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Leseprobe Terkessidis, Mark Kollaboration © Suhrkamp Verlag edition suhrkamp 2686 978-3-518-12686-8 Suhrkamp Verlag

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Leseprobe

Terkessidis, Mark

Kollaboration

© Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2686

978-3-518-12686-8

Suhrkamp Verlag

edition suhrkamp 2686

Die Proteste der letzten Jahre haben die Unzufriedenheit derBürger offenbart: Politiker scheinen weit weg vom Alltag undmit Großprojekten wie Bahnhöfen oder Flughäfen überfor-dert. Im Gegensatz dazu sind die Menschen eigensinnig wienie. Nach Jahren der neoliberalen Predigten sind sie in Eigen-verantwortung geübt: Gemeinsam erschaffen sie die Wikipe-dia, renovieren Klassenzimmer oder gründen gleich selbstSchulen. So werden sie im positiven Sinne zu Kollabora-teuren. Anknüpfend an seine Überlegungen aus Interkultur(es 2589), entwirft Mark Terkessidis eine Philosophie der Kol-laboration, die beim wütenden und suchenden Individuumansetzt. Eine Gesellschaft der Vielfalt, so Terkessidis, kannnur funktionieren, wenn viele Stimmen gehört werden undunterschiedliche Menschen zusammenarbeiten.Mark Terkessidis, geboren 1966, arbeitet als Publizist mit denSchwerpunkten Popkultur und Migration.

Mark Terkessidis

Kollaboration

Suhrkamp

edition suhrkamp 2686Erste Auflage 2015

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Umschlag gestaltet nach einem Konzeptvon Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

Printed in GermanyISBN 978-3-518-12686-8

Inhalt

Einleitung 7

1. Sich entfremden 17Eine neue Kritik der Bürokratie 19Verwaltung, Korruption und Dauerkrise 27Das Problem mit der Repräsentation 32Empörung, Groll und die Politik der Affekte 37Entfremdung und Kollaboration 46

2. Suchen 60Das suchende Subjekt 65Griechische Erfahrungen: Vom Rand ins Zentrum 69Unterwegs auf Schiffen 73Das unklassifizierbare Individuum 82Imaginäre Territorien 88Die Zivilität des Odysseus 92Optimistische Mutanten 96

3. Sich bilden 103Bilder von Lernenden und Lehrenden 109Was nicht passt… Wer nicht passt … 114Autorität angesichts von Vielheit 120Kollaboration und Multiperspektivität in derPädagogik 127Bewegung in der Klasse 133Die Rolle des Vorwissens 141Neue Bildungsziele 154

4. Schaffen 171Kollaborative Kunst als soziale Praxis 174Suzanne Lacy vs. Christoph Schlingensief 179Wer macht Kunst und wer Kultur? 187Wie Asco die Community geärgert hat 198Keine Genies und keine unbeteiligten Dritten 203Der Sinn von Kunst 213Trost in Ruinen 220Betriebsprüfung Kunst 226Emanzipation und Atmosphäre 244Das Prinzip der Improvisation 252Magische Aushandlungen 259

5. Kritisieren 274Was war Kritik? 276Affektive Erkenntnisse 283Kritik als Vergemeinschaftung und Reparatur 288Kritik als Vorbereitung der kritischen Kunst 296Kritik der Folklore 302Reparatur des Heimatlieds 307Kollaborative Kritik 317

Schluss 324Dank 331Bildnachweis 332

Einleitung

Kollaboration hat in Kontinentaleuropa keinen guten Ruf.Die meisten Menschen denken an die deutsche Besatzungim Zweiten Weltkrieg, an Personen, die sich aus Überzeu-gung oder Feigheit mit dem Dritten Reich eingelassen haben.In diesem Sinne möchte sicher niemand gern ein Kollabo-rateur sein. Im Englischen ist der Begriff collaboration hin-gegen neutral, wenn nicht gar positiv gemeint: Es geht um Zu-sammenarbeit. Und diese scheint in den letzten Jahren ausverschiedenen Gründen und in vielen Bereichen ein entschei-dender Faktor geworden zu sein: In der Wirtschaft, wo Krea-tivität und Innovation zählen, kommen die Unternehmen mitstarren Hierarchien nicht mehr weiter – sie sind auf die Kol-laboration ihrer Mitarbeiter angewiesen. Umweltproblemelassen sich nicht von Individuen, nicht einmal von Nationenlösen, sondern nur, wenn viele Akteure sich auf bestimmteMaßnahmen einigen können. In der Politik läuft mit autoritä-rer Planung überhaupt nichts mehr – die Bürger erweisen sichzunehmend als störrisch und wollen gehört werden, zumaldazu, was mit ihren Steuergeldern geschieht.

Nun ist der Staat heute keineswegs autoritär, vielmehr ister häufig einfach nicht zu erreichen. Der neoliberale Rückzugmacht sich überall bemerkbar, etwa bei der Infrastruktur. Im-mer mehr Bürger verlassen sich nicht mehr auf die Behörden,sondern springen selbst ein. An der Grundschule meines Soh-nes haben die Eltern nicht gewartet, bis das Klassenzimmerrenoviert wurde, sondern haben Geld bei Sozialprogrammenbeantragt und den Raum in Abstimmung mit den Lehrkräf-ten neu gestaltet. »Mehr Eigenverantwortung« war der großeSlogan der neunziger Jahre, und tatsächlich haben sich die

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Menschen dieses Prinzip angeeignet. Ihr Vertrauen in die»große« Politik ist ohnehin erschüttert. Politiker gelten alsegoistisch und versagen in den Augen vieler vor allem da-bei, sich um die grundlegenden »Lebensmittel« zu kümmern:Umwelt, Wasser, Wohnen, Energie, öffentlicher Verkehr etc.Ohne Kollaboration können diese Gemeingüter nicht zu-gänglich gemacht und erhalten werden, denn wo der Homooeconomicus ungehemmt seinem wirtschaftlichen Eigeninte-resse nachgeht, kann es keine Lösung für die Probleme geben,die unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen betreffen.

Viele Menschen lassen eine »Kultur des Teilens« entstehen,für die es gleich eine ganze Reihe englischer Wortschöpfun-gen gibt: Share Economy (oder Shareconomy), Wikinomics,Collaborative Economy oder Mesh. Als Beispiel wird immerwieder das unkommerzielle Teilen von Quellcodes, Wissen,Musik etc. im Netz genannt. In der Tat ist es jedes Mal vonNeuem beeindruckend, wie selbstverständlich wir heute aufWikipedia zurückgreifen, auf ein Lexikon, zu dem Perso-nen weltweit ihr Wissen beisteuern und dessen Fundus sichweitgehend selbst reguliert. Von Carsharing bis Crowdfund-ing: Die Beispiele werden immer zahlreicher. Viele Men-schen wollen Dinge nicht mehr um jeden Preis besitzen, ih-nen reicht ein gesicherter Zugang zu bestimmten Gütern.Seit den PISA-Studien ist Kollaboration auch im Bildungs-bereich ein Thema: Finnische Schulen sind unter anderemdeswegen so erfolgreich, weil sie das Top-down-Prinzip zu-gunsten von Zusammenarbeit aufgegeben haben. Konjunkturhatte der Begriff Kollaboration auch in der Kunst. Schon inden sechziger Jahren war die alte Vorstellung des genialischenIndividuums, das aus sich selbst heraus schafft, ad acta gelegtworden. Statt Objekten sind Prozesse des Austauschs rele-vant geworden – zwischen Künstlern, zwischen Künstlern

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und Publikum, zwischen unterschiedlichen Personengrup-pen.

Auch weil wir in einer Gesellschaft mit Menschen verschie-dener Herkunft, mit unterschiedlichen Religionsbekenntnis-sen etc. leben, wird ohne Kollaboration in der Zukunft nichtsmehr gehen. Die globalisierte Welt ist urban, und die Städtesind von Migration, Mobilität und Vielheit geprägt. Andersals bei der klassischen Idee der griechischen Polis ist die Sess-haftigkeit der Bewohner nicht länger eine sinnvolle Voraus-setzung für eine Definition des politischen Gemeinwesens.Die geographischen und kulturellen Positionen der Bürgersind flüchtig; niemand befindet sich mehr auf seinem ange-stammten Platz, die Stadt ist eine vielgliedrige Parapolisgeworden.1 Das Wort bezeichnet die uneindeutige, quasi ille-gitime »para«-Version der Polis. Zudem verbirgt sich darindas neugriechische Adjektiv para poli, das »sehr viel«, durch-aus aber auch »zu viel« bedeutet: Man könnte also von einemOrt des »sehr viel«, der Fülle sprechen. Dieser Ort ist nichtleicht zu begreifen. Viele Probleme müssen auf einmal bear-beitet, viele Stimmen gleichzeitig gehört und viele Ansprüchezu jedem Zeitpunkt miteinander vermittelt werden.

Vor fünf Jahren habe ich in meinem Buch Interkultur ver-sucht, die herkömmliche Perspektive auf Integration umzu-drehen und einen institutionellen Rahmen für die Parapolisabzustecken. Wenn von Integration die Rede war, dann wur-de die Sichtweise schnell normativ: »Wir«, die wir angeblichschon immer in einem Land gelebt haben, sind die Norm,und diejenigen, die »zurückgeblieben« (in sozialer Hinsicht)oder »hinzugekommen« (eingewandert) sind, haben »uns«gegenüber Defizite, die es zu beseitigen gilt. Doch die Vielheitlässt sich nicht mehr auflösen oder eindämmen, sie muss alsunwiderrufliche Tatsache und Voraussetzung jeden Handelns

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betrachtet werden. Die Fragen, die ich mir stellte, lauteten al-so: Sind alle unsere Institutionen, sind Behörden, Schulenoder Gesundheitseinrichtungen »fit« für die Vielheit? Undwenn nicht: Was müssen sie unternehmen, um es zu werden?Es hat seitdem Veränderungen gegeben, aber die Fragen sindgeblieben. Ich glaube, es ist wichtig, einen Schritt weiterzuge-hen: Was wäre eigentlich das ethische, also das praktisch-phi-losophisch handlungsbegründende Leitprinzip des Wandelsin der Parapolis? Deshalb ein Buch über Kollaboration.

Die Entstehung der Demokratie im neuzeitlichen Europabrachte auch eine Furcht der Regierenden vor der Bevölke-rung mit sich: Wenn das Volk der Souverän sein und jederBürger in Freiheit leben sollte, wie genau sollte dann die Zu-stimmung zur Regierung funktionieren und wie dafür ge-sorgt werden, dass nicht jeder einfach tat, was er wollte? Si-cher, der Staat besaß das Gewaltmonopol, aber reiner Zwanghatte ja nichts mit Demokratie zu tun. Die Lösung bestandschließlich in einer Art gesellschaftlichem Training: Die Indi-viduen sollten sich selbst steuern. Das Leitprinzip hieß Dis-ziplin. Eine Technik, mit deren Hilfe die Personen durch an-dauernde körperliche Übung und individuelle Überwachungin sogenannten Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Mi-litär, Fabrik, Büro, Gefängnis etc.) quasi dressiert wurden.Dabei entwickelten sie ein Gewissen, ein »Über-Ich«, wel-ches die Überwachung dann sozusagen von innen organisier-te und Schuldgefühle entstehen ließ, wenn man die Disziplinnicht einhielt.2

Spätestens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regtesich Widerstand gegen den Apparat der Disziplin. Vor allemin den sechziger Jahren begann die Jugend, sich gegen die per-manente körperliche Drangsalierung und die Verbote rundum die Sexualität aufzulehnen. Sie hatte das gesellschaftliche

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Momentum auf ihrer Seite. Die Jahrzehnte nach dem ZweitenWeltkrieg waren noch geprägt von der Welt der Industrie. DasLeben der Menschen richtete sich im Großen und Ganzennach den Imperativen der Produktion – Arbeit, Karriere,Konkurrenz, Leistung, Besitzindividualismus, Familie undintaktes Heim. Der Massenkonsum brachte jedoch ganz an-dere Werte ins Zentrum der Gesellschaft: Geldausgeben stattSparsamkeit, Stil statt Genügsamkeit,Wegwerfprodukte stattDauerhaftigkeit, schnelle Befriedigung statt ständigen Be-dürfnisaufschub. Die Disziplin des 19. Jahrhunderts gerietin eine massive Krise angesichts einer Gesellschaft, die sichvom Mangel befreit hatte und in deren Zentrum Konsumstand. Sie entsprach auch nicht mehr den Wünschen und Be-dürfnissen verschiedener Gruppen, insbesondere der Jugend,in deren Konsumansprüchen der Konflikt zum Ausdruckkam.

Seitdem hat sich der Griff der Disziplin gelockert, aberverschwunden ist sie nicht. An ihre Stelle ist bisher kein an-deres Leitprinzip getreten. Zwar sprechen die Kritiker desNeoliberalismus und des Sicherheitsstaats von einer Kon-trollgesellschaft, in der das Verhalten der Individuen nichtmehr zentral überwacht, sondern durch Peer-Begutachtung,Grenzwert-Ermittlung und penetrante Evaluation reguliertwird.3 Doch das lässt die gesellschaftlichen Zustände zusam-menhängender erscheinen, als sie tatsächlich sind. Zudemübersehen diese Kritiker konsequent die Freiheitsgewinneder letzten Jahrzehnte und die oben beschriebenen neuen For-men der Selbstorganisation. Fast erwecken sie den Eindruck,als würden sie ihre eigene Machtlosigkeit genießen, wenn sieeinen neuen Apparat der Kontrolle beschwören – immer liegtgleich die Systemfrage auf dem Tisch und am Ende regiert dieOhnmacht. Der Ansatz der Kollaboration geht dagegen von

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der Widersprüchlichkeit der Verhältnisse und der Aktivitätder Individuen aus und entwickelt daraus einen pragmati-schen Rahmen für Veränderung.

Wir sind Kollaborateure, im positiven wie im negativenSinne. In den letzten Jahren haben viele Evolutionsbiologeneine erstaunliche Wende vollzogen. Hatten viele von ihnenvor drei Jahrzehnten noch das »egoistische Gen« als Antriebder menschlichen Entwicklung ausgemacht, so sprechen siejüngst der menschlichen Fähigkeit zur »Super-Kooperation«diese Rolle zu.4 Allerdings bleiben wir auch Kollaborateureim pejorativen Sinne. Wir leben in einer kapitalistischen Ge-sellschaft, deren Kapriolen viele Menschen ablehnen, zu derwir aber keine einfache Alternative zur Hand haben. Wirleben in einer Demokratie, von der wir oft das Gefühl ha-ben, sie sei doch ziemlich auf den Hund gekommen und nie-mand würde uns ohne egoistische Hintergedanken noch ver-treten. Dennoch arrangieren wir uns auf die eine oder andereWeise mit diesen Umständen. Die Frage dabei ist: Handelt essich um eine fremdbestimmte oder eine autonome Form derKollaboration? Kollaboration ist notwendig, aber sie könnteals Strategie mit mittlerer Reichweite einen durchaus utopi-schen Charakter entfalten. Selbst wenn wir das große Ganzenicht immer verändern können, wäre die Füllung der Zwi-schenräume mit kollaborativen Herangehensweisen ein wich-tiger Schritt in Richtung einer vertieften Demokratie, einesbesseren Zusammenlebens, gerechter verteilter Bildungschan-cen oder einer neuen Qualität der Arbeitsbedingungen.

Nun wird Zusammenarbeit unter dem Begriff »Partizipa-tion« in jüngster Zeit häufig beschworen, aber nur selten ein-gelöst. Denn wenn die Leute nicht »partizipativ« genau dastun, was die jeweiligen Behörden von ihnen erwarten, wennsie etwas kritisieren oder anders machen wollen, dann kommt

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der Prozess gewaltig ins Stocken. Oft genug sind die Ange-bote zur Zusammenarbeit auch eher symbolischer Natur.Beispielsweise erhielt ich von der Stadtverwaltung meinerGeburtsstadt Eschweiler im Rheinland vor Kurzem eine Ein-ladung zu einem Planungsworkshop zum Thema »Innen-stadtnahes Wohnen für ältere Menschen«. Zur Auswahl standgenau ein Termin – und zwar eine Woche später. Leider trafder Brief an meinem sechshundert Kilometer entferntenHauptwohnsitz in Berlin ein. Entweder ging die Stadtverwal-tung davon aus, ich sei arbeitslos (aber wovon sollte ich danndas Ticket in den Westen bezahlen?) oder ich sei so glücklichüber die angebotene Partizipationsmöglichkeit, dass ich allesstehen und liegen lassen würde, um meine ansonsten gut be-zahlte Expertise kostenlos zur Verfügung zu stellen. Es gehthier nicht darum, die Kommune im schlechten Licht dastehenzu lassen; immerhin unternimmt sie etwas in Sachen Betei-ligung. Außerdem habe ich Anfragen mit ähnlich absurdemCharakter aus den unterschiedlichsten Richtungen bekom-men. Doch angesichts dieser Art der Ansprache muss mansich nicht wundern, dass man bei den entsprechenden Work-shops häufig auf wenig informierte Wichtigtuer trifft, die wie-derum viele ernsthaft Interessierte von der Beteiligung abhal-ten.

Kollaboration sollte anders laufen, Kollaboration ist keinFeigenblatt. Wenn ich sie hier als Leitprinzip formuliere, dannplädiere ich für ebenjene Eigenverantwortung, die eine neo-liberale Regierungsführung und eine konkurrenzorientierteWirtschaft gebetsmühlenartig eingefordert haben. Die Indivi-duen betrachten sich als emanzipiert, sie sind eine Vielheit,was bedeutet: Die Gesellschaft funktioniert nur, wenn durchKollaboration möglichst viele Stimmen gehört werden. Zudiesem Thema ist für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit

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schon viel geschrieben worden. In den Entwicklungsabteilun-gen der großen und kleinen Unternehmen gehört das schnelleVeröffentlichen bzw. Teilen von noch unfertigen Ergebnissenzum Alltag – die Kollaboration ermöglicht die Arbeit an ver-schiedenen Baustellen, die sich langsam zu einem Ganzen zu-sammensetzen. Ich will aber nicht längst bekannte Erkennt-nisse wiederkäuen. Dieses Buch ist auch kein Ratgeber, wieBeteiligungsverfahren am besten zu bewerkstelligen wären,davon gibt es mehr als genug. Ich habe es eher auf den prak-tisch-philosophischen Rahmen der Kollaboration angelegt.Kollaboration ist etwas ungleich Schwierigeres als Koope-ration. Bei Kooperation treffen verschiedene Akteure aufei-nander, die zusammenarbeiten und die sich nach der gemein-samen Tätigkeit wieder in intakte Einheiten auflösen. Kol-laboration meint dagegen eine Zusammenarbeit, bei der dieAkteure einsehen, dass sie selbst im Prozess verändert wer-den, und diesen Wandel sogar begrüßen.

Jedes Nachdenken über dieses Thema startet beim Indivi-duum. Wie müssen die Personen eigentlich beschaffen sein,um zu Kollaborateuren werden zu können? Über die »Wut-bürger« ist viel berichtet und diskutiert worden, und tatsäch-lich glaube ich, dass die Wut eine wichtige Voraussetzung ist.Das Suchen ist eine weitere. Wir stehen heute alle auf schwan-kendem Grund, wir sitzen im selben Boot auf schwierigerSee, und zu akzeptieren, dass wir Wesen auf der Suche sind,macht uns bereit für Kollaboration.

Die ersten beiden Kapitel behandeln diese individuellenDispositionen, danach soll darüber gesprochen werden, wel-che kollektiven Kräfte auf die Individuen einwirken, wieSubjektivität gebildet wird und wie diese Kräfte durch Kolla-boration verändert werden können. Es geht um Erziehung,Bildung, Therapie, Kunst, Ästhetik und Kritik in der Para-

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polis. Dabei wird ein Rahmen für Kollaboration entworfen.Kollaboration ist kein unstrukturierter, irgendwie basisde-mokratischer Diskussionszusammenhang, sondern durchauspraktisch und auf ein Ergebnis orientiert: Autorität wird da-her nicht verleugnet, sondern sollte transparent im Sinne derZusammenarbeit ausgestaltet werden (Kapitel 3). Das Ergeb-nis muss allerdings nicht immer ein Gegenstand sein: Manch-mal ist der Prozess selbst entscheidend – Kollaboration istnicht objektiv, sondern von Subjektivierung getragen. Zudemkommt sie nicht ohne Umwege aus: Fehler sind zugelassen, siewerden sogar als bedeutsam betrachtet (Kapitel 4). Kollabora-tive Kritik wiederum beinhaltet nicht nur ein Urteil übereinen Gegenstand, sondern wird auf gemeinschaftliche, repa-rierende, vorbereitende, unterstützende Weise ein Bestand-teil des Prozesses selbst (Kapitel 5).

Vor fünf Jahren habe ich in Interkultur eine interkulturelleAlphabetisierung gefordert. Auch dieses Buch handelt wiedervom Erlernen einer neuen Sprache – jener der Kollaboration.Spracherwerb ist niemals einfach, aber es gibt zahlreiche Be-lohnungen. Man lernt Neues kennen: neue Wörter, neue Aus-drucksmöglichkeiten, neue Beziehungen, neue Menschen, jasogar neue Gefühle.

Im besten Fall sogar eine unbekannte Version von Glück.

Anmerkungen

1 Vgl. Tom Holert und Mark Terkessidis, Fliehkraft. Gesellschaft in Be-wegung – von Migranten und Touristen, Köln: Kiepenheuer undWitsch 2006; Mark Terkessidis, Interkultur, Berlin: Suhrkamp 2010.

2 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Ge-fängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.

3 Vgl. Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«,

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in: ders, Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt a.M.: Suhrkamp1993; Giorgio Agamben, »Die Geburt des Sicherheitsstaates«, in:Le Monde diplomatique, 14. März 2014.

4 Vgl. Richard Dawkins, Das egoistische Gen, Heidelberg: Spektrum2006; Martin A. Nowak, Kooperative Intelligenz: Das Erfolgsgeheim-nis der Evolution, München: C.H. Beck 2013.

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1. Sich entfremden

Vor meiner Haustür im Berliner Stadtteil Kreuzberg stapeltesich der Müll. Fast-Food-Verpackungen, Zigarettenschach-teln, allerlei Plastik, Glasscherben, manchmal auch Reste vonWassermelonen oder Ölkanister aus Plastik. Müll zieht Rat-ten an, und die krochen dann auch an feuchten Tagen buch-stäblich aus ihren Löchern. Nun war das Abfallaufkommenkein Wunder – der Gehweg wird täglich von unzähligenSchülern, Touristen oder anderen Passanten benutzt, und diewerfen eben ein gerüttelt Maß an Zeug auf die Straße. DasProblem bestand darin, dass dieser Müll nicht entfernt wurde.Der Hauseigentümer stellte sich auf den zunächst seltsam an-mutenden Standpunkt, der von einer winzigen Mauer einge-rahmte Grünbereich vor seinem Haus gehöre gar nicht ihm;ebenso sah es die benachbarte Wohnungsbaugesellschaft. DieBerliner Stadtreinigung aber hielt diesen Bereich für Privat-besitz: Die Straßenkehrer pickten den Müll auf der Straßeauf und ignorierten den zehn Zentimeter daneben liegendenAbfall.

Tatsächlich handelte es sich hier um ein rechtliches Problem.Kurz nach der Wende hatte das Land Berlin im Rahmen ei-nes Programms zur Begrünung der Quartiere viele Vorgärtenin öffentliche Hand überführt. Das war zu einer Zeit, in derman in Berlin größenwahnsinnig von einer neuen Hauptstadtträumte. Allerdings besaß der Bezirk nie die Mittel, um dieBegrünungsfantasien zu realisieren, und über die Jahre wurdedann schlicht und einfach vergessen, wessen Eigentum dieseBereiche eigentlich sind. Ich weiß, dass ich in einer mehr alsbelebten Gegend wohne, die Leute und der Lärm haben michauch nie gestört. Aber Müll konnte ich nicht ertragen. Nach-

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dem ich mir eine Greifzange besorgt und diverse Male selbstaufgeräumt hatte, wandte ich mich ans Ordnungsamt. Dortantwortete man zunächst gar nicht. Als ich dann meinen Pres-seausweis ins Spiel brachte, reagierte man postwendend. Einegeschlechtslose Person namens Schubert gab mir eine Vor-gangsnummer.

Etliche freundliche, bittende, aggressive Mails und einigeMonate später hatte sich kaum etwas getan. Nun ist Fried-richshain-Kreuzberg ein schlecht verwalteter Bezirk. Dasgeht mit der Parkpflege los und reicht bis zur Schneeräumung.Dennoch ist das Ordnungsamt seit Jahren im Kiez präsent,gerade im Sommer. Dann messen die Mitarbeiter zum Bei-spiel zentimetergenau nach, wie viel Raum die vielen Außen-gastronomien einnehmen, und erheben bei Verstößen die ent-sprechenden Bußgelder. Die Restaurant- und Ladenbesitzerwurden auch schon scharf kontrolliert, als es im Viertel nurwenige Läden und Restaurants gab (Teile von Kreuzberg la-gen lange Zeit direkt an der Berliner Mauer und stellten quasidas unterentwickelte »Ende der Welt« dar).

Wenn ich mit jemandem über diese Geschichte spreche,dann heißt es gleich: »Jaja, die Verwaltung, die sind eh nurnoch hinter unserem Geld her.« Schnell sind weitere Ange-legenheiten auf dem Tisch: »Knöllchen«, Geschwindigkeits-kontrollen, Gebühren für sämtliche Leistungen von der Ab-fallbeseitigung bis zur Erneuerung des Führerscheins, allerleiSondersteuern und auch zunehmend Steuern im Allgemei-nen empfinden viele als fortschreitende Ausplünderung. Unddann die Verschwendung von Geldern für sinnlose Großpro-jekte oder Ähnliches, die den Bürgern keinen Nutzen brin-gen! Kaum jemand hat noch den Eindruck, die Verwaltunghandle gemeinwohlorientiert.

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Eine neue Kritik der Bürokratie

Ich will hier nicht den Müll vor der Haustür zur gesellschaft-lichen Katastrophe aufblasen. Es geht mir um das mangelndeVertrauen in die Verwaltung, das meiner Meinung nach für diedemokratische Gesellschaft problematisch ist. IndividuelleBeschwerden über den alltäglichen Behördenwahnsinn gibtes reichlich, doch eine aktuelle Kritik der Bürokratie fehlt.Das war in den fünfziger und sechziger Jahren anders. Derreal existierende Sozialismus galt als Paradebeispiel einer per-vertierten Herrschaft der Administratoren. Der damals inEuropa und Deutschland viel gelesene jugoslawische AutorMilovan Ðilas entlarvte die sozialistischen Bürokraten als»neue Klasse«.1 Sie hätten sich die Verfügungsgewalt überdas kollektive Eigentum und den Produktionsprozess gesi-chert und damit enorme Privilegien. Anders als die Kapitalis-ten im Westen seien sie allerdings nach wie vor davon über-zeugt, sich für das Volk aufzuopfern – eine furchteinflößendeMischung.

Auch im Westen wurde Kritik an einer neuen Besitzer-schicht laut. Hier kursierte das Stichwort von der »Herr-schaft der Manager«.2 Gemeint war die technokratische Arro-ganz der Nomenklatura in Wirtschaft und Staat, der autoritäreGestus der »Fachmänner«. Die Bürokraten wussten alles bes-ser: Hier muss ein Hochhaus hin, dort eine Autobahn, hierein Atomkraftwerk, dort ein NATO-Stützpunkt. Die NeuenSozialen Bewegungen der siebziger und achtziger Jahre warenauch ein Kampf gegen diese Art der Verwaltung. In der Frie-dens- und Umweltbewegung ging es um die direkten Auswir-kungen der Entscheidungen auf die Einzelnen: Die Individuenfühlten sich »betroffen« von den zumeist nicht kalkuliertenFolgen einer autoritären Modernisierung und protestierten.

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Nach dem Fall der Berliner Mauer war dann allerorten dieRede von Bürokratieabbau. Allerdings hat der angebliche Ab-bau die Macht der Verwaltung nicht eingedämmt, vielmehrwirkt sie sich anders aus. Früher zeigte sie sich autoritär undwollte durch ihre Präsenz den Individuen ein regelrechtesKorsett anlegen und Normverhalten erzwingen: Die Ver-waltung organisierte gesellschaftliche Disziplin. Weil sich derWohlfahrtsstaat seit Mitte der siebziger Jahre zurückgezogenhat, verfügt sie inzwischen jedoch über weniger finanzielleMittel, und ihre Einflussmöglichkeiten sind geringer gewor-den. Darüber hinaus stellten die Neuen Sozialen Bewegungendie technokratische Basis des Verwaltungshandelns nachhal-tig infrage. Die Individuen haben sich also größere Spielräu-me erobert und wurden gleichzeitig »freigesetzt«, denn derAbbau des Wohlfahrtsstaats führte zu Problemen. Es erwiessich als immer schwieriger, die notwendigen »Lebensmittel«(Wohnraum, Strom,Wasser, Gesundheit, Bildung,öffentlicherVerkehr etc.) im bezahlbaren Rahmen und gemeinwohlorien-tiert zu organisieren.

In all diesen Bereichen müssen die Einzelnen heute sehrviel mehr Aufwand betreiben: Sie müssen deutlich mehr re-cherchieren, mitarbeiten, bezahlen. Prekäre Lebensumständesind ja nicht nur für jene ein Thema, die kaum genug verdie-nen, um ihren Unterhalt zu bestreiten. Prekär ist auch die Si-tuation der Angehörigen des sogenannten Mittelstands. Ih-nen fällt es schwer, für dauerhafte Stabilität in ihrem Lebenzu sorgen – ständig muss man sich um etwas kümmern, »pri-vat vorsorgen« und nachsorgen, nie hat man genug Zeit, manist überfordert. Für die Individuen gibt es zweifellos einenFreiheitszuwachs, doch damit geht eine hohe Belastung ein-her. Zudem übt eine »abgebaute« Bürokratie ihre Macht nunindirekter aus, durch Prüfung, Evaluation, Kontrolle, aber

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