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Die Kritische Soziologie der Wirtschaft ist ein Buch, das die Strukturen der Realwirtschaft und die Machenschaften der Finanzwirtschaft unbeirrt von den üblichen beschönigenden Begriffen durchleuchtet. Dieter Prokop stellt dar, wie die heutige Wirtschaft funktioniert: Die Realwirtschaft findet im Oligopol statt. Konzerne vermeiden eine Preis- und Qualitätskonkurrenz, und sie kooperieren informell, wenn es um Preiserhöhungen geht. In der Finanzwirtschaft sind die Oligopol-Banken zu Wettbüros geworden, was die Ursache der gegenwärtigen Krisen ist. Außerdem stellt Prokop die Machtkomplexe dar, die daran arbeiten, die Vermarktungs-Interessen der Konzerne durchzusetzen.

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Kritische Soziologie der Wirtschaft

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Dieter Prokop

Kritische soziologie der Wirtschaft

Wie Oligopol-Konzerne, Machtkomplexe und Zocker-Banken

die Gefühle der Menschen vermarkten und deren Verstand ausschließen

Tectum Verlag

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Dieter ProkopKritische Soziologie der Wirtschaft© Tectum Verlag, Marburg 2013ISBN 978-3-8288-3094-3

Gestaltung und Satz: Oliver Schmitt, MainzDruck und Bindung: CPI buchbücher.de, BirkachPrinted in GermanyAlle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internetwww.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

dieter Prokop ist Professor em. für Soziologie an der Goethe-Universität in Frankfurt.

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inhaltsverzeichnis

Vorwort 11

Teil I: Die Quintessenz wirtschaftlichen Handelns besteht in der Rationalität der Menschen – und nicht in ›Massenpsycho logie‹, ›Herdentrieb‹ und unbewussten Hirnvorgängen

Kapitel 1: Gier, Furcht und animalische Instinkte: die angeblich 13 völlig irrationale Psyche der Marktteilnehmer

Kapitel 2: Herdenverhalten, Klima und ›Massenpsychologie‹: 18 das angeblich völlig irrationale Gesellschaftliche

Kapitel 3: Das Verhältnis von Irrationalität und Rationalität beim 22 Aufklärer Thomas Hobbes (1651)

Kapitel 4: Sozialphilosophische Grundlagen irrationalistischen 26 Denkens

4.1: Erfinder des ›Meinungsklimas‹: der reaktionäre 26 Hofkaplan Joseph Glanvill (1661)

4.2: Erfinder der unseriösen ›Massenpsychologie‹: 28 der rechtsradikale Publizist Gustave Le Bon (1895)

Kapitel 5: Wem nützen die Vorstellungen über irrationale 33 Marktteilnehmer?

Kapitel 6: Es gibt ihn, den Verstand der Marktteilnehmer 34 Kapitel 7: Sozialphilosophische Grundlagen rationalistischen 42

Denkens 7.1: Verstand und rationaler Gesellschaftsvertrag beim 43

Aufklärungs-Philosophen John Locke (1689, 1690) 7.2: Der aus Eigeninteresse mit Verstand ökonomisch 46

Handelnde beim Aufklärer Adam Smith (1776)Kapitel 8: Was ist entscheidend: Gefühle oder Verstand? 54

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die realWirtschaft UNd das iNteresse aM VerKaUf VoN gefÜhlsWerteN

Teil II: Die Realwirtschaft findet im Oligopol statt

Kapitel 9: Im Oligopol ist die Vermeidung von Preis- und 59 Qualitätskonkurrenz das Entscheidende

Kapitel 10: Operation Ausschluss I: Markteintritts-Barrieren 64 im Oligopol für weniger Kapitalkräftige

Teil III: Oligopol-Konzerne wollen mit ihren Produkten und mit ihrer Werbung vor allem Gefühle ansprechen

Kapitel 11: Operation Strukturierte Produkte I: Verkaufsförderung 73 von Waren durch künstliche Obsoleszenz und durch Einbau von abstrakten, gebrauchswertlosen Gefühlswerten

Kapitel 12: Der kulturindustrielle Machtkomplex 76Kapitel 13: Operation Strukturierte Produkte II: Verkaufsförderung 79

von Waren und Werbung durch eine Konstruktion von Zielgruppen und Milieus, die selektiv das Interesse am Ansprechen von Gefühlswerten bedient

Kapitel 14: Operation Ausschluss II: Marktforschungs-Barrieren 85 gegenüber dem Verstand der Konsumentinnen und Konsumenten

Kapitel 15: Die Absicht der Manipulation ist noch lange keine real 90 erfolgreiche Manipulation, die Leute sind ja nicht dumm

Kapitel 16: Nochmals: Gefühle oder Verstand? 92

die fiNaNzWirtschaft UNd das iNteresse aM WeiterVerKaUf VoN risiKeN

Teil IV: Die oligopolistische Finanzwirtschaft findet als Spielcasino statt

Kapitel 17: Der finanzmarktgetriebene Kapitalismus 97Kapitel 18: Finanzkrise – Griechenland-Krise – Eurokrise – 101

Schuldenkrise: Warum sich die Krise quälend lang hinzieht

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Kapitel 19: Pervertierung von Versicherungen in ein Zocken 110 auf das Eintreten des schlimmsten Falls. Credit Default Swaps (CDS)

Kapitel 20: In einem Krimi: Welche Risikospiele ein Hedgefonds 117 spielt

Kapitel 21: Die wundersame Geldvermehrung durch Hebelpapiere 121Kapitel 22: Hebelung durch Private Equity 123Kapitel 23: Operation Strukturierte Produkte III: Verkaufsförderung 124

von Finanzprodukten durch Verschleierung von Risiken. Collateralized Debt Obligations (CDO)

Kapitel 24: Halblegale bis kriminelle Machenschaften 135Kapitel 25: Je sicherer der Staat sie rettet, desto leichtfertiger werden 142

die BankerKapitel 26: Operation Ausschluss III: Investitions-Barrieren bei 145

Banken und Investoren gegenüber der Realwirtschaft, der Infrastruktur und den gemeinnützigen Aufgaben

Teil V: Das Rating-Oligopol dient den Interessen der Wall Street-Banken und der Medienkonzerne

Kapitel 27: Über Rating-Agenturen und Indices-Firmen, die 147 großen Finanzunternehmen und Medienkonzernen gehören

Kapitel 28: Die Wall Street-Banken als Geldgeber 153Kapitel 29: Die Medienkonzerne als Akquisiteure von Werbegeldern 157Kapitel 30: Ratings in der Exzellenzgesellschaft 163Kapitel 31: Sozialphilosophische Grundlagen des Exzellenz- 165

Denkens: Sozialdarwinismus bei Herbert Spencer (ca. 1870–1890)

Kapitel 32: In einem Krimi: Operation Strukturierte Produkte IV: 167 Verkaufsförderung von Finanzprodukten durch Einbau eines Gefühlswerts, der Furcht, in die Software beim algorithmusgesteuerten Hoch frequenzhandel

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die gloBalisierte WirtschaftUNd das iNteresse aM aUsVerKaUf des staats

Teil VI: Die Weltwirtschaft findet in oligarchischen Machtstrukturen statt

Kapitel 33: Operation Ausschluss IV: Politische Barrieren gegenüber 177 der Regulierung der Wirtschaft im Rahmen der postfordistischen Gegenreform

Kapitel 34: Der marktradikale, neoliberale Machtkomplex 183Kapitel 35: Sozialphilosophische Grundlagen deregulatorischen 185

Denkens: Neoliberalismus als sozialdarwinistischer Glaube an die unsichtbare Hand bei Milton Friedman und Anderen (seit ca. 1960)

Kapitel 36: Beispiele marktradikaler, neoliberaler Finanzpolitik vom 195 Gelddrucken bis zum Schuldenmachen für Kriege

Kapitel 37: Warum die Bürger das alles mitmachen. ›Eigenmächtige 204 Entmachtung‹ und rationaler Gesellschaftsvertrag bei Alexis de Tocqueville (1835, 1840)

Teil VII: Die Quintessenz wirtschaftlicher Regulierung besteht im rationalen Gesellschaftsvertrag – und nicht in subjektiven ›Wertorientierungen‹ und ›Konventionen‹

Kapitel 38: Wie Wirtschaftssoziologen Oligopole nicht zur Kenntnis 209 nehmen und stattdessen ›traditionelle Wertorien- tierungen‹ idealisieren

Kapitel 39: Nichts als ›Werte‹, wo man hinblickt: der Begriff der 217 ›sozialen Institution‹ in der Soziologie

Kapitel 40: Sozialphilosophische Grundlagen institutionalistischen 221 Denkens I

40.1: Der Vorrang der religiösen Wertorientierungen bei 221 der Entstehung des Kapitalismus in der Theorie von Max Weber (1920)

40.2: ›Vertrauen‹ und ›Solidarität‹ als systemische Wert - 224 orientierungen bei Talcott Parsons und Jürgen Habermas (seit ca. 1960)

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Kapitel 41: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Regulierung 230 ist keine Frage der Wertorientierungen, sondern des rationalen Gesellschaftsvertrags

Kapitel 42: Sozialphilosophische Grundlagen institutionalistischen 231 Denkens II: Konsens der Herzen, moralischer Vertrag – und Terror – bei Jean Jacques Rousseau (1762) und dazu Kommentare von Voltaire

Kapitel 43: Sozialphilosophische Grundlagen sozialstrukturellen 240 Denkens: Investitionslenkung als rationaler Gesell- schafts vertrag im Spannungsfeld von Realwirtschafts- Investition und Spielcasino-Spekulation bei John Maynard Keynes (1936)

Kapitel 44: Zusammenfassung und Lösungsvorschläge 253

Anhang I: Chronik über Regulierung und Deregulierung 259Anhang II: Glossar über einige Begriffe, Organisationen, 273

Personen

Literaturverzeichnis 279

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Vorwort

Ich möchte untersuchen, ›wie die Wirtschaft funktioniert‹, die heutige Realwirtschaft und Finanzwirtschaft.

Eine Soziologie ist das insofern, als man eine Darstellung entscheiden-der wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher Strukturen erwarten kann, eine Analyse der darin enthaltenen Spannungsfelder. Und man kann erwarten, dass hinter die Kulissen gängiger Ideologien und beschönigen-der Begriffe geblickt wird. (Jedenfalls ist dies das Interesse der kritischen Soziologie, um die ich mich bemühe.) Und dazu gehört auch die Erörte-rung sozialphilosophischer Grundlagen.

Den roten Faden, der sich durch das Buch zieht, deutet der Untertitel an: Konzerne, Machtkomplexe und Banken vermarkten die Gefühle der Menschen und versuchen, deren Verstand auszuschließen. Dabei ist es mein Interesse, zu zeigen, dass die in der Wirtschaft handelnden Men-schen zu rationalem Handeln fähig sind (selbst wenn sie sich irren und nicht in die Zukunft sehen können). Und dass die heute weit verbreitete Idee falsch ist, dass Gefühle, Gier und unbewusste Gehirnvorgänge beim Wirtschaftshandeln die entscheidende Rolle spielen.

Torsten Uphus danke ich für die sorgfältige Lektüre mehrerer Manu-skript-Fassungen, viele konstruktive Ideen und schonungslose Kritik. Er ermutigte mich auch, die Erörterung sozialphilosophischer Grundlagen zu betreiben.

Chung Tran danke ich für klärende Sachinformationen aus der finanz-wirtschaftlichen Praxis.

Für die zugespitzte, manchmal polemische Darstellung in diesem Buch bin ich allein verantwortlich.

Frankfurt, im September 2012 D.P.

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TeIl Idie Quintessenz wirtschaftlichen handelns besteht in der rationalität der Menschen –

und nicht in ›Massenpsychologie‹, ›herdentrieb‹ und unbewussten hirnvorgängen

KAPITEL 1 Gier, Furcht und animalische Instinkte: die angeblich völlig irrationale Psyche

der Marktteilnehmer

Rausch, Fieber, Lust

Wenn Konsumenten zur Adventszeit viel kaufen, tauchen in den Medien Begriffe auf wie ›Kaufrausch‹ oder ›Konsumfieber‹. Vor der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 / 2009 sprachen die Medien vom ›Immobilienspekulationsfieber‹.

Die Werbung produzierte in den 1990er Jahren Sprüche wie ›Lust auf ...‹ (›Lust auf Schokolade‹, ›Lust auf Party‹). Danach versuchte sie, mit dem Wort ›Mein ...‹ oder ›My ...‹ hedonistische Gefühle, ja Beute- Instinkte anzusprechen (›Mein Mercedes‹, ›Mein Bio‹ oder bei einem Ein-kaufszentrum auf der Frankfurter Einkaufsstraße Zeil: ›My Zeil‹). Dann war das ebenfalls out (weil es keine Wirkung auf das Kaufverhalten hatte), und die Werbung kam auf das von Facebook propagierte ›gefällt mir‹, und auch das ist ja nichts als eine Äußerung von Gefühlen der Lust und der Unlust.

Gier und Furcht

Vor allem auf den Finanzmärkten scheinen sich ungeheuer emotionale Menschen zu tummeln, die höchst empfindsam auf die Äußerungen von Zentralbankpräsidenten und Politikern reagieren und ständig zwischen Gier und Furcht (greed and fear), zwischen Hype und Verzweiflung, Opti-mismus und Pessimismus schwanken.

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Nicht nur Marktteilnehmer, auch ›die Märkte‹ selbst scheinen von Gefühlen, Irrationalismen beherrscht zu sein, sie können fürchterlich ›erschreckt‹ werden, vor allem durch Lohnerhöhungen, aber auch durch Zinserhöhungen der Zentralbanken, der Fed oder der EZB. Die Zuversicht ›der Märkte‹ kann verpuffen – Puff, ist sie weg! Und ein kleines Minus bei einem Rating der drei amerikanischen Rating-Agenturen, und schon sind die Zuversicht, der Optimismus futsch! – So empfindsam sind (angeblich) ›die Märkte‹.

Angeblich hat die Gier von Immobilienhändlern, Bankmanagern und Anlegern die Welt in die Krise von 2008 / 2009 getrieben: Gierige Banker verkauften ihre Schrottpapiere an gierige Anleger. Oder man stellt sich auf den Finanzmärkten Massen von Süchtigen vor, von Spielsüchtigen.

Über solche Irrationalismen reden nicht nur manche Journalisten, sondern auch die ›Verantwortlichen‹ selbst, die in der Praxis stehen oder standen. Zum Beispiel Alan Greenspan (ehemaliger Chef der amerikani-schen Zentralbank), er schreibt: »Eine Rezession ist schwer vorherzusa-gen, da sie zum Teil von irrationalen Verhaltensweisen angetrieben wird. Die subjektive Wahrnehmung der wirtschaftlichen Lage verschiebt sich nicht allmählich von Optimismus zu Neutralität zu Pessimsmus: Es ist wie ein Dammbruch; das Wasser staut sich zurück, bis Risse entstehen und der Damm mit einem Mal birst. Die entstehende Flut reißt jedes bisschen Zuversicht mit sich, und was übrig bleibt, ist blanke Angst.« (2007: 245 f.)

Solch literarischen Kitsch produziert ausgerechnet ein ehemaliger Zen-tralbankpräsident!

Realistischer ist da doch die Annahme, dass Rausch, Fieber, Gier, Lust von Möglichkeiten, von Anreizen abhängen, die gegeben bzw. vorgegeben sind, vorgegeben nicht zuletzt von staatlichen Instanzen, von der Politik der Deregulierung, von nachlässigen Aufsichtsbehörden. Natürlich gibt es die Gier von Investmentbanken und Traderfirmen, ihr Geld durch frag-würdige Verbriefungen und Kunden-Täuschungen zum Schaden uninfor-mierter und selbst gieriger institutioneller Investoren zu vermehren. (s. Kapitel 23) Aber es ist naiv, sich moralisch über die Gier von Bankern und Tradern zu empören, denn diese Gier wurde ja von demokratisch gewählten Politikern und deren Politik der Deregulierung gefördert, sie war und ist also politisch gewollt! (s. Teil VI)

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Bauchgefühle und Betrügereien

Immer gibt es Geschichten von Leuten im Handelssaal der Brokerfir-men, die aus dem Bauchgefühl heraus handeln, Pizza in sich hineinstop-fen, herumbrüllen, Telefone an die Wand schmeißen, sich gegenseitig anerkennend ›Big Swinging Dick‹ nennen (übersetzt u. a.:  ›Großer Ele-fantenrüssel‹) und sich beim Zocken großartig fühlen. (s. Lewis 1989: 50)

Dabei wird oft vergessen, dass in den Banken und Brokerfirmen unun-terbrochen Daten analysiert und in mathematische Modelle gefasst wer-den. Und selbst wenn in der (oligopolistischen) Konkurrenz der Banken und Brokerfirmen Daten verheimlicht und Bilanzen gefälscht werden, so geschieht das nicht aus dem Bauch heraus, sondern mit rationalen Absich-ten: Täuschung des Gegners, der Aufsichtsbehörden, der Steuerbehörden, der Öffentlichkeit.

Und weil das so ist: Ich glaube zwar nicht an das Bauchgefühl der Marktteilnehmer, aber man sollte auch nicht in der Rationalität der Marktteilnehmer etwas besonders Edles, Reines sehen. Vor der Finanz-krise 2008 / 2009 war Vieles nicht in Ordnung: Die Kreditgeber ignorier-ten alle Regeln der Überprüfung von Kreditwürdigkeit und Bonität und vergaben Kredite weit über den realen Wert von Immobilien hinaus und das an voraussehbar zahlungsunfähige Kunden. Banken verbrieften diese Ramschhypotheken, und von ihnen bezahlte Rating-Agenturen gaben den verbrieften Ramschpapieren zu gute Ratings. Alle handelten in ra tionalem Eigeninteresse: Sie dachten an Zinsen und Gebühren. (s. Kapi-tel 28)

Also: Die wirtschaftlichen Akteure handeln rationaler als man glaubt – aber sie handeln nicht immer im Rahmen der gängigen Regeln, schon gar nicht der Moral. Es reicht mir jedoch nicht, mich darüber zu empören, sondern ich möchte das strukturelle Umfeld analysieren, das Regelverlet-zungen ermöglicht.

Animalische Instinkte?

Ich fahre fort mit dem Gruselkabinett des irrationalen Marktteil-nehmers. Die These (bzw. das Vorurteil), dass die Marktteilnehmer von Gefühlen (Gier etc.) geleitet seien, wird oft mit Metaphern aus der Tier-welt untermauert (oder ›unterfüttert‹, wie man heute sagt). Nicht nur Bulle und Bär müssen dafür herhalten. Im Finanzbereich nennt man die Händ-

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ler auch gern ›menschliche Piranhas‹, und die Private Equity-Manager kennt man seit Müntefering als ›Heuschrecken‹.

Tierisch ist auch, dass die Anleger – ob private oder institutionelle – ständig Hunger haben: Renditehunger. Und Durst: Anleger ›dürsten nach Profit‹.

Es scheint so, als hätte auch John Maynard Keynes 1936 im Wirtschafts-handeln ›animalische Instinkte‹ (›animal spiritis‹) am Werk gesehen. Das wird oft zitiert, doch wird dabei stets die durchweg schlechte deutsche Übersetzung der Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes zitiert, in der ›animal spirits‹ mit ›animalische Instinkte‹ übersetzt wurde. (s. [1936] dt. 2009: 137) – Das geht aber nicht. Laut Langenscheidts Großwörterbuch bedeutet ›animal spirits‹: Vitalität, Lebenskraft, Lebens-geister. Ich übersetze also die vielzitierte Passage aus dem englischen Ori-ginal neu. Es geht um das instabile Verhalten von Wertpapier-Anlegern. Keynes: »Abgesehen von der durch Spekulationen verursachten Instabi-lität gibt es auch noch die Instabilität, die auf der menschlichen Natur beruht. Sie bewirkt, dass ein großer Teil unserer positiven Aktivitäten – ob moralisch, hedonistisch oder ökonomisch – eher von einem spontanen Optimismus als von einer mathematischen Erwartung abhängen. Wahr-scheinlich können die meisten unserer Entscheidungen, etwas Positives, in Zukunft Nützliches zu tun, nur als Ergebnis von Vitalität [animal spirits] aufgefasst werden, eines spontanen Antriebs zu Tätigkeit statt zu Untätig-keit, also nicht als das Ergebnis einer auf statistischen Normalkurven beru-henden Voraussicht quantitativer Benefits, multipliziert mit quantitativen Wahrscheinlichkeiten.« ([1936] engl. 1964: 161, Kursivierung hinzugefügt. Übersetzung von mir)

Keynes meinte, dass langfristige wirtschaftliche Entwicklungen trotz aller statistischen Berechnungen und Gaußschen Normalkurven oft nicht vorhersehbar ist. Dass Menschen also auch impulsiv handeln. Das war alles. Von ›animalischen Instinkten‹, also einer biologistischen Triebtheo-rie, war bei Keynes gar nicht die Rede. (Über Keynes: s. Kapitel 43)

Behavioral Economics und das Reptilienhirn im Kopf der Menschen

Heute befasst sich die Verhaltensökonomik (Behavioral Economics, Behavioral Finance) mit den (angeblich) naturhaften, (angeblich) irratio-nalen Aspekten der Wirtschaftsteilnehmer. Sie geht von vornherein von

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der Irrationalität des Verhaltens aus, das ist ihre Gründungsprämisse. Seit den 1920er Jahren bestand jene in einem schlichten Reiz-Reaktions-Modell wie bei den Pawlowschen Hunden, deren Speichel läuft, wenn es klingelt. Heute halten sich die Verhaltensökonomen an die Neurophysiologie.

Die Neurophysiologie (›Hirnforschung‹) hat – außerhalb der Wirt-schaftswissenschaft – mit Laborexperimenten im Kernspintomografen Furore gemacht, nach denen Gehirnströme in nichtbewusst arbeiten-den Gehirnteilen Millisekunden vorher da sind, bevor sich die Versuchs-personen dazu entscheiden, ihre Hand zu heben. (s. Libet 2004) Deshalb behaupten die Hirnforscher, dass ›wir‹ primär von unbewussten Gefühlen geleitet seien, deren Zentrum in ›unserem Gehirn‹ das limbische System, die Amygdala sei. Damit sei die Vorstellung nicht mehr zu halten, dass ›wir‹ ein Ich hätten, dass bewusst vernünftige Entscheidungen zu fällen in der Lage sei.

Manche Neurophysiologen lassen sich den Kernspintomografen von der Werbeindustrie bezahlen und versprechen ganz raffinierte Werbe-wirkungen. Sie nennen das ›Neuromarketing‹, so als könnte in Zukunft – wenn die Werbewirtschaft den ›Hirnforschern‹ viel Geld gibt – Werbung direkt in unbewusst arbeitende Gehirnteile gehen und dann direkt zum erwünschten Kaufverhalten führen. Das ist Unsinn.

Kritiker wandten ein, dass man aus beschränkten Laborexperimenen keine derart pauschalen Schlussfolgerungen ziehen könne. Neurophysio-logische Experimente seien nicht die Realität. (Kritik der Hirnforschung: s. Geyer 2004)

Aber selbst ein so kompetenter Wirtschaftsjournalist wie Frank Leh-mann spricht das nach, was uns die Neurophysiologie als allgemeingül-tiges ›Forschungsergebnis‹ verkaufen möchte. Lehmann: »Bei Finanz-entscheidungen spricht eben meist nicht der Verstand. Die Vernunft muss draußen bleiben, die Emotionen sind am Drücker. Heute weiß man also – der Hirnforschung sei Dank! – dass die Emotionen entscheiden. [Die Entscheidung] Läuft zu 70 bis 80 Prozent unbewusst ab. Dabei gibt das limbische System den Ton an.« (2011: 67, [ ] hinzugefügt)

Ich danke eher den Kritikern der ›Hirnforschung‹.

Neurophysiologie wurde auch von der Behavioral Economics betrie-ben. Auch einer ihrer prominentesten Vertreter, Daniel Kahneman (Psy-chologe, Nobelpreisträger), machte diese naiven Labor-Experimente, die in diesem Fall ›bewiesen‹, dass die unbewusste emotionale Hirntätigkeit

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die Entscheidungen von Investoren bestimmt. Kahneman steckte Ver-suchspersonen in den Kernspintomografen und fand heraus, dass bei (im Experiment simulierten) Investitionsentscheidungen vor allem das Klein-hirn aktiv sei, das wir noch von den Reptilien her haben. (s. Kahneman und Tversky 2000; Gilovich, Griffin, Kahneman 2002; s. auch die prakti-sche Anwendung in der ›Finanzpsychologie‹: Schriek 2009)

Andere verbreiten dieses Labor-Ergebnis, ohne es zu hinterfragen. Selbst der sonst so sachliche Wirtschaftswissenschaftler Max Otte über-nimmt das fragwürdige Ergebnis als sei das eine auf reale Entscheidungs-prozesse zutreffende Tatsache: »Je mehr und je widersprüchlicher Infor-mationen auf uns einprasseln, je mehr diese Informationen emotional verpackt und als Event inszeniert sind, desto eher schaltet unser Hirn von ›Homo oeconomicus‹ in den Modus eines Reptils.« (2010a: 200)

So sorglos und blind vertrauend gehen ansonsten kompetente Wirt-schafts-Fachleute mit fragwürdigen und maßlos überinterpretierten neuro physiologischen Labor-Experimenten um.

Kurz: Alles erscheint im Wirtschaftsleben als ganz elementarer Trieb. Das gibt der Wirtschaft – vor allem deren Krisen – das Image eines unabän-derlichen Naturphänomens. Und das Vorurteil, dass Menschen instinkt-gesteuert wie die Tiere agieren, nährt die Wunschvorstellung, dass man ihnen, wie den Tieren, mühelos Joche und Leinen anlegen und sie lenken könne. – Was für ein Menschenbild!

Die Wirtschaft ist aber kein Naturphänomen, und Menschen haben nun doch ein wenig mehr Verstand als Tiere (die eigene hochintelligente Hauskatze natürlich ausgenommen).

KAPITEL 2 Herdenverhalten, Klima und ›Massenpsychologie‹:

das angeblich völlig irrationale Gesellschaftliche

Herden, Horden, Lemminge

Wirtschaftliches erscheint nicht nur durch irrationales Psychisches bewegt, sondern auch durch irrationales Gesellschaftliches. Zum Beispiel durch ›Herdenverhalten‹, ›Herdeninstinkt‹, ›Hordenverhalten‹ etc. In den Behavioral Economics glaubt man tatsächlich noch ernsthaft daran, dass der Mensch ein Herdentier sei. ›Wie die Lemminge‹ folgen angeblich die

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Marktteilnehmer dem gerade empfundenen, gefühlten Trend. Sie stecken sich gegenseitig an, imitieren einander – und schon ist die Herde kom-plett. (Kritik am ›Herding-Modell‹ der Behvioral Economics: s. Kraemer 2012: 31 ff.)

Aber selbst hinter dem, was ›Herdenverhalten‹ genannt wird, können sich rationale Überlegungen Einzelner verbergen.

Beispiel: Wenn ein Unternehmen dem Trend folgt, mehr Fremdkapital aufzunehmen als es sich leisten kann, kann das auch auf rationalen Über-legungen beruhen: Würde sich das Unternehmen nicht so wie alle ande-ren verschulden, könnte das in der Öffentlichkeit des Markts als unzurei-chende Innovationskraft und mangelnder unternehmerischer Wagemut gedeutet werden – und der Aktienwert des Unternehmens würde sinken. Also verschuldet man sich.

Aber das ist kein ›Herdenverhalten‹, sondern das ist eine Folge der leichtfertigen Kreditvergabe durch die Investmentbanken und auch früher einmal seriös gewesener Geschäftsbanken, die, um Zinsen und Gebühren abzocken zu können, auf seriöse Bonitätsprüfungen verzichten. Letztlich ist das eine Folge vernachlässigter Regulierung durch die Aufsichtsbehör-den.

Außerdem können Einschätzungen von Trends – ob das bloß gefühlte oder (was häufiger der Fall ist) durch Statistiken untermauerte sind – auch zu Fehleinschätzungen führen. Konzernmanager machen Fehler, Bankma-nager machen Fehler. Man sagt dann gern, das ›der Markt sich irrt‹. Aber muss man dann gleich von ›Lemmingen‹ und ›Herdenverhalten‹ sprechen?

Beispiel für eine Fehleinschätzung: 2001 fusionierte Time Warner, der große Medienkonzernen, mit AOL, einem kleinen Computer-Unterneh-men und nannte sich AOL-Time Warner. Time Warner wollte das Know how von AOL, weil der Konzern in die ›Neuen Informations- und Kom-munikationstechnologien‹ einsteigen wollte. Damals statteten die Ban-ken das kleine Unternehmen mit gigantisch viel Kapital aus. Das war eine Fehleinschätzung, die Manager und die Banken überschätzten die Rolle der neuen Medien und entsprechend auch deren Nutzen für den größeren Medienkonzern.

Aber das war kein Herdenverhalten. Sicher, es gab um 2000 einen Hype, eine Computertechnologie-Spekulationsblase (›Dotcom-Blase‹). Aber die Akteure bei solchen Blasen sind keine Rinderherde. Sie handeln aufgrund pragmatischer und vor allem kurzfristiger Überlegungen: Bei solchen Fusi-

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onen erhalten die Manager aufgrund der Steigerung des Aktien werts fette Bonuszahlungen, und die Banken erhalten fette Gebühren. Die Akteure werden nicht von Herdentrieb und Ansteckung getrieben, sondern von Desinteresse gegenüber langfristigen Entwicklungen: Warum sollten die Manager und die Banken sich um sorgfältige langfristige Voraussagen über die Zukunft der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bemühen, wenn sie kurzfristig Bonuszahlungen und Gebühren kassieren können?

Die Gerüchteküche

Dazu kommt eine weitere angeblich irrationale gesellschaftliche Instanz: die ›Gerüchteküche‹. Auf Gerüchte reagiert die Börse – zweifel-los – empfindlich und die Medien, die Wirtschafts- und Finanzpresse sind für Gerüchte hellhörig. Schon wenn das Gerücht entsteht, dass ein Unter-nehmen insolvent werden könnte und von der Regierung nicht gestützt wird, kann dessen Kurs abstürzen.

›Gerüchte können Märkte bewegen‹, sagt man. Aber auch das ist nichts rein Subjektives. Die Investmentbanker selbst, die Trader, können Gerüchte in die Welt setzen, und kaum in die Welt gesetzt, verändern sie, als Self-fulfilling prophecy, die Realität. PR-Agenturen arbeiten daran, Gerüchte mittels Propaganda (›Public Relations‹, PR) zu lancieren.

Oder: Wenn, wie 2011 geschehen, eine amerikanische Rating-Agentur ›aus Versehen‹ den französischen Staat herabstuft, das dann aber wider-ruft, kann das reale Schlamperei sein. Das kann aber auch ein Verbreiten eines Gerüchts sein, das im Interesse der Wall Street dazu dient, die durch die Griechenland-Krise geschwächten Euro-Staaten zu diskriminieren.

Gerüchte können aber auch auf realistischen Einschätzungen beru-hen: Wenn immer mehr Anleger auf den Absturz eines Unternehmens (oder eines verschuldeten Staates) wetten, verbreitet sich das zunächst als Gerücht, aber es kann ja auch sein, dass das Gerücht aufgrund von Fakten entstand.

Meinungsklima, ›Massenpsychologie‹

Das eigentlich Gesellschaftliche aber scheint etwas sehr Seltsames, schwer Voraussagbares zu sein: Wirtschaftswissenschaftler sehen Gesell-schaftliches ständigen ›Klimaschwankungen‹ unterworfen: ›Investitions-klima‹, ›Börsenklima‹, ›Konsumklima‹. Die alte Metapher von Indices als

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›Börsenbarometer‹ stützt diese Auffassung von der Wetterwendigkeit ›des Markts‹. (Über den Gebrauch von Metaphern an der Börse: s. Reichert 2009)

Ja, es gibt so etwas wie ein ›Klima‹. Bei günstigem Börsenklima können Kapitalwünsche von Konzernen, die Anleihen auflegen, als Kriterium für die Stärke des Konzerns angesehen werden, bei ungünstigem Börsenklima als Indikator für dessen Schwäche. – Aber hinter der Entstehung eines ›Klimas‹ sollte man Interessen derer vermuten, die sich darum bemühen, ein ›Klima‹ zu verbreiten oder zu verstärken.

Dazu kommt die Vorstellung vom (angeblichen) ›massenpsycholo-gischen Verhalten‹ der Marktteilnehmer. Der Begriff ist schief, denn gemeint ist nicht, dass die Marktteilnehmer Psychologen sind, sondern dass sie ›irrationales Massenverhalten‹ zeigen: Die Käufer auf den Finanz-märkten lassen ihre Stimmungen, Vermutungen, Hoffnungen, Befürch-tungen in ihre Kaufentscheidungen einfließen, und sie tun das (angeblich), weil sie ›Massen‹ sind. Hier beruft man sich auf die unseriöse ›Massenpsy-chologie‹ des rechtsradikalen Publizisten Gustave Le Bon aus den 1890er Jahren. (s. Kapitel 4.2)

Klar, Kaufentscheidungen auf den Finanzmärkten werden nicht immer rational getroffen, das ist nicht zu bezweifeln. Es herrschen oft Meinungen vor. Aber muss man das ›massenpsychologisches Verhalten‹ nennen? Sind die Menschen, nur weil sie Vorurteile (oder nicht genug Informationen) haben, deshalb schon eine ›irrationale Masse‹? Wenn in einer Krise die Laien oder unintelligente Wirtschaftsfachleute von ›Massenhysterie‹ oder ›Verlust an Zuversicht‹ reden, sind es, sieht man genauer hin, in Realität oft knallharte Handlungen, die da stattfinden.

Beispiel: Wenn Hedgefonds ihr Geld von Investmentbanken abziehen, tun sie das nicht aus ›massenpsychologischer‹ Hysterie, sondern aufgrund der miesen Aktienkurse der Banken oder aufgrund von Insider-Informa-tionen darüber, dass die Banken auf Ramschpapieren sitzen und ihre Bilanzen fälschen.

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KAPITEL 3Das Verhältnis von Irrationalität und Rationalität

beim Aufklärer Thomas Hobbes (1651)

Ich möchte untersuchen, ›wie die Wirtschaft funktioniert‹, die heutige Wirtschaft. Das bedeutet, dass ich so viel wie möglich ›in der Empirie wühlen‹, also recherchieren werde. Da aber gerade in der Wirtschafts-wissenschaft Vieles nichts als Meinungsäußerung ist, möchte ich, dass wir auch grundlegende Theorien zur Kenntnis nehmen. Allerdings macht es keinen Sinn, wenn ich uns jetzt zumuten würde, uns mit den vielen wirtschaftswissenschaftlichen ›Ansätzen‹ – Behavioral Finance, Institu-tional Economics, Portfoliotheorie etc. – herumzuschlagen. Ich gehe lie-ber zurück auf die sozialphilosophischen Prämissen, und deshalb werde ich immer wieder Kapitel über ›Sozialphilosophische Grundlagen‹ ein-fügen.

Wenn man den Marktteilnehmern irrationale Motive oder ›Präferen-zen‹ unterstellt, steht dahinter ein kommerzielles Interesse: Irrationale Motive könne man klassifizieren und manipulieren. So wird das zum Bei-spiel den werbungbetreibenden Unternehmen von den Medienkonzer-nen, von der kommerziellen Marktforschung und der Werbewirtschaft suggeriert: Ein wenig die Gefühle ansprechende Werbung – und schon kaufen die Leute das beworbene Produkt. Zum Beispiel stellt die bekannte AIDA-Formel die Stufen der Werbewirkung so dar: 

Attention: Anzeigen in einer Illustrierte machen auf ein Produkt auf-merksam. (Tun sie das wirklich?)

Interest: Man interessiert sich für das Produkt. (Tut man das wirklich bloß aufgrund einer Anzeige? Hat man die Anzeige nicht überblättert?)

Desire: Man entwickelt den Wunsch, das Produkt zu haben. (Nur auf-grund einer überblätterten Anzeige?) Und dann – Peng! –

Action: Man kauft das Produkt. (Tut man das?)Solange das auch die Konzerne glauben, die den Medien und der Wer-

bewirtschaft die Millionen geben, ist die Welt in Ordnung. (s. Teil III)

Das war nicht immer so. Mitte des 17. Jahrhunderts, als die Bürger, in England, gegen den Adel revoltierten, sprach man nicht von Motiven und Präferenzen, sondern von ›Leidenschaften‹, und die Auseinanderset-zung mit ihnen hatte mehr Ernsthaftigkeit und Tiefe, und deshalb bringe ich das hier. Die damaligen philosophischen Debatten über das Verhältnis

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von Leidenschaften und Verstand beeinflussen bis heute das Denken über wirtschaftliches Handeln. Denn:

Die Vorstellung von einem irrationalen ›Meinungsklima‹ war bereits im 17. Jahrhundert eine Idee der reaktionären Gegenaufklärung. (s. Kapitel 4.1) Sie war gegen die Aufklärung gerichtet, wie sie bei Thomas Hobbes begann.

Und die ›Massenpsychologie‹ wendete Ende des 19. Jahrhunderts den Wunsch der Aufklärer, die Leidenschaften zu zivilisieren, in einen stock-reaktionären Manipulationswillen. (s. Kapitel 4.2)

Zunächst aber zu Thomas Hobbes, der sich Gedanken über die ratio-nale Zivilisierung der ›Leidenschaften‹ machte.

›Leidenschaften des Pöbels‹ und deren Zivilisierung durch den Staat

Mitte des 17. Jahrhunderts, als in England Bürgerkrieg und Revolution herrschten (1642–1649), bei deren Ende König Charles I (rg. 1625–1649) hin-gerichtet und die Republik etabliert wurde, glaubten Viele, das damit ver-bundene Chaos der Leidenschaften könne nur ein neuer König beenden. Das behauptete auch Thomas Hobbes (1588–1679, Staatstheoretiker und Philosoph). Er war der Vordenker der Feudalherren und Verteidiger des hingerichteten Königs – aber zugleich war Hobbes, so widersprüchlich das zunächst scheint, auch ein Philosoph der Aufklärung.

In der Revolution hatten die Bürger (Grundbesitzer, Handelskapitalis-ten) die Bevölkerung mobilisiert, instrumentalisiert. Als sie, die Bürger, jedoch an der Macht waren, fürchteten sie sich vor deren ›Leidenschaf-ten‹. Sie verachteten die Bevölkerung als ›Pöbel‹.

Hobbes eröffnete eine Debatte darüber, wie man die Leidenschaften und die Vernunft einzuschätzen hat, eine Debatte über die Chancen einer zivilisierten politischen Öffentlichkeit. In Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Gemeinwesens (1651) legte Hobbes die erste Theorie der Zivilisation vor. Er sagte: In der Natur herrscht das Gesetz der Selbsterhaltung, und auch die Menschen sind der unend lichen, unstillbaren Leidenschaft beherrscht, sich Macht über die Natur und andere Menschen zu verschaffen. Den Leidenschaften freien Lauf zu las-sen, wäre unzweckmäßig, denn der Naturzustand ist ein Krieg aller gegen alle: Homo homini lupus, jeder Mensch verhält sich gegenüber jedem anderen Menschen wie ein Wolf.

Ein Teil der Leidenschaften ist jedoch beherrschbar: Das Verlangen

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nach Dingen, die das Leben angenehm machen (›commodities‹) und die Hoffnung, sie durch Fleiß zu erlangen, führen dazu, dass Menschen auf dieser Basis Bündnisse eingehen.

Nicht bündnisfähig sind die tiefer gehenden Leidenschaften: Hab-sucht, Habgier, Ehrgeiz, Hass, Sinnenlust.

Das sieht man heute anders: Seit Adam Smith – 1776 – sieht man auch die Habgier als bündnisfähig an. (s. Kapitel 7.2) Und spätestens seit der Einführung der Antibabypille – 1961 – hält man auch die ›Sinnenlust‹ für bündnisfähig.

Und Hobbes sagte auch:  Staatsgründung ist Zivilisationsgründung, denn der Staat ist ein künstliches Produkt.

Vor Hobbes, um 1620, hatte Francis Bacon (erster Philosoph der Auf-klärung; Lordkanzler des Königs James I) sich vorgestellt, man könne die scheinbar unzähmbaren menschlichen Affekte zivilisieren, indem man – wie in einem naturwissenschaftlichen Experiment – die einen gegen die anderen ausspielt.

Hobbes erschien das im Chaos des Bürgerkriegs nicht realistisch, er meinte, nur durch die Gewalt eines Herrschers könnten die Leidenschaf-ten aller kontrolliert werden. Deshalb bedürfe es der absoluten Monar-chie. Hobbes war gegen eine Aufteilung der Macht. Parlamente hielt er für zu unbeständig, zu unkalkulierbar, zu launisch, zu streitsüchtig, Volksver-sammlungen für »Geschwüre, die durch den unnatürlichen Zusammen-fluss übler Säfte erzeugt werden«. Den wechselnden Wünschen der unein-sichtigen Menge dürfe man sich nicht fügen. Wichtiger als Demokratie sei die Erhaltung von Frieden und Sicherheit. Deshalb sei es das Recht jedes souveränen Herrschers, Meinungen, die dem Frieden abträglich sind, zu zensieren. Und deshalb braucht man die Zensur über das gedruckte Wort: »Denn die Handlungen der Menschen prägen ihre Meinungen, und eine gute Lenkung der menschlichen Handlungen, die Frieden und Eintracht unter ihnen bewirken soll, besteht in einer guten Lenkung ihrer Meinun-gen.« (Hobbes 1651: 139 f.)

So stock-konservativ das war – mit Hobbes wurde zugleich ein Schritt in Richtung Aufklärung getan.

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Ein Schritt in Richtung Aufklärung

In der Theorie von Hobbes regiert der König nicht mehr von Gottes, sondern von Volkes Gnaden: Das Volk übertrage ihm seine Macht, weil das eine praktische Notwendigkeit sei. Die Menschen seien zwar von Lei-denschaften beherrscht, aber sie seien aus Eigeninteresse vernünftig genug, um einen realistischen Ausweg aus der Anarchie des Naturzustands zu suchen. – Das war eine fundamentale Änderung im Denken.

Außerdem stellte Hobbes den absolutistischen Herrscher über die Reli-gion. Jene definierte er als »Furcht vor einer unsichtbaren Gewalt, die vom Geist erdichtet oder auf Grund öffentlich zugelassener Erzählungen eingebildet ist.« (A.a.O.: 44). Religion sei Teil der privaten Gesinnung der Untertanen. Private Urteile seien immer erlaubt, ob Glaube oder vernünf-tiges Urteil. Sie seien bloße Meinung und damit folgenlos. Weil aber die Gefahr bestehe, dass die Kirche mit übernatürlichen Dingen die Vernunft der Bürger verwirrt und damit das Volk aufwühlt oder durch Unterdrü-ckung niederhält oder es in den Bürgerkrieg treibt, müsse sie dem Staat untergeordnet werden. (A.a.O.: 250 f.)

Außerdem war Hobbes der erste konsequente Materialist. Er hatte eine freundschaftliche Verbindung zu Galilei, den er 1636 nach dessen Äch-tung in Florenz besuchte. Jener hatte die Bewegung der Materie unter-sucht. Hobbes führte alle Phänomene auf die Bewegung von Stoffpartikeln zurück. Auch das Bewusstsein entstehe durch Bewegung winziger Stoff-partikel im Gehirn: »[...] es gibt keine Vorstellung im menschlichen Ver-stand, die nicht zuerst ganz oder teilweise in den Sinnesorganen erzeugt worden war.« (A.a.O.: 11). Der Ablauf des Denkens sei nicht vom ›freien Willen‹ bestimmt, sondern von den mechanischen Gesetzen, die die Asso-ziationen der Ideen bestimmen. Was man ›Wille‹ nennt, sei nur das, was bei einer Entscheidung zwischen Neigung und Abneigung herauskommt. Er gehe aus Notwendigkeit hervor, »da jeder menschliche Willensakt, jedes Verlangen und jede Neigung einer Ursache entspringt und diese einer anderen Ursache in einer fortgesetzten Kette, deren erstes Glied in der Hand Gottes als der ersten aller Ursachen liegt.« (A.a.O.: 164). Die Welt sei eine Maschine und der Mensch auch.

Als Leviathan erschien, 1651, war es zwei Jahre her, dass König Charles I hingerichtet worden war. Hobbes wurde als Royalist und zugleich als Atheist angegriffen, konnte sich aber vor dem Scheiterhaufen bewahren.

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Hobbes sagte also: Als Leidenschaften sind Gefühle zum Teil zivili-sierbar, zum Teil nicht. Und der Verstand ist dazu fähig, ein Bündnis mit einer herrschenden Instanz einzugehen, die ›Ordnung‹ schafft – zwar keine demokratische, aber doch eine von Volkes, nicht von Gottes Gna-den. Gefühle und Verstand gingen also beim Aufklärer Hobbes noch eine komplizierte Beziehung ein.

KAPITEL 4 Sozialphilosophische Grundlagen

irrationalistischen Denkens

Jetzt komme ich zu denen, die das Verstandesmoment der ›gesell-schaftlichen Ordnung‹ leugneten und die Gefühle der Bevölkerung ver-absolutierten, zu den Grundlagen irrationalistischen Denkens: Joseph Glanvill und Gustave Le Bon. Beide haben bis heute das Denken über wirt-schaftliches Handeln beeinflusst.

KAPITEL 4.1Erfinder des ›Meinungsklimas‹:

der reaktionäre Hofkaplan Joseph Glanvill (1661)

Ein stockreaktionärer Mythos: das ›Meinungsklima‹

Von Hobbes wurde – materialistisch und atheistisch – angenommen, dass die Welt und der Mensch eine Maschine seien. Was den Atheismus betrifft: Ganz auf Gott verzichten konnten die Philosophen der Aufklä-rung nicht, schließlich stand hinter Gott die Macht der Scheiterhaufen, und so stellte man sich vor, dass er der Erfinder der Maschine sei, das auslösende Prinzip, das alles in Gang gesetzt hat (und dann nicht mehr eingreift). Für diese zeitbedingte Form des Atheismus kam in den 1670er Jahren in England der Begriff ›Deismus‹ auf.

Hobbes und die Deisten wurden von kirchlicher Seite angegriffen. Theoretiker der Gegenaufklärung wie Charles Leslie, Samuel Clarke und Henry More versuchten zu beweisen, dass es die in der Bibel dargestellten Wunder (also göttliche Eingriffe) wirklich gegeben habe – ›viele Augen-zeugen waren dabei‹ – ; dass es eine Seele gebe, ja, eine Weltseele; und dass auch Teufel und Gespenster ganz real seien.

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Dieser Gegenaufklärung verdankt die heutige Wirtschaftswissenschaft – und die Meinungsforschung – ein Gespenst besonderer Art: das ›Mei-nungsklima‹. Es wurde in der Phase der Restauration – der Regierungs-zeit des englischen Königs Charles II (rg. 1660–1685) – von Joseph Glanvill (1636–1680) erfunden, dem Hofkaplan von Charles II.

In seinem Buch Der Wahn dogmatischen Wissens (1661) griff Glanvill – beeinflusst von Henry More – das neue naturwissenschaftliche (materia-listische) Denken als ›dogmatisch‹ an. Die Sinne – auf die sich Hobbes, der Materialist, berief – seien trügerisch, und die Überlegungen der Menschen seien oft durch ihre geistige Umgebung, durch das ›geistige Klima‹ gelei-tet: »Meinungen haben ihr Klima und sind national verschieden. [...] Die, welche nie über den gewohnten Glauben hinausgeblickt haben, in dem ihr bequemer Verstand zuerst unterrichtet wurde, sind fraglos überzeugt von der Wahrheit und vergleichsweisen Vortrefflichkeit des Übernommenen. [...] Großzügigere Seelen, die in verschiedenen Meinungsklimaten gereist sind, sind vorsichtiger im Entscheiden und zurückhaltender im Befehlen.« (zit. nach Durant [1935] 1981, Bd. 13: 109).

So richtig es ist, dass man sich oft weniger auf die eigenen Sinne, son-dern auf die Meinungen anderer verlässt; so richtig es ist, dass Menschen in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Wertvorstellungen und Identitäten (›Mentalitäten‹) haben – so einseitig und konservativ war es, die irrationalen Aspekte menschlichen Handelns zu verabsolutieren.

Wiederbelebung des Gespensts im 20. Jahrhundert

In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts stellte die bekennend kon-servative Elisabeth Noelle-Neumann (1916–2010, Publizistikwissen-schaftlerin, Chefin des Instituts für Meinungsforschung in Allensbach) Glanvill als einen besonders sensiblen Menschen dar, sensibel für »schwankende Verhältnisse« wie sie auch heute bestünden. Wegen der schwankenden Verhältnisse bedürfe es des Begriffs des ›Meinungs-klimas‹, denn, so Noelle-Neumann: »Klima, das umschließt den einzel-nen ganz außen, man kann ihm nicht entrinnen; und es ist aber doch zugleich innen, von stärkstem Einfluß auf das Wohlbefinden.« (1980: 109. Zu Noelle-Neumanns konservativem Bekenntnis: s. Noelle-Neumann 1990: 230)

Übrigens glaubte der Hofkaplan nicht nur an das Meinungsklima, son-dern auch an Teufel und Hexen, denn wenn es eine geistige Welt gibt,

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muss es im Weltall auch Geister geben, und da die Welt nicht die Beste sei, müsse es sich um Dämonen handeln.

Also: Das Modell vom ›Meinungsklima‹ des sensiblen Glanvill war ein Instrument der Gegenaufklärung, gegen den Verstand gerichtet. – Bei Noelle-Neumann stand davon nichts.

Wir sehen hier schon: Wenn heute in den Wirtschaftsteilen der Zei-tungen Klima-Indices veröffentlicht werden (›Geschäftsklima‹, ›Konsum-klima‹), ist das nicht so unproblematisch wie es scheint. Das ist demonst-rativ dagegen gerichtet, dass es beim wirtschaftlichen Handeln rationaler zugeht als man glauben machen möchte.

Wer möchte das glauben machen? Plakative Antwort: Zum Beispiel die Medienkonzerne, die von Wer-

beaufträgen abhängig sind; und die Werbewirtschaft, die mit der These, Konsumenten handelten irrational, den werbungbetreibenden Konzernen die Millionen aus der Tasche zieht. (Ausführlich: s. Teil III)

KAPITEL 4.2 Erfinder der unseriösen ›Massenpsychologie‹:

der rechtsradikale Publizist Gustave Le Bon (1895)

Da ich hier die Irrationalisten behandele, muss ich jetzt einen großen Zeitsprung machen:

Nach Hobbes und Glanvill kam in England die Glorious Revolution (1688–1689) und damit John Locke, was ich weiter unten, bei den ›Ratio-nalisten‹ behandeln werde. (s. Kapitel 7.1.) Es kam im 18. Jahrhunderts die amerikanische Revolution (1776–1783) und die französische (1789–1795), ganz abgesehen von der industriellen Revolution (1770–1820 in Großbri-tannien), in der ein Proletariat entstand. Dazu kamen in Frankreich die Revolutionen von 1830 und 1848. Auch die Bürger, die in diesen Revolu-tionen siegten, fürchteten und verachteten die ›Massen‹, die ihnen zum Sieg verholfen hatten. Es entstand aber auch – vor allem nach der Pariser Commune 1871 – der Wunsch, ›die Massen‹ zu beherrschen, sie zu mani-pulieren.

Das war dann, Ende des 19. Jahrhunderts, die Chance für die ›Massen-psychologie‹ des Sachbuch-Schriftstellers Gustave Le Bon (1841–1931).

Mit Le Bons Buch Psychologie der Massen (1895) begann ein neues Zeit-alter der Verachtung ›der Massen‹: Le Bon erfand den Mythos vom ›kol-

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lektiven Unbewussten‹, das angeblich durch raffinierte Suggestion beein-flussbar sei.

Zwar diffamierte Le Bon ›die Massen‹ weiterhin – wie damals üblich – als dumm und wild. Das waren Gedanken der Zeit, das war nicht beson-ders neu. Neu war bei Le Bon jedoch, dass er die ›Massen‹ zugleich als beherrschbar, als in ihrer Dummheit und Irrationalität manipulierbar ansah. Damit eröffnete sich eine neue, angeblich ›wissenschaftliche‹ Per-spektive für Propaganda und Werbung.

Unverschämtheiten I: ›Frauenpsychologie‹ und ›der zu kleine Schädel der Frauen‹

Zunächst befasste Le Bon sich mit Physiologie. Das bedeutete damals vor allem Phrenologie, Schädelmessung: Man vermaß, entsprechend der Lehre des Arztes Franz Gall, die Schädel unterschiedlicher Menschen und zog daraus Rückschlüsse auf den Charakter und auch auf ›Rassencharak-ter‹, ›Volkscharakter‹ – und ›Geschlechtscharakter‹. Dabei kam Le Bon zu dem Ergebnis, dass die niedere gesellschaftliche Position der Frauen der kleineren Form des weiblichen Schädels entspreche. Frauen gehören, schrieb Le Bon, einer primitiveren Stufe der biologischen Evolution an. Deshalb sei eine rechtliche Gleichstellung und höhere Schulbildung der Frauen rein physisch nicht gerechtfertigt, sie bringe nur die mütterlichen Instinkte durcheinander und mache aus den Frauen Feindinnen der Män-ner und der gesellschaftlichen Ordnung.

Diesen Frechheiten gab er die Bezeichnung Psychologie der Frauen (Le Bon 1890). Niemand kommt heute auf die Idee, sich auf die ›Frauenpsychologie‹ Le Bons als Wissenschaft zu beziehen – aber dessen ebenso skandalös unseriöse ›Massenpsychologie‹ wird heute noch ernst genommen (z. B. von Moscovici 1986; Sloterdijk 2000).

Randbemerkung: Ich verwende stark emotionale Begriffe: ›Unver-schämtheiten‹, ›Frechheiten‹, ›skandalös‹. Aber eine sachlichere Sprache ist hier nicht möglich. Ich kann nicht von einer ›empirisch nicht ausge-wiesenen Theorie‹ Le Bons sprechen. Unverschämtheiten kann man nicht ›Theorie‹ nennen, das würde die Realität verfälschen. Eine Theorie läge nur dann vor, wenn Gründe debattiert würden, auch solche, die gegen die Theorie sprechen. Das ist bei Le Bon nicht der Fall. Und die Formulierung ›empirisch nicht ausgewiesen‹ träfe nicht die ungenierte Art, mit der Le Bon seine Vorurteile äußert. Sie ist frech und unverschämt.

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