben durch: Etwa 3 000 mHöhe, Richtung Quedlinburger Straße/Heineplatz3, FB-17-FernbomberG. FRauchzeichenG über der Südstadt. FrauArnold ergänzt, ruft in das von Frau Zacke gehalteneFunkgerät hinein: »Die quacken� Bomben!« Zwölfmal 15

Reihenwurf beiderseits der Blankenburger Bahn. Frau Ar-nold: Es laufen noch Massen mit Sack und Pack in Rich-tung Spiegelsberge. Frau Zacke: Nicht alle Maschinen ha-ben geworfen.Damit ist der Redestrom der Turmbeobachterinnen zu- 20

nächst zu Ende. Beide Frauen zählen. Sie haben die Fern-gläser abgesetzt. »Achtunddreißig« – es ist nicht klar, obMaschinen oder Bombenwürfe. Frau Arnold meldet: Stein-und Hardenbergstraße, Kühlinger Straße, Heineplatz, Ri-chard-Wagner-Straße. 25

Der erste Pulk� hat Wehrstedt erreicht und zieht Schleifen,wartet auf die Hauptmasse. Über Gegensprechanlage wirdvon der Zentrale zurückgefragt: Was 38? Frau Zacke ant-wortet für Turmbeobachterin Arnold, die das Gerät hält:Einmal 38 und dahinter 96 Maschinen. Versammlung über 30

Wehrstedt.

3 Benannt nach dem Würstchenfabrik-Besitzer Heine, dessen Fa-brik 1,2 km von diesem Platz entfernt das Stadtbild nach Süd-osten abschließt.

20 Der Luftangriff auf Halberstadt

schmeißen

Hier: Verbandv. Kampfflug-

zeugen