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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 3
2 Kulturgebundene Syndrome 4
2.1 Herkunft und Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42.2 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.3 Theoretische Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
3 Susto 11
3.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
3.2 Die Krankheit Susto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
3.2.1 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
3.2.2 Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3.2.3 Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
4 Susto als kulturgebundenes Syndrom 15
5 Schlusswort 19
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1 Einleitung
In der Ethnopsychologie geht es generell um die Frage, ob die menschliche Psyche - und
damit psychische Störungen - universell ist, oder je nach Kultur verschieden. Als Konse-
quenz daraus ergab sich in der ethnopsychologischen Theorie ein Konzept mit der Bezei-
chung kulturgebundene Syndrome . Der Begriff beinhaltet schon die Idee, dass die mensch-liche Psyche eben nicht universell ist und dass damit gewisse psychische Störungen auf
eine bestimmte Kultur limitiert sind. Andererseits ist das Konzept sehr umstritten.
In dieser Arbeit möchte ich nun an einem Beispiel zeigen, um welche Hauptpunkte es in
der Diskussion um kulturgebundene Syndrome geht. Ich habe dazu die Krankheit Susto
ausgewählt, die in Lateinamerika sehr verbreitet ist, und deren Kategorisierung als kul-
turgebundenes Syndrom umstritten ist. Gerade deshalb eignet sie sich meiner Meinung
nach gut zur Illustration der theoretischen Debatte um kulturgebundene Syndrome.
Zuerst werde ich das Konzept der kulturgebundenen Syndrome definieren und die theo-
retische Diskussion darum zusammenfassen. Dann werde ich auf das Syndrom Susto
eingehen, seine Verbreitung, Symptomatik und Heilpraktiken. Und zuletzt werde ich
versuchen, diese Ebenen zusammenzuf ̈uhren und aufzuzeigen, wie sich die Diskussion
um kulturgebundene Syndrome an diesem Beispiel kristallisiert.
Mein persönliches Interesse an diesem Thema kommt daher, dass ich während mehreren
Aufenthalten in Bolivien selber mit den Vorstellungen rund um das Syndrom Susto in
Kontakt gekommen bin, sei es durch Erlebnisse, die mir erzählt wurden oder durch
Warnungen vor Verhaltensweisen, die mich zu einem Opfer von Susto machen könnten.
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2.1 Herkunft und Erkl̈arung
Als erstes will ich kurz auf die Entstehung des Konzepts der kulturgebundenen Syndrome
eingehen. Es wurde 1962 vom chinesischen Psychiater Pow Meng Yap unter dem Begriff
“atypical culture-bound psychogenetic psychoses” eingef ̈uhrt. 1969 ersetzte er diesen Ter-
minus durch “culture-bound reactive syndroms”. Unter kulturgebunden verstand er “die
verschiedenen Ausdrucksweisen universaler Krankheiten und orientierte seine Systema-
tik dementsprechend an biomedizinischen bzw. psychiatrischen Kategorien. Die emische
Sichtweise missachtete er vollkommen” (Lange 2000, 20). Yap war aber nicht der erste,
der den Zusammenhang zwischen Kultur und psychischen Krankheiten herstellte. Schon
E. Kraepelin lenkte anfangs des letzten Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf kultu-
relle Aspekte von psychischer Gesundheit. Dennoch war in der klassischen Psychiatrie
die Ansicht verbreitet, dass “sich depressive Reaktionen in unterschiedlichen Kulturen
gleichartig darstellen” (Littlewood 2001, 22). Dem trat 1978 A. Kleinmann entgegen
und begründete die “New Cross Cultural Psychiatry” in der er forderte, ”den kategori-
schen Irrtum, dass (westlich) diagnostische Kriterien kulturunabhängige Variable seien,
zu vermeiden und schlägt dagegen vor, (westliche) psychiatrische Erklärungsmodelle
als spezifisch f ̈ur einen bestimmten Kulturraum anzusehen.” (Littlewood 2001, 22). Die
ersten Untersuchungen und Theorien zur Verbindung von Kultur und psychiatrischen
Krankheiten wurden also von Psychiatern und Medizinern gemacht, nicht von Anthro-
pologen.
Bevor ich zu den eigentlichen Definitionen komme, will ich zuerst den Begriff kl ären und
seine allgemeine Problematik aufzeigen. Im Begriff kulturgebundene Syndrome ist das
psychiatrische implizit enthalten, er wird im allgemeinen nur auf psychische Störungen
angewandt. In der Diskussion um diese Syndrome taucht oft auch der Begriff folk illness
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auf, der von einigen Autoren Synonym gebraucht wird und von anderen mit subtilen Un-
terschieden. Im allgemeinen kann man aber sagen, dass sich kulturgebundene Syndrome
auf psychiatrische Krankheiten beziehen, während man unter folk illness “allgemein die
indigenen Vorstellungen von Krankheiten bzw. Phänomenen des medizinischen Berei-
ches” versteht (Lange 2000, 20).
Ein der Kategorie der kulturgebundenen Syndrome inhärentes Problem ist laut Simons
ihre Ethnozentriertheit “since the phenomena it lumps together have in common only the
fact that they occur someplace other than Western cosmopolitan society and the fact that
they are culturally elaborated” (Simons 1985a, 25). Die Differenz wird immer in Bezug
zur westlichen Kultur hergestellt. In Erkenntnis dieses Sachverhalts sind einige Forscherdazu übergegangen, auch westliche kulturgebundene Syndrome zu identifizieren1. Um
dem Begriff seine Ethnozentriertheit zu nehmen, haben einige Autoren Alternativen
vorgeschlagen wie zum Beispiel Syndromes not seen in Western Cultures oder eben folk
illness . Simons sieht diese Begriffe allerdings auch wieder als problematisch: Der erste,
weil er Syndrome ausschliesst, die auch als kulturgebunden gelten und in Gesellschaften
auftreten, die in der westlichen Kultur integriert sind. Der zweite weil er sehr allgemein
ist und nicht nur psychiatrische Krankheiten umfasst.
2.2 Definitionen
Für kulturgebundene Syndrome gibt es verschiedene Definitionen, die auch den Grad
der Uneinigkeit über das Konzept aufzeigen. Wie Simons sagt, sind diese Syndrome
zunächst mal “at least phenomenologically, unfamiliar ways of being crazy” (zit. in
Hughes 1985, 3). Ob sie auch hinter der Fassade des phänomenologischen ungewöhnlich
sind, darum geht es bei den anderen Definitionen, von denen ich hier die wichtigsten
vorstellen möchte.
Rubel:
“(...) syndromes from which members of a particular group claim to suf-
1Ritenbaugh hat zum Beispiel vorgeschlagen, die amerikanische Fettleibigkeit als kulturgebundenes
Syndrom zu betrachten (Simons 1985a, 25)
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fer and for which their culture provides an etiology, a diagnosis, preventive
measures and a regime of healing” (Rubel 1984, 2).
Simons:
“Unlike the categories of Western psychiatric nosology, culture-bound syn-
dromes are restricted to specifyable peoples and locales, hence the term
’culture-bound’” (Simons 1985a, 25)
Ritenbaugh und Cassidy:
A culture-bound Syndrome is a constellation of syndromes which has been
categorized as a dysfunction or disease . It is characterized by one or more of the following:
1. It can not be understood apart from its specific cultural or subcultural
context.
2. The etiology summarizes and symbolizes core meanings and behavioral
norms of that culture.
3. Diagnosis relies on culture-specific technology as well as ideology.
4. Successful treatment is accomplished only by participants in that cul-
ture.
(Cassidy/Ritenbaugh zit. in Lange 2000)
Die Integration in die biomedizinische Nosologie wird von folgender Definition des Dia-
gnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM)2 gemacht, ohne dabei den
kulturgebundenen Syndromen eine eigene Kategorie zuzuweisen:
“örtlich begrenzte, volkstümliche diagnostische Kategorien, die ein kohärentes
Bedeutungssystem f ̈ur bestimmte, sich wiederholende, musterähnliche undstörende Konstellationen von Erlebnissen und Beobachtungen bilden.” (DSM-
IV zit. in Lange 2000)
Die Wichtigkeit kultureller Faktoren bei der Diagnose und Behandlung psychischer
2Klassifikationsinstrument der American Psychiatric Association . Wurde f ̈ur Forschungszwecke in ame-
rikanischen Kliniken gemacht.
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Krankheiten wird aber auch hier hervorgehoben, indem im Anhang des DSM-IV 3 ein
“Leitfaden zur Beurteilung kultureller Einflussfaktoren” beigef ̈ugt wird. Es geht um eine
“(...) systematische Betrachtung des kulturellen Hintergrundes einer Per-
son, der Rolle, die der kulturelle Kontext im Ausdruck und der Bewertung
von Symptomen und Funktionsstörungen spielt und des Einflusses, den kul-
turelle Unterschiede auf die Beziehung zwischen Untersucher und Betroffe-
nem haben können.” (DSM-IV zit. in Lange 2000)
Während sich diese Definitionen sowohl mit Ursache, Diagnose und Behandlung beschäftigen,
haben die Neo-Kraepelinianer einen deskriptiven Ansatz entwickelt, der auch der aktuell
gültigen Fassung des DSM-IV unterliegt (Lange 2000):
“Dabei handelt es sich um einen von theoretischen und ätiologischen An-
nahmen weitgehen unabhängigen Ansatz, der einer reinen Symptomorien-
tierten Beschreibung besonderen Stellenwert einräumt” (Steiglitz/Freyberger
zit. in Lange 2000)
Diese Übersicht über einige Definitionen des Konzepts der kulturgebundenen Syndrome
zeigt deutlich wie verschieden es interpretiert wird. Einige Theorien beschränken die
Kulturgebundenheit auf Diagnose, Ausdruck und Behandlung von ansonsten als univer-
sellen verstandenen psychischen Störungen. Andere wiederum f ̈ugen dem hinzu, dass die
Störung selbst nur in der jeweiligen Kultur zu finden sei und nicht in anderen, weichen
also vom universalistischen biomedizinischen Paradigma ab. Auf diese verschiedenen Be-
trachtungsweisen werde ich im nächsten Teil näher eingehen.
2.3 Theoretische Diskussion
Wie die verschiedenen Definitionen des Konzepts der kulturgebundenen Syndrome zei-
gen, ist die Diskussion um dessen Form, Inhalt und Verständnis nach wie vor im Gang.
Lange identifiziert zwei Kernpunkte in dieser Diskussion:
3DSM-IV ist die vierte Ausgabe des Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders , aus dem
Jahre 1994
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• Diskussion um Bestimmung oder Formung einer Krankheit durch “kulturfreie”
biologische Daten oder kulturgebundene Faktoren.
• Frage nach Einbezug oder Missachtung des kulturellen Kontextes.
(Lange 2000)
Dabei bewegen sich die Positionen in einem “Kontinuum zwischen kulturfrei-universalistisch
und kulturgebunden-relativistisch” (Lange 2000, 22), die der Kultur einen wechselnden
Grad an Einfluss zusprechen. Dieser reicht von grundlegend - Syndrome sind im kultu-
rellen Weltsystem verhaftet und psychologischen oder psychosozialen Urpsrungs - über
verschleiernde Eigenschaften - unter kulturellen Ausdr¨ucken verbergen sich organische
Ursachen - bis hin zur Negation jeglichen Einflusses der Kultur (Lange 2000).
Dem kulturfrei-universalistischen Extrem liegt dabei die Idee zugrunde, dass “die Krite-
rien f ̈ur Diagnose und Behandlung einer Krankheit im biomedizinischen Sinne nicht an
dies westliche Kultur und ihrem wissenschaftlichen Denkmuster gebunden sind, sondern
gleichsam frei von allen Wertmasstäben, Glaubensanschauungen und kosmologischen
Vorstellungen neben den Krankheiten existieren” (Lange 2000, 22). Eine kulturgebunden-
relativistische Ansicht wird zum Beispiel in den Definitionen von Rubel und Simons
vertreten.
Im Mittelfeld befindet sich Simons, der die Frage der Interaktion zwischen Biologie und
kulturellen Faktoren prominent behandelt. Er bemerkt, dass es sehr nützlich sei zu fra-
gen, was in jedem Syndrom der spezifische Beitrag von biologischen, kulturellen und
individualpsychologischen Faktoren sein könnte (Simons 1985a). In seiner Argumenta-
tion weist er darauf hin, dass biologische und kulturelle Faktoren untrennbar mit dem
jeweiligen Syndrom verbunden sind und distanziert sich von der Ansicht “that culture is,
by logical necessity, the sole (or the only interesting) cause or shaper of all culture-bound
syndromes” (Simons 1985a, 28). Dem f ̈ugt er hinzu:
“(...)I believe, that highly individual and changing aspects of biology grea-
tly influence every person’s experience of his or her material and social envi-
ronments and hence the culture-specific concepts which seek to make sense
of that experience. Since humans are not disembodied spirits, both beha-
vioral and conceptual consequences must flow from the specifics of their
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bodies.” (Simons 1985a, 28)
Er gibt auch gleich ein Beispiel aus dem Bereich der kulturgebundenen Syndrome, dasich hier zusammengefasst wiedergebe, um sein Argument etwas zu erhellen. Dabei geht
es um das Syndrom old hag aus Neufundland. Ein Opfer von old hag wacht angsterf ̈ullt
auf, kann sich nicht bewegen und hat das Gef ̈uhl, dass ein Gewicht auf seiner Brust las-
tet. Solche Gef ̈uhle werden aber auch von Leuten an anderen Orten erfahren, da sie auf
neurophysiologischen Ursachen beruhen. Die kulturspezifische Interpretation - being hag-
ged - hat allerdings einen tiefen Einfluss auf die Erfahrung dieses neurophysiologischen
Ereignisses. Man kann nur dann ein Opfer von old hag sein, wenn die entsprechenden
neurophysiologischen Ereignisse gegeben sind und man in einer Gesellschaft lebt, wodiese als old hag interpretiert werden. Um old hag zu erklären, muss man also sowohl
biologische, wie auch kulturelle Faktoren berücksichtigen (Simons 1985a).
In den internationalen Klassifikationschemata wird das Konzept der kulturgebundenen
Syndrome selbst in Frage gestellt, indem diesen keine eigene Kategorie zugestanden wird.
Vielmehr wird versucht, kulturspezifische Syndrome unter der biomedizinischen Nosolo-
gie zu klassifizieren und dabei den kulturellen Einfluss auf die Krankheit zu beachten.
Daran ist besonders die transkulturelle Psychiatrie interessiert, auch im Hinblick auf
die Behandlung von Patienten aus anderen Kulturkreisen. Die Diskussion darum, ob
die kulturgebundenen Syndrome wirklich solche sind, ist zusätzlich dadurch angefacht
worden, dass in vielen Fällen auch in anderen Erdteilen und Kulturen vergleichbare Syn-
drome gefunden wurden. Simons geht sogar so weit, verschiedene Syndrome zu taxieren,
in Gruppen zusammenzufassen. So beinhaltet seine Kategorie des fright illness taxon
etwa die Syndrome susto, saladera, lanti und mogo laya , Syndrome aus verschiedenen
Kontinenten, die aber alle die gleiche Ursache haben.
Wie die vorhergehenden Beispiele zeigen, ist man sich heute darüber einig, dass jedeKrankheit auf irgend eine Art von Kultur beeinflusst wird. Selbst Krankheiten, wel-
che überall die gleiche biomedizinische Ursache haben (zum Beispiel ein Virus), werden
je nach Kultur anders erfahren, interpretiert und behandelt. Für psychiatrische Leiden
gilt das ganz besonders, da in jeder Kultur wieder anders definiert wird, was als von
der Norm abweichendes Verhalten gilt. Was wir im Westen als behandlungsbedürftige
Verhaltensauff ̈alligkeit sehen, kann anderswo als durchaus akzeptiertes Verhalten gelten.
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Wie weit der Einfluss der Kultur geht, und ob gewisse Krankheiten wirklich auf eine
Kultur beschränkt sind oder nicht, darüber gehen die Meinungen aber weiterhin ausein-
ander. Als das Konzept der Kulturgebundenen Syndrome aufkam diente es vor Allem
dazu Krankheiten zu bezeichnen, die nicht in ein westliches Schema passten. Diese waren
also kulturgebunden, versus ”westliche”Krankheiten, die als ”neutral”galten, also rein
biomedizinisch verursacht und nicht von der Kultur beeinflusst. Heute werden die kultur-
gebundenen Syndrome von gewissen Autoren kulturspezifische Syndrome genannt, um
wenigstens auf der Ebene des Vokabulars etwas mehr Klarheit zu schaffen (Vgl. Greifeld
2003, 24). Damit wird ausgedrückt, dass zwar jede Krankheit in einem gewissen Grade
kulturgebunden ist, gewisse Krankheiten aber spezifisch nur in einer Kultur vorkommen.
Daher ist das Konzept der kulturgebundenen Syndrome heute auch auf westliche Krank-
heiten ausgedehnt worden, da diese ja auch auf ihre Kultur beschränkt sind. Auch gibt
es Syndrome, die spezifisch nur in westlichen Gesellschaften vorkommen (Greifeld nennt
zum Beispiel Bulimie, Anorexie, Prämenstruales Syndrom). Das Konzept der kulturge-
bundenen Syndrome hat also auch heute noch seine Berechtigung, wenn auch mit einigen
Modifikationen, um eben auch den westlichen Kulturkreis einzubeziehen. Greifeld geht
sogar noch einen Schritt weiter und meint, dass Krankheiten wie Susto, Anorexie und
Bulimie nur dann eindeutig kulturspezifisch sind, wenn kulturspezifisch auch auf Sub-
kulturen bezogen wird, die Bezugspunkte also enger eingegrenzt werden (Vgl. Greifeld
2003, 29). Damit wäre Susto eben nicht mehr ein südamerikanisches kulturspezifisches
Syndrom (es gibt keine einheitliche südamerikanische Kultur), sondern jedes Vorkom-
men von Susto in einer bestimmten Region oder Gemeinschaft wäre ein kulturspezifisches
Syndrom, das sich von Susto an anderen Orten unterscheidet.
Da nun Einigkeit herrscht darüber, dass jede Krankheit in gewissem Grade kulturgebun-
den ist, geht es heute eher um die Debatte, ob denn Behandlungen von Patienten aus
einem anderen Kulturraum überhaupt möglich sind. Auch hier gibt es verschiedene Posi-tionen. Ich möchte aber nun nicht näher darauf eingehen, da es mir hier darum geht, die
kulturgebundenen (oder eben kulturspezifischen) Syndrome allgemein zu thematisieren
und nicht darum, die Frage um transkulturelle Nosologien zu beantworten.
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3 Susto
3.1 Definition
Susto heisst auf Spanisch “Schreck” und deutet schon an, um was f ̈ur eine Art Syndrom
es sich handelt. Im Allgemeinen versteht man unter dieser Krankheit einen “Seelenverlust
durch Erschrecken” (Lange 2000, 30). Dieser basiert auf dem Glauben, dass ein Mensch
aus einem organischen und einem spirituellen Teil besteht, der vom organischen getrennt
werden kann. Die Ursachen dieser Trennung sind laut Simons “unsettling experiences
which disturb the normally existing equilibrium assumed to exist within a healthy orga-
nism” (Rubel, O’Nell, Collado 1985, 333) oder die Tat von mit der nat ürlichen Umwelt
assoziierten Kräften, die den Geist an sich reissen (Rubel, O’Nell, Collado 1985). An-
dritzky nennt neben dem Aspekt des Seelenverlustes auch die Besessenheit von “bösen
Geistern” (Andritzky 1999, 219) und Eindrücken aus der Natur (z.B. Blitzschlag, Un-
wetter) als Auslöser von Susto.
Im Gegensatz zu anderen kulturgebundenen Syndromen, die auf einen engeren geo-
graphischen oder kulturellen Raum beschränkt sind, ist Susto in ganz Mittel- und
Südamerika verbreitet, unter Indigenen, Mestizen, Städtern und Bauern, also ethnisch
und kulturell sehr unterschiedlichen Populationen. Daher stammt auch die Kontroverse
darum, ob Susto wirklich als kulturgebundenes Syndrom bezeichnet werden kann. Dar-
auf werde ich aber im letzten Kapitel näher eingehen. Mit der kulturellen Vielfalt derBevölkerungsgruppen, die Susto kennen, geht auch eine grosse Symptomvielfalt einher.
Durch die starke Migration von Lateinamerikanern ist Susto mittlerweile auch in den
USA anzutreffen und daher ein Thema in der transkulturellen Psychotherapie.
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3 Susto
3.2 Die Krankheit Susto
Um das Syndrom Susto, auch im Hinblick auf das nächste Kapitel, noch etwas näher
zu beleuchten, werde ich im Anschluss kurz auf seine Ätiologie und Nosologie eingehen.
Aufgrund der vorher erwähnten Vielfalt der Symptome und des grossen Verbreitungs-
gebiets ist es schwierig, hier einen umfassenden Überblick zu geben. Da die mir zur
Verf ̈ugung stehende Literatur vor allem auf die Ausprägungen des Susto in der Anden-
region eingehen, werde ich die Beispiele daraus ziehen.
3.2.1 ¨Atiologie
Wie schon erwähnt werden die Ursachen des Susto vor allem in der Trennung des Geis-
tes vom Körper gesucht. In der indigenen Ätiologie der Andenregion ist die häufigste
Ursache ein Sturz, nach dem die Erdgöttin Pachamama den Geist des Gestürzten er-
greift (agarrado por la tierra). Eine weitere Ursache ist das Einschlafen unter gewissen
Bäumen oder die Rache der Geister f ̈ur ein unterlassenes oder unvollständiges Opfer.
Auch Begegnungen mit den Geistern von Toten oder übernatürlichen Wesen können zu
Susto f ¨uhren (Andritzky 1999). Ein Callawaya1 Heiler beschreibt das Konzept von Susto
- bei ihnen mancharisqa 2 genannt - folgendermassen:
“Wenn man rausgeht, am Tag oder in der Nacht, kann man auf dem
Weg, auf dem Feld, am Fluss erschrecken. Eine Schlange kann es sein oder
ein anderes, ein wildes Tier. Wenn wir so etwas sehen, erschrecken wir uns
f ̈urchterlich. Und im Augenblick des Erschreckens weicht unsere Seele (ánimo)
aus dem Körper und der Erschreckte wird krank. (...) Wir können auch stol-
pern, und dann erschrecken wir uns auch, die Erde erschreckt uns.” (Rösing
zit. in Lange 2000)
Innerhalb der Wissenschaft finden sich ebenfalls verschiedene Deutungen der Ursachen
f ̈ur Susto. Lange stellt verschiedene davon vor:
1Volk in den bolivianischen Anden, das f ̈ur seine Heiler und Medizinmänner berühmt ist2vom Quechua manchay - erschrecken abgeleitet.
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3 Susto
• Der psychiatrisch-psychologische Ansatz sieht Susto vor allem als Adaptations-
krankheit und diagnostiziert etwa Neurosen, Depression oder Angststörungen.
• Die sozialpsychologische Deutung geht davon aus, dass Susto “eine Rolle oder ein
Verhaltensmuster bei Stress” (Lange 2000, 34) ist und erklärt die Krankheit mit
spezifischen sozialen Einflüssen wie etwa unerf ̈ullte Rollenerwartungen, vor allem
im Migrationskontext.
• Die biologische Deutung erkennt in Susto die Manifestation einer Störung mit bio-
logischen Ursachen, die sich in einem gewissen Verhalten ausdrückt. Der Hauptver-
treter dieser Richtung, Bolton, sieht hier den Ausdruck von Hypoglykämie (Bolton
zit. in Lange 2000)
3.2.2 Symptomatik
So vielf ̈altig wie die Ursachen sind auch die Symptome von Susto. Rubel hat jedoch
während seinen Forschungen in Mexico ein “Basissyndrom” gefunden und definiert dieses
folgendermassen:
[T]he basic Syndrome appears as follows: (1) during sleep the patient evi-dences restlessness; (2) during waking hours patients are characterized by
listlessness, loss of apetite, disinterest in dress and personal hygiene, loss of
strength, depression and introversion (Rubel zit. in Lange 2000)
Eine ähnliche Beschreibung gibt auch der Callawaya Heiler wieder:
Er [der Erschreckte] wird unruhig. Er f ̈uhlt allgemeines Unwohlsein (ma-
lestar general). Er mag nicht mehr essen, er kann nicht mehr schlafen. Und
wenn er einmal einschl¨aft, dann wacht er abrupt und mit schlechten Tr
¨aumen
auf. (Rösing zit. in Lange 2000)
Zu diesen Symptomen kommen oft Fieber, Übelkeit, Durchfall, Ängstlichkeit, Zurückgezogenheit,
Gereiztheit, Apathie und Gewichtsverlust. Angesichts dieser Symptome erstaunt es nicht,
dass Susto oft mit Depression verglichen oder gar gleichgesetzt wird.
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3 Susto
3.2.3 Behandlung
Auf die Behandlung von Susto Fällen will ich hier nicht im Detail eingehen, da die
dazugehörigen Rituale aufgrund der weiten Verbreitung des Symptoms sehr vielf ̈altig und
oft auch sehr elaboriert sind. Teilweise handelt es sich auch nur um “rein pharmazeutische
Verschreibungen ohne weitere rituelle Akte” (Andritzky 1999, 233). Allgemein kann
man sagen, dass die Behandlungsstrategien meist aus einem Ritual zur Rufung und
Rückf ̈uhrung der Seele und zur Beruhigung der Kraft, welche die Seele geraubt hat,
bestehen. Dazu gehört oft, dass der Patient Erde vom Ort des Erschreckens essen muss.
Auch rituelle Reinigungen gehören dazu. Nebst der Heilung gibt es auch Strategien
der Vorbeugung, etwa Amulette oder bestimmte Handlungen, die gleich nach einem
Schreckerlebnis ausgef ̈uhrt werden müssen. (Lange 2000). Ein Bolivianer erzählte mir,
dass man, um im Falle eines Sturzes einen Susto zu verhindern, gleich nach dem Sturz auf
die Erde spucken müsse, um sie zu besänftigen. Andritzky erwähnt, dass Susto Therapien
meist aus einer “Mischform aus magischen und emprischen Methoden” (Andritzky 1999,
233) bestehen.
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4 Susto als kulturgebundenes Syndrom
Die Frage, ob es sich beim Susto wirklich um ein kulturgebundenes Syndrom handelt,
taucht in der Literatur immer wieder auf. In den von mir konsultierten Werken stellen
sich Rubel, Andritzky und Simons auf den Standpunkt, dass Susto kein kulturgebun-
denes Syndrom ist, während Lange Susto als solches ansieht. Greifeld fragt sich gar,ob Susto nicht eher ein ethnologisches Konstrukt ist. An dieser Stelle geht es mir dar-
um, die konkreten Argumente einander gegenüber zu stellen und damit zu zeigen, wie
problematisch die Einordung von psychischen Krankheiten ist, die keine Entsprechung
in der westlichen Nosologie zu scheinen haben. Um so mehr, wenn das Konzept der
kulturgebundenen Syndrome selbst in Frage gestellt wird.
Rubel, Andritzky und Simons f ̈uhren verschiedene Argumente daf ̈ur an, dass Susto kein
kulturgebundenes Syndrom ist. Allen gemeinsam ist, dass sie die Kulturgebundenheit
von Susto aufgrund seiner weiten geographischen Verbreitung über sehr heterogene Kul-
turen hinweg in Frage stellen. Dazu kommt, dass sie Krankheiten in anderen Kontinenten
identifizieren, die Ähnlichkeiten mit Susto aufweisen. Andritzky weist darauf hin, dass
sich Susto bei näherer Betrachtung als Sammelkategorie f ̈ur verschiedene “Seelenverlust
Krankheiten” erweist, die auch Entsprechungen in Kulturen ausserhalb Lateinamerikas
haben. Susto beruhe auf dem “universalen Glauben an die Trennbarkeit von Körper und
Seele zu Lebzeiten” (Andritzky 1999, 228) und erscheine in der “Urform des ’heiligen
Schreckens’ beim Bruch sozial-religiöser Normen und als Schreck in der Begegnung mit
der Natur sowie als Gef ̈uhl des Entseeltseins, als eine kulturunabhängige Metapher f ̈ur
Krankheit schlechthin” (Andritzky 1999, 227).
Simons kategorisiert Susto zusammen mit anderen Syndromen in seinem fright illness
taxon . Er argumentiert, dass diese Krankheiten allgemein nicht mehr als kulturgebunden
gelten sollten: “since their symptoms are neither a specifiable alteration of behavoir or
of experience I believe that there is no justification for continuing to so list them.” (Si-
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4 Susto als kulturgebundenes Syndrom
mons 1985a, 331). Und Rubel erklärt kategorisch: “It is unwarranted to label a condition
culture-bound when it is marked by distribution across broad and diverse sociocultu-
ral spectra” (Rubel, O’Nell, Collado 1985, 333). Auch er argumentiert mit der weiten
Verbreitung von Susto:
“A striking discovery is that this condition is not culture-bound. That is,
it is not restricted to a population speaking a distinctive language, or to a
singular cultural background. It is found in many cultural groups in North
and South America.” (Rubel 1984, 6)
Lange hingegen geht die Analyse von Susto und die Frage nach seiner Kulturgebunden-
heit anders an. Sie stellt in ihrer Arbeit mancharisqa , die Ausprägung von Susto bei den
bolivianischen Callawaya , der westlichen Major Depression gegenüber. Dabei schenkt
sie den Konzepten der Krankheitsdiskurse grosse Beachtung. Zentral dabei ist die Frage
nach dem Heilungserfolg: Warum ist mancharisqa Kranken mit Antidepressiva nicht ge-
holfen? Die Antwort auf diese Frage, aufbauend auf der Definition von Ritenbaugh und
Cassidy, ist zugleich auch ihr Argument f ̈ur die Kulturgebundenheit beider Syndrome:
“An den einzelnen Kriterien dieser Definition gemessen, handelt es sich
in beiden Fällen um kulturgebundene Syndrome, (1) weil (...) eine untrenn-bare Verknüpfung mit dem jeweiligen kulturellen Kontext besteht; (2) weil
symbolische Verweise ätiologischer Konzepte auf zugrundeliegende Vorstel-
lungen wie Opferschuld und Seelenverlust ebenso ersichtlich sind wie der
Zusammenhang mit psychologischen, sozialen oder biochemischen Normen;
(3) weil die Diagnosetechniken (...) die jeweils gängigen Methoden und kul-
turell verständlichen Wissenssysteme widerspiegeln; und (4) weil (...) das
Verständnis kultureller Anschauungen und die Teilnahme am sinnstiftenden
Diskurs sowohl f ̈ur Major Depression wie auch f ̈ur mancharisqa als Bedin-gungen einer erfolgreichen Behandlung zu sehen sind.” (Lange 2000, 130)
Greifeld bezeichnet Susto in einem Artikel aus dem Jahre 1985 (erneut in Curare er-
schienen 2002) gar als ethnologisches Konstrukt:
“Aufgrund der Varianz der Symptome und der Bedeutungen von Susto
wird schliesslich gefolgert, dass es sich hierbei nicht um eine einzige Missbe-
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4 Susto als kulturgebundenes Syndrom
findlichkeit handeln kann, sondern dass es sich wohl um ein Forschungsre-
sultat handelt, das aus einer genuin ethnologischen Verwirrung resultiert.”
(Greifeld 2002, 138)
In einem späteren Artikel ordnet sie Susto durchaus den kulturgebundenen (sie nennt
sie kulturspezifische) Syndromen zu “allerdings nur dann, wenn kulturspezifisch - und
warum sollte das nicht so sein - auf Subkulturen bezogen wird” (Greifeld 2003, 29).
Die oben genannten Argumente zeigen, dass das hauptsächliche Problem in der Frage,
ob Susto ein kulturgebundenes Phänomen ist, in seiner weiten geographischen und kul-
turellen Verbreitung sowie im Vorhandensein ähnlicher Symptome in anderen Ländern,
besteht. Hier wird auch deutlich, dass wir es mit zwei verschiedenen Auffassungen des
Begriffs “kulturgebunden” zu tun haben. Die eine geht davon aus, dass ein kulturge-
bundenes Syndrom nur in einer Kultur existiert. Demnach ist auch Susto, das in mehre-
ren Kulturen vorkommt, allerdings in verschiedenen Ausprägungen, nicht kulturgebun-
den. Die andere hingegen sieht Kulturgebundenheit in den je nach Kultur verschiedenen
Krankheitskonzepts und in der grundlegenden Wichtigkeit des kulturellen Hintergrundes
in Diagnose und Behandlung. Entscheidend als Kriterium ist hier der Behandlungserfolg
und dessen interkulturelle Übertragbarkeit.
Das Vorkommen von Susto ist tatsächlich nicht auf eine Kultur oder einen Ort be-
schränkt. Allerdings sehen wir in den Beispielen durchaus das Vorhandensein von Ätiologien,
Diagnosen und Behandlungsstrategien, die an den jeweiligen kulturellen Hintergrund
und die Situation angepasst sind. Das Beispiel von Lange zeigt, dass einzelne Instanzen
von Susto, in einer bestimmten Kultur, sehr wohl kulturgebunden sein können. Es zeigt
aber auch, dass die Feststellung von Kulturgebundenheit auch von der verwendeten De-
finition abhängt. Das Phänomen Susto ist zu vielf ̈altig, um in ein enges Schema der
kulturgebundenen Syndrome hinein zu passen. Die einzelnen Manifestationen von Sustoin bestimmten Kulturen können jedoch als kulturgebunden angesehen werden. Deshalb
bezeichnen Rubel, O’Nell und Collado-Ardón Susto auch als Sonderfall eines kulturge-
bundenen Syndroms (Lange 2000). Ich schliesse mich hier der Meinung von Lange an,
die bemerkt:
“Der grundsätzliche Unterschied liegt also in der Perspektive des Betrach-
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4 Susto als kulturgebundenes Syndrom
ters, seinem Blickwinkel, seinen Prämissen und Bedingungen. Soll die Dia-
gnose einer Krankheit (...) eine erfolgreiche Behandlung nach sich ziehen, so
muss ihre Kulturgebundenheit in Rechnung gestellt werden.” (Lange 2000,
131)
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Die vorhergehende Argumentation hat gezeigt, dass die Diskussion um kulturgebundene
Syndrome noch nicht abgeschlossen ist. Es herrscht nach wie vor keine Einigkeit über die
Definition und Klassifikation von kulturgebundenen Syndromen und ihre Existenz wird
von gewissen Forschern (Rubel, Andritzky, Simons) gar in Frage gestellt. Die Autorenarbeiten auch mit verschiedenen Auffassungen von kulturgebunden in Bezug auf psychi-
sche Krankheiten. Während f ̈ur die einen Kulturgebundenheit vor allem eine Frage der
Verbreitung ist, ist es f ̈ur die anderen eine Frage des Umgangs mit einer Krankheit im
kulturellen Kontext.
Dieses Problematik manifestiert sich besonders in einem Fall wie Susto, einer Krank-
heit, die einerseits kulturgebunden scheint, weil sie offenbar keine Entsprechung in der
westlichen Medizin hat, und andererseits aufgrund ihrer weiten Verbreitung den meisten
Definitionen von kulturgebunden nicht entspricht. Lange formuliert dieses Dilemma so:
“Ob Susto zur Kategorie der kulturgebundenen Syndrome gezählt wird,
scheint somit vor allem eine Frage des Ausmasses von kultureller und geo-
graphischer Verbreitung zu sein. Ungeachtet dieser Überlegung wird Susto
jedoch stets als ein der westlichen Biomedizin gegenüberstehendes, indigenes
Konzept betrachtet. (Lange 2000, 31)”
Entscheidend wird diese Diskussion vor allem in der transkulturellen Psychotherapie,
die im Zuge der wachsenden Migration immer wichtiger wird. Kann also ein westlicher
Psychiater einen Susto Patienten heilen? Oder kann ein Heiler aus den Anden - wenn
man, wie oft geschehen, Susto mit Depression gleichsetzt - einen depressiven Europäer
heilen? Wenn man diese Fragen an den im ersten Kapitel aufgef ̈uhrten Definitionen misst,
müsste wenigstens die erste Frage mit Ja beantwortet werden1. Grundsätzlich scheint
mir aber der Ansatz von Lange, welche die Kulturgebundenheit am Behandlungserfolg
1Auf die Frage, ob es sich bei Depression um ein kulturgebundenes Syndrom handelt, kann ich hier nicht
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misst, gerade f ̈ur die praktische Arbeit wesentlich fruchtbarer, als die auf kultureller und
geographischer Verbreitung beruhenden Ansätze. Dies zeigen auch Beispiele aus einem
etwas anderen Kontext, wie etwa die psychotherapeutische Arbeit von Tobie Nathan.
Auch wenn er grundsätzlich in der Arbeit mit Patienten aus anderen Kulturen westliche
psychotherapeutische Methoden verwendet, so ist doch der Einbezug des kulturellen
Hintergrundes wichtig f ̈ur den Erfolg seiner Behandlungen2.
Auch wenn die Frage nach der Einordnung von Susto und der Kulturgebundenheit ge-
wisser Krankheiten nicht abschliessend beantwortet ist, so ist heute doch klar, dass die
Kultur in der Ätiologie, Nosologie, Diagnose und Behandlung eine entscheidende Rolle
spielet und damit jeder Krankheit eine gewisse Kulturgebundenheit attestiert werdenkann.
weiter eingehen. Lange kommt aber in ihrer Gegenüberstellung von Susto und Major Depression
zum Schluss, dass beide kulturgebunden sind.2Siehe das Bespiel der Behandlung einer Afrikanerin, in dem Nathan deren Glauben an Magie einbe-
zieht (Nathan 1986, 114-126)
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Literaturverzeichnis
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