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Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft

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Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft

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Schriften der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE)

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Hans Döbert Hans-Wemer Fuchs Horst Weishaupt (Hrsg.)

Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft Eine Forschungsbilanz

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2002

Page 4: Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft: Eine Forschungsbilanz

Gedruckt auf säurefreiem und alterungs beständigem Papier.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

ISBN 978-3-8100-3457-1 ISBN 978-3-663-11654-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-11654-7

© 2002 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 2002

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung au­ßerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages un­zulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikrover­filmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Vorwort

Die in dem vorliegenden Band enthaltenen Beiträge entstanden im Zusam­menhang mit dem Symposium "Transformation der ostdeutschen Bildungs­landschaft - eine Forschungsbilanz" sowie der thematisch ähnlichen Arbeits­gemeinschaft "Schulentwicldung in den neuen Ländern". Beide fanden im Rahmen des 17. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswis­senschaft zum Thema "Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften" im September 2000 in Göttingen statt.

Es liegt in der Natur des Entstehungshintergrundes dieses Bandes, dass der Titel keine auch nur annähernd vollständige Erfassung der Veränderungen impliziert, die das Bildungssystem der DDR seit der »Wende« des Herbstes 1989 durchlief. Gleichwohl konnten über die Beleuchtung ausgewählter Fel­der des ostdeutschen Bildungs- und Wissenschaftssystems Forschungsergeb­nisse der vergangenen Jahre zusammengeführt und punktuell eine Bilanz der Transformationsforschung zum ostdeutschen Bildungssystem zehn Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilgesellschaften gezogen werden. Zugleich wird in den Beiträgen deutlich, dass mit einem differenzierten for­schungsmethodischen Instrumentarium - gewählt wurden eine historische, eine empirische, eine systematische und eine komparatistisch-internationale Perspektive - auf ganz unterschiedlichen Ebenen Kenntnisse über den Umbau des Bildungs- und Wissenschaftssystems einer Teilgesellschaft in einer spezi­fischen politisch-gesellschaftlichen Konstellation gewonnen werden können.

Die Herausgeber, zugleich Organisatoren des Symposiums bzw. der AG, danken dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissen­schaft, der der Aufnahme des Bandes in die Reihe der DGtE zugestimmt und damit die Publikation in der vorliegenden Form ermöglicht hat. Dank gilt auch Frau Sylvia Draack, Universität der Bundeswehr Hamburg, für ihre Hilfe und Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage.

Berlin, Hamburg, Erfurt, im Januar 2002

Hans Döbert Hans-W erner Fuchs Horst Weishaupt

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort .................................................................................................. 5

Verzeichnis der Abkürzungen ............ .................... ........................ ........ 9

Hans-Werner Fuchs Bildungssystemtransformation in Ostdeutschland. Zur Einführung in den Band .............. ............ ...... ........ ............ ............... 11

Gabriele Köhler "Vergangene Zukunft". Bildungspolitische Entwicklungen 1989/90 in der DDR ........................ 17

Lutz R. Reuter Das Hochschulwesen der DDR vor und während der friedlichen Revolution ............................................................................ 27

Hans Döbert Schule in Ostdeutsch land zwischen zwei Transformationsprozessen ..... 37

Horst Weishaupt Demographie und Schulentwicklung in den neuen Ländern .... .............. 51

Axel Gehrmann Gewandelte Lehrerrolle in Ost und West? Erste Ergebnisse aus vier Befragungen (1994 - 1996 - 1998 - 1999) ................................................................. 63

Hans- Werner Fuchs Transformation der ostdeutschen Bildungslandschaft -eine modernisierungstheoretische Perspektive ....................................... 85

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Melanie Fabel Transformation als "doppelter Modernisierungsprozess". Eine erweiterte Perspektive für die erziehungswissenschaftliche Transformationsforschung ..................................................... 99

Johann Steyn Building a Culture ofDemocratic Education in Young Democracies: The Interrelation between South Africa and East Gerrnany ............ ... 117

Gerlind Schmidt Das Bildungswesen Russlands ein Jahrzehnt nach dem Umbruch­Die ethnisch-nationale Bildung und Erziehung und die »Bildungstransformation« ......................................................... 131

Autorinnen und Autoren ......................................................................... 151

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Verzeichnis der Abkürzungen

Abb.

AdW

ALLBUS

Art.

BAföG

BLK

BMBF

BMBW

BRD

CSSR

DAAD

DDR

DFG

DHV

Drs.

ed(s)

PDJ

FRG

FuE

GDR

GEW

GG

GUS

Abbildung

Akademie der Wissenschaften der DDR

Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften

Artikel

B undesausbildungsförderungsgesetz

Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung

Bundesministerium für Bildung und Forschung

Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft

Bundesrepublik Deutschland

Ceskoslovenska Socialistica Republika

Deutscher Akademischer Austauschdienst

Deutsche Demokratische Republik

Deutsche Forschungs gemeinschaft

Deutscher Hochschulverband

Drucksache

editor(s)

Freie Deutsche Jugend

Federal Republic of Germany

Forschung und Entwicklung

German Democratic Republic

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

Grundgesetz

Gemeinschaft unabhängiger Staaten

GVBl.IGVOBl. Gesetz- und Verordnungsblatt

9

Page 9: Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft: Eine Forschungsbilanz

Hrsg.

KMK

KSPW

LSA

M

MfS

Mio.

M-V

NGO

NVA

RGW

SBZ

SED

Tab.

TIMSS

u.a.

UdSSR

UNESCO

VO

WR

WRK

WZB

ZK

10

Herausgeber

Kultusministerkonferenz

Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V.

Land Sachsen-Anhalt

Mark der DDR

Ministerium für Staatssicherheit

Million(en)

Mecklenburg-Vorpommern

Non-Governmental Organization

Nationale Volksarmee

Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe

Sowjetische Besatzungszone

Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

Tabelle

Third International Mathematics and Science Study

und andere I unter anderem

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

United Nations Education, Science and Culture Oganization

Verordnung

Wissenschaftsrat

Westdeutsche Rektorenkonferenz

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Zentralkomitee

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Hans-Wemer Fuchs

Bildungssystemtransformation in Ostdeutschland. Zur Einführung in den Band

Nicht nur in der politik- und sozialwissenschaftlichen, sondern auch in der erziehungswissenschaftlichen Forschung des zurückliegenden Jahrzehnts hat die Untersuchung der Veränderungsprozesse in der DDR der Jahre 1989/90 und in den ostdeutschen Ländern breiten Raum eingenommen (vgl. Gibas 2000, S. 11). Und so war auch der 17. Kongress der DGtE im September 2000 "Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften" gewidmet. Bil­dung und Erziehung in einer spezifischen Situation gesamtgesellschaftlicher Veränderung waren dort Gegenstände mehrerer Veranstaltungen, in denen Forschungsbefunde zur Transformation des Bildungs- und Wissenschaftssys­tems der DDR in den neuen Bundesländern präsentiert und diskutiert wurden. »Transformation« hat sich als Terminus zur übergreifenden Kennzeichnung der vielfältigen Übergangserscheinungen etabliert, die nicht nur die ostdeut­sche Teilgesellschaft, sondern zugleich auch die mittelost-· und osteuropäi­schem Staaten kennzeichnen, die heute vielfach allgemein als »Transformati­onsstaaten« bzw. »Transformationsgesellschaften« gekennzeichnet werden (vgl. Fuchs 1996, S. 8ff.; Schubarth 1998, S. 466ff.). Neben den genannten bestehen Staaten wie Südafrika mit spezifischen Transformationswegen und -problemen in Politik, Gesellschaft und Bildungswesen, die in komparatis­tisch angeleg~e Studien einbezogen werden. l

Der in einigen mittelosteuropäischen Staaten bereits um die Mitte der achtziger Jahre wahrnehmbare, in anderen, so auch in der DDR, erst 1989 einsetzende Prozess der Überwindung der herrschenden Regimes führte zu einer umfassenden Umwandlung der Sozialordnung in diesen Staaten, von der auch die Bildungssysteme nachhaltig betroffen waren. Ihnen im Besonderen gilt der Blick der Autorinnen und Autoren in den nachfolgenden Beiträgen. In der DDR lag eine besondere Situation insoweit vor, als mit der Bundesrepu­blik Deutschland eine »Referenzgesellschaft« existierte, deren strukturelle und institutionelle Verfasstheit die »Vorlage« für den Umbau des ostdeut­schen Bildungs- und Wissenschaftssystems bildete, das bereits vor dem 3. Oktober 1990 einer umfassenden Umgestaltung unterworfen war.

In neueren Publikationen wird der Beitrag, den die Transformationsfor­schung bisher zur Aufhellung der Umbauprozesse in der ostdeutschen Sozial-

V gl. den Beitrag von Steyn in diesem Band.

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struktur geleistet hat, differenziert und kritisch bewertet2; bisweilen wird sogar bezweifelt, dass Theorien sozialen Wandels, zu denen die transformati­onstheoretischen Zugänge zu zählen sind, angesichts der Vielfalt sozialer Entwicklungen und der Kontingenz ihres Zusammentreffens überhaupt geeig­net seien, gesellschaftliche Realität und gesellschaftlichen Wandel angemes­sen abzubilden. Allerdings wird auch von Kritikern die heuristische Nützlich­keit dieser Ansätze als Ergänzung historisch angelegter Beschreibungen ge­sellschaftlicher Wirklichkeit nicht in Abrede gestellt, sofern - dies gilt aller­dings für jegliche Theorie - die Reichweite ihrer Aussagekraft und die sonsti­gen Rahmenbedingungen ihrer Geltung im Blick bleiben (vgl. Schimank 1996,S. 17ff.).

In den Aufsätzen dieses Bandes werden beide Zugangswege zur Thema­tik beschritten: Zum einen werden wichtige Elemente des Prozesses der Bil­dungssystemtransformation (vor allem) in Ostdeutschland in ihrem Verlauf historisch-deskriptiv und vergleichend beleuchtet; zum anderen geht es dar­um, diese Prozesse im Lichte einer Theorie sozialen Wandels »unterer« bzw. »mittlerer« Reichweite (vgl. Schimank 1996, S. 17f.) einer vorsichtigen Ana­lyse zu unterziehen. Zunächst werden Ausgangsbedingungen der Transforma­tion und Veränderungen in der unmittelbaren »Wendephase« 1989/90 nach­gezeichnet. Gabriele Köhler geht in ihrem Beitrag auf die bildungspolitischen Entwicklungen in der DDR der Jahre 1989 und 1990 ein. Sie untersucht die Rolle der im HerbstlWinter 1989/90 an vielen Stellen etablierten »Runden Tische« unter der Frage, wie sich das sich in diesen Foren manifestierende basisdemokratische Engagement über die erste Transformationsphase hinaus zu behaupten vermochte. Wie sich zeigen lässt, fanden Elemente der dort geführten Bildungsreformdiskussion Eingang auch in die Schulreformgesetz­gebung der neuen Bundesländer und konnten so ihre Wirkung über den 3. Oktober 1990 hinaus entfalten. Des weiteren befaßt sich Köhler mit den Bera­tungen der »Gemeinsamen Bildungskommission« und deren Unterkommis­sion »Allgemeine schulische Bildung«, die von Mai bis September 1990 tag­ten und deren Aufgabe darin bestand, Vorschläge für die Zusammenführung der Bildungssysteme der noch bestehenden zwei deutschen Staaten zu unter­breiten. Sehr bald hätten sich, so Köhler, die Verhandlungsführenden auf DDR-Seite zum Hamburger Abkommen und weiteren Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz bekannt und damit die Weichen eindeutig in Rich­tung einer Angleichung des DDR-Bildungssystems an die westdeutschen Vorgaben gestellt. Gleichwohl sei auch die westdeutsche Seite zu Kompro­missen bereit gewesen, und so hätten sich zugleich einige der durch die Run­den Tische diskutierten Reformoptionen noch nach 1990 verwirklichen las­sen.

2 V gl. Reißig 2000, S. 26ff. sowie den Beitrag von Fabel in diesem Band mit wei­teren Nachweisen.

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Dem DDR-Hochschulwesen vor und während der »friedlichen Revolution« ist der Beitrag von Lutz R. Reuter gewidmet. Reuter skizziert zunächst das Hochschulwesen in seinen grundlegenden Elementen und geht dann auf die in Lehre und Forschung bestehende, dem Postulat der Parteilichkeit folgende Abhängigkeit von den Vorgaben der herrschenden Partei ein, die kaum Raum für Autonomie gelassen und die Hochschulen auf die Erbringung von Dienst­leistungen im Sinne des verbindlich gesetzten politisch-ideologisch Systems verpflichtet hätten. Obgleich die Hochschulen durch ein umfassendes System der politischen Erziehung der Studierenden geprägt waren, sei es ihnen nicht gelungen, die sich in den achtziger Jahren immer deutlicher manifestierenden Widersprüche zwischen der behaupteten Überlegenheit der eigenen Gesell­schaftsordnung gegenüber den kapitalistischen Systemen und der Lebenswirk­lichkeit im »real existierenden Sozialismus« aufzulösen. Dennoch seien in der unmittelbaren Wendephase des Herbstes 1989 von den Hochschulen und den in ihnen Lehrenden und Lernenden kaum Impulse zum Regimewechsel aus­gegangen. Im weiteren nimmt Reuter zu den hochschulbezogenen Reformfor­derungen und den Veränderungen in Hochschulen und Wissenschaft der DDR bzw. der neuen Länder in der Übergangsphase der Jahre 1990/91 Stellung. Dabei stellt er insbesondere die Rolle und Arbeit des Wissenschaftsrates als eines Beratungs- und Evaluierungsgremiums heraus, dessen Empfehlungen und Entscheidungen die Transformation der Hochschulen in Ostdeutschland maßgeblich beeinflussten.

Der Schule in Ostdeutschland »zwischen zwei Transformationsprozes­sen« ist der Beitrag Hans Döberts gewidmet. Döbert nimmt zunächst die Ausgangssituation und die Um- und Neugestaltung des Schulwesens der neu­en Länder in der ersten Hälfte der neunziger Jahre in den Blick. Ausführlich geht er auf die Folgen ein, die der starke Geburtenrückgang in Ostdeutschland für das Schulwesen zeitigt. Die mittlerweile bereits die Schulen der Sekundar­stufe erfassenden dramatisch gesunkenen Schülerzahlen beeinflussen nicht nur viele Einzelschulen, die mangels ausreichender Schülerzahlen von Schließung bedroht sind, sondern die Struktur des Schulwesens insgesamt. Der Schülerzahlenrückgang hat Folgen auch für die Gestaltung des Unter­richts selbst, dies insbesondere an Schulen mit ohnehin geringen Schülerzah­len, und nicht zuletzt für die Lehrkräfte, von denen ein erheblicher Teil von Arbeitszeit- und Einkommensreduzierungen oder unmittelbar von Entlassun­gen bedroht ist. Dieser von Döbert als »zweiter Transformationsprozess« gekennzeichnete Vorgang und seine Folgen werden am Beispiel des Landes Mecklenburg-Vorpommern dargestellt und in seinen unterschiedlichen Facet­ten beleuchtet.

Der Beitrag Döberts leitet über zu der explizit empirischen Perspektive, mit der sich Axel Gehrmann und Horst Weishaupt den demographischen Folgen des Transformationsprozesses für die Schulentwicklung und den Wandel der Lehrerrolle in den ostdeutschen Bundesländern zuwenden. Auch

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Weishaupt setzt sich mit den Folgen der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland für die Schulen auseinander. Der Fokus seiner Analyse ist auf die infrastrukturellen Konsequenzen rückläufiger Schülerzahlen, Probleme der Standortkonkurrenz in Räumen mit geringer Bevölkerungsdichte sowie die Perspektiven gerichtet, die der Schülerzahlenrückgang für die innere Schulentwicklung hat. Darüber hinaus betrachtet er Tendenzen der Abwande­rung Jugendlicher und junger Erwachsener aus den ohnehin vielfach dünn besiedelten Gebieten der ostdeutschen Flächenländer und die demographi­schen Folgen einer für Frauen als ungünstig bewerteten Hochschulpolitik in Ostdeutschland. Die Summe der negativen Erscheinungen könne zukünftig vor allem mit Blick auf den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern schwerwie­gende Folgen haben, die durch eine insgesamt kurzsichtige Schul- und Bil­dungspolitik noch verstärkt würden.

Axel Gehrmann präsentiert Befunde aus vier Befragungen, die in den Jahren 1994 bis 1999 mit Lehrkräften in Brandenburg und beiden Teilen Berlins durchgeführt wurden. Ziel war es, herauszufinden, inwieweit sich ost­und westdeutsche Lehrkräfte habituell unterscheiden, ob es unterschiedliche Einstellungen zu Schule und Unterricht gibt und wie eventuelle Unterschiede erklärbar sind. Im weiteren referiert er ausgewählte Ergebnisse der Befragun­gen, wobei als ein wesentliches Ergebnis bereits an dieser Stelle angedeutet sein kann, dass die bei ost- und westdeutschen Lehrkräften festgestellten beruflichen Orientierungen ein nennenswertes Maß an Übereinstimmungen aufwiesen und auch über mehrere im Untersuchungszeitraum durchgeführte Befragungen hinweg stabil blieben. Angesichts der in den bei den deutschen Staaten durchaus unterschiedlichen beruflichen Sozialisation der Lehrkräfte darf dies durchaus überraschen, wobei Gehrmann die These Klaus-Jürgen Tillmanns bestätigt sieht, der gemäß habitualisiertes Lehrerverhalten eine gewisse Resistenz auch gegen nachhaltige Versuche äußerer Einflussnahme aufweise.

Nicht nur der Begriff »Transformation« selbst, auch die mit ihm verbun­denen Bemühungen um eine theoriegestützte Interpretation des gesellschaftli­chen Wandels in Ostdeutschland entstammen der Soziologie; bei der Analyse des Umbruchs in Ostdeutschland kommen sie aber auch im erziehungswissen­schaftlichen Kontext zur Anwendung. Zwar kann die unter »Transformations­theorie« firmierende heterogene Vielfalt von Ansätzen und Theoremen kaum als geschlossenes Theoriegebäude bezeichnet werden; gleichwohl lassen sich mit Hilfe ausgewählter theoriegeleiteter Zugänge plausible Antworten auf die im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel in den neuen Ländern stehenden Fragen finden. Den Versuch einer solchen theoriegeleiteten Deu­tung der Bildungssystemtransformation in Ostdeutschland unternehmen der Verfasser und Melanie Fabel; beiden geht es um eine modernisierungstheore­tische Interpretation der Transformationsprozesse. In einem ersten systemati­schen Zugang (Fuchs) wird der Umbau von Bildung und Wissenschaft in der

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DDR und den neuen Ländern als nachholende bzw. komplementäre Moderni­sierung gedeutet, wobei »Modernisierung« für den Prozess der Umstrukturie­rung der Sozialstruktur bzw. ihrer Teile steht. Anhand ausgewählter Faktoren wie Inklusion, Differenzierung und anderer können, so die These, Verände­rungen im ostdeutschen Bildungs- und Wissenschaftssystem und ihre gesamt­gesellschaftlichen Implikationen als Modernisierungsprozesse sichtbar ge­macht werden. Modernisierung vollzieht sich von einer jeweils definierten Ausgangssituation, in diesem Falle der der DDR am Ende der achtziger Jahre. Nimmt man diese als Ausgangspunkt, so lassen sich im Prozess der Bildungs­systemtransformation in Ostdeutschland vielfältige Aspekte des Nachholens von Modernisierungsschritten gegenüber der westdeutschen Teilgesellschaft, zugleich aber auch regressive Tendenzen erkennen.

Fabel geht in ihrer Interpretation einen Schritt weiter, in dem sie die noch in der DDR einsetzenden sozialstrukturellen Veränderungen als »doppelte Modernisierung« kennzeichnet und so versucht, eine erweiterte Perspektive für die erziehungswissenschaftliche Transformationsforschung zu gewinnen. Die Transformationsprozesse als nachholende Modernisierung zu interpretie­ren sei zwar der gegenwärtig dominierende Ansatz, der aber, so Fabel, im verengten Blick auf eine Anpassung an die westdeutsche Sozialstruktur ge­fangen bleibe und mit dem sich insofern verschiedene Entwicklungstendenzen nicht angemessen interpretieren ließen. Sie schlägt statt dessen die Anlehnung an den von Ulrich Beck entwickelten Ansatz einer »reflexiven Moderne« vor, der eine Interpretation der vorgefundenen Prozesse als »doppelte Modernisie­rung« ermögliche, die eine den realen Gegebenheiten der ostdeutschen Teil­gesellschaft angemessenere Interpretationsfolie darstelle. Die Beiträge von Johann Steyn und Gerlind Schmidt repräsentieren den kom­paratistischen Blick auf das Thema. Hier wird der Umbau des ostdeutschen Bildungssystems exemplarisch an Übergangsproblemen in anderen Transfor­mationsstaaten, in diesem Fall an Südafrika und Russland gespiegelt. Steyn befasst sich mit dem Vergleich der Entwicklung des Bildungswesens in Süd­afrika und Ostdeutschland als Folge der politisch-gesellschaftlichen Verände­rungen. Er geht der Frage nach, ob und wie sich im Zuge des alle Lebensbe­reiche erfassenden Transformationsprozesses eine Kultur demokratischer Erziehung entwickelt hat. Dabei konstatiert er spezifische Entwicklungsprob­leme sowohl in Südafrika als auch in den neuen deutschen Ländern, die er beide als »junge« Demokratien bezeichnet. Steyn zeigt, dass eine neue Erzie­hungskultur, die er auch mit den Begriffen Qualität und (Chancen-)Gleichheit verbindet, nicht per Dekret implementiert werden kann, sondern Ergebnis eines langwierigen Prozesses praktischer Umsetzung ist. Insofern kann er beim Vergleich der Entwicklung in den beiden (Teil-)Staaten vielfältige Pa­rallelen ziehen.

Schmidt setzt sich mit den Bildungsreformbemühungen in der russischen Föderation im ersten Jahrzehnt nach dem Umbruch auseinander. Hier liegt

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eine der DDR bzw. den ostdeutschen Ländern vergleichbare Situation inso­fern vor, als nicht nur das Bildungswesen, sondern Staat und Gesellschaft insgesamt eine politisch-ideologische und institutionelle Transformation mit weitreichenden Konsequenzen durchliefen und noch durchlaufen. Anders als in den neuen Ländern zeige sich aber in der noch immer durch ethnische Vielfalt geprägten russischen Föderation die Nationalitätenfrage als Ursache vielfältiger Umbruchprobleme in Bildung und Erziehung. Während dem Bil­dungswesen in der Sowjetunion immer auch die Aufgabe einer kulturellen Anpassung der großen Zahl von Volksgruppen an die dominierende russische Mehrheit zugefallen sei, stünden in Bildung und Erziehung heute Differenzie­rung und die Betonung von sprachlicher, kultureller und allgemein gesell­schaftlicher Pluralität im Vordergrund. Indes bestehe auch mehr als zehn Jahre nach Einsetzen des Transformationsprozesses noch immer die Tendenz ethnisch-kultureller Dominanz der russischen gegenüber den anderen Volks­gruppen; sie werfe Fragen auf, für die Antworten noch nicht gefunden seien. So geht Russland, ähnlich wie, aus anderem Grund, die neuen Länder, einer weiteren Phase des Transformationsprozesses entgegen, in der komplexe Folgeprobleme einer Lösung bedürfen.

Literatur

Fuchs, Hans-Werner: Zur modernisierungstheoretischen Analyse der Transformation des ostdeutschen Bildungssystems. Hamburg: Universität der Bundeswehr 1996 (Beiträge aus dem Fachbereich Pädagogik, H. 6/1996).

Gibas, Monika: Verpasste Chancen, aber offene Perspektiven? Zur Bilanz der deut­schen Transformationsforschung, in: Hochschule Ost. 9 (2000) 1-2, S. 9-13.

Reißig, Rolf: Die deutsche Transformationsforschung der ersten und zweiten Genera­tion. Eine Bilanz, in: Hochschule Ost. 9 (2000) 1-2, S. 26-42.

Schimank, Uwe: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Opladen 1996. Schubarth, Wilfried: Systemtransformation und Schulentwicklung. Zu psychosozialen

Problemen bei der inneren Schulreform in den neuen Bundesländern, in: Neue Sammlung. 38 (1998), S. 465-488.

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Gabriele Köhler

"Vergangene Zukunft". Bildungspolitische Entwicklungen 1989/90 in der DDR

Unter dem Titel "Vergangene Zukunft. Bildungspolitische Entwicklungen 1989/90 in der DDR" liegt der Schwerpunkt der folgenden Betrachtungen auf zwei entscheidenden Gelenkstellen im Transformationsprozess des Bildungs­systems der neuen Bundesländer. Dabei wird der Frage nachgegangen, wel­che Rolle den bildungspolitischen Optionen, die unmittelbar nach der Wende entwickelt wurden, im Transformationsprozess bis heute zukommt.

Stimmt es tatsächlich - wie gelegentlich behauptet - dass mit der nach dem Einigungsvertrag einsetzenden Entwicklung die basisdemokratischen Optionen ein jähes Ende fanden?

Stimmt es, dass - noch etwas schärfer formuliert - den neuen Ländern mit dem Einigungsvertrag und den Schulgesetzen von 1991 und 1993 ein neues Schulsystem übergestülpt wurde?

Im folgenden wird versucht, die These zu erläutern, dass entgegen allen Behauptungen über bildungspolitische Kolonialisierung sich im Rücken der adaptierten Schul strukturen des Westens die basisdemokratischen Reformvor­stellungen durchsetzten und bis heute durchsetzen.

Systematisch gewendet lautet die Frage: Wie gestaltete sich das Verhält­nis von basisdemokratischen Reformvorstellungen und tatsächlicher schulpo­litischer Entwicklung?

Für die Beantwortung dieser Frage ist zweierlei in den Blick zu nehmen: zum einen die Runden Tische (für Bildung), zum anderen die Verhandlungen im Rahmen der Gemeinsamen Bildungskommission BRDIDDR, deren Er­gebnis die im Einigungsvertrag erfolgten Festlegungen im Hinblick auf die Schulstrukturen der neuen Bundesländer waren.

Die Runden Tische agierten von Dezember 1989 bis zum Frühjahr (März/Juni) 1990 als basisdemokratische Instanz der politischen Verständi­gung, Krisenbewältigung und Entscheidungsfindung neben und außerhalb der etablierten staatlichen Strukturen.

Die Gemeinsame Bildungskommission BRDIDDR wurde Mitte Mai 1990 als Beratungs- und Koordinierungsorgan auf politischer Ebene für die Zu­sammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten und die Zusammenfüh­rung der beiden Bildungs- und Wissenschaftssysteme eingerichtet und von den bei den deutschen Bildungsministern sowie der Präsidentin der Kultusmi-

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nisterkonferenz geleitet. Insgesamt tagte die Gemeinsame Bildungskommissi­on bis Ende September dreimal und arbeitete in mehreren Unterkommissio­nen und Expertengruppen. Zunächst ist der Blick auf die bildungspolitischen Vorstellungen und die Arbeitsweise der Runden Tische gerichtet.

1 Bildungspolitische Visionen und Realitäten der Runden Tische

Die Runden Tische waren keine Erfindung der Wende in der DDR: in sechs von sieben Mitgliedsstaaten des ehemaligen Warschauer Paktes gab es 1989/90 Runde Tische. Auch in der DDR wollten Runde Tische für eine Übergangszeit bis zur Durchführung freier, demokratischer Wahlen tätig sein und zwar als Einrichtungen, die das Regierungshandeln zunächst lediglich kontrollierten; weder wollten und sollten sie Regierungshandeln ersetzen noch wollten sie im Vorgriff auf demokratisch legitimierte Gremien Struktur­entscheidungen treffen. Wichtig für die Runden Tische ist darüber hinaus, dass sie im Unterschied zu herkömmlichen NGOs (non governmental organ i­zations) über keine flächendeckende Organisationsstruktur verfügten, sondern zahlreiche regionale Besonderheiten aufwiesen. Zwar gab es einen Zentralen Runden Tisch in Berlin, der Grundsatzfragen beleuchtete. Darüber hinaus arbeiteten Runde Tische in verschiedenen Regionen der DDR: in allen Be­zirkshauptstädten, in den Kreisen sowie in größeren Städten. In Bezirkshaupt­städten wie Erfurt, Leipzig oder Rostock existierten neben den Runden Ti­schen des Bezirkes noch Runde Tische der Stadt, die unabhängig voneinander tagten und jeweils spezifische Probleme auf ihrer Ebene berieten.

Obwohl diese Institutionen häufig das Selbstverständnis des Zentralen Runden Tisches übernahmen und sich ähnliche Geschäftsordnungen gaben, sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen regionalen und kommuna­len Runden Tischen größer als ihre Gemeinsamkeiten. Diese Unterschiede betrafen sowohl

• das Zustandekommen, den inneren Aufbau und die Arbeitsweise • als auch das tatsächlich praktizierte Selbstverständnis und • die Entscheidungsbefugnisse; • die verhandelten Themen, • den Umgang mit dem alten Staatsapparat, • die Einbindung westdeutscher Berater, • die Dauer ihrer Existenz sowie • die Rolle im Prozess der Neuordnung gesellschaftlicher Bereiche.

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An allen Runden Tischen gehörte die Neugestaltung des Bildungswesens zu den zentralen Themen. Vielfach wurden entweder eigenständige Runde Ti­sche für Bildung - wie in der Stadt und im Bezirk Erfurt - oder zumindest entsprechende Unterkommissionen eingerichtet - so am Zentralen Runden Tisch, in der Stadt Leipzig oder im Bezirk Neubrandenburg. Ihnen war die Überzeugung gemeinsam, dass eine gesellschaftliche Erneuerung nicht ohne eine tief greifende Reform der in staatlichen Bildungseinrichtungen prakti­zierten Pädagogik und ihrer Leitlinien möglich ist. Deshalb waren die Runden Tische und deren Unterausschüsse für Bildung bestrebt, in der Kürze der Zeit eine basisdemokratische Grundlage für Reformen zu schaffen, gleichzeitig aber auch für ein Mindestmaß an Kontinuität zur Aufrechterhaltung des Schulalltags zu sorgen. Schule musste weitergehen, konnte nicht geschlossen und dann in Ruhe neu aufgebaut, die Lehrer nicht einfach ausgetauscht wer­den.

Bei der Suche nach pädagogischen Alternativen zur DDR-Staats­pädagogik blieb an den Runden Tischen keine Gestaltungsebene ausgespart, keine Gestaltungsoption von vornherein ausgegrenzt. Das damit verknüpfte Aufgabenspektrum erstreckte sich von der Erarbeitung bildungspolitischer Grundsätze zur Neugestaltung des Bildungswesens über die Entideologisie­rung von Schule und Unterricht unter Einschluss der Abschaffung oder Erset­zung von Unterrichtsfächern bis hin zur Reorganisation der außerunterrichtli­chen Freizeitgestaltung, von der Eignung von Teilen der Lehrerschaft bis hin zur Mittagsversorgung der Schüler.

Hinsichtlich der Gewichtung von Themen und Problemfeldern sowie im Hinblick auf die Kohärenz der Vorschläge und Empfehlungen gab es zwi­schen den bereits Genannten weitere Unterschiede im Vergleich der Runden Tische für Bildung bzw. deren Unterkommissionen zueinander; was darauf zurückzuführen ist, dass es zwischen ihnen keine geregelten Kommunikati­onskanäle und Abstimmungsprozesse gab.

Worüber wurde an den Runden Tischen in bezug auf das Bildungswesen verhandelt, was waren die Ergebnisse? -

Die Ergebnisse des Zentralen Runden Tisches wurden während seiner 15. Sitzung am 5. März 1990 in einem Positionspapier der Arbeitsgruppe "Bil­dung, Erziehung, Jugend" vorgestellt, das wesentliche Inhalte des seit Okto­ber 1989 in der Öffentlichkeit geführten Dialogs über Bildungsfragen auf­nahm. Im Zentrum dieses Positionspapiers standen bildungspolitische Grund­sätze, die als Prinzipen der Neugestaltung des Bildungswesens dienen sollten. Dazu gehörten die Verwirklichung von Chancengleichheit, die Sicherung des Rechts auf lebenslange und auf berufliche Bildung, die Achtung vor der Wür­de des Menschen, die demokratische Mitbestimmung in allen Bildungsberei­chen für Lernende, Lehrende, Eltern und Wissenschaftler. Darüber hinaus wurden folgende Forderungen gestellt: der Erhalt einer staatlich finanzierten zehnjährigen Regelschule bei Zulassung unterschiedlicher Schultypen ein-

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schließlich Schulen in freier Trägerschaft sowie einer staatlich finanzierten Berufsausbildung und Hochschulvorbereitung und die Entwicklung vielfälti­ger Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.

Wie die Umsetzbarkeit der Grundsätze und Forderungen erfolgen könne, wurde nicht thematisiert, sondern in Erwartung eines überregionalen Bil­dungsgesetzes offen gelassen. Die anstehende Bildungsreform sollte jedoch nicht nur in der gesetzlichen Festschreibung neuer Organisationsstrukturen bestehen, ihr vorausgehen sollte eine Reform des pädagogischen Denkens und Handeins.

Mit der im Fernsehen übertragenen Diskussion übernahm der Zentrale Runde Tisch darüber hinaus eine demokratische Artikulations- und Legitima­tionsfunktion, die in ihrer Wirkung über die beanspruchte Kontroll- und Bera­tungsfunktion hinausging. Der Zentrale Runde Tisch führte vor aller Augen sichtbar vor, wie sich bildungspolitische Diskurse öffentlich führen ließen. Bildungspolitik in der DDR wurde nicht mehr, von oben' verordnet. Beteilig­te und Betroffene hatten die Chance, ihre Partizipation zu erweitern, ja, Bil­dungspolitik selbst zu gestalten.

An den regionalen Runden Tischen für Bildung standen Themen im Zent­rum, die am Zentralen Runden Tisch nur am Rande behandelt wurden: Struk­turfragen einschließlich Fragen der Organisation der Abiturstufe, Fragen zur Weiterbeschäftigung sogenannter Modrow-Lehrer1, zur Lehreraus- und -wei­terbildung sowie zur Unterrichtsorganisation und Schulkultur. Auf kommuna­ler Ebene standen Fragen der Neugestaltung einzelner Unterrichtsfächer, der künftigen Organisation der außerschulischen Freizeitgestaltung, der Qualität schulischer Erziehung, die Erprobung neuartiger Schulmodelle sowie Einzel­probleme der Personalentwicklung im Vordergrund.

Im Unterschied zum Positionspapier des Zentralen Runden Tisches füg­ten sich die Empfehlungen und Vorschläge auf regionaler Ebene nicht immer zu einem kohärenten Ganzen. Auf dieser Ebene ist bereits deutlich zu erken­nen, was auf kommunaler Ebene weitgehend die Arbeit bestimmte: die prag­matische Absicherung des Schulehaltens unter den Bedingungen des gesell­schaftlichen Umbruchs.

Durch die ungleich konkreteren Fragen der künftigen Gestaltung des Bil­dungssystems auf regionaler Ebene erhielten die regionalen Runden Tische zunehmend eine Steuerungsfunktion für den Reformprozess. Damit waren Konflikte programmiert, die die Runden Tische zunehmend in die Rolle eines politischen Entscheidungsgremiums brachten. Exemplarisch dafür steht der

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Als "Modrow-Lehrer" wurden jene Lehrer bezeichnet, die als Lehrer oder Erzieher in der DDR ausgebildet, später in den Dienst des Partei- und Staatsapparates, des MfS oder der NV A wechselten, dort hauptamtlich tätig waren und ab Oktober 1989, als diese Institutio­nen begannen, ihr Personal zu reduzieren bzw. sich aufzulösen, wieder in den Schuldienst zurückkehrten. Die Bezeichnung ,,Modrow-Lehrer" erhielten sie, weil die DDR-Regierung mit ihrem Ministerpräsidenten Modrow diese Rückkehr in den Schuldienst ermöglichte.

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Runde Tisch der Stadt Rostock. Infolge der Dezentralisierung der alten Machtstrukturen führte der Disput zu Bildungsfragen Ende März 1990 dort soweit, dass die Arbeit dieses Gremiums zeitweise ausgesetzt und erst dann wieder aufgenommen wurde, als der Stadtschulrat zurücktrat und damit eine Kündigung der nach der Wende in den Schuldienst gelangten MfS-Mit­arbeiter möglich wurde. Die Aufgabe des Stadtschulrates übernahm anschlie­ßend ein neues bildungspolitisches Gremium - die sogenannte "Kommission der Vier". So begann der Runde Tisch der Stadt Rostock auf dem Bildungs­sektor mit dem Umbau der vorgefundenen administrativen Strukturen und übernahm durch seine Vertreter selbst politische Verantwortung.

Ähnliches geschah in der Stadt Leipzig. Zunächst als eine Beratungs- und Kontrolleinrichtung von den neuen basisdemokratischen Gruppierungen ein­berufen, entwickelte sich auch hier der Runde Tisch aufgrund der Auflösung der Stadtverordnetenversammlung und der Übernahme der legislativen Funk­tionen zum eigentlichen politischen Entscheidungsgremium der Stadt. Mit­gliederauswahl und Arbeitsweise der Kommission "Bildung und Erziehung" waren nicht nur basisdemokratisch, sondern in ihrer Praxis wohl einmalig für regionale Runde Tische in der DDR. Zwar gehörten die Kommissionsmitglie­der den verschiedensten alten und neuen Parteien bzw. Gruppierungen an; es gab allerdings keine paritätische Besetzung der Kommission. Die Beratungen der Kommission waren öffentlich; es gab kein dezidiert ausgehandeltes Platz­und Stimmenverhältnis, sondern, wer zweimal anwesend war, zählte zu den Stimmberechtigten. So war es möglich, dass eine Person zweimal zu den Beratungen anwesend war, dann ein Thema setzte und, wenn der gewünschte Beschluss gefasst war, nicht wieder gesehen wurde. Diese unkonventionelle Form der Arbeit bot die Chance, dass sich Vertreter neuer Gruppierungen oder pädagogischer Initiativen die fehlende politisch-administrative Legitima­tion über den Runden Tisch der Stadt Leipzig einholten. Gleichzeitig bestand damit auch die Gefahr der Instrumentalisierung der Kommission. Aufgrund dieser Arbeitsweise war auch die Auswahl der Themen und Tagesordnungs­punkte vielfach zufällig. Dennoch standen für den Runden Tisch der Stadt Leipzig neben der Erprobung neuer Schulmodelle auch solche relevanten Themen wie die Klärung der Arbeitsrechtsverhältnisse der "Modrow-Lehrer" sowie die Beseitigung der vormaligen Reglementierungen des Abiturzugangs und die Einrichtung von abiturvorbereitenden Klassen auf der Tagesordnung.

Am Runden Tisch Bildung des Bezirks Erfurt waren solche Themen we­niger Gegenstand der Beratungen. Dort fanden wiederholt Diskussionen über die Einrichtung von Runden Tischen für Bildung der Bezirke Erfurt, Gera und Suhl bzw. eines gemeinsamen Runden Tisches für das zu jener Zeit noch nicht existierende Land Thüringen statt. Eine absolute Ausnahme im Ver­gleich mit anderen Runden Tischen bildete die Einbindung von Beratern aus den alten Bundesländern. Vom Regierungspräsidium Gießen initiiert, wurde ein "Sofortprogramm zur Zusammenarbeit im Bereich des Schulwesens"

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bereits Anfang März 1990 am Runden Tisch vorgestellt. Mit dieser Einbin­dung in die anlaufenden politisch-administrativen Verhandlungen zwischen Hessen und Erfurt und der Einbeziehung von westdeutschen Akteuren hat der Runden Tisch für Bildung des Bezirkes Erfurt zwar ausgeprägte politische Weitsicht bewiesen. Der Leiter des Runden Tisches gelangte aber in einer Beratung zu neuen universitären Ausbildungsprofilen Anfang Mai 1990 zu dem resümierenden Urteil: "Wir sind nicht kompatibel, die wissen nicht wirk­lich, was hier läuft. Wir müssen uns die Frage zumuten, wie wir selbst mit all dem fertig werden." (Protokoll 1990, S. 4). Im Mai 1990 hatte sich der Runde Tisch Bildung des Bezirkes Erfurt als Legitimationsinstanz der Wende bereits überholt, bevor er selbst erst im Juli seine Arbeit für beendet erklärte. Denn gleich nach den Volkskammer-Wahlen wandelte sich das politische Klima in der DDR und mit ihm der eingeschlagene Weg der gesellschaftlichen Erneue­rung. An die Stelle der basisdemokratischen Selbsterneuerung und der Bewäl­tigung der Modernisierungserfordernisse aus eigener Kraft trat der Versuch, die Modernisierungserfordernisse über eine stärkere Anlehnung an die in der BRD vorhandenen Organisationsstrukturen zu bewältigen.

2 Die Gemeinsame Bildungskommission BRDillDR und deren Unterkommission "Allgemeine schulische Bildung"

Was passierte mit den bildungspolitischen Reformvorstellungen im Eini­gungsprozess? Dazu ist zunächst darzustellen, was im Rahmen der Verhand­lungen der beiden Bildungsministerien in der Gemeinsamen Bildungskom­mission BRDIDDR erfolgte und welche Ergebnisse erzielt wurden. Meine These lautet: Im bildungspolitischen Einigungsprozess - die Aussagen sind hier wiederum auf den Bereich des allgemeinbildenden Schulsystems fokus­siert - gingen beide Verhandlungspartner Kompromisse ein, die für die ge­samte BRD bis heute nachhaltige Wirkung zeigen.

Zunächst und oberflächlich betrachtet schien es angesichts der Unter­schiede beider Schulsysteme so, dass die von der Gemeinsamen Bildungs­kommission anvisierte "Zusammenführung beider Bildungssysteme" aus­schließlich auf eine Übernahme der Grundlagen der bundesrepublikanischen Systementwicklung hinauslief. Gemessen an den bildungspolitischen Zielstel­lungen der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, an den Verhandlungszielen der DDR-Seite wie schließlich auch hinsichtlich der dominierenden Atmo­sphäre resultierten die Verhandlungen in Kompromissen, die aber gleichwohl den in Ausgangslage und Zielstellung vorhandenen Besonderheiten der DDR­Seite verankert waren.

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In den Verhandlungen im Rahmen der Gemeinsamen Bildungskommission nicht durchsetzen konnte sich die DDR-Seite insbesondere hinsichtlich der am Zentralen Runden Tisch geltend gemachten Optionen: eines einklagbaren "Rechts auf lebenslange Bildung", der Erarbeitung eines gesonderten, für alle neuen Bundesländer geltenden Bildungsgesetzes und des flächendeckenden Erhalts der "staatlich finanzierten zehnjährigen Regelschule" der DDR als Schulform (Positionspapier 1990, S. 94ff.). Nicht durchgesetzt wurden auch die im Rahmen der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD in einer "Bildungspolitischen Übereinkunft" artikulierten Optionen hinsichtlich der zehnjährigen Vollzeitschulpflicht, einer Beibehaltung der Berufsausbil­dung mit Abitur sowie der Beibehaltung des polytechnischen Unterrichts (Bildungspolitische Übereinkunft 1990, S. 161). Ebenso konnte auch die von der DDR-Seite in der Unterkommission "Allgemeine schulische Bildung" präferierte Ankopplung der zweiten Phase der Lehrerausbildung an die Uni­versitäten nicht verwirklicht werden. Entsprechende Optionen ließen sich nur im Rahmen der den Ländern vorbehaltenen Schulgesetzgebung realisieren oder wurden in modifizierter Form als befristete Übergangsregelungen zuge­lassen. Ebenfalls nur in diesem Rahmen realisieren ließen sich die Optionen im Hinblick auf die Mitwirkungsrechte von Lehrern, Schülern und Eltern, die Beibehaltung von Kindertagesstätten, die Erhaltung von Schulhorten sowie Spezialschulen und Spezialklassen. Kompromisse dagegen konnten erzielt werden im Hinblick auf die Gleichwertigkeit von Abschlüssen, die teilweise Beibehaltung des 12-jährigen Abiturs, den Erhalt einer Schul form der Sekun­darstufe I, die die unterschiedlichen Bildungsgänge und Abschlüsse enthält, als auch im Hinblick auf eine Anerkennung erworbener Lehramtsbefähigun­gen.

Auf bundesrepublikanischer Seite gingen diese Kompromisse einher mit einer nachhaltig wirksamen Relativierung des Gebots der Einheitlichkeit zugunsten des Prinzips der Gleichwertigkeit. Die im Rahmen der Gemeinsa­men Bildungskommission entwickelte Formel einer "gemeinsamen und ver­gleichbaren Grundstruktur", die fortan den Begriff einer "einheitlichen Grundstruktur" ersetzte, veränderte die für alle Länder der Bundesrepublik geltenden Grundlagen der Schulentwicklung entscheidend. Denn mit dieser Formulierung wird Einheitlichkeit auf die Funktion von Schulformen bezogen und nicht mehr an den Schulformen selbst festgemacht. Die Frage, in welchen Angebotsstrukturen die einzelnen Länder definierte Bildungsgänge vorhalten, wurde mit dieser Formel zu einem nachgeordneten Problem, solange dabei zu vereinbarende Qualitätsstandards eingehalten werden. Indirekt wurde damit die Kulturhoheit der Länder gestärkt sowie die Flexibilität gegenüber länder­spezifischen Ausgangs- und Interessenlagen erhöht.

In der Bundesrepublik waren die Modernisierungsoptionen weit stärker strukturell ausgerichtet: Sie reichten in den 70er und 80er Jahren von der Verkürzung der Schulzeitdauer bis zum Abitur, der Neuvermessung schuli-

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scher Grundbildung und der Neuordnung der Lehrerausbildung bis hin zur Öffnung von Schule.

Die Blütenträume der Reformkräfte konnten allerdings nicht reifen. Von Beginn an spielten nach Auskunft der beiden Vorsitzenden der Unterkommis­sion "Allgemeine schulische Bildung" in den deutsch-deutschen Verhandlun­gen weitreichende Reformoptionen auf beiden Seiten keine Rolle. Das hatte mehrere Gründe: Erstens galt es, der Kulturhoheit der künftigen Länder nicht vorzugreifen oder diese einzuengen. Zweitens wollten die Verhandlungspart­ner in der Unterkommission ,Allgemeine schulische Bildung' "eigentlich über alles reden" (Köhler/Knauss/Zedler 2000, S. 50). Der aus den Terminstellun­gen der Vereinigung resultierende Zeitdruck sorgte aber dafür, dass schnell eine verbindliche Grundlage gefunden werden musste, die eine Unbestimmt­heit in den Grundstrukturen vermied. Darüber hinaus war mit der Regierungs­erklärung des Ministerpräsidenten der DDR, de Maiziere, vom April 1990, in der der "Beitritt" der DDR nach Artikel 23 GG favorisiert wurde, der Zeit­punkt vorbei, zu dem die DDR-Delegation in der Unterkommission ,,Allge­meine schulische Bildung" Alternativentwürfe mit Aussicht auf Erfolg hätte einbringen können. Die DDR-Vertreter in der Gemeinsamen Bildungskom­mission BRD/DDR und deren Unterkommission "Allgemeine schulischer Bildung" begriffen sehr schnell, dass sich die Verhandlungsthematik auf einen passfahigen Rahmen reduzierte.

Was nahezu unbekannt ist, lässt sich anhand von Archivmaterialien und von mit den Leitern der Unterkommission geführten Interviews nachweisen: die DDR selbst war es, die mit ihren Schwerpunktsetzungen und Positionspa­pieren, die sie in die Unterkommission "Allgemeine schulische Bildung" kurz nach deren Konstituierung einbrachte, die Inhalte und den reibungslosen Verlauf sowohl der Verhandlungen in der Gemeinsamen Bildungskommission BRD/DDR als auch zum Einigungsvertrag nachhaltig beeinflusste. Zunächst schlug die DDR-Seite während einer Vorbesprechung der Unterkommission "Allgemeine schulische Bildung" am 13. Juni 1990 folgende Themen für die Arbeit der Unterkommission vor: Gliederung der Schulstrukturen, inhaltliche Ausgestaltung, Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Angleichung schulischer Bildung und Lehrerfragen. Wenig später ergriff sie nach einer auf der zweiten Sitzung der Gemeinsamen Bildungskommission vorgeschlagenen Straffung des Arbeitsprogramms der Unterkommission "Allgemeine schulische Bil­dung" wiederum die Initiative. Am 9. Juli 1990 formulierte sie ihre "Positio­nen zu Grundstrukturen des Schulwesens in den Ländern der DDR zum Zwe­cke der Annäherung und Angleichung an die schulischen Grundstrukturen der Länder der BRD". In diesem Positionspapier bekannte sich die DDR-Seite zum Hamburger Abkommen und den daran anschließenden Zusatzvereinba­rungen. Das Ziel war eindeutig formuliert: die Angleichung an die Länder der Bundesrepublik. In Bezug auf die künftige Gestaltung der Lehrerausbildung ging die DDR beispielsweise bereits Mitte Juni von den in der Bundesrepu-

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blik praktizierten Grundsätzen aus und empfahl als generelle Voraussetzung für ein Lehrerstudium ab 1. September 1990 die Hochschulzugangsberechti­gung und darüber hinaus die Zweiphasigkeit der Lehrerausbildung.

Das Positionspapier der DDR vom 9. Juli 1990 enthielt kraft Übernahme der in der Bundesrepublik geltenden Regelungen keinerlei Konfliktmaterien. Selbst in den Verhandlungen zum Einigungsvertrag bezogen sich die Ver­handlungspartner nachweislich auf dieses Papier. In der Unterkommission "Allgemeine schulische Bildung" wurde das Positionspapier der DDR unter Berücksichtigung einiger präzisierender Beratungsergebnisse in eine Be­richts- und Beschlussvorlage für die dritte, abschließende Sitzung der Ge­meinsamen Bildungskommission umgearbeitet. Die so entstandenen "Grund­sätze und Empfehlungen zur Neugestaltung des allgemeinbildenden Schulwe­sens in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie Berlin (Ost)" wurden dann am 26. Sep­tember 1990 von der Gemeinsamen Bildungskommission BRD/DDR verab­schiedet. Sie enthielten zwar keine substantiell vom Positionspapier der DDR abweichenden Veränderungen, darüber hinaus aber detaillierte Empfehlungen dazu, auf welchem Wege die Angleichung vonstatten gehen sollte. Im Ab­schnitt "Vollzeitschulpflicht" beispielsweise werden das Auslaufen der Aus­nahmeregelung einer achtjährigen Schulbesuchs zeit zugunsten einer neunjäh­rigen Vollzeitschulpflicht und die Zuerkennung eines dem Hauptschulab­schluss vergleichbaren Abschlusses empfohlen. Der gelegentlich geäußerte Verdacht einer bildungspolitischen Kolonialisierung seitens der BRD ist durch den Verhandlungsverlauf also nachweislich zu widerlegen.

3 Auswirkungen des Einigungsprozesses auf Bildungspolitik und Schulentwicklung in den neuen Bundesländern

Wie sich in den 1991 bis 1993 verabschiedeten Bildungs- und Schulgesetzen der neuen Bundesländer zeigen sollte, nutzten die neuen Länder den Gestal­tungsspielraum der in der Gemeinsamen Bildungskommission BRD/DDR und im Einigungsvertrag erzielten Rahmenvereinbarungen, um die als bewah­renswert eingeschätzten Elemente des DDR-Bildungssystems in den neuen Rahmen einzubringen. So wurde u.a. das "Recht auf Bildung" in zahlreichen Schul gesetzen der neuen Länder verankert, ebenso die "innere Erneuerung" als übergeordnetes Ziel von Lehrplanreform und Lehrerweiterbildung festge­schrieben. Über "Profilbildung" wurde der Gestaltungsspielraum von Einzel­schulen erhöht, schließlich durch ein Tableau von Modellversuchen den regi­onalen und örtlichen Interessen Rechnung getragen. An der 12-jährigen

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Schuldauer bis zum Abitur hielten außer Brandenburg und Berlin zunächst alle neuen Bundesländer fest. Mit Ausnahme von Mecklenburg-Vorpommern favorisierten die neuen Länder im Bereich des allgemeinbildenden Schulwe­sens ein zweigliedriges Schulformangebot. Ab 1994 findet sich schließlich in bildungspolitischen Programmen von Parteien und Koalitionsregierungen die Absicht zur Einführung einer zehnjährigen Vollzeitschulpflicht.

Betrachtet man die Entwicklung in den neuen Bundesländern seit 1990 insgesamt, so kann man konstatieren: Hier wurde eine Vielzahl der Reform­optionen, die 1989/90 durch die Runden Tische artikuliert und andere, die in den Verhandlungen der Gemeinsamen Bildungskommission BRDIDDR und zum Einigungsvertrag zunächst verloren gegangen schienen, wurden verwirk­licht.

Literatur

Bildungspolitische Übereinkunft, in: Fuchs, H.-W.; Reuter, L. R.: Bildungspolitik seit der Wende. Dokumente zum Umbau des ostdeutschen Bildungssystems (1989-1994). Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 160-162.

Köhler, G.lKnauss, G.lZedler, P.: Der bildungspolitische Einigungsprozess 1990. Verlauf und Ergebnisse der deutsch-deutschen Verhandlungen zum Bildungswe­sen. Op1aden: Leske+Budrich 2000.

Protokoll. Runder Tisch "Bildung" - Bezirk Erfurt, 02.05.1990, in: Thüringer Haupt­staatsarchiv Weimar, Rat des Bezirkes, Abteilung Volksbildung, Akte 72.

Positionspapier des Zentralen Runden Tisches, in: Köhler, G.: Anders sollte es wer­den. Bildungspolitische Visionen und Realitäten der Runden Tische. Köln, Wei­mar, Wien: Böhlau, 1999. S. 97-99 (Studien und Dokumentationen zur deut­schen Bildungsgeschichte, Bd. 72).

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Lutz R. Reuter

Das Hochschulwesen der DDR vor und während der friedlichen Revolution 1

1 Das Hochschulwesen in der DDR

1990 gab es in der DDR insgesamt 54 Universitäten und Hochschulen, davon acht Universitäten, vierzehn Technische Hochschulen, drei Medizinische Akademien, zwei Land- und Forstwirtschaftliche Hochschulen, drei Hoch­schulen für Recht bzw. Ökonomie, zehn Pädagogische Hochschulen, zwölf Künstlerische Hochschulen sowie die Deutsche Hochschule für Körperkultur in Leip'zig. Weniger bekannt ist, dass darüber hinaus etwa 70 Einrichtungen mit einem hochschulähnlichen Status existierten, die mit gesellschaftlichen Organisationen oder staatlichen Institutionen verbunden waren wie z.B. das dem ZK der SED unterstellte Institut für Marxismus-Leninismus oder die bereits 1946 gegründete Parteihochschule »Karl Marx«. Hochschulische Ausbildungseinrichtungen in nichtstaatlicher Trägerschaft unterhielten einzig die beiden christlichen Kirchen (vgl. Das Bildungswesen der DDR 1989, S. 165; Fuchs 1997a, S. 108).

Die Hochschulen der DDR standen in der Tradition der deutschen Uni­versität als Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, d.h. sie verbanden wie die westdeutschen Universitäten Theorie und Praxis sowie Forschung und Lehre. Indes bedeutete einen tiefen Bruch mit der europäischen Universität­geschichte, dass die Hochschulen und Universitäten der DDR dem Dogma der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung in der allein maßgeblichen In­terpretation des Politbüros der SED unterlagen. Die Hochschuleinrichtungen waren Dienstleistungseinrichtungen zur Durchsetzung der von der SED for­mulierten Ziele; die Instrumentalisierung der Hochschulen ließ wenig Raum für Autonomie. Neben der Qualifikation der Studierenden für Tätigkeiten in Volkswirtschaft, Staat und Partei war deren ideologische Erziehung gemäß der offiziellen marxistisch-leninistischen Lehre eine zentrale Aufgabe (vgl. Das Bildungswesen der DDR 1989, S. 165). Darüber hinaus oblag den Hoch­schulen die wissenschaftliche Weiterbildung insbesondere durch das Angebot postgradualer Bildungsgänge für Akademiker, durch die Vermittlung neuester Forschungsergebnisse und die Betreuung von an Universitäten eingerichteten

Der folgende Beitrag ist die überarbeitete Fassung meines Beitrags zum Symposium »Transformation der ostdeutschen Bildungslandschaft - Eine Forschungsbilanz« im Rah­men des 17. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft »Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften« am 21. September 2000.

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Spezialklassen für Mathematik und Naturwissenschaften. Weitere Spezial­klassen waren für die Fächer Ökonomie und Philosophie geplant, wurden aber nicht mehr realisiert. Eine weitere, insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren quantitativ wichtige Aufgabe der Hochschulen waren die Fernstudiengänge, zu denen die Universitäten mehrmals jährlich Präsenzkurse anboten (vgl. Das Bildungswesen der DDR 1989, S. 184f.). Das Fernstudium an den DDR-Hochschulen diente sowohl der Erstausbildung als auch der Weiterqualifizierung; letztere spielte aber in quantitativer Hinsicht die wichti­gere Rolle. Neben dem Fernstudium bestand seit 1959 auch die Möglichkeit des Abendstudiums für Berufstätige; diese Studienmäglichkeit hatte jedoch nur eine randständige Bedeutung (vgl. Fuchs 1997a, S. 117).

Die Hochschulzugangsberechtigten hatten keinen Anspruch auf Zulas­sung zum Studium, sondern lediglich das Recht, die Zulassung zu beantragen. Neben dem Hochschulreifezeugnis oder einer vergleichbaren Qualifikation waren die aktive gesellschaftliche Tätigkeit, die Bereitschaft zur »Verteidi­gung der Errungenschaften des Sozialismus« sowie die Übereinstimmung des Studien wunsches mit der volkswirtschaftlichen Planung die Bedingungen für die Zulassung zum Studium (vgl. § 52 Abs. 2 Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem). Verantwortlich für die Aufnahme waren Zu­lassungskommissionen, welcher Vertreter der Hochschule, der PDJ, der Ge­werkschaft und des Betriebs bzw. der Institution angehörten, in denen die Absolventen nach dem Studium eingesetzt werden sollten. Bei der Auswahl­entscheidung sollte neben dem Leistungsprinzip die Sozialstruktur der DDR­Gesellschaft Berücksichtigung finden. Die DDR-Führung hatte schon in den fünfziger Jahren versucht, den Anteil der Arbeiter- und Bauernkinder an den Hochschulen zu erhöhen und gleichzeitig Jugendliche aus (bildungs-) bürger­lichen Schichten zu diskriminieren, um eine soziologisch ausgeglichene Stu­dentenschaft zu erreichen. Indes ist nicht gelungen, die gesellschaftliche »Bil­dungsvererbung« außer Kraft zu setzen. Die zunächst in erheblichem Maße aus der Arbeiterschaft rekrutierte Bildungselite der DDR motivierte ihre Kin­der zum Studium trotz der in der Gehaltsstruktur beruhenden niedrigen finan­ziellen Anreize, während Kinder der bildungs ferneren Sozialschichten genau deswegen davon eher abgehalten wurden.

Im Studienjahr 1988/89 waren an den Universitäten und Hochschulen der DDR 131.188 Studierende immatrikuliert, davon 22.201 im Fernstudium. Der Frauenanteil lag mit 63.728 bei 48,6 %, die Zahl der ausländischen Studie­renden an den Hochschulen der DDR betrug 5.078 (vgl. Fuchs 1997a, S. 109f.) Von allen Staaten des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) hatte die DDR die niedrigste Studentenquote; 1984/85 kamen in der DDR auf 10.000 Einwohner 78 Studenten, in der CSSR 113 Studenten und in der UdSSR 191 Studenten.

Im Vergleich zu den westdeutschen Hochschulen war das Studium in der DDR straff organisiert; die Grundstrukturen des Studiums legte das Gesetz

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über das einheitliche sozialistische Bildungssystem fest (§ 53). Zur allgemei­nen Grundlagenausbildung aller Studiengänge gehörten die Fächer »Grundla­gen des Marxismus-Leninismus«, Russisch und eine weitere Fremdsprache sowie Sport. Darüber hinaus gab es obligatorische Veranstaltungen zur militä­rischen und zivilen Verteidigungsausbildung sowie Einsätze in der Landwirt­schaft und in Kinderferienlagern. Der Anteil der allgemeinen Grundlagenaus­bildung betrug im Durchschnitt der Studienfächer etwa 20 %. Die fachbezo­gene Grundlagenausbildung des Studiums umfasste die wesentlichen Sachge­biete einer Fachrichtung, die "in der Regel im Grundstudium zu studieren waren. Ihr Anteil am Gesamtstudienumfang betrug 40-50%. Darauf baute die im Hauptstudium angesiedelte fachspezifische Ausbildung im Umfang von etwa 30 % auf, in der die Spezialkenntnisse für die ausgewählte Disziplin vennittelt wurden. In diesem Studienteil konnten die Universitäten im Um­fang von 10-15 % der gesamten Lehrveranstaltungszeit auch eigene Schwer­punkte setzen (vgl. Das Bildungswesen der DDR 1989, S. 170ff.; Fuchs 1997, S.llO).

Die Notwendigkeit der politisch-ideologischen Erziehung wurde von den politischen Akteuren im Volksbildungsministerium und in der SED wieder­holt betont, doch gelang es ihnen auch mit den 1986 vorgelegten neuen Lehr­plänen nicht, die Diskrepanz zwischen den Zielen und Inhalten des Studiums des Marxismus-Leninismus und der erlebten gesellschaftlichen Praxis auflö­sen. Wesentliches Instrument der »Erziehung zur allseitig entwickelten sozia­listischen Persönlichkeit« war das Konzept der Seminargruppen, die von einem aus der Gruppe der Studierenden gewählten FDJ-Gruppensekretär und einem Seminargruppenleiter, der dem Lehrkörper angehörte, geleitet wurden. Dit~se jeweils etwa 20 Studierende umfassenden »Lern- und Erziehungskol­lektive« bildeten während des gesamten Studiums die zentralen Bezugsgrup­pen der Studierenden.

Zu den wichtigen Rahmenbedingungen des Direktstudiums in der DDR gehörte das Grundstipendium von 200 M sowie die Leistungs- und Sonder­stipendien (vgl. Rytlewski 1990, S. 468). Für fast alle Studierenden standen Wohnheimplätze und darüber hinaus weitere soziale Leistungen zur Verfü­gung. Das Direktstudium schloss nach einer Studienzeit von vier bis fünf Jahren (bei den medizinischen Studiengängen nach sechs Jahren) mit einer Diplomprüfung ab; eine Zwischenprüfung war nach zweieinhalb Studienjah­ren abzulegen. Im Rahmen eines Forschungsstudiums konnte der Doktorgrad (Promotion A) erworben werden. Von dem im Jahr 1989 insgesamt 31.754 Personen umfassenden wissenschaftlichem Personal waren 3.481 Professoren, 4.072 Dozenten, 17.819 wissenschaftliche Mitarbeiter und 6.382 Lektoren im Hochschuldienst (vgl. Fuchs 1997a, S. 112). Der Frauenanteil war nicht nur im deutsch-deutschen, sondern auch im europäischen Vergleich relativ hoch und betrug bei dem Hochschulpersonal mit Promotion A 37,5% und bei Wis­senschaftlern mit dem Abschluss Promotion B 15,4 %. Vom gesamten Hoch-

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schulpersonal wurde die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Hochschulun­tergliederungen von SED, FDJ und Gewerkschaft Wissenschaft erwartet. Die Mehrheit der Hochschullehrer und wissenschaftlichen Mitarbeiter war unab­hängig vom jeweiligen Fachgebiet bereit, sich den ideologischen Grundan­forderungen des Regimes zu unterwerfen (vgl. Rytlewski 1990, S. 439).

Die ursprünglichen Fakultäten und Institute an den DDR-Universitäten und Hochschulen wurden im Rahmen der dritten Hochschulreform ab 1967 abgeschafft und durch Sektionen sowie Wissenschaftsbereiche ersetzt. Seither gab es zwei Leitungsebenen, die Rektorats- und die Sektionsebene. Die Hochschulen wurden nach dem Prinzip der »Einzelleitung« durch den Rektor mit »kollektiver« Beratung durch das Konzil, den Wissenschaftlichen und den Gesellschaftlichen Rat geführt; zumindest der Wissenschaftliche Rat hatte einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Hochschulleitungsentscheidungen. Der zentralen Leitungsebene nachgeordnet waren die Sektionsdirektoren, denen ein entscheidender Einfluss auf die Zusammensetzung des Lehrkörpers der jeweiligen Sektion zukam. Neben dieser zweistufigen Hochschulleitung bestand jeweils zugeordnet die hochschulinterne Parteistruktur.

Wie die akademische Lehre waren auch Forschung und Entwicklung (FuE) dem Postulat der Parteilichkeit unterworfen; sie hatten der Erhaltung, Stärkung und Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR zu dienen. Auch im Bereich von Forschung und Entwicklung galt die Führungsrolle der SED, weIche die Forschungsziele und Leitlinien der For­schungsplanung bestimmte. Der Bereich FuE bestand institutionell aus vier Bereichen, den Akademien, der Industrieforschung, den Universitäten und Hochschulen sowie den parteinahen gesellschaftswissenschaftlichen For­schungs- und Lehrinstitutionen. Die FuE-Institutionen der DDR waren schwerpunktmäßig auf die Regionen Berlin und Sachsen konzentriert. Der Sektor Industrieforschung war mit 85.000 Mitarbeitern das personell umfang­reichste FuE-Kontingent. Seit Ende der siebziger Jahre war der Anteil der industriellen Forschung gestiegen; die in der industriellen Forschung und Entwicklung tätigen Personen machten einen Anteil von ca. 65 % aus, der Anteil der in den Hochschulen und Universitäten tätigen Personen lag ledig­lich bei 6 %. Diese Zahlen dokumentieren die relativ weitreichende Herauslö­sung der Forschung aus den Universitäten. Gleichwohl erbrachten die Univer­sitäten und Hochschulen auf einigen Fachgebieten bis zu 80 % der For­schungsleistungen (vgl. Fuchs 1997a, S. 122). Von einigen Fachgebieten abgesehen, konnte die Forschung in der DDR nicht in das internationale Spit­zenfeld vordringen. Zu den maßgeblichen Gründen dafür gehören die Ab­wanderung von Wissenschaftlern in den Westen, die besonders im Verlauf der siebziger und achtziger Jahre sich verschlechternde materielle Ausstattung und die Anwendungsorientierung der Forschung.

Von den Hochschulen und Universitäten der DDR gingen in der revolu­tionären Phase zwischen September und Dezember 1989 nur wenige Impulse

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zum Regimewandel aus. Insofern unterschied sich die DDR grundlegend von den anderen europäischen Reformstaaten, in denen Intellektuelle, Professoren und Studenten eine wichtige Rolle in der Oppositionsbewegung spielten. Es gab im Herbst 1989 in der DDR weder nennenswerte Studentenproteste noch traten Hochschullehrer mit massiven Reformforderungen an die Öffentlichkeit heran. Ausgenommen sind jene Einzelpersonen, die in der Bürgerrechtsbewe­gung aktiv waren. Studenten und Professoren beschränkten ihre Reformforde­rungen auf hochschulinterne Fragen; dabei setzten sich nicht wenige für die Aufrechterhaltung der sozialistischen Ordnung ein. Erklärt wird dieses mit den Indoktrinationseffekten, mit dem hohen SED-Organisationsgrad unter dem Hochschulpersonal und mit dem Auswahlverfahren bei der Zulassung zum Studium. Schließlich sei daran erinnert, dass in dieser Phase oppositio­nelles Verhalten allein schon durch die Omnipräsenz des Ministeriums für Staatssicherheit in den Hochschulen mit keinem geringen Risiko behaftet war. Die allgemeinen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, die Durchor­ganisation des Lehr- und Lernbetriebs, die Reglementierung des studentischen Lebens sowie der begrenzte Zugang zu wissenschaftlichen Veröffentlichun­gen aus dem Ausland ließen kaum Nischen für abweichendes Denken und Handeln zu. Schließlich dürfte auch die fehlende Diskussionskultur in den Schulen und Hochschulen der DDR das ihre dazu beigetragen haben. Inwie­weit diese genannten Gründe allein erklärungsfahig sind, ist heute schwer verifizierbar, zumal zu diesen Fragen komparatistische Studien zwischen den mitteleuropäischen Reformstaaten fehlen (vgl. Nooteboom 1991, S. 313f.).

2 Reformforderungen und Umbrüche

Die Reformbestrebungen im Hochschulwesen waren Teil der allgemeinen Forderungen nach Veränderungen des Bildungssystems der DDR. Den ent­scheidenden Bruch mit den sozialistischen Traditionen des DDR­Hochschulwesens markiert die Einstellung des marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums im Wintersemester 1989/90. Die innerhalb, vor allem aber auch außerhalb der Hochschulen formulierten Reformvorschläge zielten auf Veränderungen der äußeren Rahmenbedingungen der Lehr- und For­schungstätigkeit, der Strukturen und der inneren Hochschulverfassung. Im einzelnen gehörten hierzu die Wiederherstellung der Hochschulautonomie, d.h. das Recht der Hochschulen auf Selbstverwaltung, die Wiederherstellung der Freiheit von Lehre, Forschung und Studium und die Abschaffung der staatlichen Druckerlaubnis (Imprimatur), ferner die Freiheit der Wahl von Universität, Studienort und Fachrichtung, die Zulassung zum Studium aus­schließlich nach Maßgabe von Eignung und Leistung und vor allem die Be­seitigung von Partei- und Gewerkschaftseinfluss in den Hochschulen. Weitere

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Refonnforderungen betrafen u.a. den Abbau der Studienreglementierung, den Verzicht auf standardisierte Lehrinhalte, die Möglichkeit der Studentenaus­wahl durch die Hochschulen, die Orientierung der Abschlüsse an internatio­nalen Maßstäben und Strukturen sowie die Berufung des Lehrpersonals aus­schließlich nach Fachkompetenz.

Im Dezember 1989 beschloss die Akademie der Wissenschaften (AdW) die Elimination des SED-Einflusses auf ihre wissenschaftliche Arbeit. Gleichwohl verschlechterte sich ihre Situation angesichts der wachsenden Finanzknappheit und der Zukunftsunsicherheit der AdW, was zu frühzeitigen Überlegungen zur Bildung einer gesamtdeutschen Forschungslandschaft führ­te. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) setzte sich für die Auswei­tung der (westdeutschen) Forschungsförderung auf das Gebiet der DDR ein; sie war dabei bestimmt von den Zielen, einerseits den Aufbau einer zweiten deutschen Forschungsgemeinschaft zu verhindern und andererseits die DDR­Wissenschaftler zum Verbleib in ihren Instituten zu motivieren.

Ab Anfang 1990 bildete sich in kürzester Zeit ein dichtes Kooperations­netzwerk zwischen einzelnen Wissenschaftlern, Hochschulen, gesellschaftli­chen Organisationen sowie halbstaatlichen und staatlichen Institutionen. Zu den wichtigsten westdeutschen politischen Akteuren gehörten das Bundes­ministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW), die Kultusministerkon­ferenz (KMK), die Bund-Länder-Kommission für Bildungsforschung und Forschungsförderung (BLK), der Wissenschaftsrat (WR), die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK), die DFG, der Deutsche Akademische Austausch­dienst (DAAD) und der Deutsche Hochschulverband (DHV) sowie die par­teinahen Stiftungen und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Dem Grunde nach waren die Leitziele dieser Akteure dieselben; sie galten der Entideologisierung der Hochschulen und Universitäten der DDR, der Verbesserung ihrer Ausstattung und der Qualitätsanhebung vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Im Mittelpunkt standen die Heraus­bildung eines pluralistischen, zugangsoffenen, leistungsfähigen und struktur­einheitlichen Hochschul- und Wissenschaftssystems in Deutschland. Kritische Stimmen, die beispielsweise aus der GEW oder einzelnen westdeutschen Hochschulen kamen und die Forderung erhoben, die offenkundigen Mängel des westdeutschen Hochschulwesens nicht auf das DDR-Hochschulwesen zu übertragen, vennochten sich kaum Gehör zu verschaffen (vgl. FuchsIReuter 1995).

Im Wintersemester 1989/90 versuchten viele DDR-Hochschulen und Forschungseinrichtungen Refonnen von innen heraus zu betreiben; dabei spielte beispielsweise die Schaffung demokratischer Leitungs- und Mitbe­stimmungsstrukturen eine wichtige Rolle. Eine autonome personelle Erneue­rung gelang demgegenüber nicht; dafür dürfte nicht zuletzt auch das Ausmaß der Systemintegration des größten Teils des wissenschaftlichen Nachwuchses eine Rolle gespielt haben. Hinzu kommt, dass die Transfonnation des Hoch-

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schul- und Wissenschaftsbereichs der DDR wie in den anderen Politikfeldern auch unter großem Zeitdruck erfolgte. Dies verhinderte zeitintensive Diskus­sionen und beförderte die Orientierung an westdeutschen Regelungen. Dass damit zugleich viele der noch Ende der achtziger Jahre diskutierten Probleme der westdeutschen Hochschulen übernommen wurden, war für die an der Umgestaltung beteiligten Akteure nachrangig. Für sie spielte nicht zuletzt jene Überlegung eine wichtige Rolle, dass große Wanderungsströme - hier von Studenten und Hochschulpersonal - nach Westdeutschland für den Fall angenommen wurden, dass eine schnelle Struktur- und Standardanpassung misslänge. Doch ist die Frage, warum die notwendige Transformation des DDR-Hochschul- und Wissenschafts systems nicht für Innovationen in beiden Teilen des deutschen Hochschulwesens genutzt wurde, nicht nur mit dem Verweis auf Zeitdruck bzw. Entvölkerung der ostdeutschen Institutionen und Überlastung der westdeutschen zu beantworten. Reformbewusstsein, Reform­bereitschaft und Reformvorstellungen waren in der alten Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der neunziger Jahre nicht so entwickelt, wie dies seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre der Fall zu sein scheint (vgl. FuchslReuter 2000, S. 101-124).

3 Transformationsprozesse

Der in Art. 1 Abs. 1 S. 2 verfassungsrechtlich verankerte Führungsanspruch der. SED, der in besonders massiver Weise im Bildungssystem umgesetzt worden war, wurde noch 1989 durch Änderung der Verfassung der DDR aufgehoben. Sowie überhaupt noch in der DDR im Jahre 1990 bildungsrecht­liehe Entscheidungen getroffen wurden, knüpften sie weitestgehend an die tradierten gesamtdeutschen bzw. bundesdeutschen Rechtskategorien an; dies gilt etwa für die Wiederherstellung der Hochschulselbstverwaltung, die Durchsetzung der Wissenschaftsfreiheit, das Recht auf freien Zugang zur (gymnasialen) Oberstufe, den Hochschulzugang u.a. Noch vor der Herstel­lung der staatlichen Einheit erliess der DDR-Ministerrat eine »Vorläufige Hochschulordnung«, welche die strukturelle, innerorganisatorische und in­haltliche Neuordnung in der Übergangszeit ermöglichte. Die personelle Er­neuerung der Hochschul- und Wissenschaftseinrichtungen auf dem Gebiet der DDR erfolgte demgegenüber auf der Grundlage des Einigungsvertrages. In­nerhalb von drei Jahren verabschiedeten alle Parlamente der ostdeutschen Bundesländer neue Hochschulgesetze (vgl. Reuter 1998, S. 32ff.).

Die organisatorische und strukturelle Neuordnung der Hochschulen geht maßgeblich auf die Arbeit des Wissenschaftsrates zurück, der im 1990 eine umfassende Bestandsaufnahme und Evaluation des Hochschul- und Wissen­schaftssystems im Auftrag der DDR-Regierung durchgeführt hatte. Leitend

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für seine 1990 und 1991 vorgelegten Empfehlungen war das Ziel der Herstel­lung einer strukturellen, organisatorischen und inhaltlichen Kompatibilität der Hochschulsysteme in den neuen und alten Bundesländern. Die Empfehlungen sahen Schließungen ebenso wie Neugründungen von Hochschulen bzw. Fa­kultäten sowie die Neugründung von Fachhochschulen, den Neuaufbau be­stimmter Fachgebiete wie Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Erziehungswis­senschaften sowie die Erneuerung der Lehrerbildung vor. Die besonderen Einrichtungen mit Hochschulcharakter und die Spezialhochschulen der DDR (z.B. die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam-Babels­berg, die Parteihochschule »Karl Marx«, die Militärakademie »Friedrich Engels«, die Militärpolitische Hochschule Berlin, die Polizeihochschule »Karl Liebknecht« oder die Juristische Hochschule Potsdam des Ministeriums für Staatssicherheit) sollten geschlossen oder soweit möglich in Universitäten integriert bzw. zu Fachhochschulen mit verbreitertem Fächerangebot umges­taltet werden. Zugleich sollte die Zusammenarbeit von Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen intensiviert und damit die Hoch­schulforschung gestärkt werden.

Formal betrachtet war die Aufgabe des Wissenschaftsrates die fachliche Beratung beim Um- und Ausbau des ostdeutschen Hochschulwesens. Tat­sächlich hat der Wissenschaftsrat direkten Einfluss auf diesen Umgestal­tungsprozess genommen, auch wenn die politischen Akteure in den neuen Bundesländer ihm nicht ausnahmslos gefolgt sind. So wurden beispielsweise die zwei konsequtiv geplanten Phasen »Sicherung der Arbeitsfähigkeit« und »Ausbau der Hochschulen« nicht eingehalten; vielmehr wurden Universitäten als Prestigeträger bereits in der ersten Phase errichtet. Vor allem aber beim quantitativen Ausbau liefen Wissenschaftsrats-Empfehlungen und Länder­hochschulpolitik auseinander (vgl. Fuchs 1997, S. 239f.; FuchslReuter 2000, S. 168).

Die personelle Erneuerung in den Bereichen Hochschule, Wissenschaft und Forschung erfolgte nach den Bestimmungen des Einigungsvertrages. Die fristgerechte Kündigung eines Arbeitnehmers war danach möglich bei man­gelnder fachlicher Eignung oder persönlicher Qualifikation und bei Auflö­sung oder Zusammenlegung von Dienststellen, wenn eine Weiterbeschäfti­gung an anderer Stelle nicht möglich war. Die außerordentliche Kündigung konnte ausgesprochen werden, wenn ein Arbeitnehmer für das Ministerium für Staatssicherheit tätig und ein Verstoß gegen die »Grundsätze der Mensch­lichkeit oder Rechtsstaatlichkeit« nachweisbar waren. An der Notwendigkeit der Personalreduzierung und personellen Erneuerung bestand grundsätzlich kein Zweifel; Gegenstand heftiger Kritik war jedoch ihre Durchführung. An­stelle von Einzelfallprüfungen wurden ganze Universitätssektionen aufgelöst, um arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen. Im Ergebnis wurden nicht selten regimeferne und SED-ergebene Hochschulleh­rer und Wissenschaftler in gleicher Weise behandelt. Vor allem die personelle

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Erneuerung stand unter extrem großen Zeitdruck, denn Entscheidungen über die Auflösung von Einrichtungen oder die Übernahme des Personals mussten innerhalb von drei Monaten nach der Herstellung der staatlichen Einheit ge­troffen werden. Nach dem 3. Januar 1991 waren nur noch Einzelfallkündi­gungen möglich. Mit der Auflösung der Akademien der DDR wurden etwa 24.000 Wissenschaftler freigesetzt; diese sollten für eine spätere Tätigkeit in den Universitäten evaluiert werden. Von den etwa 10.000 zur Übernahme empfohlenen Wissenschaftlern wurden im Rahmen des Wissenschaftlerinteg­rationsprogramms jedoch nur wenige tatsächlich in die Universitäten einge­gliedert (vgl. FuchsIReuter 2000, S. 169).

4 Rückblick und Ausblick

Die Transformation des Hochschul- und Wissenschaftswesen war etwa Mitte der neunziger Jahre abgeschlossen. Der Prozess der Angleichung verlief rela­tiv schnell und insgesamt überraschend reibungslos, wiewohl über gravieren­de Mängel und Fehlentscheidungen nicht hinweggesehen werden kann. In der Beurteilung des Transformationsprozesses gibt es bis heute Kontroversen; dies gilt etwa für die Einschätzung der Rolle der einzelnen Akteure, für die Bewertung der externen Interventionen oder die Chancen einer (internen) Selbsterneuerung der Hochschulen. Doch dürfte Konsens darüber bestehen, dass die Umgestaltung des ostdeutschen Hochschulwesens letztlich überwie­gend von außen, d.h. durch die verschiedenen westdeutschen Akteursgruppen bestimmt war (v gl. Fuchs 1997, S. 31lff.).

Eine ernsthafte Diskussion über die Frage nach »erhaltenswerten Struktu­ren«, die in das gesamtdeutsche Hochschulwesen hätten überführt werden können, hat nicht stattgefunden. Dies wäre immerhin mit Blick auf die straffe­re Organisation des Studiums, die Stellung des wissenschaftlichen Mittelbaus und die Betreuung der Studierenden gerechtfertigt gewesen. Der Wissen­schaftsrat hatte kurzzeitig Überlegungen zum Erhalt der günstigen Betreu­ungsrelationen an den ostdeutschen Hochschulen angestellt, diese jedoch angesichts des prognostizierten Anstiegs der Studentenzahlen in den ostdeut­schen Bundesländern aus finanziellen Gründen schnell wieder verworfen. Über eine Vergrößerung des akademischen Mittelbaus, wie er in den Hoch­schulen der DDR bestanden hatte, ist ebensowenig diskutiert worden wie über die Entwicklung eines verbindlichen Kernstudiums oder eine größere Straf­fung des Grundstudiums. Im Bereich der Studienreform war der Wissen­schaftsrat oft innovationsfreundlicher als manche der wissenschaftlichen Fachverbände, die sich massiv für die Einheitlichkeit des Hochschulsystems ein- und Reformen widersetzten. In dieser Frage hat erst in den letzten Jahren ein Umdenkungsprozess begonnen. Fraglos bestehen auch zehn Jahre nach

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der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands Unterschiede zwischen den ost- und westdeutschen Hochschulen. Erstere sind in verschie­denen Fächern unterausgelastet, letztere haben weiterhin in erheblichem Ma­ße mit Überfüllungsproblemen zu kämpfen. Unterschiede scheinen auch im Bereich der »Binnenkulturen« der ost- und westdeutschen Universitäten zu bestehen. Hierzu rechnen unter anderem die weiterhin existierenden Seminar­gruppen, die von den Studierenden aus fachlicher und sozialer Sicht geschätzt werden; allerdings sind ähnliche Entwicklungen auch an westdeutschen Uni­versitäten zu beobachten.

Literatur

Das Bildungswesen der Deutschen Demokratischen Republik. Gemeinschaftsarbeit der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften des Zentralinstituts für Berufs­bildung, des Instituts für Fachschulwesen, des Zentralinstituts für Hochschulbil­dung und der Humboldt-Universität. Berlin 3. Auf!. 1989.

Fuchs, Hans-Wemer: Bildung und Wissenschaft seit der Wende: Zur Transformation des ostdeutschen Bildungssystems. Opladen 1997.

Fuchs, Hans-Wemer: Bildung und Wissenschaft in der SBZlDDR 1945 bis 1989, in: Beiträge aus dem Fachbereich Pädagogik der Universität der Bundeswehr Ham­burg H. 5/1997, S. 3-146 (1997a).

Fuchs, Hans-Wemerl Reuter, Lutz R.: Bildungspolitik in Deutschland: Entwicklun­gen, Probleme, Reformbedarf. Opladen 2000.

Fuchs, Hans-Wemerl Reuter, Lutz R.: Bildungspolitik seit der Wende: Dokumente zum Umbau des ostdeutschen Bildungssystems (1989-1994). Opladen 1995.

Führ, ChristophIFurck, Carl-Ludwig (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsge­schichte, Band VI: 1945 bis zur Gegenwart, Zweiter Teilband: Deutsche Demo­kratische Republik und neue Bundesländer. München 1998.

Nooteboom, Cees: Berliner Notizen. FrankfurtlM. 1991 Reuter, Lutz R.: Rechtliche Grundlagen und Rahmenbedingungen (Deutsche Demo­

kratische Republik und neue Bundesländer), in: FührlFurck 1998, S. 26-36. Reuter, Lutz R.: Administrative Grundlagen und Rahmenbedingungen (Deutsche

Demokratische Republik und neue Bundesländer), in: FührlFurck 1998, S. 37-53.

Rytlewski, Ralf: Hochschulverfassung, Planung, Verwaltung und Finanzierung in der DDR, in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Köln 1990, S. 433-439.

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Hans Döbert

Schule in Ostdeutschland zwischen zwei Transformationsprozessen

Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 entstand für die ostdeutschen Bundesländer die vordringliche Aufgabe, innerhalb des nunmehr vereinigten deutschen Bildungswesens ein demokrati­sches Schulwesen auf rechtsstaatlicher Grundlage zu schaffen. Mit der deut­schen Einigung waren dabei Rahmendaten vorgegeben, durch die nicht mehr alle denkbaren Entwicklungsmöglichkeiten Realität werden konnten. Die Geschichte seit 1989 verdient deshalb einen Blick der Erinnerung.

1 Die Ausgangssituation

Die Nachkriegsgeschichte der beiden deutschen Staaten hat zwei zunächst unvereinbare Wirklichkeiten auch im Bildungswesen geschaffen, eine zentra­listische gegenüber einer föderalistischen Kompetenz in Bildungsfragen, die Einbindung in andere transnationale Verflechtungen, auch im Bildungsbe­reich neue Institutionen, etwa beruflicher Bildung oder der Lehrerbildung, und - selbstverständlich - andere Leitbilder und Begründungsmuster. Bil­dungstheoretische Leitvorstellung der DDR war die allseitig gebildete sozia­listische Persönlichkeit, die über eine breite wissenschaftsorientierte und damit auch parteiliche Allgemeinbildung verfügte. Diese Bildungskonzeption war Teil eines kollektivistisch orientierten Modernisierungsprozesses. Die Idee einer einheitlichen, gemeinsamen und auf einem lOjährigen vollzeitli­chen Schulbesuch basierenden Grundbildung schloss immer auch den Gedan­ken der Überwindung von Disparitäten unterschiedlichster Art ein. Die päda­gogische Maxime der DDR "Keinen zurücklassen!" war der allgemeinste Ausdruck dieses Anspruchs. Aus der bildungshistorischen und -sozio­logischen Forschung wissen wir inzwischen, dass die Gleichheitsversprechen des DDR-Bildungssystems nicht nur punktuell, sondern systematisch unter­laufen worden sind. Was die Entwicklung von Theorie und Praxis der Bil­dung und Erziehung in der DDR stark behinderte, war die autokratisch ver­ordnete Verbindlichkeit einer ministeriellen Bildungs- und Erziehungsauffas-

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sung, die letztlich der politischen Machtsicherung durch ideologisierte For­mierung des Individuums dienen sollte und so keine Alternativen zuließ.

Dem Einheitsanspruch des Schulsystems der DDR entsprach auf westli­cher Seite am ehesten die Idee der Differenzierung unter Wahrung prinzipiel­ler Vergleichbarkeit. Sie konkretisiert sich in der föderalen Organisation des Bildungssystems, in der institutionellen Struktur des gegliederten Schul­wesens, den schulformspezifischen Differenzierungsmöglichkeiten und nicht zuletzt in den breiteren Entscheidungsspielräumen der Einzelschule und des einzelnen Lehrers.

Der Neuautbau eines demokratischen Bildungswesens im Osten Deutsch­lands war nicht zuletzt deswegen schwierig, weil im Transformationsprozess gemeinsame Traditionen, Analogien und divergierende Entwicklungen der bei den deutschen Bildungssysteme aufeinandertrafen. Die Hoffnung auf ein besonnenes Abwägen etwaiger Vorzüge beider Bildungssysteme und auf den Erhalt pädagogisch und entwicklungspsychologisch hilfreicher Strukturen des DDR-Bildungswesens musste der Wirklichkeit des enormen Zeitdrucks der deutschen Vereinigung weichen.

2 Der erste Transformationsprozess

Die neue Schullandschaft im Osten Deutschlands entstand nicht in erster Linie als Ergebnis einer reformpädagogischen Bewegung der Lehrer und Eltern, sondern überwiegend als Folge einer politisch gewollten Umstruktu­rierung des gesamten Schulwesens, für die zum Teil nachträglich die Legiti­mation durch die betroffenen Schüler, Eltern und Lehrer eingeworben wurde. Der Neuautbau des Schulwesens in den neuen Ländern war bis heute über­wiegend eine äußere Schulreform. Wegen der Vergleichbarkeit von Bildungs­und Berufsabschlüssen sowie damit verbundener Chancengleichheit entstand ein enormer Druck, die Schulstruktur in den neuen Ländern möglichst schnell westdeutschen Regelungen anzupassen. Trotzdem kann von einem einfachen "Überstülpen" nicht die Rede sein. Zum einen bestand ein erheblicher innerer Druck zur Anpassung durch die Öffentlichkeit in den neuen Ländern, insbe­sondere durch den massiven Wunsch der Eltern nach dem Gymnasium und dem freien Zugang zum Gymnasium. Zum zweiten waren Entwicklungen nur innerhalb der vom Einigungsvertrag und bundesweiten rechtlichen Regelun­gen gezeichneten recht engen Grenzen und unter erheblichem Zeitdruck mög­lich. Und drittens schließlich haben die bildungspolitisch Verantwortlichen in den neuen Ländern trotz des eingeschränkten rechtlichen und zeitlichen Handlungsspielraumes diesen offenbar als hinreichend groß erachtet, um westdeutsche Problembereiche (z.B. die Hauptschule) nicht formal überneh­men zu müssen und eigenständige Lösungsbemühungen praktizieren zu kön-

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nen. Gesellschaftspolitisch könnte man von einem "Transfonnationsexperi­ment" sprechen, in dem nicht nur die Muster der sozialen Organisation, der Lebensstile und Weltanschauungen in Frage gestellt sind, sondern auch die gesellschaftlichen Makrostrukturen einer grundlegenden Neugestaltung unter­liegen. Unverkennbar hat das Tempo des Einigungsprozesses schon frühzeitig nicht nur zu unerwarteten, sondern teilweise auch zu unerwünschten Ergeb­nissen geführt, u.a. zu gravierenden Verunsicherungen und De-Institutiona­lisierungen, zu Mobilisierungen und zu Verwerfungen des sozialen Lebens. Aber das pädagogische Alltagsgeschäft ging dennoch weiter: Kinder wurden in Schulen unterrichtet und in Horten betreut, an Universitäten wurde gelehrt und geforscht; Bildungszertifikate wurden erteilt und Berechtigungen erwor­ben. Gleichwohl befanden sich Erziehungswissenschaft und Pädagogik in einer besonders prekären Situation. Die Wissenschaft von der Erziehung, diskreditiert durch ihre Rolle als Erfüllungsgehilfe der Politik in der DDR, wurde mit der berechtigten Forderung einer radikalen theoretischen und per­sonellen Revision konfrontiert; die pädagogische Praxis sah sich in der para­doxen Situation, ihren eigenen Alltag mit dem alten Personal aufrechterhalten zu müssen und dennoch, gleichzeitig, die strukturellen und curricularen Ver­änderungen des Schulsystems durchzusetzen. Nicht zuletzt deshalb ist das Schulwesen in den ostdeutschen Bundesländern durch ein spezifisches Ver­hältnis von Kontinuität, in personeller Hinsicht oder in bezug auf den Stil des Unterrichts, und Wandel, in struktureller oder curricularer Hinsicht, geprägt (vgl. Benner et al. 1996). Aus organisationssoziologischer Perspektive spricht dies eher für Stabilitätsmomente im Transfonnationsprozess.

Der Prozess der deutschen Einigung mag rechtlich weitgehend abge­schlossen sein, weder politisch noch im Alltag der Menschen ist er praktisch bewältigt oder in seinen Folgen reflexiv bearbeitet. Solche Situationen ver­langen nach Wissenschaft und begleitender Reflexion, und die deutsche Ge­schichte seit 1990 wurde deshalb nicht nur gestaltet, erlebt und erlitten, son­dern für die empirisch orientierten Sozialwissenschaften auch zu einem gro­ßen Experiment und zu einem intensiv genutzten Studien- und Beobachtungs­fall. Bevor nachfolgend einige ausgewählte Ergebnisse der wissenschaftlichen Bearbeitung des Transfonnationsprozesses dargestellt werden, sind zunächst forschungsmethodische und begriffliche Klärungen notwendig.

3 Begrifflicher und forschungsmethodischer Kontext

Transfonnationsforschung, wie der Sammelname für die hier angesprochenen Aktivitäten inzwischen zu sein scheint, ist insgesamt ein relativ heterogenes Gebilde, sowohl thematisch wie methodisch, besonders aber theoretisch. Der Begriff der Transfonnation hat sich zwar seit langem eingebürgert, aber trotz

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zahlreicher Debatten und begriffskritischer Überlegungen kaum präzise theo­retische Kontur gewonnen. Der Begriff der Transformation wird - trotz seiner Mängel - seine plakative Kraft wahrscheinlich behalten, schon weil er in relativ offener Weise integriert, was sich an bisherigen Arbeiten entwickelt hat. Bei der Interpretation der Befunde derzeit vorliegender Untersuchungen so­wie der gesamten wissenschaftlichen Diskussion zu Fragen der Transforma­tion des ostdeutschen Schulwesens ist folgendes zu beachten:

• Die Untersuchungsergebnisse - insbesondere zur Zufriedenheit ostdeut­scher Lehrerinnen und Lehrer - sind in hohem Maße davon abhängig, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Region die jeweilige Untersuchung durchgeführt wurde. So zeigen beispielsweise Untersuchungen gleich zu Beginn der äußeren Schulreform in den Ländern eine ausgesprochene Verunsicherung von Lehrern. Befragungsergebnisse zu dieser Zeit sind entscheidend durch Existenzangst, Sorge um Weiterbeschäftigung und Unzufriedenheit mit Rahmenbedingungen weitergeführter Arbeitsver­hältnisse der Lehrerinnen und Lehrer geprägt. Solchen Befunden gerade­zu konträr gegenüber stehen Untersuchungsergebnisse Mitte der 90er Jahre von Lehrerinnen und Lehrern, die z.B. schon verbeamtet wurden oder sich beruflich sicher wähnen. In diesen zeigt sich eine hohe Zufriedenheit.

• Stichproben wurden überwiegend als Zufallsstichproben, zum Teil ge­schichtet, bzw. als willkürliche Klumpenstichproben gezogen. Sie bezie­hen sich aber meist nur auf ein Bundesland oder noch kleinere regionale Einheiten. Deshalb lassen sie kaum repräsentativen Rückschlüsse auf die Situation der Schulen, Schüler und Lehrer in den ostdeutschen Ländern insgesamt zu.

• Bezüglich der Befragungsgebiete zeigt sich ein deutliches Nord-Süd­Gefälle. Deutlich weniger Untersuchungen gab es bisher im nordostdeut­schen Raum (Mecklenburg-Vorpommern) sowie für Sachsen-Anhalt. Ei­ne Häufung von Untersuchungen ist für Brandenburg und Thüringen fest­stellbar.

• Die Möglichkeiten eines systematischen West-Ost-Vergleichs wurden noch nicht genutzt, wenn von Untersuchungen innerhalb Berlins abgese­hen wird, die sich nicht umstandslos für die Bundesrepublik generalisie­ren lassen.

Trotz der genannten Einschränkungen verfügt die erziehungswissenschaftli­che Transformationsforschung Ende der neunziger Jahre insgesamt über einen aussagefähigen empirischen Datenfundus, der durch bildungssoziologische und sozial-historische Arbeiten sowie reflektierende Erfahrungsberichte ge­stützt ist (vgl. u.a. Benner et al. 1996; Döbert 1997a; HofmannlDöbertl Geiß­ler 1999; Köhler et al. 1997; Kornadt 1996; Schnabel et al. 1996; Schubarth 1998; WeishauptlZedler 1994).

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4 Ergebnisse der erziehungswissenschaftlichen Transformationsforschung

Personell, institutionell und gesellschaftlich sind die Ergebnisse der Trans­formation des Bildungssystems seit 1991 deutlich erkennbar. Dabei zeigt sich, dass zunächst die Kulturhoheit der neuen Länder und die dort herr­schenden politischen ParteieJ;l und Koalitionen den Prozess der Neugestaltung der Bildungslandschaft beeinflusst haben. Das gilt freilich nicht in allen Poli­tikbereichen in gleicher Weise, denn relativ starke Gestaltungs- und Hand­lungschancen besitzen die Länder nur im Schulbereich, während ihre einge­schränkte, aber auch deutlich erkennbare Kompetenz im Hochschulbereich immer in Konkurrenz zur Bundespolitik wirksam wird (wie auch in der beruf­lichen Bildung).

Das wohl herausragendste Ergebnis des bisherigen Transformationspro­zesses des ostdeutschen Schulwesens ist die weitgehende Schaffung neuer Schulstrukturen. In kaum mehr als drei Schuljahren wurde in den ostdeut­schen Ländern ein weitgehend einheitlich strukturiertes durch ein plurales Schulwesen abgelöst. Nicht in jedem Falle - so wird heute diskutiert (vgl. Erster Kongress 2000) - wäre eine vollständige Umgestaltung vorhandener Strukturen erforderlich gewesen, um Modernisierungsrückstände aufzuholen und die ideologische Ausrichtung des Schulwesens zu beseitigen. Die drei neuen Schulformen (Mittel-, Regel- und Sekundarschule) in Sachsen, Thürin­gen und Sachsen-Anhalt müssen ihre strukturelle wie pädagogische Profilbil­dung erst noch bestätigen. Diese drei neuen Schulformen existierten zuvor nicht in der Bundesrepublik Deutschland. Abweichungen von strukturellen Regelungen in den westdeutschen Ländern zeigen sich auch im Fehlen eines zweiten eigenständigen Bildungsgangs in der Sekundarstufe n neben der gymnasialen Oberstufe, in der Weiterführung von Spezialschulen der DDR (etwa als Sportgesamtschulen oder -gymnasien) sowie in der Einführung der Gesamtschule als ,,Massenschule" in Brandenburg (über 50% der Branden­burger Schülerschaft). Die Sekundarstufe n hingegen entspricht in den ost­deutschen Ländern weitgehend der in den westdeutschen Bundesländern. Unterschiede gab es hier vor allem in der Frage der Gesamtdauer bis zum Abitur (12 statt 13 Schuljahre). Inzwischen haben Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt neben Berlin und Brandenburg ebenfalls das 13. Schul­jahr eingeführt.

Die zur Verfügung stehenden Untersuchungen liefern insgesamt keine Hinweise darauf, dass die Transformation des Bildungswesens in den neuen Bundesländern von den Lehrern oder den Schülern als identitätsbedrohender Umbruchprozess - von nicht näher quantifizierbaren Ausnahmen abgesehen -erlebt wurde. Die Befunde sprechen eindeutig für eine relativ schnelle Anpas­sung an veränderte Bedingungen. Insbesondere ostdeutsche Lehrerinnen und

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Lehrer haben eine berufsspezifische (professionelle) Anpassungsleistung vollzogen, auf die sie durch die betont berufspraktische Lehrerausbildung in der DDR scheinbar weitgehend vorbereitet waren (vgl. Schnabel et al. 1996; Döbert 1997a; Kornadt 1996).

Mitte der neunziger Jahre konnte daher begründet festgestellt werden, dass in den östlichen Bundesländern die äußere Schulreform zu einem vorläu­figen Abschluss gekommen ist. Zugleich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die vorliegenden Befunde aber darauf hindeuten, dass aufgrund demo­graphischer Brüche das mühsam um- und neu aufgebaute Schulnetz und da­mit die gerade erst geschaffene Schulstruktur kaum Bestand haben dürfte (vgl. Döbert 1997b; Köhler et al. 1997).

5 Die neue Problemlage

Das größte Problem für die Stabilisierung der neu geschaffenen Schulland­schaft und für den Erfolg der noch ausstehenden inneren Schulreform in den ostdeutschen Ländern ist der seit 1990 zu beobachtende dramatische Gebur-

Abbildung J: Entwicklung der Schülerzahlen in Berlin (Klassen 7 bis 10)

Schülerzahlen Klassen 7 bis 10 I C Berlin-West • Berlin-Ost I

71850

~ - ,. ~/;- -1999/2000 2000/2001 2003/2004 2007/2008

Quelle: Senatsverwaltung für Schule. Jugend und Sport. Berlin 2000

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tenrückgang, als dessen Hauptgrund die schwierige sozio-ökonomische Situ­ation in Ostdeutschland gilt. Alle Prognosen und Hochrechnungen zur Ent­wicklung der Schülerzahlen in den neuen Bundesländern verweisen darauf, dass auf Grund extrem sinkender und für 15 bis 20 Jahre sehr niedriger Schülerzahlen das bisher entstandene Schulnetz und viele Schulstandorte kaum zu halten sein dürften (vgl. z.B. Köhler et al. 1997). Insbesondere in den bevölkerungsarmen Flächenländern führt der Geburtenrückgang zu er­heblichen Problemen für die allgemeinbildenden Schulen. Während in Bran­denburg im Schuljahr 1991/92 noch 38.350 Schulanfanger und im Schuljahr 1998/99 noch nahezu 18.000 Erstklässler zu verzeichnen waren, wurden zum Schuljahr 2000/01 nur noch 15.330 Schüler eingeschult. Das Bildungsminis­terium des Landes Brandenburg schätzt ein, dass sich in Folge des Geburten­rückgangs die Schülerzahlen in den Klassen 7 bis 10 (Sekundarstufe I) von 142.640 im Schuljahr 2000/01 auf zunächst 127.000 im Schuljahr 2003/04 und nur noch vermutliche 67.000 im Schuljahr 2008/09 reduzieren werden (vgl. Pressemitteilung 153/00). Damit wird sich die Zahl der Schulen mit Sekundarstufe I von 423 im Schuljahr 2000/2001 auf 258 im Schuljahr 2005/2006 reduzieren. Um wenigstens 50% der bedrohten Schulstandorte erhalten zu können, werden Vorstellungen diskutiert, Gesamtschulen (ohne gymnasiale Oberstufe) und Realschulen zu sogenannten Sekundarschulen zusammen zu legen. Nach den gleichen Berechnungen wird die Gesamtzahl brandenburgischer Schülerinnen und Schüler (ohne berufsbildenden Bereich) von 421.850 im Schuljahr 2000/01 auf den geringsten Wert von ca. 270.000 im Schuljahr 2010/11 zurückgehen. Das bedeutet einen Rückgang von über 200.000 Schülerinnen und Schülern in rund 15 Jahren gegenüber dem höchs­ten Wert 1996/97 mit über 476.000 Schülern. Nicht besser ist die Situation in Berlin, insbesondere in den östlichen Stadtbezirken. In den dortigen Grund­schulen werden im Schuljahr 2000/01 ca. 7.500 Schüler unterrichtet. Im Schuljahr 1995/96 waren es noch 16.500 (vgl. Statistisches Landesamt 2000). Seit 1997 wurden nach Angaben des Landesschulamtes 45 Grundschulstand­orte aufgegeben. Mindestens 40 weitere stehen in den nächsten beiden Schul­jahren zur Disposition. Das dürfte aber erst der Anfang des Schulsterbens im Osten sein: Der Schülerrückgang wird bald den weiterführenden Schulen zu schaffen machen. Bis zum Schuljahr 2007/08 wird sich die Zahl der Schüler in den Klassen 7 bis 10 im Osten von derzeit 63.100 auf etwa 33.300 halbie­ren. Auch hier wird mit der Aufgabe von Schulstandorten gerechnet.

In M ecklenburg-Vorpommern ist der Rückgang der Schülerzahlen noch erheblich größer: Während dort zum Schuljahr 1993/94 noch 28.000 Schüler in die 1. Klasse eingeschult wurden, sind es im Schuljahr 2000/01 weniger als 9.500. Die Folge ist, dass viele Grundschulstandorte aufgegeben werden mussten. Von ehemals 962 öffentlichen allgemeinbildenden Schulen (Schul­jahr 1992/93) in Mecklenburg-Vorpommern gibt es im Schuljahr 2000/01 noch 816. Aber auch hier hat das Schulsterben erst begonnen.

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Hinzu kommt, dass in diesen dramatischen SchüleITÜckgang eine vom Ver­halten der Eltern und Schüler verursachte expansive Bildungsbeteiligung hineinwächst, von der vor allem das Gymnasium profitieren wird. Das hat nicht nur verschärfende Auswirkungen auf das Schulnetz, sondern direkt auch auf LehrersteIlen. Lehrerinnen und Lehrer werden erneut vor völlig neue Herausforderungen, etwa eine fehlende Arbeitsplatzgarantie, veränderte Ar­beitszeitmodelle, weite Fahrwege zu Schule, jahrgangsübergreifenden Unter­richt, Bedarfskündigungen usw. gestellt.

In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise wurden in direkter Relation zu den drastisch zurückgehenden Schülerzahlen ein Stellenabbau für Lehr­kräfte fixiert, wobei die angegebenen Abbauzahlen jeweils zum 31.07. jedes Jahres zu realisieren sind.

Abbildung 2: Stellenabbau für Lehrkräfte in Mecklenburg-Vorpommern

1400

1200

1000

:c 800 nI N :::J nI .c

600 .c ~

400

200

Quelle: Kultusministerium Mecklenburg-Vorpommern: Informationsbroschüre 2 zum Personalkonzept, Schwerin 1996

Bereits diese ausgewählten Beispiele deuten an, dass in den nächsten Jahren Herausforderungen an die Schulsysteme in den ostdeutschen Bundesländern

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zu erwarten sind, die mit hoher Wahrscheinlichkeit jene der letzten acht Jahre bei weitem übersteigen werden. So hat sich in den neuen Bundesländern seit 1997 der Bestand an LehrersteIlen von insgesamt 135.900 Stellen jährlich um ca. 5,4% reduziert (vgl. Wochenbericht 13/99, S. 256). Berechnungen des Lehrerbedarfs bis zum Jahr 2010 zeigen, dass sich die Zahl der LehrersteIlen in den ostdeutschen Bundesländern zwischen den Jahren 2000 und 2005 um jährlich 7,6% und von 2006 bis 2010 um jährlich 1,9% verringert wird (vgl. ebenda). Dieser Stellenabbau wird damit deutlich größer als der von 1990-1993.

Daher lautet meine These: Der zweite Transformationsprozess im ost­deutschen Schulwesen seit der deutschen Wiedervereinigung hat gegen Ende der neunziger Jahre begonnen, ohne dass das gerade neu etablierte Schulsys­tem Gelegenheit hatte, sich zu stabilisieren und die erforderliche innere Schulreform erfolgreich zu Ende zu führen. Er wird sehr viel tiefgreifendere, kompliziertere und gänzlich neue Lösungen verlangende Veränderungen mit sich bringen.

Ein erster Vergleich der beiden Transformationsprozesse im ostdeutschen Schulwesen macht bereits wesentliche Unterschiede sichtbar: Im Gegensatz zum ersten Transformationsprozess stellt der jetzige keine politisch gewollte Veränderung dar. Zudem müssen die ostdeutschen Länder - im Unterschied zur ersten Umstrukturierung des Schulwesens - eigenständige und teilweise gänzlich neue Lösungen suchen. Das betrifft insbesondere die rechtlichen, strukturellen und curricularen Vorgaben und Regelungen im westdeutschen Schulwesen (etwa das Hamburger Abkommen und die Schulgesetze der Län­der), die den wesentlichen Entscheidungs- und Handlungsrahmen für die Neugestaltung des Schulwesens in den ostdeutschen Ländern darstellten. Das mühsam geschaffene, eine wohnortnahe differenzierte Schulversorgung ga­rantierende Schulnetz erfahrt im zweiten Transformationsprozess eine spürba­re Ausdünnung. Damit gehen schulstrukturelle Veränderungen einher, die zugleich einen nochmaligen curricularen und personalen Wandel veranlassen. Das Problem wird zunehmend darin bestehen, die Lösungen für diese Verän­derungszwänge in Übereinstimmung mit den rechtlichen Rahmenbedingungen (Vorgaben der KMK, Schulgesetze ) zu halten.

Steuerungsstrategisch versuchen die neuen Bundesländer den skizzierten neuen Herausforderungen mit folgenden Maßnahmen zu begegnen (vgl. auch Fuchs 1997): Schließung von Schulen, Aufgabe von Schulstandorten und Vergrößerung der Schuleinzugsbereiche, Veränderung der Schulstruktur (Tendenz zu verbundenen Schulformen), Einführung des Klassen übergrei­fenden Unterrichts in Grundschulen, Entwicklung von Personalkonzepten (Einrichtung von Teilzeitarbeitsverhältnissen von Lehrern, ausgenommen in Mangelfachern; Abfindungs- und Vorruhestandsregelungen; bedarfsbedingte Kündigungen). Am Beispiel des Landes Mecklenburg-Vorpommern sollen im Folgenden diese allgemeinen Aussagen konkretisiert werden.

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6 Der "zweite" Transformationsprozess in Mecklenburg­Vorpommern

Das in Mecklenburg-Vorpommern 1991 eingeführte dreigliedrige Schulsys­tem entwickelte strukturell und zum Teil inhaltlich keine Stabilität. Auch Anfang der neunziger Jahre, also vor dem dramatischen Schülerrückgang, erfuhr der Hauptschulbildungsgang eine immer geringere Akzeptanz, wäh­rend das Gymnasium von Anfang an das Maß aller Dinge war. Auf Grund des seit Mitte der neunziger Jahre spürbaren Schülerrückgangs nahmen die Klas­sen, in denen Haupt- und Realschüler bildungsgangübergreifend gemeinsam von einem Fachlehrer unterrichtet werden, zwangsläufig seit Jahren zu. Was in dem 1996 verabschiedeten Schulgesetz noch als Ausnahme vorgesehen war, ist inzwischen zur Regel geworden. Bildungsgangübergreifender Unter­richt für Haupt- und Realschüler wird von den Schulträgern in zunehmendem Maße beantragt. Im Schuljahr 1999/2000 erfolgte an 44,1 % der Verbundenen Haupt- und Realschulen der Unterricht bildungsgangübergreifend. Anders ist eine wohnortnahe Beschulung der oftmals nur 8 bis 11 Hauptschüler an einem Schulstandort nicht mehr aufrecht zu erhalten. So hat sich in Mecklenburg­Vorpommern bis zum Schuljahr 199912000 die Organisationsstruktur des allgemein bildenden Schulwesens wie folgt gewandelt: von den noch vorhan­denen 13 Hauptschulen sind allein 11 mit einer Grundschule verbunden. Von den insgesamt 332 Realschulen existieren 50 selbständig, 33 sind mit einer Grundschule und 122 mit einer Hauptschule verbunden, weitere 126 verbun­dene Haupt- und Realschulen bilden eine organisatorische Einheit mit einer Grundschule und eine Haupt- und Realschule sogar eine solche mit einer integrierten Gesamtschule. Zwei von den insgesamt 87 Gymnasien sind mit einer Realschule kombiniert. Zudem werden 15 integrierte und sechs koope­rative Gesamtschulen angeboten. Insgesamt 286 Grundschulen, drei Waldorf­schulen und 97 Förderschulen vervollständigen das Schulangebot in Meck­lenburg-Vorpommern (vgl. Schulstatistik 1999). Die Schulentwicklungspla­ner im Land schätzen das derzeitige Schulnetz als zu eng ein. Eigenständige Bildungsgänge der Haupt- und Realschule dürften demnach in absehbarer Zukunft nicht mehr zu erhalten sein. Allerdings stellt die bisherige Regelung, wonach die Bildung einer bildungsgangübergreifenden 10. Klasse mit Haupt­und Realschülern zugelassen war, einen Verstoß gegen den § 6 (5) der VO über die Stundentafeln dar. Danach müssen diese Klassen abschlussbezogen auf der Leistungsebene der beiden Schulfonnen bestehen (vgl. Erlass 2000). Andererseits wurde mit gleichem Erlass die für Mecklenburg-Vorpommern inzwischen sehr unflexible Festlegung gestrichen, dass einmal gebildete Klas­sen nur alle zwei Jahre verändert werden können. Die Folge ist, dass Klassen nunmehr nach jedem Jahr verändert werden. Der Landesregierung dürfte insgesamt nichts anderes übrig bleiben, als bei Schulen, aber auch bei Berufs-

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schulen und Hochschulen strukturelle Neuorientierungen anzugehen und in realistischen Zeiträumen durchzusetzen. So konnte über alternative Standort­simulationen nachgewiesen werden, dass in Mecklenburg-Vorpommern lang­fristig ein mit der gegenwärtigen Situation vergleichbares Standortnetz an Grundschulen bestandsfähig ist, wenn einzügige Grundschulen im ländlichen Raum mit jahrgangsübergreifenden Klassen zugelassen werden (vgl. Ficker­mann et al. 2000).

Schulorganisatorisch strebt Mecklenburg-Vorpommern folgende Ziele an: Die Unterrichts versorgung soll stabilisiert und zugleich soll ein differen­ziertes Unterrichtsangebot aufrecht erhalten werden; die Schulentwicklungs­planung soll auf die Tatsache deutlich zurückgegangener Schülerzahlen, die zehn bis fünfzehn Jahre auf diesem niedrigen Niveau verbleiben werden, eingestellt werden; ein wohnortnahes Schulangebot soll bei Wahrung verhält­nismäßiger Schulwege (bei Grundschülern betragen diese zur Zeit maximal zweimal 40 Minuten und bei Schülern der Sekundarstufe I maximal zweimal 60 Minuten) aufrecht erhalten werden; das Lehrerpersonalkonzept, das seit 1996 existiert, soll fortgeschrieben werden.

Bedingt durch den drastischen Rückgang der Schülerzahlen reduziert sich der Lehrerbedarf erheblich. Bis zum Jahr 2010 sind ca. 11.000 LehrersteIlen von den 1996 vorhandenen 19.500 durch Anpassung des Lehrkräftebestandes an den Lehrkräftebedarf abzubauen. Das Land und die Berufsverbände der Lehrer in Mecklenburg-Vorpommern haben sich daher 1996 im Rahmen einer "Sozialplanung" auf ein Lehrerpersonalkonzept verständigt, das aus zwei wesentlichen Komponenten besteht: zum einen dem Plan zur sozialen Abfe­derung des Stellenabbaus (vor allem durch Abfindung bei Aufhebungsvertrag, Vorruhestandsgeld, freiwillige Teilzeitbeschäftigung, Versetzung an eine berufliche Schule) und zum anderen dem Plan zur Verbesserung der Unter­richtssituation an den Schulen (was in der Regel zu einer Erhöhung des Lehr­kräftebedarfs führt und beispielsweise im laufenden Schuljahr eine Unter­richtsversorgung von 100,3% ermöglicht). Ergänzend zu den genannten Maß­nahmen sind weitere Personalmaßnahmen wie das Sabbatjahr und eine Be­schäftigungsgesellschaft in der Diskussion. Trotz des laufenden Personalab­baus - im Schuljahr 1999/2000 müssen beispielsweise 971 Stellen abgebaut werden - soll ein definierter jährlicher Einstellungskorridor von 120 Stellen (40 zum 1.2. und 80 zum 1.8. jeden Jahres) insbesondere für Mangelfächer und Berufsanfänger gesichert werden. Eine anonyme Befragung unter den Lehrkräften in Mecklenburg-Vorpommern (n=12.295) zur Akzeptanz des Lehrerpersonalkonzepts erbrachte eine relativ hohe Zustimmung zu den Maß­nahmen Vorruhestand (40,4%) und Teilzeitarbeit (35,6%). Diese beiden Maßnahmen werden bei der Realisierung des Stellenabbaus von der Landes­regierung auch vorzugsweise angewandt. Künftig werden alle Grundschul­lehrer, auch die Schulleiter, teilzeitbeschäftigt sein. Berechnet wird der tat­sächliche Beschäftigungsumfang nach der inzwischen sicher bekannten For-

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mel 50% + x. Das "x" wird dabei grundsätzlich nur für ein Schuljahr befristet und jeweils neu bestimmt. Grundlage der Vergabe ist der Bedarf im betref­fenden Schulamts bereich, der möglichst gleichmäßig unter Berücksichtigung von Härtefallen auf die Beteiligten verteilt werden soll.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass durch den Geburtenrückgang ein neuer Transformationsprozess im ostdeutschen Schulwesen ausgelöst worden ist. Nachdem sich die ostdeutschen Länder 1991/1992 mit den neuen schulorganisatorischen Strukturen an den westdeutschen Vorbildern orientiert hatten, müssen sie nun Lösungen suchen, die den spezifischen demographi­schen und bildungspolitischen Gegebenheiten entsprechen. Diese Entwick­lungen dürften trotz des bisherigen institutionellen Wandels und trotz der erreichten Veränderungen von Bildung und Erziehung für den weiteren Re­formprozess im ostdeutschen Schulwesen nicht gerade förderlich sein. Gewiss hängt die Stabilisierung des ostdeutschen Schulwesens entscheidend von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und von denen der einzelnen Schule und ihrer Akteure ab. Eine Betrachtungsweise, die nur auf den Transformati­onsprozess schaut, greift daher sicher zu kurz. Andererseits dürfen die Folge­wirkungen dieser neuen Transformation auf Prozesse im Umfeld der Schule und in den Schulen selbst keinesfalls unterschätzt werden.

Literatur

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Wochenbericht 13/99 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung: Zum Bedarf an Lehrern in Deutschland bis zum Jahre 2015, S. 252-259.

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Horst Weishaupt

Demographie und Schulentwicklung in den neuen Ländern

Die Transformation des Schulwesens in den neuen Bundesländern Anfang der 90er Jahre war eine tiefgreifende Herausforderung für alle Beteiligten. Sie wurde in einer im Rückblick beeindruckenden Weise bewältigt (s. dazu Bött­cherlPlath/Weishaupt 1997; Zedler/Weishaupt 1997; Böttcher/Weishaupt 1999). Inzwischen führen die demographischen Verwerfungen aber bereits wieder zu neuen Veränderungsnotwendigkeiten. Die Schulen haben folglich keine längere Phase der Konsoldierung, sondern müssen sich an die rückläu­fige Schülerzahlenentwicklung anpassen. Im folgenden Beitrag werden einige aktuelle Situationen und Handlungsoptionen im Bildungswesen und sich daraus ergebende Perspektiven der Schulentwicklung in den neuen Ländern beschrieben.

1 Demographische Herausforderungen und Lösungsansätze

Während der gegenwärtig einsetzende Geburtenrückgang in den alten Bun­desländern im wesentlichen als sogenannter »Echo-Effekt« des Geburten­rückganges der 70er Jahre interpretiert werden kann (die damaligen Kinder kommen jetzt in die Phase der Familiengründung), ist der Geburtenrückgang in den neuen Bundesländern nach 1990 historisch einmalig. Im Durchschnitt der neuen Länder (ohne Ost-Berlin) wurden 1993-1995 ca. 60% Kinder we­niger geboren als 1989. Zwar steigt seit 1995 die Zahl der Geburten wieder an, doch verlangsamte sich der Anstieg 1998 und 1999 auf weniger als zwei Prozent. Demographen vermuten deshalb inzwischen, dass der erwartete Anstieg der Geburtenzahlen in den neuen Ländern auf das Geburtenniveau in W estdeutschland ~ wenn überhaupt - dann nur längerfristig als zunächst erhofft eintritt (Daten zur Einschätzung der Situation in GrünheidIRoloff 2000). In Zukunft ist höchstens mit zwei Drittel des Geburtenniveaus der DDR in den 80er Jahren zu rechnen, langfristig sinkt die Zahl der Geburten weiter ab.

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Initiativen zur Novellierung der Schulgesetze, neue Verordnungen zur Schul­entwicklungsplanung in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt und aktuelle Planungsstudien für Brandenburg (vgl. Landtag Brandenburg 1999; Landesregierung Brandenburg 2000) und Thüringen (vgl. KuthelZedler 1995; 1999) zeigen, dass durch den Geburtenrückgang eine neue Schulstrukturde­batte ausgelöst worden ist (vgl. Fuchs 1999). Nachdem sich die ostdeutschen Länder 1991/1992 mit den neuen schulorganisatorischen Strukturen an west­deutschen Vorbildern orientierten, müssen sie nun verstärkt nach schulstruk­turellen Lösungen suchen, die den spezifischen demographischen und sied­lungsstrukturellen Gegebenheiten besser angepasst sind.

Die inzwischen vorliegenden Untersuchungen zur Anpassung des Schul­bestands an die rückläufigen Schülerzahlen kommen einheitlich zu dem Er­gebnis, dass es notwendig ist, die Planungsüberlegungen nicht an der Talsohle der Schülerzahlenentwicklung auszurichten (vgl. KuthelZedler 1995; 1999; FickermannlSchulzeck/Weishaupt 2000a; 2000b). Für einige Jahre während des »Schüler-Tiefs» wird empfohlen, die Mindest-Klassenfrequenz an gefähr­deten Schulstandorten zu unterschreiten, sofern sie anschließend wieder eine ausreichende Schülerzahl erreichen werden. Das setzt voraus, dass den neuen Ländern im Vergleich zu den westdeutschen Flächenstaaten günstigere Schü­ler-Lehrer-Relationen für eine verbesserte Lehrerversorgung zugestanden werden.

1.1 Kleine Grundschule

In Thüringen führte die Analyse der Konsequenzen des Geburtenrückgangs für die Entwicklung der Grundschulen zu dem Ergebnis, dass die Schließung einer großen Zahl von Grundschulen nur vermieden werden kann, wenn Schu­len mit jahrgangsübergreifenden Klassen schulrechtlich ermöglicht werden (vgl. KuthelZedler 1995). Inzwischen gibt es auch eine Vielzahl entsprechen­der Versuche. Simulationsrechnungen am Beispiel von Mecklenburg-Vor­pommern hatten zum Ergebnis, dass bei einer optimalen Wahl der Schul­standorte nach Überwindung des Schülertiefs sowohl ein Netz mindestens einzügiger Grundschulen als auch ein Grundschulnetz, das kleine Schulen mit jahrgangsübergreifenden Klassen gestattet, schulplanerisch denkbar ist. Beide Schulnetze weisen keine nennenswerten Unterschiede in den laufenden Be­triebskosten (ohne Unterhalt der Schulgebäude) auf (vgl. Fickermannl Schulzeck/Weishaupt 2000a).

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1.2 Standortkonkurrenz in der Sekundarstufe I als Problem der Sicherung einer wohnortnahen und leistungsfähigen Schulstruktur

Die Konsequenzen des Geburtenrückgangs für die Schularten in der Sekun­darstufe I sind weniger eindeutig absehbar. weil in dieser Schulstufe zu der demographischen Entwicklung noch Veränderungen in der Bildungsbeteili­gung hinzukommen können. Um die Verringerung des Schulnetzes in der Sekundarstufe I in einer vertretbaren Größenordnung zu halten. wird es in der Planungsstudie für Thüringen als notwendig angesehen. zur Überbrückung der Jahre mit den niedrigsten Geburtsjahrgängen Regelschulen mit nur einer

Abbildung 1: Anzahl der tragfähigen Schulstandorte in Abhängigkeit von unterschiedlichen Schulbesuchsquoten in Mecklenburg-Vorpommem 20l3-2017

300

250

200

150

100

50

0 25 30 35 40 45

• Gymnasien • Haupt-/Realschulen (mindest. einzügig) o Haupt-/Realschulen (mindest. zweizügig)

Quelle: Statistisches Landesamt; eigene Berechnungen

50

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Klasse je Jahrgang und Gymnasien mit zwei Klassen je Jahrgang zuzulassen, wenn absehbar ist, dass nach 2015 Zweizügigkeit bei der Regelschule und wenigstens 50 Schüler je Jahrgang im Gymnasium wieder erreicht werden. Ähnlich lauten die Empfehlungen der Regierungskommission "Entwicklung der Schulen der Sekundarstufe I im ländlichen Raum des Landes Branden­burg" (vgl. Landesregierung Brandenburg 2000). Mecklenburg-Vorpommern gestattet unter bestimmten Voraussetzungen kombinierte Haupt-lRealschulen mit nur einer Klasse je Jahrgang. Die Abbildung 1 zeigt, dass bei der Stand­ortkonkurrenz zwischen Gymnasien und Haupt-lRealschulen in Mecklenburg­Vorpommern die Sicherung eines fachlich qualifizierten Unterrichts in der Sekundarstufe I, wozu wenigstens zwei Parallelklassen je Jahrgang notwendig sind, nur über die Schließung von etwa 70 und damit ca. 30 Prozent der Schulen zu erreichen ist. Erst bei einem Anstieg der Übergangsquote auf das Gymnasium auf 50 Prozent sind alle vorhandenen Gymnasien längerfristig in ihrem Bestand gesichert. Dann müssten aber selbst von den einzügigen Haupt-lRealschulen gegenüber der heutigen Zahl von 255 Standorten etwa 20 Prozent geschlossen werden. An diesem Beispiel wird deutlich, wie schwierig die weitere Schulentwicklung in der Sekundarstufe in den neuen Ländern zu steuern ist.

Eine Begrenzung des Übergangs auf das Gymnasium, um ein wohnortna­hes Netz von Haupt-lRealschulen im ländlichen Raum zu erhalten, wird ge­genwärtig schulpolitisch in den neuen Ländern begünstigt. Aber nur wenn alle Bildungswege nach dem Realschulabschluss geöffnet sind, ist diese Neigung der Schulpolitik im Blick auf die Gleichheit der Bildungschancen aller Schü­ler zu vertreten. Deshalb wäre es wichtig, die Möglichkeiten des Übergangs in die gymnasiale Oberstufe nach dem Realschulabschluss zu verbessern bzw. das Angebot beruflicher Vollzeitschulen in den neuen Ländern weiter ver­stärkt auszubauen. Dadurch ließe sich auch der Bestand der Berufsschulzent­ren besser sichern. Dies ist vor allem auch deshalb notwendig, weil nur so verhindert werden kann, dass sich die Zahl der Schulabsolventen mit Fach­hoch- und Hochschulreife im nächsten Jahrzehnt in den neuen Ländern hal­biert. Wenn dies eintreten würde, könnte der Ersatzbedarf hochqualifizierter Arbeitskräfte in den neuen Ländern aller Voraussicht nach nicht mehr über die nachwachsende Generation gesichert werden.

2 Perspektiven innerer Schulentwicklung

Die durch den dramatischen Geburtenrückgang in den neuen Bundesländern erzwungene erneute Reorganisation des Schulsystems in den kommenden Jahren hat auch weitreichende Konsequenzen für den Lehrerbedarf. Bis etwa 2005 verringert sich der Bestand an Lehrern durch altersbedingtes Ausschei-

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den aus dem Schuldienst weit langsamer als die Schülerzahlen. Inzwischen haben die neuen Länder vertragliche Vereinbarungen mit den Lehrerverbän­den geschlossen, die zeitweise Senkungen der Stundendeputate für einzelne Lehrämter bis auf 50 % erlauben, um die Entlassung von Lehrern zu vermei­den. Die Konsequenzen dieser Personalpolitik für die Schulen der neuen Länder sind noch nicht abzusehen. Nicht auszuschließen sind aber überalterte und wenig motivierte Kollegien mit Lehrern, die nebenbei noch einer weite­ren Beschäftigung nachgehen müssen, um ihre Familie zu ernähren. Wie soll im Übrigen die Zusammenarbeit in einem Kollegium funktionieren, das fast ausschließlich aus Teilzeitkräften besteht? Mit der Reorganisation und Ver­kleinerung der Schulen ist demnach eine weitreichende Veränderung der Arbeitssituation der Lehrkräfte verbunden, über deren Auswirkungen bisher keine systematischen Informationen vorliegen. Durch den partiellen Lehrer­mangel in Westdeutschland kann sich diese Situation zwar etwas entspannen. Doch bleibt zu befürchten, dass die Lehrer, die den Schulstrukturwandel Anfang der 90er Jahre in bemerkenswerter Weise bewältigten, nun nicht nochmals die Motivation entwickeln, die notwendig ist, um die neuen Struk­turveränderungen unter verschlechterten Arbeitsbedingungen zu meistern.

3 Abwanderung der Jugendlichen und qualifikationsspezifischer Arbeitskräftebedarf

Zunehmend muss kritisch angemerkt werden, dass die öffentlich geäußerten und in Vorausschätzungen unterstellten Erwartungen in die weitere Bevölke­rungsentwicklung der neuen Länder von unrealistischen Annahmen über die Geburtenentwicklung ausgehen (z. B. geht die 9. koordinierte Bevölkerungs­vorausschätzung von 2000 noch davon aus, dass bis 2005 in den neuen Län­dern die zusammengefasste Geburtenziffer Westdeutschlands erreicht wird; vgl. Statistisches Bundesamt 2000). Dazu tragen entscheidend die Wande­rungsannahmen bei. Die Hoffnung, dass die Abwanderung aus den neuen Ländern in den 90er Jahren zurückgeht, hat sich zwar erfüllt. Dabei wurde aber übersehen, dass der relativ niedrige negative Wanderungssaldo nur da­durch zustande kommt, dass die Abwanderung junger Erwachsener teilweise durch die Zuwanderung Älterer kompensiert wird. Die Differenzierung nach Geschlecht zeigt darüber hinaus, dass vor allem junge Frauen zwischen 18 und 25 Jahren die neuen Länder verlassen. Beispielhaft stellt Abbildung 2 für den Geburtsjahrgang 1975 dessen Entwicklung zwischen 1991 und 1999 nach Geschlecht und Bundesland dar. Die Abwanderung vollzog sich in diesem Zeitraum kontinuierlich; Anzeichen deuten eher auf eine Zunahme in den letzten Jahren hin. Die Folge der Abwanderung junger Frauen sind niedrigere

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Geburtenzahlen als gegenwärtig angenommen; die Bevölkerungsprognosen müssen weiter nach unten korrigiert werden. In der Folge werden die Proble­me des Erhalts der Schulstandorte noch gravierender als bereits jetzt abseh­bar. Die Ursachen der Abwanderung liegen vor allem in unzureichenden Ausbil­dungs- und Berufschancen. Das Schul- und Hochschulsystem ist folglich unmittelbar in diese Prozesse einbezogen. In den letzten Jahren stehen in den neuen Ländern nur etwa für die Hälfte der Ausbildungsplatzbewerber betrieb­liche Ausbildungsplätze zur Verfügung.

Abbildung 2: Bevölkerungsrückgang bzw. -anstieg des Geburtsjahrgangs 1975 zwischen 1990(91) und 1999 in Prozent für vier neue Bundesländer

Brandenburg Sachsen Meck.-Vorp. Thüringen

5~----------------------------------------,

o

-5

-10 -1--- -

-15 -1-----

-20 -t--------------

-25 -t--------------

-30~--------------------------------------~

Männlich .Weiblich

Quelle: Statistische Landesämter. eigene Berechnungen

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Abbildung 3: Vergleich zwischen der Ausbildungsplatzbilanz und der Ausbildungsplatzver­sorgung nach der Berufsberatungsstatistik für alte und neue Bundesländer 1991 bis 1999

2,00 ,----------------------,

1,80

1,60

1,40

1,20

1,00

0,80

0,60

0,40

0,20

0,00

• Anzahl der Bewerber je Ausbildungsstelle West

• Ausbildungsplatzbilanz West

o Anzahl der Bewerber je Ausbildungsstelle Ost

o Ausbildungsplatzbilanz Ost

Quelle: Berufsbildungsberichte der Bundesregierung, mehrere Jahrgänge; Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit: Ergebnisse der Statistik der Berufsbe­ratung. mehrere Jahrgänge

Zusammen mit den verschiedensten überbetrieblichen Maßnahmen können etwa zwei Drittel der Bewerber eine Berufsausbildung beginnen (vgl. Abb. 3), wenn die Statistik der Berufsberatung herangezogen wird. Die offizielle Ausbildungsplatzbilanz, nach der im Jahr 2000, ähnlich wie in den Vorjahren, für 94,3 Prozent der Ausbildungsstellennachfrager in den neuen Ländern ein Ausbildungsplatz zur Verfügung stand (vgl. Berufsbil-

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dungsbericht 2001, S. 262), beschönigt die Ausbildungssituation. Zu berück­sichtigen ist noch, dass sich die Ausbildungsberufe schwerpunktmäßig nicht in expandierenden Branchen des Dienstleistungssektors oder im Bereich informationstechnischer Berufe, sondern überwiegend in traditionellen ge­werblichen Berufssegmenten befinden (vgl. Berufsbildungsbericht 2001, S. 93). Zu der problematischen Ausbildungsbilanz trägt auch bei, dass das An­gebot an Berufsfachschulen in den neuen Ländern nicht in der Weise ausge­baut wird, dass insbesondere Frauen eine qualifizierte Ausbildung neben dem dualen System im erforderlichen Umfang ermöglicht wird (vgl. Berufsbil­dungsbericht 2001, S. 12lff.).

Während Abiturientinnen in den neuen Ländern besonders häufig eine duale Ausbildung anstreben (vgl. Abb. 4), stehen für sie kaum interessante Ausbildungsberufe zur Verfügung. Ihre Bereitschaft, in einem anderen Bun­desland eine Ausbildung zu beginnen, beträgt nahezu 70 Prozent (vgl. Abb. 4). Sie dürften einen bedeutenden Anteil unter der Gruppe der etwa 10 Pro­zent aller Auszubildenden aus den neuen Ländern stellen, die in alten Ländern ihre Ausbildung absolvieren (vgl. Tab. 1). Nur so ist auch zu erklären, dass trotz eines höheren Abiturientenanteils unter den Ausbildungsplatzbewerbern in den neuen Ländern der Anteil von Abiturientinnen unter den Auszubilden­den im Ländervergleich eher unterdurchschnittlich ist (vgl. Berufsbildungsbe­richt 2001, S. 80).

Die Fortsetzung der Misere am Ende der Berufsausbildung und beim ü­bergang in den Beruf wurde von Konietzka (vgl. 2001) detailliert beschrie­ben. Dabei konnte er sich nur auf die privilegierten Ausbildungsabsolventen aus betrieblichen Ausbildungsverhältnissen stützen. Die Probleme des Be­rufsstarts und die Tendenz zur Abwanderung in die alten Bundesländer dürf­ten sich bei den Absolventen überbetrieblicher Ausbildungsmaßnahmen noch deutlicher zeigen.

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Abbildung 4: Anteil der Schulabgänger, die eine Lehre anstreben und Anteil unter diesen, die zu einer Ausbildung in einem anderen Bundesland bereit sind. im Ost-

.... Q) '0 :; Anteil der Abgänger, die eine Lehre ...J beginnen wollen Q) :: ns darunter zu einer Lehre in einem

anderen Bundesland bereit

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Ins darunter zu einer Lehre in einem

~ anderen Bundesland bereit !~~!~~~!~~!~~J ~ 0 20 40 60

o Haupt-, Real-, Gesamtschule, berufl iche Vollzeitschulen, männlich

• Haupt-, Real-, Gesamtschule, berufliche Vollzeitschulen, weiblich

Gymnasium, weiblich

Quelle: Bundesinstitut für Berufsbildung, eigene Berechnung

80

Aber auch die Hochschulpolitik der neuen Länder trägt vermutlich zur Ab­wanderung junger Frauen bei. Das Angebot an Studienmöglichkeiten in den Sprach- und Kulturwissenschaften bzw. den Rechts-, Wirtschafts- und Sozi­alwissenschaften ist in den neuen Ländern deutlich geringer als in den alten Ländern. Bei einem insgesamt niedrigeren Angebot an Studienplätzen wurden - neben der Medizin - vor allem die Natur- und Ingenieurwissenschaften als »Männerfächer« ausgebaut, obwohl fast 60 Prozent der Schulabsolventen mit

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Tabelle 1: Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge in den neuen Ländern (ohne Ost­Berlin) und Pendler/Umzügler (zum Teil geschätzt)

Jahr Neuverträge Pendler/Umzügler Anteil Pendler

an den Neuver-trägen insgesamt

1995 115.287 13.300 10,3

1996 117.526 13.450 10,3

1997 118.148 14.400 10,9

1998 121.159 13.750 10,2

1999 125.080 13.970 10,0

QueUe: BMBF: Berufsbildungsbericht 2000, S. 52 u. 241-242 - Neuverträge 1995-1997 geschätzt anhand der Angaben in: Freistaat Thüringen: Berufsbildungsbericht 2000, Erfurt 2000, S. 179.

Hochschulreife in den neuen Ländern Frauen sind (gegenüber 52 Prozent in den alten Ländern). Dadurch könnte mit bedingt sein, dass die Studierquote von Frauen in den neuen Ländern besonders niedrig ist. Beispielsweise be­trägt der Anteil der Studierenden in den überwiegend von Frauen nachgefrag­ten Sprach- und Kulturwissenschaften nur 18 Prozent aller Studierenden aus den neuen Ländern (gegenüber 23 Prozent in den westdeutschen Flächenlän­dern), während die Zahl der Studierenden aus den neuen Ländern in diesen Fächern die Gesamtzahl der Studierenden in den neuen Ländern in diesen Fächern noch um 10 Prozent übersteigt (5 Prozent in den alten Flächenlän­dern; vgl. Sekretariat der KMK 2001, eigene Berechnungen). Leider gestattet das verfügbare Material keine geschlechtsspezifischen Auswertungen nach Fachgebieten und altenlneuen Ländern (vgl. Durrer/Heine 2001). Der KMK fiel in ihrer Auswertung der studentischen Wanderungen allerdings auf, dass vor allem Frauen aus den neuen Ländern über die Landsgrenzen hinweg mo­bil sind (v gl. Sekretariat der KMK 2001, S. 18).

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4 Mögliche gesellschaftliche Folgen einer kurzsichtigen Schul- und Bildungspolitik

Fasst man diese Tendenzen zusammen, dann entsteht der Eindruck, dass die gegenwärtige Bildungspolitik der neuen Länder nicht aktiv den gesellschaftli­chen Entwicklungsprozess unterstützt, sondern eher zum Entwicklungshin­dernis wird. Ohne ausreichend die regionalpolitischen Konsequenzen zu be­denken, wird das Standortnetz der Schulen reduziert und damit ein wichtiger regionaler Faktor für die Entwicklung von Regionen verändert. Die jüngste KMK-Prognose, die eine Halbierung der Zahl der Schulabsolventen mit Hochschulreife bis 2010 zum Ergebnis hat, wird nicht zum Anlass genom­men, darüber nachzudenken, wie der zukünftige Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften durch eine veränderte Schulpolitik sichergestellt werden kann. Die Prognosen zum personellen Ersatzbedarf der Unternehmen in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts, der gegenläufig zur Zahl der Schulabsolventen zu­nimmt, sind bereits länger bekannt. Statt dessen wird eine an den entstande­nen Schulstrukturen orientierte Weiterentwicklung angestrebt, die nur dann die gewünschten Effekte erzielen kann, wenn die schulischen Ausbildungsan­gebote in der Sekundarstufe II ausgebaut und der Übergang in diese Bil­dungswege begünstigt werden.

Ohne eine Verbesserung der Ausbildungsförderung wird es angesichts der finanziellen Situation der Familien in den neuen Ländern vermutlich nicht gelingen, die Neigung zur Aufnahme eines Studiums zu erhöhen. Die Rendi­teerwartungen in ein Studium sind zu unsicher, als dass nicht eine duale Aus­bildung häufig vorgezogen würde. Doch fehlt es daneben an frauenspezifi­schen Studiengängen im Hochschulbereich. Der steigende Lehrerbedarf in den nächsten Jahren sollte diese notwendige Entwicklung unterstützen.

Sicher kann die Bildungspolitik die Probleme des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels in den neuen Ländern nicht alleine lösen. Sie sollte sich aber ihrer Rolle bewusster werden und nicht noch problemati­sche Entwicklungen unterstützen oder hinnehmen.

Literatur

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Böttcher, I.; Plath, M.; Weishaupt, H.: Schulstruktur und Schulgestaltung. Die innere Entwicklung von Regelschulen und Gymnasien - ein Vergleich, in: Tenorth, H.­E. (Hrsg.): Kindheit, Jugend und Bildungsarbeit im Wandel. Ergebnisse der

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Transformationsforschung (Zeitschrift für Pädagogik. 37. Beiheft), Weinheim 1997, S. 161-181.

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Axel Gehrmann

Gewandelte Lehrerrolle in Ost und West? Erste Ergebnisse aus vier Befragungen (1994 - 1996 - 1998 - 1999)

Schulstrukturen und Lehrpläne lassen sich erheb­lich leichter ändern als der Unterricht selbst -habitualisiertes Lehrerverhalten und die damit verbundenen Alltagstheorien sind gegenüber noch so überzeugend vorgetragenen Konzepten nicht selten resistent.

Klaus-Jürgen Tillmann, 1993

Die Geschwindigkeit der politischen "Wende" auf dem Boden der ehemaligen DDR hat alle Akteure in Ost wie West überrascht und überwältigt. In kürzes­ter Zeit brachen Institutionen zusammen, deren Verfasstheit auf Dauer gestellt schien, und selbst die auf gesellschaftliche Entwicklungen zielenden Sozial­wissenschaften kündeten weder vom Advent einer neuen politischen Ord­nung, noch begleiteten sie diesen von Beginn an kritisch-systematisch. Eher hielten am Anfang Intellektuelle, Künstler und Literaten die Reflexion über den Weg von "Wir sind das Volk" hin zu "Wir sind ein Volk" aufrecht. Dabei sahen die "realistischen" unter ihnen keine Alternative zum bundesdeutschen Verfassungsstaat, verbaten sich aber schnell die Vorstellung, alles müsse auf dem Boden der ehemaligen DDR selbstverständlich dem Muster in der alten Bundesrepublik folgen. Ein Beitrag Monika Marons im Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus dem Februar 1990 kann dafür gleichsam paradigmatisch herangezogen werden. In ihm kritisiert sie westliche wie östliche Romantiker, die der Nischengesellschaft in der DDR nachtrauerten und beschreibt "die Arroganz des Satten, der sich vor den Tischmanieren eines Ausgehungerten ekelt" (1990). Damit zielte sie u.a. auf die von Stefan Heym vorgetragene Kritik an den Noch-DDR-Bürgern, die gänzlich dem Konsumrausch verfallen schienen. Sehrwohl konnte auch Maron nicht bedingungslos mit den neu gewonnenen Freiheiten konform gehen, doch sah sie dies als ein Übergangs­phänomen, das auch durch neu wachsendes Selbstbewusstsein in andere Bah­nen zu lenken wäre (vgl. Maron 1992).

Nach der Euphorie 1989/90 brach mit dem Einigungsvertrag die alte bundesdeutsche Judikatur über die neuen Bundesländer und Ost-Berlin her-

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ein. Eine in vierzig Jahren gefügte Institutionengesellschaft erweiterte sich territorial um ein Fünftel, und was Maron voraussah, trat ein: Die Tatenlust westdeutscher Aufbauhelfer richtete sich "auf das Brachland DDR" (Maron 1990). Zu den Utopisten unter ihnen zählten auch Erziehungswissenschaftler und Soziologen aus der Bundesrepublik Deutschland, die sich noch kurz vor der politischen Vereinigung im Jahr 1990 mit ostdeutschen Kollegen darüber einig waren, dass der Versuch gelingen könnte, Elemente des DDR­Volksbildungswesens zu erhalten und mit den Erfahrungen aus 40 Jahren Schulentwicklung in den alten Ländern innovativ zu verschmelzen (vgl. Ber­liner Bildungsrat 1991; Meier 1995). Schon kurz danach blieb von diesem Ansatz nichts mehr übrig. Aus Innovation wurde institutionell vermeintlich Inkorporation und habituell loyale Anpassung an das Neue und - wenn es gut ging - kritische Distanz und Wohlwollen dem Wandel gegenüber, wenn man ersten Erfahrungsberichten glauben schenken wollte (vgl. Dudekffenorth 1993).

Mittlerweile gehört die deutliche Scheidung zwischen institutionentheore­tischer und akteurstheoretischer Perspektive im Rahmen der sozialwissen­schaftlichen Transformationsforschung zum anerkannten Standard. Zu ihrer ersten grundlegenden Einsicht zählt "die Verabschiedung der Illusion ( ... ), der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft lasse sich als ein linearer Pro­zess auffassen, dessen Telos mit der alternativlosen Bereitschaft der relevan­ten politischen und ökonomischen Akteure festgelegt sei, westliche Institutio­nen und Praktiken zu übernehmen bzw. zu adaptieren" (Ettrich 1996, S. 445). Für das Schulsystem in den neuen Ländern heißt dies heute, die Abkehr vom alten zentralstaatlichen Modell ist zwar in den alten bundesrepublikanischen kooperativen Föderalismus mit seinen überkommenen vertikal gegliederten Schularten gemündet, dennoch zeigen sich in den fünf neuen Bundesländern und Berlin sehr unterschiedliche, den regionalen Gegebenheiten angepasste Schulsysteme, die nur in Bezug auf die Abkehr von der Einheitsschule mit­einander vergleichbar sind. Mit den alten westdeutschen Verhältnissen haben sie dabei teilweise wenig gemein. Diese Abkehr von etwas Altem hin zu et­was Neuem können wir als Transformationsprozess beschreiben, wobei der Endpunkt der Entwicklung nicht sichtbar ist und unabsehbar bleibt, wie die Akteure diesen teilweise schmerzlichen Übergang habituell bewältigen bzw. bewältigen werden. Bisher kann nur ein fast "lautloser" Prozess konstatiert werden, wenn andere gesellschaftliche Subsysteme zu einem Vergleich ins Blickfeld geraten.

Die Schulsysteme in den neuen Bundesländern werden heute weiter mit einem Personal, das zu einem Großteil aus dem alten politischen System stammt und die erste institutionelle Transformation, die politische Wende 1989/90, miterlebte, unter erschwerten Bedingungen umgebaut. Diese zweite institutionelle Transformation ist gekennzeichnet durch Probleme, die der demographische Wandel in den Schulen mit sich bringt, durch die Abwande-

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rung von Familien und der damit einhergehenden Ausdünnung des Lehrkör­pers (vgl. Fuchs 1999; Gehrmann 2000). Dieser weitere Rückschnitt des Be­standes bzw. die einhergehende Entprofessionalisierungsdiskussion in den neuen Bundesländern auf der Basis finanzieller Restriktionen kann letztlich der Beginn ähnlicher Prozesse in den alten Bundesländern werden, denn auch hier zeigen sich Tendenzen, das Schul- bzw. Bildungssystem umzubauen. So hätten die Lehrerinnen und Lehrer in den neuen Bundesländern ihren Kolle­ginnen und Kollegen eine "Wende" voraus, die bewältigt wurde und eine zweite gemeinsam in Aussicht, "das eine Deutschland kann für das andere Deutschland nicht mehr herhalten" (Maron 1990).

Mit dem Ende der DDR und der politischen Vereinigung im Oktober 1990 verbindet sich der langsame Anstoß sozialwissenschaftlicher Analyse dieser gesellschaftlichen Wandlung (vgl. KeIl 1994; Kell/Olbertz 1997). Der dabei zu beschreibende Prozess wurde schnell als Transformation bezeichnet (vgl. Kollmorgen 1994). Doch dieser Begriff hat bis heute "kaum präzise theoretische Kontur gewonnen" (Tenorth 1997, S. 10). Für Erziehungswis­senschaftler und ihren historischen Focus auf Schule und Unterricht kontu­rierte sich deshalb wohl nicht umsonst schnell die Hypothese von Kontinuität und Wandel zur Beschreibung heraus (vgl. Tillmann 1993). D.h., unabhängig von der Kenntnis über die "realen" Verhältnisse in der ehemaligen DDR ließ sich vermuten, dass der Übergang von einem zentralstaatlichen Bildungssys­tem hin zu einem föderalen dem üblichen Muster der Bildungsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert folgen würde: Das staatliche Schulsystem wird zu unterschiedlichen politischen Umbrüchen still und selbstverständlich von einem in das andere Gesellschaftsmodell übertragen, und dies gelingt nur, weil sowohl das alte System strukturell im neuen weiterleben kann (Staatlich­keit der Schule, amtliche Lehrpläne, direktorale Leitung, Einbindung von Zensuren und Zeugnissen in ein Berechtigungswesen) (vgl. ebd., S. 31), als auch das neue System schon im alten mitangelegt war (heute: Differenzierung von Einzelschulen, Individualisierung der Bildungsgänge und Curricula).

Diese schulsystemische Egalisierung brach sich aber schnell im gegensei­tigen persönlichen Kontakt von Lehrerinnen und Lehrern untereinander im Zuge der Öffnung der Grenzen (vgl. z.B. Büchner 1993; Tillmann 1993; Scharf 1995; Böhme 1999). Immer wieder berichteten Einzelne von Erfah­rungen in den Schulen des anderen, an die nicht angeknüpft werden wollte und für die auch kein Verständnis aufgebracht werden konnte. Aus institutio­nell noch akzeptierter Ähnlichkeit wurde habituell Varianz. Die Stunde empi­rischer Forschung war angebrochen und die Fragestellung lag offen zu Tage: Gibt es unterschiedliche Einstellungen zu Schule und Unterricht bei Lehre­rinnen und Lehrern in Ost und West? Wenn nein, wie kommt dies zustande? Wenn ja, wie folgt der institutionellen Transformation auch die habituelle? Die Richtung war dabei auch vorgezeichnet, von Ost nach West nämlich: Die Debatte um die Transformation der Lehrerrolle war eröffnet.

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Ursprünglich bezeichnet Transformation in der Soziologie einen Prozess, in dem ein gegebenes System "vom Ausgangspunkt in einen angebbaren, unter bestimmten Voraussetzungen gesetzmäßig zu erfassenden Folgezustand über­geht" (Lexikon der Soziologie 1978, S. 791). Für die Lehrer- und Schulfor­schung über die Entwicklung in den neuen Bundesländern hieße dies, nachzu­zeichnen, wie das alte habituelle Konzept der Lehrerinnen und Lehrer in der DDR ausgeprägt war und unter welchen Bedingungen es sich hin zum westli­chen Konzept wandelt. Dabei müsste genau definiert sein, welches professio­nelle Selbstverständnis im Westen tatsächlich vorliegt.

Vergleichende Pädagogen aus dem Westen waren vor der politischen Vereinigung nicht in der Lage, empirisch die professionelle Lehrerarbeit in der DDR zu ermitteln, noch lag ungefiltertes Material aus der DDR selbst vor (vgI. Meier 1997). Die Definitionsversuche westlicher Provenienz über Leh­rerrolle und Lehrerprofessionalität waren schließlich bis dato Legende, ohne zu allgemein akzeptierten Einschätzungen zu gelangen. Damit lag von Beginn an im Dunkeln, was eigentlich unter welchen Bedingungen gewandelt wird, und in welchen Zeithorizonten dies geschieht. Die These von Kontinuität und Wandel konnte jenes Manko gleichsam überdecken, denn um sie zu prüfen, hätten bei gleicher Population Längsschnittuntersuchungen (zu Zeitpunkten tl-tx) stattfinden müssen, die genötigt gewesen wären tl noch zu DDR-Zeiten festzulegen. In gleichen Abständen über die Wende von 1989 wären sie fort­zuführen gewesen. Dies war aus den genannten Gründen natürlich nicht mög­lich.

1 Darstellung des Projektverlaufes

In der Projektgruppe 5 "Die Transformation der LehrerroIIe in den neuen Bundesländern der Berliner DFG-Forschergruppe Bildung und Schule im Transformationsprozess von SBZ, DDR und neuen Länder. Untersuchungen zu Kontinuität und Wandel" begann ab Ende 1994 der Versuch, nachzuzeich­nen, ob die UmsteIlung von einem zentralstaatlichen Bildungssystem hin zu einem föderalen mit Konkurrenzlagen einzelner Schulen und Schulformen (institutionelle Transformation), der Übergang von einer partikularen Orien­tierung der Lehrerinnen und Lehrer zum einzelnen Schüler hin zu einer uni­versalen im Parsonsschen Sinne, die insbesondere Leistung legitimiert (habi­tuelle Transformation), zu einer Veränderung oder Verfestigung des alten Berufsverständnisses bei Lehrerinnen und Lehrern in den neuen Ländern führt. Berlin wurde dabei als Ort einer ersten Untersuchung für eine verglei­chende Analyse gewählt, weil hier bereits mit dem 1. August 1991 die beiden ursprünglich geteilten Schulsysteme unter den rechtlich institutionellen Vor­gaben des Westberliner Schulgesetzes zu einem einheitlichen großen regiona-

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len Schulsystem zusammengeführt und dabei die Ostberliner Schulorganisa­tion entsprechend umgebaut wurden. Damit wurden zugleich auch die östli­chen und westlichen Berufskulturen der Lehrerinnen und Lehrer in einem Schulsystem wirksam (vgl. Gehrmann 1996; Hübner 1996).

Unter der Leitung von Prof. Dr. Peter Hübner bemühte sich die Gruppe zunächst in einer Vorstudie, einen allgemeinen Eindruck zur Forschungslage über Lehrerinnen und Lehrer in der DDR und den neuen Bundesländern zu gewinnen, um auf dieser Basis hypothesenprüfend mit eigenen quantitativen Untersuchungen die Fragestellung zu bearbeiten (vgl. GehrmannlHübnerl Werle 1995). Ausgangspunkt dafür bot auch eine Studie zu Arbeitszeit und Arbeitsbelastung von Berliner Lehrerinnen und Lehrern aus dem Jahr 1994 (vgl. Hübner 1994).

Die ersten systematisch erhobenen und empirisch gesicherten Einschät­zungen zur Lehrerarbeit im deutsch-deutschen Vergleich auf der Basis einer nach Schulart und Region geschichteten Stichprobe legten GehrmannIHübner dann im Rahmen der Projektgruppe 1997 vor (vgl. 1997a, b). Auf der Basis einer standardisierten Erhebung bei Ost- und Westberliner Lehrerinnen und Lehrern aus dem Jahr 1996 (n=847) wurden u.a. berufliche Zufriedenheit und Belastung, schulinterne Berufsvollzüge, das allgemeine Erziehungsverständ­nis und die bildungspolitischen Einschätzungen der Berliner Lehrerschaft rekonstruiert. Dabei traten sowohl divergente wie konvergente Einschätzun­gen im Ost-West-Vergleich hervor, die moderat von "Angleichungsprozes­sen" zwischen Ost und West sprechen ließen (GehrmannIHübner 1997a, S. 391) bzw. von "Ähnlichkeiten" (vgl. GehrmannIHübner 1997b, S. 328). Inso­fe~n wurde nicht "hell-dunkel" gemalt (ebd.), sondern in Anlehnung an Pol­lack (vgl. 1996, S. 427) "unterschiedliche Grautöne" (GehrmannIHübner 1997b, S. 328) produziert. Die nachdrücklichsten Differenzen zwischen Ost und West ergaben dabei insbesondere Einschätzungen schulpolitischer Ver­änderungsbereitschaft. So hieß es etwa bilanzierend:

"Ohne Frage spaltet die Einschätzung zu selektiven und integrativen schul politischen Konzepten die Populationen am deutlichsten im Rahmen der hier vorgestellten Variablen. Im Westteil Berlins ist es unmöglich, Schulformselektivität und Schulformintegration zusammenzudenken, wohingegen dies im Ostteil der Stadt zur programmatischen Ausstat­tung der Lehrerinnen und Lehrer aller Schularten gehören kann. Der negative Zusammen­hang ist im Westteil mit fast r=-0.30 besonders hoch, während er im Osten bei r=0.07 verschwindend gering ausfällt" (Gehrmann 1999a, S. 175; vgl. auch GehrrnannlHübner 1997b, S. 320).

Die Untersuchung Berufliche Eifahrungen und berufliches Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern in Berlin wurde im Rahmen des DFG-Projektes mit gleichem Fragebogen 1998 im Land Brandenburg repliziert und nach dem Ende des DFG-Projektes aus Eigenmitteln in Berlin 1999 wiederholt. Mit der Hinzunahme der kontinuierlich seit 1994 in den Fragebögen erhaltenen Items und den neu konstruierten seit 1996 ließen sich zwei Datensätze generieren

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und auswerten (vgl. Gehrmann 2001), von denen hier zum ersten Mal ausge­wählte Ergebnisse vorgestellt werden.

Im ersten Datensatz (REGTIME, Verbindung aus REGion und TIME) befin­den sich alle Items, die über vier Befragungen ab 1994 konstant gehalten werden konnten, im zweiten alle diejenigen, die über die letzten drei Befra­gungen identisch blieben (REGTIME3).

Der Datensatz REGTIME beinhaltet insgesamt 2958 Fälle mit 111 abhän­gigen und unabhängigen Variablen (Abbildung 1). Dies sind 328 338 Daten­punkte. Der Datensatz REGTIME3 beinhaltet 2339 Fälle mit 318 abhängigen und unabhängigen Variablen. Dies sind 743 802 Datenpunkte. Abzüglich der schon in REGTIME vorhandenen Datenpunkte und eingerechnet der nicht mit­gerechneten Dummykodierungen ergibt sich somit ein Datenkorpus von ca. 1 Millionen Datenpunkten aus beiden Datensätzen. D.h., der Datenkorpus ist zehnmal größer als die genauer zu beziffernden Datensätze von Terhart et al. (vgl. 1994, n=514 mit ca. 160 Variablen: 82240 Datenpunkte) und Ipfling et al. (vgl. 1995, n=2129 mit 35 Variablen: 74515 Datenpunkte).

Abbildung 1,' Der REGTIME-Datemsatz (n = 2958)

Brnndenburg 1998

880/30%

Berlin·OSl 1994

171/6%

Berlin-Wesl 1994

Berlin·OSl 1996

380/13%

Berlin-WeSl 1996

397/ 13%

Die vier Querschnittuntersuchungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten fügen sich zusammen, zumindest für die Berliner Befragungen der Jahre 1994, 1996 und 1999, zu einem Trend-Design, gleich dem AILBUS, der zweijährig statt­findenden Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften bzw.

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gleich der vom Institut für Schulentwicklung in Dortmund im zweijährigen Turnus durchgeführten Bevölkerungsumfrage Die Schule im Spiegel der öffentlichen Meinung (mit nicht ganz kongruenten zeitlichen Abständen). Damit lassen sich Hypothesen nicht nur an einer Befragung prüfen, sondern an bis zu vier, mit der Option, kollektive Veränderungen aufzuzeigen, denn die größten bisher vorgestellten bundesrepublikanischen Lehrerbefragungen basieren jeweils auf einmaligen Querschnitterhebungen unterschiedlicher Stichproben und Fragebogem~mfänge.

2 Hypothesen und ihre Umsetzung

Insgesamt basierten die Befragungen auf einer Konvergenz- und einer Diver­genzhypothese aus der mit der Vorstudie einhergehenden Erörterung bis 1994 vorgelegter Ergebnisse empirischer Bildungsforschung. Danach wies die Konvergenzhypothese einen nachdrücklichen sozialisatorischen Einfluss der DDR-Schulentwicklung auf die Lehrerinnen und Lehrer ab, hingegen zielte die Divergenzhypothese genau auf diesen Effekt (vgl. auch Braun 1993). Hinzu trat dabei ein methodisches Problem, denn Konvergenz schien in Be­fragungen erzeugbar, wenn auf globale Wertorientierungen und allgemeine Belastungen der Lehrerinnen und Lehrer abgehoben wurde und Divergenz, wenn ihre situativen Erfahrungen vor Ort in das Blickfeld gerieten. So richte­te sich der interpretatorische Rahmen des eingesetzten Fragebogens auf beide Bereiche, die Einstellungen der Person und ihre Erfahrungen in der Situation vor Ort, ganz im Sinne der einmal vorgeschlagenen empirischen Aufarbeitung professioneller Orientierungen von Lehrern (vgl. Terhart 1987).

3 Ausgewählte Ergebnisse

Rekapituliert werden an dieser Stelle drei faktorenanalytisch geborgene Ska­len und ein Item, die sich mit dem Datensatz REGTIME modellieren ließen. Die Skalen Reformpädagogik und Selektivität / Druck und das Bilanzitem Alles in allem. wie zufrieden sind Sie mit ihrer derzeitigen Beruflichen Situa­tion? stehen dabei für Einstellungen der Personen und die Skala Kollegialität für ihre Erfahrungen vor Ort. Gewonnen wurden die Skalen durch die mono­kausale Bearbeitung des gesamten Datensatzes REGTIME, eine Perspektive, die sich für den deutsch-deutschen Vergleich durchgesetzt hat (vgl. Boehn­kelMerkens 1994, 1995; Näheres dazu in Gehrmann 2001). Beschrieben wird

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für die aus fünferskalierten Items konstruierten Skalen jeweils der Reliabili­tätskoeffizient für den monokausalen Fall REOTIME und für die einzelnen Teilstichproben.'

3.1 Berufszufriedenheit

Auf die Frage Alles in allem, wie zufrieden sind Sie mit Ihrer derzeitigen beruflichen Situation? gaben für REOTIME als monokausalen Fall (n=2.931) 63.3% der Befragten an, sie seien mit ihrer beruflichen Situation sehr bzw. durchaus zufrieden. Die Transformationsfolgen haben danach nicht nach­drücklich auf die Einschätzung nach beruflicher Zufriedenheit gewirkt, denn hier handelt es sich um einen unabhängig davon üblichen Wert (vgl. etwa die Untersuchung von Terhart et al. 1994, S. 124; hier gaben 63.8% an, sie seien mit ihrer beruflichen Situation sehr bzw. zufrieden).

In den Teilstichproben fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwi­schen den Zeitpunkten 1996 und 1999 in Berlin West und Ost. Danach gaben jeweils über 65% der Befragten an, sie seien mit ihrer beruflichen Situation sehr bzw. durchaus zufrieden. Herausfallen hierbei aber die beiden Teilstich­proben 1994, die nicht im DFG-Kontext erhoben worden waren, hier war die berufliche Zufriedenheit weit geringer ausgeprägt. Dies darf aber nicht selbst­verständlich als insgesamter Anstieg beruflicher Zufriedenheit gedeutet wer­den (vgl. Gehrmann 2001). Nichtsdestotrotz verbinden sich also mit dem Bilanzitem keine deutlichen Unterschiede zu bis dato erhobenem Material, denn auf die gestellte Frage antworteten schon immer unterschiedliche Popu­lationen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ähnlich. Danach sind jeweils 60-65% der Lehrerinnen und Lehrer mit ihrer beruflichen Situation sehr bzw. durchaus zufrieden, um die 25% äußern jedoch auch eine deutliche Unzufrie­denheit (Graphik I).

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Regtime I = Rt I = Berlin-Ost 1994, Rt 2 = Berlin·West 1994, Rt 3 = Berlin-Ost 1996, Rt 4 = Berlin-West 1996, Rt 5 = Berlin-Ost 1999, Rt 6 = Berlin-West 1999 und Rt 7 = Bran­denburg 1998.

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Graphik 1: Berufszufriedenheit (Bilanzitem)

1I)J,r--~-ITF==ITF==m=~iTC==:m==:::::r---,

11(1

• 11 11 11 11_. • 11- 11 11 11.

711

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I - li 11 11 11. I 11 11 11 11. - . I 11 11 11 11 I·· I 11 11 ----- 11 11 I • . -~ II~-- II --11 11 -- 11- 11----- • .

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30

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p-Wen der Varianzanalyse: 0 .000: Eta1: 0.033

3.2 Reformpädagogik

Die Skala Reformpädagogik repliziert in ihren Items die in der deutschen Schulgeschichte und -pädagogik verankerten Eindrücke zur Abkehr von der traditionellen "Buchschule". Insbesondere in Zeiten reformbewegten Eifers finden sich immer wieder Einschätzungen zur Verstärkung des projektorien­tierten Lernens, zur Öffnung der Schule und zur stärkeren Berücksichtigung außerschulischer Lernorte. In den letzten zwei Jahrzehnten sind aus westdeut­scher Perspektive, insbesondere im Grundschulbereich, die Integration von behinderten Kindern und die Ersetzung der Zeugnisnoten durch verbale Beur­teilungen hinzugetreten, worauf auch die zufriedenstelIenden Reliabilitäten der Skala hindeuten (Abbildung 2)_ Das Eingangsstatement hieß dabei: Wel­che der hier aufgeführten Veränderungen ist schulpolitisch für Sie bedeut­sam?

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Abbildung 2: Reformpädagogik - Skala

REGTIME (ru = .74) (Rt 1=.70; Rt 2=.74; Rt 3=.68; Rt 4=.81; Rt 5=.69; Rt 6=.80; Rt 7=.72)

38_2 38_7

38_5 38_4 38_1

Die Verstärkung des projektorientierten Lernens. Die Öffnung der Schule und die stärkere Berücksichtigung außerschulischer Lernorte. Die Verstärkung des überfachlichen Unterrichts. Die Ersetzung der Zeugnisnoten durch verbale Beurteilungen.

Der stärkere lebensweItliehe Bezug des Unterrichts. Die Integration von behinderten Schülern/innen. Die Differenzierung des Unterrichts.

ri(l·i)

.57

.54

.48

.44

.43

.40

.39

Der Mittelwertvergleich über die Teilstichproben zeigt, dass die Population in REGTIME in zwei Teile zerfällt, eine westdeutsche, unter der Vergewisserung, dass ca. 90% der Westberliner Lehrer in der alten Bundesrepublik, und eine ostdeutsche, in Kenntnis, dass in Berlin-Ost und Brandenburg ca. 95% der Lehrer unter den Bedingungen der DDR ausgebildet wurden. Weder unter­schieden sich dabei die westdeutschen Teilpopulationen signifikant vonein­ander noch die ostdeutschen. Die reformpädagogische Orientierung war da­nach in Berlin-West 1999 (Rt 6) am deutlichsten vertreten und in Berlin-Ost 1994 (Rt 1) am geringsten (Tabelle 1) (Skalenwert 1 = sehr wichtig, 5 = ganz unwichtig).

Tabelle 1 Reformpädagogik - Skala

Ost-L. West-L. Ost-L. West-L. Ost-L. West-L. Brandb. 1994 1994 1996 1996 1999 1999 1998

Mean 2,44 2,32 2,40 2,26 2,35 2,25 2,36 Median 2,43 2,29 2,43 2,29 2,29 2,29 2,43 SO ,48 ,56 ,49 ,62 ,48 ,60 ,49 SE ,04 ,03 ,03 ,03 ,03 ,03 ,02

p-Wert der Varianzanalyse: 0.000; Eta2: 0.011

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Die varianzanalytische regionale Scheidung der Skala kann neben dem signi­fikanten Unterschied zwischen den ost- und westdeutschen Teilstichproben aber auch darauf aufmerksam machen, dass es nicht unerhebliche Über­schneidungsräume zwischen den Teilpopulationen gibt (Eta2 nur .011). Auch die Boxplots in Graphik 2 verweisen darauf, denn in ihnen befinden sich jeweils 50% der Einstellungen der gesamten Population, deren insgesamte Verteilung durch den Median bzw. den hier natürlich fast kongruenten Mit­telwert in zwei Teile zerlegt wird. Diese 50% der Population befinden sich dabei zwischen dem untersten Rand des Plots, dem Beginn des 2. Quartils (25%-Marke) und dem Ende des 3. (75%-Marke). Danach lässt sich eben auch interpretieren, dass der Mittelwertsunterschied in Bezug auf die Skala durch die heterogeneren Einschätzungen der westdeutschen Populationen zu Stande kommt bzw. durch die im Vergleich homogeneren in den ostdeutschen Populationen. Oder pointierter: Ca .. 75% der Befragten befinden sich in Ost und West auf der Skala Reformpädagogik im gleichen Werteraum.

Graphik 2: Reformpädagogik - Skala (Boxplot)

5--------~----~----~----~----~----------~

4~------~--~~--~~--~----~----~------~

Ost-L. 1994 Ost-L. 1996 Ost-L. 1999 Brandb. 1998 West-L. 1994 West-L. 1996 West-L. 1999

3.3 Kollegialität

Die Skala Kollegialität repräsentiert in REGTIME einen auch über die Zeit mit am deutlichsten geteilten Werteraum zwischen den regionalen Teilpopulatio­nen (Abbildung 3). Die überaus zufriedenstelIenden Reliabilitäten verweisen

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auf die Konsistenz der Einschätzungen zwischen den beteiligten Lehrergrup­pen. Das Eingangsstatement hatte dabei gelautet: Wie haben sich die folgen­den Aspekte Ihrer Berufstätigkeit nach Ihrer Einschätzung entwickelt? (37_7, 37_2: 1 = gut, 5 = ungünstig) bzw. Wie sehen Sie sich und Ihre Kolle­gen/innen im Kontext Ihres Kollegiums? (41_5,41_1: 1 = trifft völlig zu, 5 = trifft gar nicht zu).

Abbildung 3: Kollegialität - Skala

REGTIME (ru = .81) (Rt 1=.82; Rt 2=.73; Rt 3=.84; Rt 4=.81; Rt 5=.80; Rt 6=.84; Rt 7=.82)

Die pädagogische Zusammenarbeit mit den Kollegen/Kolleginnen. Die fachliche Zusammenarbeit mit den Kollegen/Kolleginnen.

4 L5 Im Grunde arbeitet jeder für sich und nimmt von den

Schwierigkeiten es anderen kaum Kenntnis (-). Die gegenseitige Hilfe und Unterstützung im Kollegium ist eine große Erleichterung.

.69

.67

.63

.53

Insgesamt betonen die Befragten den Zusammenhang zwischen einer positi­ven pädagogischen Zusammenarbeit im Kollegium mit einer fachlichen dort­selbst. Die Hilfe und Unterstützung gründet offensichtlich auf der Wahrneh­mung des anderen im Kontext des Lehrerkollegiums. Was sich damit abbil­det, ist ein durchaus angenehmes soziales Klima in der Einzelschule, das keinen Gegensatz konstruiert zwischen pädagogischen Ansprüchen und unter­richtsfachlichen Notwendigkeiten. Schon das Leititem (37_7) verwies auf die positive Erfahrung. Nicht einmal 20% der Befragten konstatieren überhaupt eine deutliche Verschlechterung des sozialen Klimas (Eta2 .009).

Die Skala Kollegialität selbst vervierfacht den regionalen Aufklärungs­grad (Eta2 .035), wobei die Steigerung aus dem Befragungszeitpunkt 1994 herrührt. Wie an anderen Stellen auch, erwies sich diese Stichprobe als be­sonders anfallig für Kritik, Belastung und Unzufriedenheit. Würde sie entfal­len, ergäbe nur der Untersuchungszeitpunkt 1999 in Berlin-West (Rt 6) eine signifikante Differenz zu den anderen Teilstichproben. D.h., Kollegialität wird insgesamt sehr konsistent in Ost und West wahrgenommen. Wenn über­haupt, geben mit Verweis auf die Verteilung in der Skala höchstens 15% einen deutlich negativen Trend an, weitere 15% sehen sogar eine äußerst positive Entwicklung. Dabei ist der Zusammenhalt in Berlin-Ost und Bran­denburg offenkundiger als in Berlin-West (Tabelle 2).

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Tabelle 2: Kollegialität - Skala

Ost-L. West-L. Ost-L. West-L. Ost-L. West-L. Brandb. 1994 1994 1996 1996 1999 1999 1998

Mean 2,59 2,77 2,39 2,42 2,33 2,55 2,32 Median 2,50 2,75 2,25 2,50 2,25 2,50 2,25 SO ,94 ,82 ,86 ,85 ,78 ,89 ,83 SE ,07 ,04 ,05 ,04 ,04 ,05 ,03

poWert der Varianzanalyse: 0.000; Eta2: 0.035

Auch hier machen die Boxplots auf die deutliche Ähnlichkeit zwischen Ost und West aufmerksam. Denn wird einmal von den Nuancen im Paarvergleich 1999 abgesehen und Brandenburg außen vor gelassen, so ergeben sich auch hier im Paarvergleich Überschneidungsräume von bis zu 75% (Graphik 3).

Graphik 3: Kollegialität - Skala (Boxplot)

5~------.-----.------r----~-----,------r------,

Ost-L. 1994 üst-L. üst-L 1999 West-L. 1994 West-L 19% West-L 1999

75

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3.4 Selektivität/Druck

Die Skala Selektivität/Druck reanimiert im Zusammenhang der hier vorge­stellten Skalen am stärksten regionale Varianz. Die Skala vereint dabei in sich eher bewahrende schulpolitische Paradigmen, rekurriert vor dem Hintergrund einer westlichen Perspektive auf eine traditionale Wertbindung und betont nachdrücklich in der Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur und der Ein­richtung von Schulen für hochbegabte Schüler die Partikularität eines eigent­lich integrativer angelegten Schulkonzeptes. In REGTIME zeigt sich dabei ein gemeinsam geteilter Werteraum (Abbildung 4). Die Items 45 folgten dabei dem Statement Bitte überlegen Sie, wie Sie zu den folgenden Aussagen ste­hen? (1 = trifft völlig zu, 5 = trifft gar nicht zu), die Items 38 dem Statement Welche der hier aufgeführten Veränderungen sind für Sie schulpolitisch bedeutsam? (1 = sehr wichtig, 5 = ganz unwichtig).

Abbildung 4: SelektivitätIDruck - Skala

REGTIME (ru = .74) ri(t-i)

(Rt 1=.64; Rt 2=.70; Rt 3=.54; Rt 4=.71; Rt 5=.54; Rt 6=.70; Rt 7=.56)

45_10 Bei allen Anstrengungen, die Schule zu modernisieren, darf man nicht vergessen, dass es viele Dinge gibt, die bewahrt werden müssen. .54

45_11 Man sollte Methoden nicht einfach aufgeben, die sich als brauchbar erwiesen haben. .53 Wenn man die Zensuren abschafft, werden die Schüler/innen bald überhaupt nichts mehr tun. .53

38_8 Die Einrichtung von besonderen Schulen für hochbegabte Schüler/in.nen .. 45 38_9 Die Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 12 Schuljahre. .43

Wenn man noch mehr Schüler/innen das Abitur machen lässt, wird die Zahl der Ungeeigneten zunehmen. Schüler/innen müssen auch dann gehorchen, wenn sie einmal nicht verstehen, wozu etwas gut ist.

.41

.35

Die Skala verweist in den ehemals ostdeutschen Regionen der Teilstichpro­ben bloß auf eine ausreichende Reliabilität. Dies ist der Perspektive geschul­det, wonach die Items 38_8 und 38_9 eher unterdurchschnittlich mit diesem Werteraum in den Teilstichproben verbunden sind, weil sie immer als Prä­gung ostdeutscher Lehrer aus der eigenen Schulgeschichte vorhanden ist. Die Reliabilität des monokausalen Modells begründete hier letztlich den gemein­samen Werteraum, wie auch die Konsistenz der konstruierten Skala belegen

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kann (Tabelle 3). Außerdem erbringen schon die einzelnen Items hochsignifi­kante Unterschiede zwischen den Teilstichproben, insofern gilt es auch hier methodischen Restriktionen zu entraten, denn es "kann nicht darum gehen, etwa in Vorerhebungen die Items auszurangieren, die nicht in beiden sozio­kulturellen Kontexten hohe ( ... ) Validität erreichen" (BoehnkelMerkens 1994, S.225).

Tabelle 3: SelektivitätlDruck - Skala

Ost-L. West-L. Ost-L. West-L. Ost-L. West-L. Brandb. 1994 1994 1996 1996 1999 1999 1998

Mean 2,44 3,22 2,31 2,81 2,26 2,73 2,09 Median 2,29 3,29 2,29 2,86 2,14 2,71 2,00 SD ,61 ,66 ,52 ,65 ,51 ,66 ,51 SE ,05 ,03 ,03 ,03 ,03 ,04 ,02

p-Wert der Varianzanalyse: 0.000; Eta2: 0.313

Insgesamt markiert die Skala einen Werteraum, der am nachdrücklichsten die ost- und westdeutschen Teilstichproben scheidet. Vergleichbares liegt in REGTIME nicht vor. Allein die a Konto Perspektive erklärt diese Unterschied­lichkeit zu 23.3% 1994 in Berlin-Ost und West, zu 15.6% 1996 und zu 13.8% 1999. Brandenburg im Verhältnis zu allen anderen Stichproben erklärt 14.2%. Oder varianzanalytisch im Vergleich etwa zur Skala Reformpädago­gik:

Die Skala Selektivität/Druck wird durch den regionalen Zusammenhang der in Rede stehenden sieben Teilstichproben fast 30 mal stärker aufgeklärt (Eta2 .313) als bei der Skala Reformpädagogik (Eta2 .011). D.h., im Vergleich zu den anderen Skalen hält sich hier im Windschatten sonst geringer regional gebundener Einflüsse auf die einzelnen Skalen im monokausalen Ansatz regionale Differenz zwischen Ost und West am deutlichsten. Danach zeichnen alle ostdeutschen Teilstichproben insgesamt deutlich restriktiver, als ihr west­deutsches Pendant, wobei es keine signifikanten Unterschiede zwischen den regional gleichen Populationen gibt, wird einmal von der besonders "libera­len" Perspektive in Berlin-West 1994 und der besonders "restriktiven" in Brandenburg 1998 abgesehen.

Auch die Boxplots (Graphik 4) wie die Verteilungen (Tabelle 3) können auf die fast nicht vorhandenen Überschneidungsräume der Einschätzungen im Kontext der Skala verweisen. Extrem ausdrücken ließe sich dies mit ihnen vor dem Hintergrund aus Median, Mittelwert und Standardabweichung. Danach lag der Westberliner Mittelwert der Skala 1999 bei 2.73 (SD .66) und der

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Brandenburger 1998 bei 2.09 (SD .51). D.h. pointiert, nur ungefähr 15% der Brandenburger Lehrerinnen und Lehrer erreichten 1998 in der Verteilung einen so "liberalen" Skalenwert, dass er 50% der Westberliner Verteilung 1999 entspräche. Dies gilt aber in ähnlicher Weise für alle anderen Verglei­che nach Ost und West.

Graphik 4: SelektivitätIDruck - Skala (Boxplot)

5r------,-----,-----,----,-----,-----.------,

4~------~_r--~--~r__r-;-----;--1_-;------~

...IC U 3 ::::I

es --:~

2 .;; '.:::l ...IC cu Ö CI'}

Ost-L. 1994 Ost-L. 1996 Ost-L. 1999 Brandb. 1998 West-L. 1994 West-L. 1996 West-L. 1999

Es bestätigen sich damit in allen Teilstichproben die Einschätzungen zu ähn­lich gelagerten Konstrukten aus den ersten Bearbeitungen des Datenmaterials der Befragung 1996. Sie waren damit keine ,,Eintagsfliegen". Auch die da­mals angedeutete Varianz der Teilstichproben im korrelativen Zusammen­hang aus der Skala SelektivitätlDruck und der Skala Reformpädagogik konnte in allen vier Befragungen repliziert werden. Danach ist es in den westlichen Teilstichproben 10 mal unmöglicher, diesen Kontext zusammenzudenken, als in den ostdeutschen Teilstichproben (Tabelle 4).

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Tabelle 4: SelektivitätlDruck versus Reformpädagogik

Effekt I Regtime Rt I Rt2 Rt3 Rt4 Rt5 Rt6 Rt7

r -.138 -.448 -.166 -.558 - .139 -.446 -.246 p-Wert .103 .000 .002 .000 .015 .000 .000 R2 .019 .201 .028 .311 .019 .199 .061

Für den westdeutsch geprägten Lehrer gehen reformpädagogisch gefärbte Einstellungen mit einem bewahrenden und schulzeitbeschleunigenden schul­politischen Inventar nicht konform, wohingegen dies zwar auch in allen ost­deutschen Stichproben einen negativen Zusammenhang erbringt, dieser aber eben deutlich geringer bleibt. D.h., in den Regionen liegen gänzlich andere berufliche Orientierungsmuster vor, die in sich selbst, wie die Teilstichproben zeigten, aber deutlich konsistent blieben. Graphisch lässt sich diese Differenz einmal an einem regressionsanalytisch geborgenen Scatterplot für den Befra­gungszeitpunkt 1999 aufzeigen (Graphik 5).

Graphik 5: SelektivitätIDruck versus Reformpädagogik

5r--------r--------~------~--------.

4 . . •• 0 .. • 0 000000 o .

-'" 3 0

~ --:3 .;;: 2 0 . Region 1999

+----....... &-+ ....... - .................. --...::;.,..~-_..==--\ . Berlin·West 000

'0 • 00

-'" 0 0 <) 0 00

ö V) 1

1 2

Reformpädagogik

o

3 4 5

__ R.Qu. = 0,1991

o B erlin.Ost R·Qu. = 0,0193

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Page 78: Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft: Eine Forschungsbilanz

Die östliche Regressionsgrade bewegt sich fast parallel zur x-Achse, also besteht fast kein Zusammenhang zwischen bei den Skalen, wohingegen die westliche deutlich negativ geprägt ist. Oder anders: Wer im Westen für Selek­tivitätIDruck zeichnet, kann deutlicher nicht reformpädagogisch orientiert sein bzw. vice versa.

4 Zusammenfassung

Die hier ausgewählt vorgelegten ersten Ergebnisse des größten Datenpools zum west-ostdeutschen Vergleich beruflicher Orientierungen verweisen auf eine deutliche Ähnlichkeit von personalen Einstellungen und situativen Erfah­rungen von Lehrerinnen und Lehrern, wiewohl signifikante Mittelwertunter­schiede zwischen den sieben Teilstichproben vorliegen. Berufszufriedenheit, reformpädagogische Ausrichtung und gemessene Kollegialität vor Ort er­brachten danach Überschneidungsräume der Wertebereiche von bis zu 75% der Populationen. Dies gilt nicht nur temporär, sondern auch in der Zeit. Da­bei binden sich Ähnlichkeiten nicht, wie zunächst vermutet, bloß an globale Wertorientierungen und Unterschiede nicht selbstverständlich an die Nahbe­reiche der Tätigkeit vor Ort. D.h. insgesamt, die beiden Populationen sind sich in vielen Bereichen ähnlicher als immer wieder behauptet wurde, zumin­dest dann, wenn der Zeitraum zwischen 1994 und 1999 betrachtet wird.

Nichtsdestotrotz verbindet sich hiermit aber auch die Einschätzung nach Varianz, denn es sind eben nicht größere Überschneidungsräume und diese Differenzen blieben eben auch in der Zeit stabil, insbesondere was die Ein­stellungen zu einem bewahrenden und schulzeitbeschleunigenden schulpoliti­schen Inventar angeht. Hier liegen bis heute die größten Welten zwischen west- und ostdeutschen Kollegen. Dies bezieht sich nicht nur auf die signifi­kanten Unterschiede in Bezug auf die Mittelwl~rte, sondern auch auf die ho­mogenere Einschätzung in der östlichen PopulE tion, denn es zeichnen gleich­sam nur ca. 15% der ostdeutschen Population so "liberal" wie 50% der west­deutschen.

Insgesamt verifizieren die Ergebnisse die einmal von Klaus-Jürgen Till­mann in den Raum gestellte Hypothese von der Resistenz habitualisierten Lehrerverhaltens und dessen Wandelbarkeit, denn die hier vorgetragenen Einstellungen der Lehrkräfte blieben in Ost und West über den gemessenen Zeitraum eher konstant bzw. das, was gemessen wurde, blieb in der Zeit sta­bil. Dennoch kommt es auf die Warte an, von der die Hypothese ausgeht. Schließlich sind die gemessenen Zeiträume zu kurz, um über einen gänzlichen "Wertewandel" zu berichten und außerdem belegen die Ergebnisse auch, dass nicht selbstverständlich zwei Kulturen vorliegen, wie immer einmal wieder kolportiert wird. Vielmehr zeigen sich in Ost und West professionelle Orien-

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tierungen, die sich gegen jede Art von Vereinnahmung tendenziell relativ autonom zeigen, denn weder hat letztlich die DDR sozialisatorisch über ihre Lehrer "gesiegt", noch die neue Bundesrepublik ihren hinzugekommenen Staatsdienern ihr Konzept aufnötigen können - im bildungs politischen Föde­ralismus kein schlechtes Ergebnis zehn Jahre nach dem Mauerfall.

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Page 82: Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft: Eine Forschungsbilanz

Hans-Werner Fuchs

Transformation der ostdeutschen Bildungslandschaft -eine modemisierungstheoretische Perspektive!

1 Zum Thema

»Transformation« hat sich in den vergangenen Jahren als gängige Sammelbe­zeichnung für die seit Ende der achtziger Jahre zu beobachtenden vielfältigen politisch-gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen in den mittel­und osteuropäischen Staaten etabliert. Zugleich firmiert unter dem Terminus »Transformationsforschung« heute eine produktive Disziplin, deren Analysen insbesondere in den Politik- und Sozialwissenschaften sowie in der Ökonomie angesiedelt sind (vgl. z.B. Merkel (Hrsg.) 1996; MerkeI1999).2 Aber auch in der Erziehungswissenschaft gibt es vielfältige Bemühungen, die Entwicklun­gen in der ehemaligen sozialistischen Staatengemeinschaft und damit auch in der DDR bzw. den ostdeutschen Bundesländern zu analysieren und z.T. auch theoretisch zu verorten (vgl. z.B. Hoyer 1996; Wald 1998; Hörner/Kuebartl Schulz (Hrsg.) 1999). Ziel der nachfolgenden Betrachtungen ist es, die Trans­formation eines Bildungssystems - hier: des »einheitlichen sozialistischen Bildungssystems« der DDR - im Rahmen einer systematischen Perspektive zu beleuchten. Als Interpretationsraster dient der modernisierungstheoretische Ansatz. Dieses aus der Soziologie stammende Theoriekonstrukt erscheint geeignet, um die im Bildungs- und Wissenschaftssystem beobachteten Verän­derungen plausibel interpretieren zu können.3

Die Transformation des Bildungs- und Wissenschaftssystems der DDR in den ostdeutschen Bundesländern, so meine These, lässt sich als Prozess par­tieller oder komplementärer Modernisierung angemessen erklären. Diese Interpretation hebt insbesondere auf den Einwand ab, dass die Sozialstruktur - oder hier: das Bildungssystem - der DDR im Vergleich zu der Bundesrepu­blik Deutschland nicht nur Modernisierungsrückstände, sondern auch einige Modernisierungsvorsprünge aufwies. Modernisierung, so die These, vollzog sich mit Blick auf die als »rückständig« identifizierten sozialstrukturellen

Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Vortrages im Rahmen des 17. Kongresses der DGfE: Bildung und Erziehung in Übergangsgesellschaften. Göttingen, 21.9.2000.

2 Vgl. auch die Schriftenreihe der »Kommission für die Erforschung des sozialen und politi­schen Wandels in den neuen Bundesländern e.V.« (KSPW) in Ostdeutschland, z.B. Bertram (Hrsg.) 1995; BertramlKreherlMülIer-Hartmann (Hrsg.) 1998.

3 Grundlegend zum modernisierungstheoretischen Ansatz als einer Theorie sozialen Wandels vgl. Parsons 1972; Zapf (Hrsg.) 1971; Zapf 1975. Vgl. auch Merkel 1999, S. 83ff.

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Elemente, nicht aber zwingend gleichmäßig in allen Teilbereichen der Sozial­struktur. Dieser Sichtweise widerspricht auch nicht, dass im Verlauf des Transformationsprozesses regressive Tendenzen zu beobachten waren, d.h., dass für die Sozialstruktur der DDR festgestellte Modernisierungsvorsprünge eingeebnet wurden. Modernisierung ist dabei nicht als eindimensionaler, stets nur in eine Richtung sich vollziehender Vorgang zu verstehen, sondern als Prozess, der auch mit Stagnation und Regression einhergehen kann (vgl. Hoyer 1996, S. 13f.; Fuchs 1996, S. 13). Zudem verstehen sich modernisie­rungstheoretische Aussagen nicht als deterministisch, sondern als probabi­listisch; hierauf verweist Berger (vgl. 1996, S. 46). Der theoriegeleitete Blick auf die Transformation des ostdeutschen Bildungs- und Wissenschafts systems belegt die Breite und Tiefe der eingetretenen Veränderungen. Zugleich wird deutlich, dass die Entwicklung in den neunziger Jahren nicht nur zu moderni­sierenden, sondern partiell auch zu regressiven Veränderungen führte. Zwar konnten in den vergangenen zehn Jahren vielfältige Modernisierungsrück­stände im Bildungssystem abgebaut werden; gleichwohl zeigt sich heute wei­tergehender Modernisierungsbedarf in erheblichem Ausmaß.

2 Transformation und Modernisierung

Transformation, im Wortsinne als »Umbruch«, »Umbau« oder »Umgestal­tung« zu verstehen, stellt eine spezifische Form sozialen Wandels dar, die durch die "Intentionalität von gesellschaftlichen Akteuren, durch einen Pro­zess mehr oder minder bewusster Änderungen wesentlicher Ordnungsstruktu­ren und -muster sowie durch einen über verschiedene Medien gesteuerten Umwandlungs- (Umwälzungs-) prozess von sozialen Systemen gekennzeich­net" (Reißig 1994, S. 7) werden kann. Der 1989 in der DDR einsetzende Transformationsprozess erfasste die dort lebenden Menschen in allen relevan­ten Daseinsaspekten. Noch in den letzten Monaten staatlicher Existenz der DDR setzte ein massiver Umbau der politischen, sozialen und ökonomischen Grundstrukturen ein, der in der Einführung der D-Mark zum 1. Juli 1990 einen plakativ sichtbaren Ausdruck fand. Auch im Bildungs- und Wissen­schaftssystem nahm, beginnend noch im Jahr 1989, ein Umgestaltungsprozess seinen Anfang, der zur Jahresmitte 1990 bereits zu erheblichen Veränderun­gen geführt hatte und sich nach dem 3. Oktober 1990 mit hoher Geschwin­digkeit fortsetzte. Die in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen auftretende Frage, wie die vielfaltigen Umbrüche in der ostdeutschen Sozialstruktur (und zugleich der der mittelosteuropäischen Staaten) theoretisch erklärt werden könnten, führte zu einer neuen Aktualität modernisierungstheoretischer An­sätze, die sich als tragfähiges Analyseinstrument zur Interpretation der Trans­formationsprozesse auch für Bildung und Wissenschaft erwiesen.

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Modernisierung bezeichnet allgemein den Vorgang der Umstrukturierung einer Sozialstruktur (vgl. Endruweit 1987). Modernisierungstheorien4 dienen dazu, die Entwicklung von Staaten oder Gesellschaften in ihrer Richtung und ihrem Verlauf zu untersuchen. Die Grundannahme lautet, dass im Verlauf des Modernisierungsprozesses, der im späten 18. Jahrhundert mit der industriel­len Revolution in England und der politisch-gesellschaftlichen Französischen Revolution einsetzte, bestimmte Gesellschaften Vorsprünge oder Vorteile gegenüber anderen Gesellschaften erlangten. Das aufgrund unterschiedlicher Modernisierungsgeschwindigkeiten entstehende zwischengesellschaftliche Entwicklungsgefälle kann in politischen, ökonomischen oder sozialen Fakto­ren identifiziert werden. Als Voraussetzung für Modernisierung werden Pro­zesse angenommen, die mit den Termini »Alphabetisierung«, »Urbanisie­rung« und »Industrialisierung« gekennzeichnet werden. Mit diesen Prozessen ist, so eine weitere Annahme, die Herausbildung von »Institutionen« verbun­den, für die wiederum die Begriffe »Konkurrenzdemokratie«, »Marktwirt­schaft«, »Massenkonsum« und »Wohlfahrtsstaat« stehen. (vgl. Zapf 1998, S. 475) Gesellschaften mit modernerer politischer, ökonomischer oder sozialer Struktur, so die weitere Annahme, werden von weniger weit modernisierten Gesellschaften als Vorbild angesehen, an die es Anschluss zu finden gelte. Hierdurch kann auf den Entwicklungsweg traditionaler oder weniger weit modernisierter Gesellschaften geschlossen werden. Anzumerken bleibt, dass der Entwicklung von Bildungssystemstrukturen - Alphabetisierung als Vor­aussetzung für Modernisierung (s.o.) - erhebliche Bedeutung im Modernisie­rungsprozess beigemessen wird (vgl. Flora 1974, S. 140ff.).

Als grundlegende theoretische Annahme gilt ferner, dass Modernisie­rungsprozesse anhand bestimmter Faktoren abgebildet werden können. Diese Faktoren sind Inklusion/Partizipation, Wertgeneralisierung, Differenzierung, Wachstum, Statusanhebung, Interdependenz und Mobilität. Sie können zur Analyse der politischen, ökonomischen und sozialen Modernisierung, aber auch der Bildungssystementwicklung genutzt werden. Die Chance für immer mehr Individuen, im Verlauf gesellschaftlicher Entwicklung an den »Instituti­onen« einer Gesellschaft teilzuhaben, wird als Inklusion bezeichnet. Unter »Institutionen« werden insbesondere solche der politischen Entscheidungsfin­dung sowie wohlfahrtsstaatliche Existenzsicherungssysteme verstanden. Der Teilbegriff Partizipation wiederum steht für die Möglichkeit, Vermittlungs­mechanismen bei divergierenden Meinungen oder Konflikten zwischen Indi­viduen oder zwischen Individuum und Staat in Anspruch nehmen zu können. Mit Blick auf das Bildungssystem können dies Mitsprache-, Mitgestaltungs­oder Mitentscheidungsrechte sein, aber auch die Möglichkeit individuellen Rechtsschutzes gegen die Wirkungen staatlichen HandeIns.

4 Die Grundannahmen der Modemisierungstheorie können hier nur mit groben Strichen skizziert werden. Im Detail hierzu vgl. Zapf 1996; Zapf 1998; Berger 1996 sowie, grundle­gend, Zapf 1990; Resasade 1984. Zur Kritik an modemisierungstheoretischen Ansätzen vgl. insb. Beck 1986; Beck 1991.

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Wertgeneralisierung bedeutet, innerhalb einer Gesellschaft ein höchstmögli­ches Maß individueller Freiräume sowie Werte, Normen und Meinungen in großer Vielfalt zuzulassen. Fixiert werden soll lediglich der für die gesell­schaftliche Kohäsion unumgänglich notwendige Minimalkonsens. Für Bil­dungseinrichtungen bedeutet dies, Pluralität und Pluralismus als Thema und als Prinzip von Unterrichts- und Bildungsangeboten, aber auch als Ziel von Erziehungsprozessen zur Geltung kommen zu lassen.

Differenzierung ist eines der wesentlichen Kennzeichen von Sozialstruk­turen im Modernisierungsprozess. Gesellschaften, so die Annahme, differen­zieren sich im Verlauf ihrer Entwicklung in zunehmendem Maße aus. Im Bildungssystem gilt dies beispielhaft für Berufsbilder, Bildungsgänge und -einrichtungen oder Wissenschaftszweige.

Wachstum als Element des Modernisierungsprozesses meint nicht nur ein sich erhöhendes Maß erwirtschafteter Überschüsse, die staatlicherseits z.B. in Form wohlfahrtsstaatlicher Leistungen verteilt werden können oder anderwei­tig als Güter oder Dienstleistungen zur Verfügung stehen. Der Bedeutungs­zuwachs von Bildung, die sich verlängernde Dauer des Aufenthalts in Bil­dungseinrichtungen oder eine sich erhöhende Zahl der mit Bildungs- und Qualifikationsmaßnahmen befassten Individuen stehen ebenso für den Begriff des Wachstums.

Statusanhebung bezeichnet die Erhöhung des materiellen W ohlstandsni­veaus möglichst vieler Individuen einer Gesellschaft. Hierzu kann auch die Etablierung eines Systems sozialer Grundsicherung gerechnet werden, das, hinsichtlich des Bildungs- und Wissenschaftssystems, z.B. in der Bereitstel­lung preiswerten Wohnraums, von Stipendien oder sonstigen Hilfen zum Lebensunterhalt für Schüler, Auszubildende oder Studierende bestehen kann.

Die Interdependenzannahme ist im Rahmen modernisierungstheoreti­scher Ansätze nicht unumstritten. Sie besagt, dass die Modernisierung eines gesellschaftlichen Subsystems in anderen Subsystemen vergleichbare Prozes­se nach sich zieht. Bei einem Vergleich des Bildungssystems z.B. mit dem ökonomischen System oder aber von Teilelementen des Bildungssystems untereinander können jedoch vielfach unterschiedliche Geschwindigkeiten des Modernisierungsprozesses festgestellt werden. Gerade in Einrichtungen des Bildungssystems finden sich nicht selten »Moderne« und »Tradition« gleichermaßen (v gl. Tippelt 1990, S. IOff.). Interdependenz als Faktor von bzw. für Modernisierung wäre insoweit zu relativieren und am jeweils unter­suchten Einzelfall zu überprüfen. Interdependenzen können, müssen im Ver­lauf von Modernisierungsprozessen jedoch nicht zwingend auftreten.

Von großer Bedeutung ist der Faktor Mobilisierung. Die Mobilisierung der Individuen einer Gesellschaft ist eine Voraussetzung für Modernisierung. In modernen Gesellschaften besteht ein hohes Maß individueller sozialer Mobilität. Sie zeigt sich sowohl in der Chance, die individuelle soziale Posi­tion oder Schichtzugehörigkeit durch Leistung zu verändern - hier: zu verbes-

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sern - als auch in dem möglichen Wechsel von Rollen, Handlungsmustern, Werthaltungen und Interessen. Soziale Mobilität setzt die Möglichkeit des freien Zuganges zu Bildung voraus; insofern besitzt Bildung in modernen Gesellschaften einen hohen Stellenwert.s

3 Zur Entwicklung des ostdeutschen Bildungssystems

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschritten die beiden deutschen Teilgesellschaften unterschiedliche Entwicklungswege. Die spätere Bundes­republik Deutschland folgte einem »westlichen« Modernisierungspfad mit parlamentarischer Demokratie, Marktwirtschaft und einer durch Pluralismus geprägten sozialen und politischen Grundordnung. Die SBZlDDR als Teil der von der Sowjetunion beherrschten mittelosteuropäischen Staatengemeinschaft wurde hingegen in einen politisch-ideologisch induzierten, spezifisch sozialis­tischen Modernisierungsweg eingebunden. Ende der achtziger Jahre hatten sich auf diese Weise erhebliche Entwicklungsdifferenzen in der Sozialstruk­tur, aber auch in den Bildungs- und Wissenschaftssystemen der beiden deut­schen Staaten herausgebildet. Bereits im Herbst 1989 kennzeichneten Wis­senschaftler und politisch aktive Gruppierungen in der DDR viele dieser Differenzen als Modernisierungsrückstände gegenüber der westdeutschen Sozialstruktur und forderten deren Beseitigung. So ließen sich bezüglich des Modernisierungsfaktors Partizipation im Bildungs- und Wissenschaftssystem der DDR erhebliche Defizite diagnostizieren. Mitsprache, Mitgestaltungs­und Mitentscheidungsrechte waren Lehrenden, Lernenden und Eltern nur in geringem Umfang eingeräumt worden und nur insoweit, als dies zur Stützung der politisch-ideologisch vorgegebenen Linie beitrug. Schon im Herbst! Win­ter 1989/90 begannen erste Gruppen damit, sich partizipatorische Freiräume zu schaffen und Bildungsgänge strukturell und inhaltlich umzugestalten. Im weiteren Verlauf des Transformationsprozesses wurden Gestaltungs- und Mitbestimmungsrechte in Bildung und Wissenschaft rechtlich kodifiziert. Das seit dem 3. Oktober 1990 auch in den neuen Ländern geltende Grundgesetz fixiert in Art. 6 (2) das elterliche Vorrecht bei der Erziehung ihrer Kinder. Hieraus leitet sich elterliches Recht auf weitgehende Bestimmung über den Bildungsweg der Kinder ab, was sich wiederum auf schulgesetzliche Rege­lungen zur elterlichen Einflussnahme auf die Schulwahl etc. auswirkt. Im Schulrecht der ostdeutschen Länder sind überdies vielfältige Mitentschei­dungs- und Mitbestimmungsrechte enthalten, die im Rahmen der Schulauto­nomiediskussion in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre noch erweitert

5 Im Detail zum Begriff und den genannten Faktoren von Modemisierung vgl. Fuchs 1996, S. 8ff.

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wurden.6 Als weiteres Beispiel kann die Herausgabe von Schülerzeitungen genannt werden; diese dürfen nicht mehr zensiert werden und unterliegen nun allein presserechtlichen Bestimmungen. Auszubildende in der Berufsbildung können Mitbestimmungsrechte geltend machen, wie sie sich aus dem Be­triebsverfassungsgesetz ergeben. Die universitäre akademische Selbstverwal­tung wird durch zumeist paritätisch besetzte Gremien wahrgenommen, in denen die an Hochschulen vertretenen Gruppen - Hochschullehrer, akademi­scher Mittelbau, Studierende, nichtwissenschaftliches Personal - vertreten sind. Die im Hinblick auf Partizipation zu erwähnenden Rechte und Mög­lichkeiten sind vielfältig und umfangreich. Sie dienen nicht nur der Teilhabe, sondern auch der Vermittlung bei Konflikten zwischen Individuum und Insti­tution. Im Transformationsprozess sind diesbezüglich erhebliche Modernisie­rungseffekte identifizierbar. Gleiches gilt für den Faktor Wertgeneralisierung. Der freie, offene Austrag politischer Kontroversen war in der DDR im Rah­men der verbindlich gesetzten marxistisch-leninistischen Ideologie weder erwünscht noch erlaubt, ebenso wenig die öffentliche Äußerung politischer Ansichten, wenn diese von der verordneten Linie abwichen. Diskussionen über differierende Wertvorstellungen, Normen und Haltungen blieben im wesentlichen auf den privaten Raum beschränkt. Auch in den Bildungs- und Wissenschaftseinrichtungen blieb die Diskussion politischer, sozialer, öko­nomischer oder sonstiger Probleme mit Bezug zu Staat oder Gesellschaft auf die private Sphäre beschränkt. Diese Situation hat sich seit der »Wende« für alle Einrichtungen des Bildungs- und Wissenschaftssystems völlig verändert. Die Schulgesetze verpflichten die Lehrenden, in Bildung und Erziehung die Wertvorstellungen zu berücksichtigen, die aus den in das Grundgesetz aufge­nommenen Freiheits- und Gleichheitsrechten ableitbar sind. Erziehung zur Kritikfähigkeit und zum kontroversen, zugleich aber friedlichen Austrag von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten zählt in allen ostdeutschen Län­dern zu den Zielen, die zu realisieren den in der Lehre Tätigen vorgegeben sind.? Vergleichbares gilt für die Hochschulen mit dem Recht der Freiheit von Forschung und Lehre, dem Verfassungsrang zukommt (Art. 5 [3] GG). Das Menschenbild, dem die in den Bereichen Bildung und Erziehung Tätigen verpflichtet sind, ist nun an Begriffen wie Freiheit, Toleranz und Individuali­tät und an der Hinführung zu selbständigem Denken und Handeln orientiert.

Beginnend noch im Jahr 1989, hat sich das Bildungs- und Wissenschafts­system der DDR in den neuen Bundesländern in erheblichem Maße verändert;

6 Vgl. z.B. §§ 7f., 82ff. Gesetz über die Schulen des Landes Brandenburg v. 12.4.1996 (GVBI. 1 S. 102), zuletzt geändert durch Gesetz v. 20.5.1999 (GVBI. I S. 130); § § 73ff. Schulgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommem v. 15.5.1996 (GVOBI. M-V S. 205), zuletzt geändert durch Gesetz v. 21.12.1999 (GVOBI. M-V S. 644, 652).

7 Vgl. z.B. § 4 Gesetz über die Schulen des Landes Brandenburg (a.a.O); § 1 Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt in der Fassung vom 27.8.1996 (GVBI. LSA S. 264), zuletzt geän­dert durch Gesetz v. 13.1.2000 (GVBI. LSA S. 108).

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strukturell und inhaltlich sind vielfaltige Differenzierungsprozesse beobacht­bar. Mit dem 3. Oktober 1990 wurde die Kulturhoheit auf die neu konstituier­ten Länder übertragen. Auf der Grundlage neuer Schulgesetze wurden länder­bezogene Schulsysteme aufgebaut, die sich in der strukturellen, der organisa­torischen und der inhaltlichen Gestaltung der Bildungsgänge z.T. deutlich voneinander unterscheiden. So ist heute z.B. in Brandenburg die Gesamtschu­le die am stärksten besuchte Schulart der Sekundarstufe. Sie baut auf einer sechsjährigen Grundschule auf, während in den anderen Ländern vierjährige Grundschulen eingerichtet wurden. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin­gen bestehen neben dem gymnasialen integrierte Sekundarbildungsgänge (Mittel-, Sekundar-, Regelschule ), während in Mecklenburg-Vorpommern der überwiegende Teil der zunächst formal selbständigen Haupt- und Realschulen heute eng kooperiert. Differenzierungen bestehen darüber hinaus in der Dauer der gymnasialen Bildungsgänge - sieben Jahre in Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, acht Jahre in Sachsen- und Thüringen, neun Jahre in Meck­lenburg-Vorpommern - sowie in dem je unterschiedlichen Angebot berufs­bildender Schulen mit Teilzeit- und Vollzeitbildungsgängen. Im beruflichen Bildungswesen tragen die in Sachsen und Berlin aufgebauten Berufsakade­mien zu einer weiteren Differenzierung dieses Bildungssystemsegmentes bei; zugleich wurden jedoch die DDR-spezifische, auf mittlerem Niveau ausbil­dende Form der Fachschule und die »Berufsausbildung mit Abitur«, ein in der DDR flächendeckend eingerichteter kombinierter Bildungsgang, abgebaut. Die in den Hochschulen wieder geltende Freiheit von Forschung und Lehre führte zu einer nachhaltigen inneren bzw. inhaltlichen Differenzierung von Einrichtungen und Studienangeboten. Im Bereich der Erwachsenen- und Weiterbildung setzte sich sehr bald nach Herstellung der staatsrechtlichen Einheit der aus Westdeutschland bekannte Träger- und Angebotspluralismus durch.

Eine weitere, das Differenzierungstheorem bestätigende Entwicklung ist mit dem Aufbau eines Netzes nichtstaatlicher Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen des Bildungssystems verbunden. Einzig den beiden großen christli­chen Kirchen war in der DDR erlaubt, in geringer Zahl Bildungseinrichtungen zu unterhalten, die, mit Ausnahme der Kinderbetreuungseinrichtungen, we­sentlich der Qualifikation eigenen Nachwuchses dienten. Als das Grundgesetz am 3. Oktober 1990 in den ostdeutschen Länden Geltung erlangte, erhielt das Recht zur Errichtung privater Bildungseinrichtungen auch dort Verfassungs­rang (Art. 7 [4] GG). Die Neu- oder Wiedererrichtung insbesondere von Schulen in freier Trägerschaft ist durch das in den neuen Ländern vorhande­ne, flächen- und bedarfsdeckende Netz staatlicher Bildungseinrichtungen und die geringen finanziellen Spielräume potenzieller Träger allerdings erheblich erschwert.

Ein Aspekt des Selbstbildes der DDR-Gesellschaft war der einer Bil­dungsgesellschaft. Von der Vorschulerziehung bis zum Erwachsenen- und

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Weiterbildungsbereich bestand in den achtziger Jahren ein ausgebautes Netz von Bildungseinrichtungen, das durch diverse Fernunterrichts- und -stu­dien angebote ergänzt wurde. Der Sicherung einer umfassenden allgemeinen und beruflichen Grundbildung breiter Bevölkerungskreise wurde eine hohe Bedeutung beigemessen. Gleiches galt, eingeschränkt allerdings durch strikte Vorgaben »gesellschaftlichen Bedarfs«, auch für die höhere Bildung. Ande­rerseits bestand neben den Bildungsgängen der erweiterten Oberschule und der Berufsausbildung mit Abitur eine Vielzahl von Möglichkeiten, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben. Aufgrund des Stellenwertes, der Bildung in der DDR beigemessen wurde, trat mit Blick auf den Faktor Wachstum im Verlauf der Bildungssystemtransformation kein nachhaltiger Bedeutungszuwachs ein. Dies kann als Beleg für die These partieller Moder­nisierung gelten. Gleichwohl sind in der Rückschau Veränderungen erkenn­bar, die sich im Sinne des Wachstumspostulates interpretieren lassen. Bei­spielsweise stiegen durch die weitgehende Freigabe der Übergangsentschei­dung die Anmeldequoten zu den zur Hochschulreife führenden Bildungsgän­gen stark an; sie sind mittlerweile den aus Westdeutschland bekannten Quo­ten vergleichbar. Ähnliches gilt für die Übergangsquoten an Universitäten und Hochschulen sowie für die Gesamtzahl der Studierenden. Letztere wuch­sen indes nicht nur aufgrund des verstärkten Zuganges zu Hochschulbil­dungsgängen, sondern auch durch die im Vergleich zur DDR gestiegene Ge­samtstudiendauer, die wiederum nicht als Modernisierungsschritt interpretiert werden kann.

In gleichem Sinne differenziert zu sehen ist der Transformationsprozess mit Blick auf das Element Statusanhebung. Zweifellos ist, auch in der indivi­duellen Wahrnehmung, das allgemeine Wohlstandsniveau seit 1990 deutlich angestiegen. Die sich in Bildungs- und Ausbildungsprozessen befindlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden aber auch in der DDR mate­riell abgesichert. So erhielten bereits Schüler der. Erweiterten Oberschulen Stipendien, die in ihrer Höhe den Lehrlingsentgelten angeglichen waren. Für Studierende bestand ein umfangreichendes System von Grund- und Ergän­zungsstipendien. Hinzu traten die Bereitstellung von Wohnraum sowie weite­re soziale und materielle Leistungen, die von Verheirateten oder Studierenden mit Kindern in Anspruch genommen werden konnten. Viele dieser Leistungen entfielen seit 1990. Ein großer Teil der heute an ostdeutschen Hochschulen Studierenden erhält Unterstützung nach dem BAföG, die jedoch teilweise auf Darlehensbasis gewährt wird und somit zurück zu zahlen ist. Ebenso hielt der Studentenwohnraumbau nicht mit den gestiegenen Studierendenzahlen Schritt. Hinsichtlich der materiellen Absicherung Studierender wäre somit eher von regressiven als von modernisierenden Tendenzen zu sprechen.

Wie erwähnt, ist die Interdependenzannahme im Rahmen der Moderni­sierungstheorie selbst kontrovers. So sind im Transformationsprozess mit Blick auf diesen Aspekt durchaus auch Widersprüche erkennbar. Zwar führte

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die Transformation verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche unverkenn­bar zu erheblichen modernisierenden Effekten. Die Öffnungsprozesse im politischen System zogen eine Erhöhung der Partizipations- und sozialen Mobilitätsmöglichkeiten auch in Bildung und Wissenschaft nach sich. Das nun bestehende erhöhte Maß an Wertgeneralisierung und gesellschaftlicher Differenzierung wirkt sich ebenso positiv auf das Bildungssystem aus. Zugleich können im Lichte des Interdependenztheorems aber auch regressive Tendenzen beobachtet werden. Als Beispiel kann hier die Entwicklung im Bereich der beruflichen Bildung dienen. In der DDR bestand ein engmaschi­ges, mit den Schulen verkoppeltes System der Berufsberatung, Planung und Bedarfslenkung. Dieses System setzte Lehrstellensuchende oftmals Zwängen aus, da diese zumeist auf die im jeweiligen regionalen schulischen Umfeld verfügbaren Ausbildungsmöglichkeiten verwiesen wurden. Zugleich wurde aber jedem und jeder Lehrstellensuchenden - wenn auch oftmals nicht im gewünschten Beruf - eine Ausbildungsmöglichkeit geboten, und die ausbil­denden Betriebe waren in der Regel verpflichtet, ihren Lehrlingen bei Ausbil­dungsende einen Arbeitsplatz anzubieten. Seit 1990 richtet sich - wie in den alten Bundesländern - die Zahl verfügbarer Ausbildungsplätze wesentlich nach Marktmechanismen. In den neunziger Jahren lag jedoch das Ausbil­dungsplatzangebot aufgrund der in den neuen Ländern ungünstigen ökonomi­schen Situation und anderer restringierender Faktoren beständig unter der Nachfrage. Nur aufgrund umfangreicher, durch den Bund und die betroffenen Länder bereitgestellter finanzieller und materieller Unterstützungsleistungen für betriebliche und außerbetriebliche Berufsausbildung gelang es, Lehrstel­lenangebot und -nachfrage in etwa anzugleichen. Die problematische Ausbil­dungsstellensituation in den ostdeutschen Ländern führte und führt überdies zur Abwanderung vieler junger Menschen in die alten Bundesländer, von denen viele nach Ende ihrer Ausbildung nicht in ihre Herkunftsregionen zu­rückkehren und damit zukünftig als qualifizierte Arbeitskräfte für den ost­deutschen Arbeitsmarkt ausfallen dürften.8 Ergänzend ist darauf zu verweisen, dass die Berufsbildung in der DDR vorwiegend an den Kriterien industrieller Ausbildung orientiert war und eine enge Verzahnung von praktischer betrieb­licher und theoretischer schulischer Unterweisung aufwies. In der Bundesre­publik Deutschland hingegen bestehen nach wie vor traditionelle Formen handwerklicher Ausbildung in kleinen und mittleren Betrieben, und das Handwerk stellt in hohem Maße Ausbildungsplätze bereit. Die Lernortkoope­ration zwischen Betrieben und Berufsschulen gilt zudem in vielen Fällen als problematisch. Auch die Anfang der neunziger Jahre eingestellte Berufsaus­bildung mit Abitur ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, über die in der DDR immerhin rund 25% der jährlichen Abiturientenquote eine berufliche Qualifikation erhielt. An den genannten Beispielen zeigt sich, dass der Mo-

8 Vgl. FuchslReuter 2000, S. 75f., S. 177ff. und den Beitrag von Weishaupt in diesem Band.

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dernisierung eines Subsystems - in diesem Falle des Wirtschaftssystems -nicht die Modernisierung eines anderen Subsystems nachfolgte.

Zu einem deutlichen Modernitätssprung führte der Transformationspro­zess hingegen mit Blick auf den Faktor Mobilisierung. Moderne Gesellschaf­ten zeichnen sich (s.o.) durch ein hohes Maß sozialer Mobilität ihrer Indivi­duen aus. Der möglichst freie Zugang zu Bildung und zu den über Bildungs­rnaßnahmen vergebenen Berechtigungen und Nachweisen wiederum zählt zu den wesentlichen Voraussetzungen für die Chance sozialer Mobilität - kon­kret: sozialen Aufstiegs. In dieser Hinsicht wies die DDR erhebliche Defizite auf. Nach der Phase bewusster Umsteuerung der sozialen Schichtung und des Elitenaustauschs in den fünfziger und sechziger Jahren kam es zu einer ra­schen Verfestigung der neuen Sozialstruktur, die durch eine bewusste Nivel­lierung der durch Erwerbsarbeit erzielbaren Einkommen noch verstärkt wur­de. Entgegen der offiziellen Propaganda war der Zugang zu den zur Hoch­schulreife führenden Bildungsgängen seit den siebziger Jahren für die Ange­hörigen der unteren sozialen Schichten weitgehend blockiert. Die als »sozia­listische Intelligenz« bezeichnete soziale Gruppe reproduzierte sich seither vorwiegend selbst. Noch 1989/90 wurde die an politischen Kriterien orientierte Allokation von Qualifikationen beseitigt - ein wichtiger Moderni­sierungsschritt. (v gl. Geißler 1993, S. 77; Schreier 1999, S. 73; vgl. auch Geißler 1996, S. 266f.) Der Zugang zu Bildung ist seither grundSätzlich frei und im Wesentlichen dem Kriterium individueller Leistung unterworfen. Ein Bekenntnis zum Staat oder zu vorgegebenen politisch-ideologischen Postula­ten wird über den für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft unabdingbaren Minimalkonsens hinaus nicht mehr verlangt. Die stark gestie­genen Übergangsquoten in weiterführende Bildungsgänge und an die Hoch­schulen belegen, dass breite gesellschaftliche Gruppen Bildung als Medium gesellschaftlicher Mobilität wahrnehmen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Chancenreichtum, den eine offene Gesellschaftsordnung offeriert, immer auch in einem Spannungsverhältnis zum Risiko individuellen Scheiterns steht.

Im Zusammenhang mit der These »Transformation als Modernisierung« ist ein weiterer Aspekt von Bedeutung. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine auf rationalen und diskursiven Prinzipien basierende Konfliktrege­lung aus. Dies gilt nicht zuletzt für Konflikte zwischen Individuum und Staat, die in vielfältiger Weise auch und gerade im Bildungswesen auftreten können. Da aus ideologischen Gründen die Existenz solcher Interessendivergenzen in der DDR weitgehend ausgeblendet wurde, bestanden nur minimale individu­elle Einspruchsmöglichkeiten bei Entscheidungen staatlicher Organe, z.B. gegen die Ablehnung eines Studienplatzes. Die hier seit 1990 eingetretenen Veränderungen können ebenfalls als wichtiger Modernisierungsschritt ange­sehen werden. Lehrende, Lernende und Eltern verfügen nun über umfangrei­che Einspruchs-, Mitsprache- und Teilhaberechte, die im Zuge der Schulauto-

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nomiedebatte der vergangenen Jahre teilweise noch erweitert wurden. Glei­ches gilt hinsichtlich der rechtlich kodifizierten Einspruchs- und Abwehrrech­te gegen staatliches Handeln.

Die Transformation der ostdeutschen Bildungslandschaft führte zur Be­seitigung vielfältiger Modernisierungsdefizite. Überdies blieben einige als Modernisierungsvorsprünge zu wertende Elemente erhalten. So ist z.B. trotz eines erheblichen kapazitativen Abbaus die Betreuungsdichte im Vorschulbe­reich noch immer höher als in vielen westdeutschen Ländern. Daneben wur­den aber auch Modernitätsvorsprünge eingeebnet. Hinzuweisen ist diesbezüg­lich u.a. auf die Reduzierung außerunterrichtlicher Betreuungsangebote für Schüler, die Einstellung des Bildungsganges Berufsausbildung mit Abitur, die Rücknahme der engen Verzahnung von betrieblicher und schulischer Be­rufsausbildung oder die Reduzierung materieller Unterstützungsleistungen für Studierende. Ursachen dieser Entwicklungen sind zum einen im Verlauf des Nachwende- und Vereinigungsprozesses zu suchen. Aufgrund der politisch­ideologischen Hypertrophierung des DDR-Bildungssystems galt dieses auch in seinen grundlegenden Strukturmerkmalen vielen Akteuren in »West« und »Ost« als entwertet und nicht erhaltenswürdig; zudem drängten die oftmals dominierenden westdeutschen Verhandlungspartner vielfach auf Anpassung an die in den alten Bundesländern vorherrschenden Gegebenheiten. Diese Anpassung führte meist zu modernisierenden, partiell aber auch zu regressi­ven Effekten. Zum anderen fanden die in der DDR gewährten wohlfahrtsstaat­lichen Leistungen zumindest in den achtziger Jahren keine Entsprechung mehr in den durch die Volkswirtschaft erwirtschafteten, verteilbaren Über­schüssen; derStaat »lebte über seine Verhältnisse«. Die Reduzierung wohl­fahrtsstaatlicher Leistungen im Bildungssystem war geboten, da diese in der bestehenden Form auch unter veränderten ökonomischen Bedingungen ge­samtdeutsch nicht hätten finanziert werden können.

4 Zukünftige Herausforderungen und Probleme

Nachdem die rechtlich-administrativen, strukturellen, personellen und sonsti­gen Grundlagen gelegt waren, schienen etwa Mitte der neunziger Jahre der Transformationsprozess im ostdeutschen Bildungssystem zu einem Abschluss zu gelangen und sich dessen weitere Entwicklung in ruhigeren Bahnen zu bewegen. Sehr schnell sollte sich jedoch zeigen, dass diese Diagnose nur vorläufiger Natur war. Als Begleiterscheinung des gesellschaftlichen Trans­formationsprozesses hatte 1990 eine tiefgreifende Veränderung der demogra­phischen Strukturen eingesetzt. Die Zahl der Neugeborenen in den ostdeut­schen Ländern ging bis 1994 um mehr als 50% zurück; der Wiederanstieg seither ist nur geringfügig (vgl. Fuchs 1999, S. 9ff.). Durch die vielfältigen

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und umfassenden Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft blieb dieser Vorgang in der öffentlichen Wahrnehmung zunächst verdeckt; seine Auswirkungen auch auf Bildung und Wissenschaft wurden bis zur Mitte der neunziger Jahre nicht hinreichend wahrgenommen. Die Folgen des Geburten­rückganges für das Bildungssystem sind indes einschneidend. Seit 1996 sind die Anmeldequoten an die Grundschulen stark rückläufig. Aufgrund der äuße­ren Differenzierung des Sekundarschulwesens werden die sinkenden Schüler­zahlen in den kommenden Jahren dort ebenfalls zu großen Verwerfungen führen. Vergleichbares gilt zum Ende des Jahrzehnts auch für die Hochschu­lenY

Durch den Geburten- und nachfolgenden Schülerzahlenrückgang werden die vorhandenen, erst vor wenigen Jahren neu aufgebauten Strukturen partiell dysfunktional. So wird es unumgänglich sein, die Zahl vorhandener Bildungs­und Betreuungseinrichtungen deutlich zu verringern, die Einzugsbereiche der weiter bestehenden Einrichtungen zu vergrößern und lehrendes sowie betreu­endes Personal abzubauen. Dies gilt - in der entsprechenden zeitlichen Ab­folge - für das gesamte Bildungssystem vom Vorschulbereich bis zum Hoch­schulwesen und auch für den Bereich der Erwachsenen- und Weiterbildung. Kindergärten werden zusammengelegt oder geschlossen. Mit Blick auf die Grundschulen gibt es Überlegungen, wieder jahrgangsübergreifend zu unter­richten, um wohnortnah kleine Schulen mit vertretbarem Kostenaufwand erhalten zu können. Schulen der Sekundarstufe sind in ihrem Bestand gefähr­det, wenn sie nicht mehr in der »Zügigkeit« geführt werden können, die die erwünschte Binnendifferenzierung erfordert. lO An Universitäten werden Aus­bildungskapazitäten reduziert, so z.B. im Bereich der Lehramtsstudiengänge, da der Nachwuchsbedarf auf absehbare Zeit gering sein wird.

Zur Lösung der skizzierten Probleme wird eine weitgehende Modernisie­rung im Sinne der Anpassung bestehender Strukturen an die nachhaltig ver­änderten äußeren Rahmenbedingungen unumgänglich sein (vgl. FuchslReuter 2000, S. 171ff.). Der Transformationsprozess tritt damit in eine neue Phase, und es werden Eingriffe von vergleichbarer Tiefe in das Bildungssystem vorzunehmen sein, wie dies in der ersten Transformations- und Modernisie­rungsphase der Fall warY

9 Im Detail hierzu vgl. Fickermann 1997; Fuchs 1999. Vgl. Kuthe/Zedler 1999 als Beispiel für die Entwicklung im Sekundarschulwesen eines ostdeutschen Bundeslandes und die Bei­träge von Döbert und Weishaupt in diesem Band.

10 Die geschilderten Auswirkungen des Geburtenrückganges sind regional differenziert zu betrachten. Stark betroffen sind die bevölkerungsarmen Regionen in den großen Aächen­ländern; weniger stark betroffen sind Sachsen und insbesondere das brandenburgische Um­land Berlins, das starke Wanderungsgewinne aufweist; vgl. Fuchs 1999, S. 46ff.

11 Vgl. den Beitrag von Döbert in diesem Band.

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Melanie Fabel

Transformation als "doppelter Modemisierungsprozess". Eine erweiterte Perspektive für die erziehungswissenschaftliehe Transformationsforschung 1

Einleitung

Zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung liegen eine Bilanz des bisherigen Verlaufs der Transformation2 in Ostdeutschland und eine kritische Sichtung der diesen "sozialen Großversuch" (GiesenlLeggewie 1991) begleitenden sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung nahe. Da sich die Erzie­hungswissenschaft sehr eng an die dominierenden Ansätze, Diskussionen und Argumentationsfiguren in Soziologie und Politologie anlehnt und diese als Interpretationsfolien für ihre empirischen Untersuchungen zur Umgestaltung des ostdeutschen Bildungswesens nutzt, wird dieser weite Rahmen hier zug­rundegelegt. Angesichts aktueller Befunde, die mit den Erwartungen einer raschen Ost-West-Anpassung offenkundig nicht zu vereinbaren sind, scheint eine Revision und Modifikation der Transformationsforschung geboten. Mei­ne These, die ich im folgenden entfalten möchte, lautet: Die dominierende Deutung des Transformationsprozesses als nachholende Modernisierung verstellt den Blick auf die Problemlagen, die sich im Schulwesen in den neu­eil Bundesländern abzeichnen und die zum einen auf vielfach unintendierte Folgewirkungen des Transformationsprozesses und ostspezifische Konstella­tionen sowie zum anderen auf die Überlagerung zweier Modernisierungspro­zesse zurückzuführen sind.

Die folgenden Überlegungen sind im Rahmen meines Dissertationsvorhabens "Professio­nelles Selbstverständnis ostdeutscher Lehrerinnen - Anknüpfungspotentiale für die Heraus­forderung von Institutionentransfer und soziokulturellem Wandel" entstanden, welches ich im von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Promotionskolleg "Biographische Risiken und neue professionelle Herausforderungen" (Universität Halle-Wittenberg und Universität Magdeburg) bearbeite.

2 Der Begriff der, Transfonnation', der als Bezeichnung für grundlegende gesellschaftliche System- bzw. Strukturveränderungen mit bekannter Zielrichtung veIWendet wird (HiJJmann 1994, S. 880), hat sich als Kennzeichnung für den Übergang der ehemals realsozialisti­schen Staaten in Mittel- und Osteuropa zu modernen Demokratien westlicher Prägung ein­gebürgert (vgl. Reissig 1994, S. 323).

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1 Transformationsforschung: Zwischenbilanz und Defizite

1.1 Transformation als "nachholende Modernisierung" - zum dominierenden Ansatz in der Transformationsforschung

Die Transformation Ostdeutschlands wurde institutionell wenig variationsof­fen gestaltet (vgl. Wingens 1999, S. 255), was auch ihre Spezifik im Unter­schied zu anderen postsozialistischen Staaten ausmacht. Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung waren sich 1990 hinsichtlich des Transformations­ziels (Angleichung Ostdeutschlands an die westliche Gesellschaft), hinsicht­lich des Transformationsweges (Übertragung des ,bewährten' westdeutschen Institutionengefüges bei gleichzeitiger Dominanz externer politischer und ökonomischer Akteure) und hinsichtlich der Erwartung einer raschen und erfolgreichen Ost-West-Anpassung (nicht zuletzt auch aufgrund der finanziel­len Ressourcen und des personellen Transfers) schnell einig. Als Leitorientie­rung und Konzept der faktischen politischen Umsetzung der gesellschaftli­chen Transformation Ostdeutschlands fungierte dabei das modernisierungs­theoretische Paradigma. Dieses vereint Konzepte, die a) von einer Überle­genheit der modernen Gesellschaften, die sich durch die Basisinstitutionen Konkurrenzdemokratie, Marktwirtschaft, Wohlfahrtsstaat und Massenkonsum auszeichnen, und b) von der Annahme ausgehen, dass allein die Mechanismen Differenzierung, Statusanhebung, Inklusion und Werte generalisierung sozia­len Wandel in Richtung weiterer Modernität gewährleisten (vgl. Zapf 1994). Vor diesem Hintergrund wird der Zusammenbruch der sozialistischen Gesell­schaften auf ModernisierungsdeJizite zurückgeführt und Transformation da­her als Prozess einer nachholenden Modernisierung verstanden.

Auf dieser Interpretationsfolie wurden in der Transformationsforschung der Institutionentransfer und die sich wandelnden sozialen und politisch­kulturellen Verhältnisse in Ostdeutschland in den frühen 90er Jahren vor­nehmlich analysiert, wobei sich das wissenschaftliche Interesse auf den Grad der bereits erreichten Anpassung Ostdeutschlands auf unterschiedlichen Ebe­nen richtete. Vertreter der Modernisierungstheorie kamen Mitte der 90er Jahre zu dem Schluss, dass nach anfanglichen dramatischen Prozessen sozia­len Wandels und Krisensymptomen (wirtschaftliche Rückschläge, Arbeits­platzabbau, dramatischer Rückgang von Eheschließungen und Geburten) aufgrund des schockartigen Zusammenbruchs der sozialistischen Institutionen und des raschen Institutionentransfers sich der Transformationsprozess -gemessen an Tempo, Tiefgang, Richtung und Steuerbarkeit - zu stabilisieren beginnt und die deutsche Vereinigung damit den Beginn eines absehbaren Anpassungsprozesses und einer mittelfristig erfolgreichen nachholenden Modernisierung in Ostdeutschland darstellt (vgl. Zapf 1995). Gleichzeitig galt der sich stabilisierende Transformationsprozess auch als Beleg für die Prob-

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lemlösefähigkeit der Institutionen der modernen Gesellschaft westlicher Prä­gung und stärkte das Theoriekonzept einer weitergehenden Modernisierung "im Doppelsinn von Richtungskonstanz und Strukturverbesserung" (Zapf 1991, S. 46), d. h. die Vorstellung der Weiterentwicklung der Basisinstitutio­nen durch Reformen und Innovationen, die auch die zukünftigen mit dem Prozess der Modernisierung einhergehenden Ambivalenzen, Paradoxien, negativen Folgelasten und neuen Probleme erfolgreich bearbeiten können.3

Hervorstechendes Merkmal einer am modernisierungstheoretischen Para­digma ausgerichteten Transformationsforschung ist, dass der Verlauf und die Resultate des Transformationsprozesses in Ostdeutschland an "westdeutschen Referenzmaßen" (Wiesenthai 1995, S. 135) gemessen werden - sowohl von modernisierungstheoretischen Vertretern wie auch von deren Kritikern, die hinsichtlich des Erfolgs des Transformationsprozesses in Einzelaspekten vielfach zu gegenteiligen Einschätzungen kommen.4 Auch letztere verbleiben in ihrer Argumentation in der vom Konzept nachholender Modernisierung vorgegebenen Angleichungsperspektive (vgl. Wingens 1999,· S. 256) und betrachten die gesellschaftspolitischen Umbrüche und soziokulturellen Ver­änderungsprozesse in den neuen Bundesländern in erster Linie als Aufhol­und Anpassungsprozesse an westdeutsche Verhältnisse.

Doch die immer offensichtlicher werdenden Diskrepanzen zwischen den vorherrschenden Erwartungen einer raschen Angleichung einerseits und den sich abzeichnenden Problemlagen und Entwicklungen in Ostdeutschland seit Mitte der 90er Jahre (Unterschiede in den soziokulturellen Mentalitäten, politische Protestwahlen, Demokratiedistanz, demokratische und zivilgesell­schaftliche Kompetenzdefizite, Problematik der Fremdenfeindlichkeit) ande­rerseits sowie die notgedrungene Einsicht, dass trotz der raschen und weitge­hend abgeschlossenen Integration auf der Institutionenebene weiterhin gravie­rende Integrationsprobleme auf der kulturellen Ebene bestehen und sich ver­stärkt auch bewusste Abgrenzungsprozesse der Ostdeutschen zeigen, verwei­sen auf Defizite des Erklärungsansatzes einer nachholenden Modernisierung.

Vertreter des modernisierungstheoretischen Paradigmas versuchen die Verwerfungen, Blockaden, Ungleichzeitigkeiten, transformationsbedingten Folgen und Problemlagen in Ostdeutschland als unvermeidliche und mittel­fristig vorübergehende Anpassungs- und Folgeprobleme zu fassen. Sie redu­zieren diese "auf Anpassungsprobleme der ,westdeutschen' Institutionen an die ,ostdeutschen Umweltbedingungen' und auf Lernprozesse der ostdeut-

3 Sowohl für die neue (im Osten) bzw. weitere Modernisierung (im Westen) sind die Mechanismen nach Zapf (1991, S. 48) "sachliche, zeitliche, soziale Teilung der Probleme, damit sie ihr überwältigendes Ausmaß verlieren. Technische und soziale Innovationen zur weiteren Inklusion, Wertegeneralisierung, Differenzierung und Statusanhebung. In einem Wort: weitergehende Modemisierung".

4 Von Kritikern der Modernisierungstheorie wird auf die vielfach bestehenden Ost-West­Differenzen verwiesen. Vgl. hierzu den Überblick bei Bulmahn (1996, S. 7ff.).

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schen Akteure im Kontext westdeutscher Regeln, Normen und Standards" (Reissig 1998, S. 316) und halten prinzipiell an der teleologischen Vorstel­lung von der Transformation als linearem Aufholprozess gegenüber den west­lichen Industrienationen fest. Dagegen rücken bei Kritikern an dieser uni ver­salistischen und evolutionär-deterministischen Position und bei Vertretern von akteurstheoretischen Konzepten diese ,Abweichungen' von den Erwar­tungen, die Komplexität, die Ambivalenzen und unintendierten Nebenfolgen des Transformationsprozesses in Ostdeutschland und die aufscheinenden Passungsprobleme von neuen Institutionen und ,alten' Individuen (vgl. Win­gens 1999, S. 256) in das Zentrum ihres Interesses. Sie heben die kulturelle Dimension der Transformation hervor, votieren für eine akteurszentrierte Perspektive und betrachten die Transformation als einen konflikthaften, am­bivalenten und in seinen spezifischen Resultaten ergebnisoffenen Wand­lungsprozess, in welchem den Akteuren eine große Bedeutung beigemessen wird (vgl. Reissig 1998, S. 307).

1.2 Zur erziehungswissenschaJtlichen Transformationsforschung am Beispiel des ostdeutschen Schulwesens

Die Mehrheit der erziehungswissenschaftlichen Transformationsforscher lehnt sich in ihren Beschreibungen und Analysen der Transformation im ost­deutschen Bildungs- und Schulwesen an die Folie einer nachholenden Mo­dernisierung an, zieht insgesamt eine positive Bilanz des institutionellen Wandels im Bildungssystem und geht vielfach von einer erfolgreichen, wenn auch verzögerten Anpassung der ostdeutschen Akteure an die übertragene Institutionenordnung aus.5 Auch hier wandte man sich nach Abschluss der institutionellen bzw. äußeren Transformation des Schul- und Bildungswesens in den neuen Bundesländern Mitte der 90er Jahre - nicht zuletzt angesichts auftretender Problemlagen im Bildungswesen - der Diskussion um die innere Schulreform und der habituellen bzw. kulturellen Ebene der Transformation zu.6 Insbesondere die Auswirkungen des massiven Umstrukturierungsprozes­ses auf ostdeutsche SchülerInnen und LehrerInnen sowie die Bewältigungs­strategien letzterer im Umgang mit (berufs-)biographischer Unsicherheit und

5 Vgl. u.a. Hübner/Gehnnann (1997), Wenzel (1997) und Fuchs (in diesem Band). 6 Vgl. hierzu die Überblicksdarstellungen von Dudekffenorth (1993), Kornadt (1996) und

Tenorth (1997); für ostdeutsche lehrerInnen den Überblick bei Schaefersl Koch (2000, S. 616-620), Händle (1998, S. 298-300) und die Studien in Buchen u.a. (1997) und Car­Ie/Buchen (1999) sowie Hoyer (1996), Händle (1998), Combe/Buchen (1996) und Döbert (1997a; 1997b). Zu Schülern Stockffiedtke (1992), Riedel u.a. (1994) und zu Studien zur inneren Schulentwicklung in den neuen Bundesländern am Beispiel Thüringen Böt!­cher/PlathlWeishaupt (1999), für Berlin Hübner/Gehnnann (1997) und Sachsen-Anhalt Combe/Buchen (1996).

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neuen schulischen Anforderungen rückten in den Mittelpunkt des Interesses.7

Dabei zeigen Untersuchungen, dass die Transformation der Bildungs- und Schullandschaft in Ostdeutschland neben Chancen für die Akteure durch Bildungsexpansion und Zuwachs an Freiheitsgraden, Individualisierungsmög­lichkeiten und Autonomiespielräumen, auch Risiken generiert. So sind ost­deutsche SchülerInnen mit verschärften Selektionsprozessen, einer individua­lisierten Leistungskultur und mit dem Zwang zu einer "Biographisierung" ihrer Schullautbahn konfrontiert (vgI. SchubarthlStenkeIMelzer 1996, S. 102), wobei schulische und gesellschaftliche Unterstützungssysteme wie Hortbetreuung und das außerunterrichtliche Angebot der Schulen abgebaut wurden. Ostdeutsche LehrerInnen sehen sich bei Entwertung bisheriger Ori­entierungsgewissheiten auf schulischer, administrativer und gesellschaftlicher Ebene durch den Strukturwandel vielfach vor neue Herausforderungen ge­steIlt, die zusammenfassend als Auseinandersetzung mit einer "Transformati­on der Lehrerrolle" (LenhardtlStockffiedtke 1992) beschrieben werden kön­nen. "Den neuen und gestiegenen Anforderungen durch die strukturellen Ver­änderungen, curricularen Reformen, fachdidaktischen und pädagogischen Gestaltungsansprüche des Unterrichts, durch ein neues Lern-, Bildungs-, Unterrichts- und Schulverständnis und die notwendige Beteiligung an der pädagogischen Profilbildung der neuen Schulformen begegnen ostdeutsche LehrerInnen nach einer kurzen Euphoriephase zu Beginn des Transformati­onsprozesses und einer anschließenden Phase der Verunsicherung vielfach mit Bewältigungsstrategien wie Rückzug auf Gewohntes und Bewährtes so­wie formaler Anpassung an die neuen Bildungsinstitutionen. 8 Als Erklärung für diese Reaktionen wird zum einen auf die berufsbiographische Sozialisati­on und auf soziokulturelle Voraussetzungen der LehrerInnen in der DDR verwiesen, die diese für heutige Anforderungen nicht hinreichend wappneten (Sozialisationsthese). Zum anderen wird die mit dem Transformationsprozess einhergehende berufsbiographische Verunsicherung durch pädagogische und fachliche Kompetenz-, Status- und Arbeitsplatzunsicherheiten stark gemacht (Kompensationsthese), wenn bei LehrerInnen typische Reaktionsmuster eines Kulturschocks wie Formen der Abschottung, Verteidigung und Gegenwehr diagnostiziert werden (vgI. Schubarth 1999).9

Durch die Fokussierung auf die Ebene der subjektiven Erlebens- und Verarbeitungsmuster und die Ebene der Wechselwirkungen zwischen Akteu­ren und den transferierten Bildungsinstitutionen hat die erziehungswissen­schaftliche Transformationsforschung erheblich an Tiefenschärfe gewonnen und sich der relevanten Frage nach den "Kontextdiskrepanzen" (Woderich 1996, S. 83) zwischen institutionellem Gefüge und soziokultureller Lebens-

7 Richtungsweisend sind die Studien von Koch u.a. (1994) und Dirks u.a. (1995). 8 Zu dieser Einschätzung kommen Rehffillmann (1994), Hoyer (1996), Combe/Buchen

(1996), Wenzel (1997) und Döbert (1997a; 1997b). 9 Zur Sozialisations- und Kompensationsthese vgl. auch Bulmahn (1996, S. 12ff.).

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welt als Folgeproblem des Institutionentransfers zugewandt. Doch auch wenn diese Erklärungsansätze stärker auf Schwierigkeiten und Folgeprobleme des Transformationsprozesses blicken und a) auf den hohen Zeitbedarf der An­eignung der transferierten westdeutschen Institutionen durch die Akteure und b) die Fortdauer und Resistenz von überkommenen Orientierungs- und Hand­lungsmustern aus der DDR verweisen, welche die Prognosen und Erwartun­gen modernisierungstheoretischer und institutionen theoretischer Provenienz partiell in Frage stellen, so bleiben auch sie vielfach dem modernisierungs­theoretischen Paradigma und der Vorstellung eines allmählichen, wenn auch längerfristigen und von Friktionen gekennzeichneten Anpassungsprozesses insofern verhaftet, als die westdeutsche Vergleichsgesellschaft, das westdeut­sche Schul- und Bildungssystem und ein westdeutscher ,pädagogischer Wer­tekonsens' hinsichtlich Lebrerprofessionalität und Bildungs- und Erziehungs­prozessen als stabile Referenz angesehen und genutzt werden. Dass diese Sichtweise sich zunehmend als engführend und problematisch erweist, sollen die folgenden Überlegungen deutlich machen.

1.3 Erklärungsdejizite der erziehungswissenschaJtlichen Transformationsforschung

Die Grenzen der Erklärungs- und Lösungskapazitäten eines Konzepts nachho­lender und weitergehender Modernisierung zeichnen sich angesichts neuer Phänomene und Problemlagen in der ostdeutschen Schul- und Bildungsland­schaft immer deutlicher ab, denn diese sind nicht mehr als Übergangsphäno­mene des Systemumbruchs und Institutionentransfers bzw. als Effekte verzö­gerter Anpassung zu erklären. So zeigt sich beispielsweise, dass der dramati­sche GeburtenrückganglO in den neuen Bundesländern seit 1990 nicht als transformations bedingtes Übergangsphänomen abgetan werden kann, sondern als Langzeitjolge des Systemumbruchs (vgl. Schmidt u.a. 2000, S. 7) betrach­tet werden muss. Dieser demographische Einbruch erzeugt einen zunehmend höheren Handlungsdruck auf die transferierten Bildungsinstitutionen. Als Folgen des ,Schülerschwunds' werden in der Erziehungswissenschaft ein Rückgang des Schul- und Unterrichtsangebotes, eine Gefahrdung der wohn­ortnahen Schulversorgung, sich dadurch verschärfende regionale Disparitäten des Schulangebots und damit einhergehende Chancenungleichheiten, die Gefährdung und Schließung vieler Schulstandorte bzw. Schulfusionen und ein relativ starker Abbau von PersonalsteIlen, verbunden mit Teilzeitarbeit und verengtem Einstellungskorridor für junge LehrerInnen und damit einherge­hende Persistenz traditioneller Orientierungs- und Verhaltensmuster beobach-

10 In absoluten Zahlen ist die Zahl der Geburten in Ostdeutschland von rund 182.000 im Jahr 1989 auf rund 71.000 im Jahr 1994 zurückgegangen und hat sich nach einem leichten Wie­deranstieg seitdem um die 80.000 eingependelt (vgl. FuchslReuter 2000, S. 173).

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tet bzw. prognostiziert. ll Angesichts dieses Szenarios stellt sich die Frage, inwieweit das übernommene Schulsystem, das trotz eigener Wege in der Gestaltung der Sekundarstufe I in einigen neuen Bundesländern (zweigliedri­ges Schulsystem) prinzipiell dem Muster der institutionellen Differenzierung in den alten Bundesländern entspricht (vgl. Schubarth/Stenke/Melzer 1996, S. 106), überhaupt in der Lage ist und sein wird, auf diese unintendierten Ne­benfolgen des Transformationsprozesses und der ganz eigenen Problemkumu­lation in Ostdeutschland zu reagieren.

In den neuen Bundesländern lässt sich weiterhin beobachten, dass das ostdeutsche Schul- und Bildungswesen immer stärker in gesamtdeutsche Veränderungsprozesse einbezogen wird, die gegenwärtig an Dynamik gewin­nen. Dies zeigt sich z.B. bei bildungspolitischen Maßnahmen im Zuge der Debatte um Qualitätsverbesserungvan Schule und erweiterter Selbstverant­wartung der Einzelschule, die sich im Spannungsfeld von Individualisierung (Autonomisierung der Einzelschulen) einerseits und Generalisierung bis hin zur Globalisierung (universalisierte und übergreifende Leistungs- und Quali­tätsvergleiche) andererseits bewegt (vgl. Helsper 2000, S. 53-54). Aufgrund der Ergebnisse der Schulqualitäts-und Schulvergleichsforschungl2, die auf den Mademisierungsdruck, der auf den Schulen lastet, verweisen, wird den Akteuren an den Einzelschulen zunehmend ein erhöhtes Maß an Mitwir­kungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und Teilautonomie eingeräumt, um die Schulqualität zu verbessern. Obwohl a) diese Entwicklung sowohl aus päda­gogischer Sicht (Möglichkeiten der Schulentwicklung und -profilierung), als auch aus verwaltungsorganisatorischer und ökonomischer Sicht (Kostensen­kung und Effizienz) vielfach begrüßt wird, um die Qualität von Schulen zu verbessern und einer Reform von innen den Weg zu ebnen, und sich b) damit auch Hoffnungen einer stärkeren Berücksichtigung von Pluralität und Diffe­renzen zwischen Schulen verbinden, sind auch kritische Stimmen zu verneh­men. Diese verweisen darauf, dass Schulentwicklungs- und Schulprofilie­rungsprozesse auch neue Ungleichheiten erzeugen können. So kann die for­cierte Politik der Teilautonomisierung der Einzelschulen dazu führen, dass Fragen der inneren und pädagogischen Gestaltung der Schulkultur und des schulischen Lernens zu einer Art Marketing-Element in der Konkurrenz der Einzelschulen um die knappen ,guten' SchülerInnen werden und sich die Profilierung der Einzelschulen und die Pluralisierung der Schullandschaft entlang neuer soziokultureller Exklusionen und damit neuer Formen von

11 Für eine differenzierte Abwägung der Begünstigungen und Behinderungen einzelner Modernisierungsoptionen durch die demographischen Rahmenbedingungen vgl. Zedler (1997, S. 61ff.), FuchslReuter(2000, S. 17lff.) und Combe/Buchen (1996, S. 203-204f).

12 Ergebnisse der Schulqualitäts- und Schulvergleichsforschung belegen, dass innerhalb der gleichen rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen einzelne Schulen sehr unterschied­liche Qualität entfalten können (Fend 1998). Gleichzeitig gerät das deutsche Schul- und Bildungssystem aufgrund internationaler Vergleichsstudien (vgl. TIMSS) insgesamt unter Druck.

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Benachteiligungen und Bildungsungleichheiten vollzieht (Stichwort: "profil­geleitete Selektion" 13).

So geht dieser Prozess der Schulautonomisierung und -profilbildung also durchaus mit Ambivalenzen und unintendierten Nebenfolgen einher, die sich nun in den neuen Bundesländern noch eigentümlich verschärfen können. Hier zeichnet sich aufgrund der zurückgehenden Schülerzahlen eine neue, existen­zielle Situation für die Einzelschulen ab: Die Profilierung der eigenen Schule wird zunehmend notwendig und auch genutzt, um im Konkurrenzkampf mit den benachbarten Schulen bestehen zu können. Die forcierte Konkurrenzfa­higkeit der eigenen Schule am Markt zur Sicherung des Schulstandortes und eine damit einhergehende ökonomisch-marktwirtschaftliche Rationalität, die in erster Linie elterliche Erwartungen und Aspirationen bedient, droht zur dominierenden Handlungsmaxime zu werden und pädagogische Rationali­tätskriterien zu überformen bzw. zu verdrängen. Zudem bringt die Aufbür­dung von standortsichernden Ressourcenbeschaffungs-, Profilierungs- und Selbststeuerungsaufgaben für einzelne Schulen die Gefahr einer Dauerüber­forderung mit sich, die wertvolle Kräfte für die innere Schulreform und päda­gogische Schulentwicklung in Ostdeutschland absorbiert.

In den neuen Ländern, so lässt sich resümierend festhalten, zeichnet sich damit das Entstehen einer Schullandschaft ab, die a) nach Klemm (zit. n. CombelBuchen 1996, S. 204) "immer weniger eine bloße Kopie westlicher Modelle darstellt", die b) neben den Folgeproblemen des Institutionentrans­fers mit ganz eigenen, ostspezifischen Problemlagen zu kämpfen hat, die c) zunehmend mit den transferierten Problemen und inhärenten Ambivalenzen der westdeutschen Bildungsinstitutionen konfrontiert wird und wo d) erwei­terter Selbstverantwortung und pädagogischer Innovationsbereitschaft auf­grund struktureller Bedingungen wie Personalabbau, Beschäftigungsunsicher­heit, Lohndisparitäten und Kostendruck enge Grenzen gesetzt sind (vgl. Zed­ler 1997, S. 64f.). Die bei den Beispiele - Folgen' des Rückgangs der Schüler­zahlen in Ostdeutschland und Schulprofilierung zwecks Konkurrenzfähigkeit am Markt - machen m. E. deutlich, dass die herkömmliche Transformations­forschung, die der Perspektive, Transformation als nachholende Modernisie­rung' folgt oder aber sich allein auf die Binnenperspektive der Akteure kon­zentriert und kulturelle Kompetenzdefizite aufgrund der DDR-Sozialisation bei Ostdeutschen diagnostiziert, zu kurz greift und diese aktuellen Prozesse im ostdeutschen Schul- und Bildungswesen gar nicht angemessen erfassen und analysieren kann. Vielmehr gilt es, sich der forschungsstrategischen Her­ausforderung zu stellen und eine analytische Perspektive einzunehmen, in welcher: 1. ostspezifische Hinterlassenschaften und Problemlagen, 2. unin­tendierte Nebenfolgen und ambivalente Entwicklungen, die aus dem Trans­formationsprozess resultieren und die mit Hilfe der transferierten westdeut-

13 V gl. zur .. profilgeleiteten Selektion" die Überlegungen in Helsper (2000, S. 4lff.).

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schen Institutionen nur schwierig zu lösen scheinen, als auch 3. der mit den westdeutschen Institutionen übernommene Modernisierungsdruck Berück­sichtigung findet und in den Mittelpunkt des Interesses einer, transformierten Transformationsforschung' rückt. Dies impliziert, den Blick auch auf aktuelle gesellschaftstheoretische Debatten um eine reflexive Modernisierung von Industriegesellschaften zu richten.

2 "Reflexive Modernisierung" als Bestandteil einer erweiterten Perspektive der Transformationsforschung

2.1 Zur Theorie der reflexiven Modernisierung

In Abgrenzung zur modernisierungstheoretischen Position Zapfs (1995) kons­tatieren die Vertreter des Theoriekonzeptes einer "reflexiven Modernisie­rung" wie Beck, Giddens und Lash (1996) tiefgreifende soziale und kulturelle Umbrüche und Problemlagen der modernen Gesellschaft, die gerade nicht mehr mit der "Praxis des industriellen Weiter-So" (Beck 1991, S. 51) ange­messen kontrolliert und bearbeitet werden können. Nach dieser Zeitdiagnose werden mit dem Voranschreiten der Modernisierung moderner Gesellschaften die Grundlagen der Industriegesellschaft zunehmend aufgehoben, aufgezehrt, verändert und geHihrdet und es kommt zu tiefgreifenden Institutionenkrisen der spätindustriellen Gesellschaft (Krise des Normalarbeitsverhältnisses; Globalisierung; Entkopplung von Bildung und Beschäftigung; zunehmende Individualisierung; Wertwandel; Pluralisierung von Lebensformen; ökologi­sche Krise etc.). Die modernen Gesellschaften befinden sich demnach in einer Übergangszeit, einer Phase der Spätmoderne, in der die Elemente der Moder­ne radikalisiert und globalisiert werden, die modernen Gesellschaften ihre Grundlagen und historische Legitimität zunehmend verlieren (vgl. Beck 1994) und mit den "Konsequenzen der Moderne" (vgl. Giddens 1995) kon­frontiert werden. Als Erklärung für diese Prozesse wird auf das Prinzip der Reflexivität in zweifachem Sinne rekurriert: bei Beck vorrangig als Selbstkon­frontation der modernen Gesellschaften mit risikogesellschaftlichen Folgen, die im System der Industriegesellschaft nicht (angemessen) be- und verarbei­tet werden können (vgl. Beck 1993, S. 37), und bei Giddens (vgl. 1997, S. 118ff.) vor allem im Sinne einer Wissenssteigerung und notwendiger kogniti­ver Reflexionsleistungen der Akteure (v gl. Lamla 1999, S. 214).

Die Individuen werden durch die diagnostizierten grundlegenden Moder­nisierungsschübe, soziokulturellen Wandlungsprozesse und gesellschaftlich­institutionell erzeugten Risiken und Widersprüche vor neue und schwierigere Aufgaben gestellt: Angesichts der mit diesen Prozessen entstehenden Vielfalt

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der Möglichkeiten und Optionen sind Individuen in der alltäglichen Lebens­bewältigung ständig gezwungen, Entscheidungen unter hohen Ungewissheits­bedingungen bzw. im Wissen um Kontingenz zu treffen und selbst zu verant­worten. Dabei wird die Bewältigung dieser riskanten sozialen Aufgabe durch das Wegbrechen der bislang hierfür vorhandenen Absicherungen des Her­kunftsmilieus und der Muster bisher tragfähiger Identitäts- und Lebensent­würfe und Orientierungen zunehmend erschwert (Enttraditionalisierung). Den gesteigerten individuellen Erlebnis-, Entscheidungs- und Handlungsspielräu­men und Chancen eines selbstbestimmten Lebens stehen also als Gegenten­denzen neue Belastungspotentiale und Risiken sowie eine größere individuel­le Verantwortung für die Bewältigung der Risiken der eigenen Existenz ge­genüber. Angesichts dieser aktuellen Gesellschaftsdiagnosen stellt sich die Frage, wie sich die institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung verändern und welche Herausforderungen an Schule und Lehrerhandeln in der spätmodernen Gesellschaft zu beobachten sind.

2.2 Konsequenzen reflexiver Modernisierung für Schule und Lehrerhandeln

Die Erziehungswissenschaft hat die aktuellen soziologischen Gesellschafts­analysen und gesellschaftstheoretischen Zeitdiagnosen in die bildungspoliti­sche, bildungstheoretische und schulpädagogische Debatte aufgenommen und diskutiert intensiv über die Auswirkungen der beschriebenen gesellschaftli­chen Phänomene und Umbrüche auf Schule und Lehrerhandeln, die vielfach als ,Herausforderungen' bzw. ,neue Anforderungen' an Erziehungswissen­schaft, Schule, Unterricht und insbesondere Lehrerhandeln deklariert werden. Dabei wird als allgemeine Tendenz erkennbar, dass das Bildungs- und Erzie­hungssystem im Zuge soziokultureller Umbrüche und beschleunigter Moder­nisierungsprozesse zunehmend auf allen Ebenen mit Herausforderungen, selbsterzeugten und nichtintendierten Nebenfolgen, Risiken, Ambivalenzen und neuen Ungewissheiten konfrontiert wird. 14 Diese lassen sich u.a. festma­chen an: a) dem Strukturwandel von Kindheit und Jugend und der daraus resultierenden zunehmenden Heterogenität der Schülerklientel; b) Differen­zen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen aufgrund unterschiedlicher au­ßerschulischer, z.B. konsumbezogener oder medial vermittelter Erfahrungsbe-

14 Dass die Modernisierungsprozesse, die Dynamisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturellen Veränderungen einen Reformdruck auf die Schule verursachen, ist in der erziehungswissenschaftlichen, bildungspolitischen und öffentlichen Diskussion unbestrit­ten. Uneinigkeit herrscht jedoch über die Bewertung dieser Prozesse, über die Konsequen­zen für die Funktions- und Aufgabenbestimmung von Schule, über mögliche ,angemesse­ne' pädagogische Reaktionen und Perspektiven und vor allem über Reformpotentiale für nötige Veränderungsprozesse bei den Akteuren. V gl. hierzu vor allem Hornstein (1988), Heisper/KrügerlWenzel (1996), Brater (1997), Bauer (1997) und Krüger (1999).

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reiche; c) dem Verlust übergreifender Legitimationsfolien für die Wertmaß­stäbe schulischer Sozialisation; d) dem Widerspruch der verstärkten Bedeu­tung von Bildungsqualifikationen bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust von Bildungsabschlüssen, was sich in Form sozialer und psychosozialer Folgekos­ten bei SchülerInnen bemerkbar macht; e) der beschleunigten Entwertung von Wissensbeständen bei gleichzeitiger Bedeutungszunahme von Wissen, Infor­mationen und Schlüsselqualifikationen, womit Sinnprobleme für schulisches Lernen und biographische Identitätsbildung einhergehen; f) der Einbuße des Kompetenzvorsprungs und des Zuständigkeitsmonopols der Schule im Zuge einer "Pädagogisierung aller Lebensbereiche" und der "Entgrenzung des Pädagogischen" (Krüger 1999, S. 248), womit Möglichkeiten der Reflexion und Dekonstruktion pädagogisch-professionellen Handeins auf Seiten der SchülerInnen, Eltern und der Öffentlichkeit einhergehen.

Auf der Ebene des Binnenlebens der Institution Schule zeichnet sich un­ter diesen Bedingungen, so lässt sich resümierend festhalten, eine tieferge­hende ,,Entauratisierung" ab, d.h. eine zunehmende Legitimationskrise der Schule, welche die "kulturellen Gratisproduktionen" der tradierten inhaltli­chen Selbstverständlichkeiten, der kulturell fest verankerten Autoritätsstruktu­ren und Generationenverhältnisse und der Selbstverständlichkeit von Selbst­disziplin brüchig werden lässt (vgl. Ziehe 1991, S. 77ff.).15

Die Skizzierung der Theorie der reflexiven Modernisierung und ihrer Re­zeption in der schul- und bildungstheoretischen Diskussion zeigt, dass dieser Theorieansatz einen konzeptionellen Rahmen bereitstellt, in welchem insbe­sondere Delegitimationsprozesse und die aus Wandlungs- und Modernisie­rungsprozessen resultierenden selbsterzeugten Risiken, Ambivalenzen und (nicht intendierten) Nebenfolgen thematisiert und untersucht werden können. Damit bietet sich m. E. das Theoriekonzept der "reflexiven Modernisierung" als Bestandteil einer erweiterten Perspektive der Transformationsforschung an, in welcher aktuell zu beobachtende Prozesse in Ostdeutschland erfasst und analysiert werden können; Wie eine Vermittlung der Perspektive einer reflexiven Modernisierung mit der Analyse transformationsbedingter Moder­nisierung konzeptualisiert werden kann, soll im folgenden angedeutet werden.

15 Inwieweit dieses entworfene Bild überdramatisiert ist und die von Erziehungswissenschaft­lern in der Diskussion um neue Herausforderungen an Schule und Lehrerhandeln im Zuge von Modernisierungsprozessen verfolgte eher makrosoziologische Perspektive mögliche adäquate Handlungs- und Bewältigungsstrategien im Schulalltag auf der Ebene der Schul­kultur, der Umgangs- und Vermittlungs formen und des professionellen Selbstverständnis­ses und HandeIns der lehrerinnen gar nicht erfassen kann, bleibt auf der Mikroebene zu überprüfen.

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3 Transformation als "doppelter Modernisierungsprozess"

In der hier vertretenen Perspektive wird die Problematik des ostdeutschen Transformationsprozesses in den Kontext der Diskussion um die sogenannte "reflexive Moderne" gestellt und damit der Ansatz eines "doppelten Modemi­sierungsprozesses" konzeptualisiert. Die Problemlagen und Veränderungs­prozesse in den postsozialistischen Ländern und in Ostdeutschland werden dabei in eine breitere und längerfristige Perspektive der Entwicklung moder­ner Gesellschaften gerückt, da sich zeigt, dass die dynamisierten Verände­rungsprozesse in den westlichen Industrienationen immer stärker auch die Transformationsgesellschaften erfassen. Insbesondere in Ostdeutschland er­gibt sich die paradoxe Situation, dass sich zunehmend zeigt, dass die transfe­rierten westdeutschen Institutionen selbst einem hohen Modernisierungsdruck unterliegen und gegenwärtig viele der Institutionen, Strukturen und Verhält­nisse in Frage gestellt werden, an welche sich die neuen Bundesländer 1990 noch unbedingt anpassen sollten. Man hat sich quasi zu den Problemlagen und Herausforderungen des Transformationsprozesses in den neuen Bundes­ländern zusätzlich noch den Problemdruck der übernommenen westdeutschen Institutionen eingehandelt.

Der Ansatz eines ,Zusammendenkens' zweier unterschiedlicher Prozesse wird hier aufgenommen 16 und als sozialwissenschaftliche Forschungsfrage formuliert: Auf welche Weise intervenieren Prozesse reflexiver Modemisie­rung in die spezifischen ostdeutschen transformationsbedingten Modemisie­rungsprozesse und Entwicklungen und welche Folgen resultieren aus dieser Überlagerung unterschiedlicher gesellschaftlicher Umbruchprozesse ? Es gilt also in einer zukünftigen, erweiterten Transformationsforschung, beide Pro­zesse - nachholende und reflexive Modernisierung - miteinander in Bezie­hung zu setzen und sensibel zu sein hinsichtlich: a) möglicher Überlagerun­gen, Verschärfungen und gegenseitiger Verstärkungen von Transformations­prozessen, Modernisierungsschüben und soziokulturellen Wandlungsprozes-

16 Diese Perspektive knüpft an eine Forderung der "doppelten Modemisierung" (Klein 1991) bzw. an die Diagnose eines "Konfliktes der zwei Modemen" (Beck 1991) in der frühen Phase des Transformationsprozesses an. Der moralische Appell zur Suche nach Möglich­keiten, "wie unter den Bedingungen von Transformationsgesellschaften dieser Wandel un­ter ihren spezifischen Bedingungen so angestrebt werden kann, dass nicht erst die heute be­reits selbst korrekturbedürftigen Strukturen der Vorbilder kopiert werden" (Klein zit. n. Reissig 1994, S. 333), verhallte jedoch angesichts der dominierenden Anpassungsperspek­tive nahezu ungehört. Doch muss hervorgehoben werden, dass Klein damit bereits frühzei­tig erkannte, dass der modemisierungstheoretische Ansatz einer einfachen, weitergehenden Modemisierung zu kurz greift und er darauf verwies, dass "die ostdeutsche (wie die gesam­te östliche) Transformation als ein Teilprozess innerhalb der zeitlichen Synchronisierung und Interferenz ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Umbruchprozesse verläuft und nicht ohne Verarbeitung der in ihnen enthaltenen Probleme erfolgreich sein kann" (Klein zit. n. Reissig 1994, S. 333).

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sen in den neuen Bundesländern und b) möglicher Diskrepanzen zwischen transferierten Institutionen und der Mikrowelt der Handlungsorientierungen und individuellen Verhaltensweisen.

Als ein erster Anhaltspunkt kann die folgende Skizze einer Heuristik für die Analyse sich überlagernder gesellschaftlicher Umbruchprozesse im Bil­dungs- und Erziehungswesen in Ostdeutschland dienen, die zwischen ver­schiedenen möglichen Einflussdimensionen unterscheidet und damit die bis­herige Perspektive auf die Strukturprobleme des ostdeutschen Bildungs- und Erziehungswesen öffnet und erweitert:

1. Kulturelle und institutionelle Hinterlassenschaften 2. Institutionelle Öffnung von Kontingenzräumen 3. Zeitbedarf in der Aneignung der transferierten Institutionen 4. Entwertungsprozesse und Rückzugsmentalitäten 5. Inkompatibilitäten zwischen Akteuren und Institutionen 6. Transferierte Problemlagen 7. Ostspezifische Konstellationen 8. Kulturelle Modernisierungsprozesse 9. Strukturwandel des Aufwachsens 10. Legitimationsdruck auf das Bildungs- und Erziehungssystem.

Auf der Basis einer solchen Heuristik, die der Strukturierung und Ordnung zu beobachtender Phänomene dient, können in geeigneten empirischen Untersu­chungen Interferenzen, Überlagerungen, Verstärkungen oder auch Neutrali­sierungen ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Umbruch-, Transformati­ons- und Modernisierungsprozesse sowie die daraus resultierenden Folgen und die erwachsende widersprüchliche Dynamik (vgl. auch Zymek 1996, S. 30) ausgelotet und damit die institutionelle Praxis, die individuellen Verarbei­tungsmodi von Modernisierungserfahrungen sowie die Annäherungs- und VermiUlungsprozesse zwischen Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft ange­messener erfasst und analysiert werden.

4 Anschlussmöglichkeiten und Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Transformationsforschung

Abschließend soll die Frage diskutiert werden, inwieweit eine erziehungswis­senschaftliche Transformationsforschung, die sich mit den spezifischen Prob­lemlagen und Prozessen der Bildungslandschaft in Ostdeutschland auseinan­dersetzt, möglicherweise zu allgemein interessierenden Erkenntnissen für den Veränderungs- und Entwicklungsprozess des gesamtdeutschen Bildungswe­sens kommen und so die schulpädagogischen und bildungs politischen Dis­kussionen insgesamt befruchten kann:

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a) Der Institutionentransfer in die neuen Bundesländer stellte eine bisher nicht gekannte Herausforderung für die Anpassungsfahigkeit und Flexibi­lität des westdeutschen Schulwesens und die erziehungswissenschaftliche Forschung, Analyse und Theoriebildung dar. Die empirischen Ergebnisse der Transformationsforschung hinsichtlich der Bewährung der transfe­rierten Institutionen des Schul- und Bildungswesens und der Prozesse des institutionellen Wandels in Ostdeutschland könnten erstens Eingang fin­den in die gegenwärtige bildungspolitische und schulpädagogische Debat­te um die allgemeine Situation des Bildungswesens, seine Qualität und Leistungsfähigkeit, die neuen Herausforderungen an Schule zu bewälti­gen. Zweitens könnten sie Diagnosen hinsichtlich der Entwicklung von Schule und Bildungssystem in beschleunigten Modernisierungsprozessen ermöglichen.

b) Gerade in gesellschaftspolitischen Umbruchphasen lassen sich aufgrund der Beschleunigung, des forcierten Tempos und der Dynamik der Verän­derungen und Modernisierungen biographische, soziale und gesellschaftli­che Wandlungs- und Wechselwirkungsprozesse besonders gut beobachten und nachzeichnen. Insofern stellt Ostdeutschland für Sozialwissenschaftler nicht ein temporäres Randgebiet des Interesses dar, sondern gerade hier können die für die Gegenwart spätmoderner Gesellschaften kennzeich­nenden Erfahrungen wie unter einem Vergrößerungsglas beobachtet wer­den (vgl. GiesenlLeggewie 1991, S. 11). So können beispielsweise Prob­leme und neue Herausforderungen an Lehrerhandeln in der reflexiven Moderne in Ostdeutschland deutlich sichtbarer und schärfer hervortreten.

c) Die sich in den neuen Bundesländern abzeichnenden Veränderungspro­zesse im Schulwesen (Abschied von der Hauptschule und vom drei glied­rigen Schulsystem; Errichtung integrativer Schulformen mit höherer Durchlässigkeit; Schulprofilierung zur Sicherung des Standortes; Teilau­tonomie der Einzelschule; Ganztags- bzw. gemeinwesenorientierte Schu­len etc. 17) werden Rückwirkungen auch auf die westdeutschen Bundeslän­der haben (vgl. Zymek 1996, S. 42). In Ostdeutschland zeichnet sich ein entwicklungsoffener, da nicht vorhersagbarer Prozess der Schulreform ab, in welchem neuartige Lösungsansätze aufgrund des Zusammentreffens und Neuarrangements von spezifischen soziokulturellen ostdeutschen Voraussetzungen einerseits und westdeutschen Institutionen (inklusive ih­rer aufgestauten Strukturprobleme ) andererseits entstehen können. In ge­wisser Weise zeichnen sich sowohl Gefahren als auch Umrisse des ge­samtdeutschen Schul- und Bildungssystems der Zukunft in den ostdeut­schen Bundesländern bereits jetzt ab. Insofern kann Ostdeutschland als Vorreiter, Modell für Schulentwicklungsprozesse oder auch "Experimen­tierfeld" (Zymek 1996, S. 42) für die Entwicklung neuer Zukunftslösun­gen im Bildungswesen angesehen werden.

17 V gl. hierzu Krüger (1996) und SchubarthlStenkelMelzer (1996).

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Page 110: Transformation in der ostdeutschen Bildungslandschaft: Eine Forschungsbilanz

Eine zukünftige erziehungswissenschaftliche Transformationsforschung muss, so lässt sich zusammenfassend festhalten, zum einen die Spezifik des ostdeut­schen Transformationsprozesses im Schul- und Bildungswesen analysieren und theoretisch reflektieren. Zum anderen darf sie aber nicht die Anschlussfä­higkeit an übergreifende Diskussionen hinsichtlich der Entwicklung des Schul- und Bildungswesens im gesamtgesellschaftlichen Prozess verlieren, sondern muss die dortigen Ansätze, Sichtweisen und Fragestellungen mit aufnehmen. Es gilt also, beide Prozesse - nachholende und reflexive Moder­nisierung - miteinander in Beziehung zu setzen und, mit einem Wort, den ,doppelten Modernisierungsprozess' in Ostdeutschland als Interpretationsfo­lie und Erklärungsmoment für gesellschaftliche und schulische Problemlagen und Herausforderungen in den neuen Bundesländern aufzunehmen, um die sich abzeichnenden Prozesse, Veränderungen und Strukturprobleme im Schul- und Bildungswesen angemessen beobachten, beschreiben und analy­sieren zu können.

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Johann Steyn

Building a Culture of Democratic Education in Young Democracies: The Interrelation between South Africa and East-Germany

Abstract

The joint research project between researchers in Stellenbosch (South Africa) and Berlin and Frankfurt am Main (Germany) on democratic education in the light of the transformation processes in South Africa and Germany forms the backdrop for this presentation. Both countries are experiencing educational transformation after the fall of Apartheid and the Berlin Wall respectively, but this paper focusses more on recent developments in South Africa than on Germany.

This paper draws comparisons on the situation in these countries. Both countries are not only involved in reform initiatives such as new educational acts and policies, but they are experiencing serious difficulties as well. Although some progress has been made there still lies an enormous task ahead in the attempts to establish democratic values successfully. It becomes c1ear that building a culture of democratic education is not merely a matter of good policies, but of practical implementation .

. Special attention is paid to relevant concepts such as democracy, transformation, quality and equality within the context of the theme before the balancing of quality education and equality of education is considered in more detail. The real issue is whether these concepts are reconcilable in a young democracy. Three possible responses are offered to the question whether quality and equality can co-exist in the building of a young democracy.

1 Background

To understand this presentation it is necessary to refer to the joint research project between researchers from (a) the Deutsches Institutfür Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main and Berlin and (b) the Department of Educational Policy Studies at the University of Stellenbosch in South Africa. Since 1995 individual researchers from both these institutions have had intensive discussions on the differences and similarities between South Africa (after Apartheid) and Germany (after the fall of the Wall). At an early stage it

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was decided to undertake a comparative study on the theme: Demoeratie edueation in the light of transformation proeesses in East-Germany (after Communism) and South Afriea (after Apartheid). This research project that forms the backdrop for this paper, should be completed during 2001.

After World War 2 the "two Germanies" were divided not only by the "Iron Curtain" but since 1961 also by the Berlin Wall. Germany did not only experience the fall of the Wall in Berlin in 1989, but the collapse of the communist regime in East-Germany and the mass exodus of East German citizens to other countries such as Poland and Hungary. It has been said that Apartheid was South Africa's Berlin Wall. It was the great divider as it artificially divided people of different cultural and racial groups.

It may be strange to classify Germany as a "young" democracy, given this country's long democratic tradition. Nevertheless I would like to argue that to a certain extent both South Africa and the re-unified Germany may be viewed as young or emerging democracies, if we take into account the incorporation of the German Democratic Republic (GDR) into the Federal Republic of Germany (FRG). Both countries are experiencing some or other form of democratic transformation. One of the main tasks of educational policy after Germany's unification was the reorganisation and reform or transformation of the school system in the five new federal states.

Within the broad framework of democratic transformation, the research team has recently attempted to analyse this broad research topic in more detail. This presentation, as does the research project as a whole, focuses inter alia on sub themes such as the balance between centralisationl decentralisation and the balance between equality/quality within democratic education.

The fall of the Wall in the late eighties set up a chain reaction in many parts of the world. Among others it had an influence on events that led to the fall of Apartheid in the early nineties. The transformation in South Africa from a White minority government to a Black majority government perhaps laid the foundation for a peaceful democratic society, but the path towards democracy is a very slippery path. For some time to come this exciting and adventurous path will lead us all through difficult territory (Lange 1998).

This joint research project aims inter alia to review and critique the available literature and to undertake other forms of research on centralisation, decentralisation, equality and quality within the framework of educational transformation in South Africa and certain countries in Central and Eastern Europe. The aim of the research is furthermore to compare developments and practices in these countries that are relevant and related to educational transformation. My own presentation at this conference will focus rather more specifically on conditions and recent developments in South Africa than on (Eastern) Germany.

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2 South Africa and (East) Germany: Some Comparisons

At present the majority of states in the world are either democratic states or they are at least moving towards a democracy. Young democracies have contributed substantially to the general political picture of the 20th century. Notwithstanding this fact many young democracies (including South Africa) are facing an unstable and uncertain future on the road to a weIl established, sustainable and successful democracy (Duvenhage 1997: 1). In comparison some other countries (and young democracies) in other parts of the world are in a more favourable position to institutionalise democratic values in education successfully, because democratic reform in those countries is not merely official rhetoric, but a practical reality. In any case the breakdown of undemocratic regimes led to the birth of new young democracies all over the world 'and laid the foundation for democratic transformation processes. These countries were previously dominated by unrepresented governments that were not willing to share power with other role players; these countries were seen as divided societies with ho stile ideologies, providing for limited freedom and they were even isolated internationally (Niemic 1998: 61). According to Führ after the collapse of the socialistic GDR the education system was "open to reform" (Führ 1997: 26). The same could be said of South Africa after the fall of Apartheid.

In comparison to South Africa where democracy was the outcome of neg'otiation and a peaceful transition from Apartheid to majority rule, in many European states, such as the post communist countries of Eastern Europe, "young" democracies have risen from the sudden collapse of dictatorial regimes (Mitter 1998:11). South Africa and (East) Germany have much in common. Both regions are involved in transformation and transition in general. In this period of transition, both countries are experiencing educational transformation as weIl. As part of the paradigm shift the new educational dispensation in both countries include, among others, the following features:

• educational reform; • new acts and policy documents; • innovative approaches focusing on the removal of undesirable ideologies; • steps towards decentralisation; • curriculum transformation; • more forms of open communication between relevant stakeholders and • transition from a closed society to a more "open society" (to use

Popper's terminology).

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On the other hand this transitional period is also characterised in both countries by a disillusionment with unfulfilled expectations and internal difficulties (Mitter 1998: 15-17). For both regions the march into the future will not be easy. It is not easy to come to terms with the past, although, to my mind, the majority of citizens in both countries would certainly want to say: "There should never again be another Auschwitz, Berlin Wall or Apartheid system".

South Africa and (Eastern) Germany have much in common as education in both regions are experiencing the transformation of their educational system to a more democratic system. Although some progress have been made, there remain disturbing factors as weIl. It seems that democratic reform by means of sound legislation and policy statements did not yet filtered down to grassroots level. Regarding East Germany, Döbert is of the opinion that: "From a structural point of view, the transformation process is relatively complete, however, inner reform has not yet managed to go beyond hopeful beginnings" (Döbert 1998: 19). Mitter sums it up in the following words: "Whether education is able to play its expected and necessary role in the desired societal progress of Central and Eastern European states will depend ... on how and to what extent a balance between initiatives, continuous efforts and realistic expectations will be gained and maintained" (Mitter 1998: 17). And from a South African perspective according to Le Roux " .. although substantial ground on policy transformation had been covered, the determining factor lies in the implementation process" (Le Roux 2000: 256).

The "collapse" of education in a large number of dysfunctional schools contributes to the situation in South Africa that the majority Iearners remain poor and powerless. In both countries an enormous task lies ahead of educational managers and educators to ensure that educational structures, curricula and methods reflect the democratic values underlying the constitution. Building a culture 0/ democracy is not merely a matter 0/ good policies. but 0/ practical inplementation. To my mind school education and creative teaching holds the key to the successful establishment of democratic education. The primary responsibility in this regard rest with the educational institutions.

3 Relevant Concepts

It is c1ear that the concepts democracy, transformation, quality education and equality in education are related in some way or another. It is therefore necessary to touch on their constitutive meanings.

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Democracy is a very popular word all over the world and virtually everyone is currendy in favour of democracy, because it is fashionable to be a democrat. Even military regimes have been known to call themselves democracies. Victor Hugo once said "nothing is as powerful as an idea whose time has come" (quoted by Van Niekerk 1999: 111) and it is clear to everyone that the era of democracy has arrived. Of course we can distinguish different kinds of democracy, for example a more Western liberal democracy that aims to serve the needs of the competitive market society and then a non­liberal democracy in certain Third World States which rejects the competitive ethos of the market society and sees no need for the competitive system.

It seems obvious that democracy should bloom all over the world, but what seems to be so obvious is not so apparent in the real world. The misuse of democracy is a real problem, especially in young democracies. With reference to more than 50 African countries, as typical young democracies, that have adopted multi partydemocracies, O'Connell (1999) makes the observation: " .. once in power the ruling party finds it difficult to behave itself, interfering with the courts, and the press and the like". Even in older, established democracies and in sophisticated communities "anti democratic thought patterns" (Popper) are common (Zecha 1999: 83). In his famous book, The Open Society and its Enemies, first published in 1945, Popper illustrates how our "natural" reaction is to silence our opponents and thus prevent a truly democratic communication pattern (Popper 1995: 465).

Especially in young democracies democracy is a fragile system and a culture of democracy should be build vigorously and with determination. Democracy can only survive where democratic values are deeply entrenched in society. One of the reasons for the failure of the democratic ideal in young democracies can be attributed to a simplified and superficial interpretation of the concept democracy. Democracy is often defined in a one sided way and by doing so it may even destroy the aim of democracy. What is then the two sides or cornerstones of a democracy?

Philosophers are in agreement that freedom and equality are two key concepts in any democracy. A distinctive feature of freedom is emphasising typical democratic values such as the human rights, including the right or freedom of individuals to live in an open society and to have the freedom of speech, conscience etc. as weIl as the freedom to compete and to achieve. The other cornerstone of democracy is equality and it is more closely linked to the community emphasising equity and communal values. Democracy is not possible within the context of great inequalities and disparities. It is clear that both cornerstones is important for young democracies on their slippery path to establish asound and stable democracy.

People living in young democracies continue to experience democratic transformation as part of their daily lives. In South Africa, as a young democracy, the post 1990 period in our educational history is aperiod in

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which we experience the process of transformation and reconstruction. In nearly all recent official educational documents the transformation to a democracy are addressed. We, in South Africa, view transformation not merely as reform, but as radical change. To illustrate this point I would like to refer to:

• the transformation from a monocultural educational system to a multicultural system;

• the transformation from a unequal educational system to equality; • the transformation from a content based to an outcomes based education

and • the transformation of 19 educational departments to a single educational

department

An imporant question arises: does transformation of the education system in South Africa happen in conjunction with political ideological aspirations, or does it occur in the light of national and global realities? Unfortunately, due to a lack of space and time, this issue can not be addressed in this paper.

Another relevant concept in our discussion is quality. Quality is part of our educational vocabulary, but it is interpreted differently. We may, for example distinguish between:

(a) quality as exceptional (in the sense of exclusivity, excellence and even elitism);

(b) quality as perfeetion (the zero defect concept; things are done right the first time);

(c) quality as fitness for purpose (meeting the requirements of the customer; responsiveness to societal needs and interests);

(d) quality as value for money (good return on investment) and (e) quality as transformation (linked to improvement and development of

processes of change).

To complicate the matter even more the following questions could be asked:

• Is the objective of quality education to raise the standard of the high achievers to prepare them even better for competing internationaIly, or is it to raise the standards of the low achievers?

• Is quality education fundamentally a matter of universal standards, or individual standards?

• Is it an attempt to raise educational standards of a group of people, or of the broad community?

When I use the concept quality education in a young democracy, like South Africa, I have in mind schools that can provide for the best development of each child; a schooling system that will encourage and allow learners to fulfil their potential and enjoy the freedom to compete and achieve. The same

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meaning of quality education is valid and applicable in Germany. Basic Law in the FRG guarantees everyone the right to self-fulfillment and to give each and everyone the best possible educational opportunities in the face of global competition. As 1 understand the development of a democratic culture in a young democracy quality education should not only be about levels and standards, but surely also be about empowering learners.

The other key word equality may be regarded as the opposite to quality, or it may be regarded as the other side of the same coin. Equality may be seen as a contestable concept. It may have the more radical meaning of equal outcome or the more democratic meaning of equal opportunities (Riley, 1994: 13). To my mind equal educational opportunities in South Africa should include equal per capita expenditure on education, equal access to educational institutions that means of course equal access to knowledge power, equal participation in educational decision making procedures and equal access to quality education. Equality means the right to have a fair chance in life. According to the South African constitution (1996) "Equality includes the full and equal enjoyment of all rights and freedoms". Although there may seem to be a tension between quality and equality, and between excellence and equity, school education, in a young democracy should meet the goals of both quality and equality as they should be interconnected in a democratic school environment. Democratic education should aim to bridge the gap between quality and equality in serving the case of democracy.

4 Reform Initiatives

Earlier in my presentation 1 have, with special reference to the situation in South Africa as a young democracy, touched on or implicated typical reform initiatives. These initiatives include:

• the implementation of educational acts and policy documents favouring democratic reform ( for example the National Qualification Framework of 1996; the South African Schools Act of 1996; the Higher Education Act of 1997);

• steps towards decentralisation; • curriculum reform; • the paradigm shift from a closed society to an open society; • the promotion of equal education; • the recognition and protection of the democratic rights of the child; • the empowering of learners; • the widening of access to educational institutions;

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The Departrnent of Education's claim for a new "education paradigm" confirms its vision to move away from the Apartheid system to a democratic system. Unfortunately we are experiencing great difficulties with the practical implementation of these laudable ideals. I refer to factors such as:

• the incompetence in education departments; • the lack of physical facilities; • insufficient state funding and • a general lack of a culture of learning and teaching in many South

African schools.

5 Decentralisation

Decentralisation usually refers to the devolution of powers and functions away from central authority. Therefore, a system of decentralised school governance (also called school based management) is aimed at decentralising the authority to make decisions at local school level. The debate between liberal democracy and social democracy often turns on the question of decentralisation and centralisation. Generally it can be argued that the liberal democrat would rather advocate a decentralized system, while the social democrat would prefer a more centralized system.

Each of these two approaches may have specific advantages and disadvantages. It can be accepted that a centralized system will be able to treat imbalances more effectively, as weIl as equal access to institutions. On the other hand a decentralised school governance may be more beneficial to a young democracy. It may have the following advantages:

(a) aredistribution of power as more role players participate within the school context;

(b) greater stability in education as more parents and members of the community involve themselves in the managerial activities of the school;

(c) increased effectiveness as the school becomes more responsive to the needs and expectations of the clients;

(d) increased quality in education; (e) financial advantages and (t) greater democracy as more role players are involved in decision making.

Germany experienced a transformation· of the centralised educational policy of the previous GDR, based on a strict ideological basis, to a more decentralised system. And in South Africa, in accordance with the South African Schools Act, school governing bodies are compulsory in government schools and therefore parents are been empowered, because they become, to a

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certain extent, "owners" of the school. This is important because the effort to democratise school management and to decentralise power and authority at school level will be futile without empowering the various stakeholders to participate effectively.

Decentralisation may have many advantages for young democracies, but it is not an unproblematic issue as it does not necessarily promote the democratic cause as Glowka (1998: 214) explains. Ifrights are simply handed down to regions, communities and school governing bodies, these bodies could rule and control teachers in an authoritarian way and with a iron fist. Decentralisation may even be seen' as aconvenient way to hand down financial constraints to lower levels. If the central authority cannot find a way to cope with a tight budget, the financial burden is simply handed over to the local governing bodies. Nevertheless, despite some possible dis advantages it is cIear that there is ample justification for decentralisation as it is basically aimed at democratising the system.

6 Balancing Quality and Equality

Y oung democracies should reflect seriously on the educational debate surrounding quality education and equality in education. In the recent past many academic articles in scientific journals, press articIes, letters to the press, official reports etc. were published in South Africa relating to either quality or equality in education ,or both. This debate has always been a rather contentious issue in South African educational discourses. To me it became cIear that it is (and should be) a major concern in any young democracy attempting to build a culture of democratic education and to transform their society to a democratic life style. South Africans sometimes became understandably, quite emotionally involved in this debate due to historical, ideological and cultural factors and traditions. On the contrary the quality­equality debate in the Western world (and in more matured democracies) are less emotional and more academic and philosophical in nature (Hirst and White 1998).

What is the issue? The issue is not whether quality and equality should both be part of the process of transforming the South African society in a democracy. Both the quality of learning and equal educational opportunities are educational priorities. It go es without saying that quality is just as important as equality in a young democracy. Let me repeat the question: what is the issue? The real issue is whether these concepts are reconcilable within a young democracy. It is aIl about the relationship between quality education and equal education in a democracy. The real question is how to bridge the gap between quality and equality in building a culture of democratic education in a young democracy. Before I attempt to give a provision al

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answer to this question it is necessary to reflect, within the South African context, on the relative importance of quality and equality respectively.

6.1 The Case for Quality Education as a Priority within the South African Context

I would like to explain my views on the importance of quality education point by point:

1. It go es without saying that quality education is a primary function of any sound democratic government. It is unthinkable that any government should not value quality education as a high priority, because it is not only in the best interest of learners, but also that of the country and nation as a whole.

2. The lack of quality education in South Africa remains a major concern to all responsible citizens. Although it should be unfair to measure quality education in terms of international indicators alone, statistics are shocking. To illustrate the point we can refer to the poor results in the Matriculation examinations over the past couple of years; our poor performance in the third TIMSS-project (Third International Mathematics and Science Study) where South African learners have done the worst of all the 41 developed and developing countries that took part in the project ( Sunday Times 24 November 1996). In general the lack of a learning and teaching culture in South Africa is just as disturbing. The words "collapse of the education system" is even used in responsible circles. The perception remains that South Africa is neglecting quality education. Although there may be different views on what constitutes high educational standards, it is clear that we, in South Africa, should improve our performance if we wish to survive in a competing world.

3. Perhaps we should rernind ourselves what Bill Gates once said: ''Your school may have done away with winners or losers, but life has not".

4. As argued earlier quality education is not only a matter of levels and standards, but in the first instance embracing the idea of empowering the learners. This is done by developing the potential of each and every learner and at the same time satisfy the expectations of the relevant stakeholders

5. Although I have argued in the previous point for individual development as an indicator of quality, preparation for participation in the global playing field is unquestionable a priority as weIl. International performance indicators point to quality education as a relevant factor in contributing towards a successful democracy. Quality education depends on internationally accepted factors such as (a) available resources, (b) the quality of the teachers, (c) the relevance of learning material and (d) a

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sound learning environment (Hartshorne 1992). It will be disastrous if we, in South Africa, separate the issue of standards and quality from the implications of globalization for our country. Unlike Germany for example, South African education manifests a legacy of uneven quality. School education is divided along the lines of historical advantaged and disadvantaged schools. Given the unfavourable learner/teacher ratio; poorly qualified teachers (nearly one third of South African teachers have substandard qualifications); poor success rates; shortages of teaching material, equipment and textbooks etc. and it is hard to believe we, in South Africa, are on the right track. If we want to build a culture of democratic education we should improve the quality of our education dramatically.

6. In general the official thinking and sentiment in South Africa on quality education is very positive. It would be misleading to presume that the present government is undermining the notion of quality in education. Official documents support the notion of "good quality schooling" and "quality education to each child". But whether this is merely lip service remains to be seen.

6.2 The Case for Equal Education as a Priority within the South African Context

As the case for quality education I would also like to articulate the case for equal education point for point:

1. Equality is a corners tone of democracy and as such it should be regarded as a top priority. "In a truly democratic society there are no unimportant people. Because of their humanity, all people as human beings have equal human dignity" (Du Plessis in Steyn et al. 1999: 55). Class distinctions and all kinds of gross disparities create alienation in a democratic society and democratic values and relations can hardly be fostered in such a climate.

2. Given our history of unequal education and the backlog that developed as a result of previous policies, the striving for equal education should be considered as a matter of urgency. Before the 1990's, equal education was not a major concern in South Africa due to factors such as imperialism, colonialism and racism.

3. Equal education was right from the start of the new educational dispensation in South Africa one of the top priorities of the government and it remains part of the ongoing educational debate. All recent official documents on education, educational laws and discussion papers endorsed and promoted the eradication of existing inequalities and the levelling of the· playing fields. Equal education is seen as part of the reconstruction of our divided society, part of the process of establishing a

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just society and part of the building of a democratic culture in schools. Without equal educational opportunities the overwhelming majority of learners in South Africa will remain poor and powerless.

4. There is another reason why the drive for equal educational opportunities should be supported. As a result of the rapid developments on the field of the information technology there is a tendency that the gap between the haves and the have nots, in terms of the possession of knowledge and the ability to gain new knowledge, is widening. If the quest for equal educational opportunities and equal access to institutions and knowledge power are not accelerated, this gap is going to widen even more and the possibility of a reconciliation between quality and equality will become extremely difficult.

It is clear that both quality and equality are extremely important and should be seen as priorities within the South African context. Next I would like to touch on three responses to the question whether quality and equality can co­exist in a democracy.

Are the concepts quality and equality reconcilable in a young democracy? The no-argument usually views these two concepts as two opposites that

can never meet. There is " .. a gaping chasm yawning between two cliffs marked Quality and Equality" (Riley 1994: IX). There is the opinion that quality and equality are mutually exclusive concepts. The argument is noted as folIows. If you are free to perform, achieve and compete, you are free to raise your performance to a certain level or standard. Let us call that standard quality. If people are free in this sense, they are not equal in performance. Equal outcomes are difficult to achieve where freedom is at stake. The freedom to attain a certain standard or a certain quality is not reconcilable with equality. In this sense excellence or high quality and equality can be considered as mutually exclusive.

The elitistic view of emphasising quality is not in accordance with the populist view of emphasising equality. It is argued that the vast majority of the South African school population still have no access to quality education and therefore it is premature to even think about a reconciliation between these two concepts. The quality/equality problem is considered from different or opposing frames of reference or paradigms.

The yes-argument emphasises the fact that we, in South Africa, should actually destroy the democratic aim unless a solution is found to reconcile quality and equality in the educational sense. This reconciliation is a pre­condition for a stable democracy. Quality education and equal education are the two sides of the same coin, namely democratic education. It is unconceivable that we cannot accommodate both quality and equality in a meaningful way as part of the process of building a culture of democratic education. The official policy documents favour the accommodation of both in our educational system as weIl. There should surely be overwhelming support for the "yes"-argument.

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I would like to call the third possibility the complementary-argument. The problem with the first two arguments is that they tend to give simplified answers to a complicated issue. There is no easy "yes" or "no" answer to this question.

Quality education and equal education (equal opportunities, equal access) should complement each other in a young democracy. Finding the "fine balance" seems to be the crucial issue. At this stage I would like to see the problem this way: equal education (equal opportunities, equal access etc.) initiates ("kick-starts") the process of democratic transformation, while quality education promotes democratic transformation. It is not a matter of "equality before quality", but rather two simultaneous processes on the road to transform the South African education to a true and not a pseudo or sham democracy. Within a young democracy quality and equality should complement each other, but I must admit it is not an unproblematic process.

7 Final Remark

Although I have touched on the situation in Eastern Germany, this paper focussed on educational transformation in South Africa in general and more specifically on balancing quality education and equal education. It became clear that this is an important issue in the whole process of building a culture of deinocratic education. Despite the fact that good progress has been made on the way to a stable democracy, democratic reform in education did not yet filter down to grassroots level and people on the ground have not yet experienced any significant change. Despite sound policy statements the general situation in South African schools did not improve. I fully agree with Le Roux (2000: 266): "Although the legacy of the Apartheid past contributed to current problems in the South African education system, several years of democratic governance have gone since 1994, and conditions in South African schools seem as bad as ever".

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Gerlind Schmidt

Das Bildungswesen Russlands ein Jahrzehnt nach dem Umbruch - Die ethnisch-nationale Bildung und Erziehung! und die »Bildungstransformation«

Die Bildungsreform in der Russischen Föderation ist im vergangenen Jahr­zehnt wiederholt zum Gegenstand des internationalen wissenschaftlichen Interesses an den Transformationsprozessen im ehemaligen Ostblock gewor­den. Besonderes Augenmerk galt dabei der neuen bildungspolitischen Agen­da, die in ihren radikalliberalen Leitgedanken und Zielsetzungen teilweise den neoliberalen bildungspolitischen Paradigmenwechsel noch übertraf, der in den westlichen Staaten in den 1980er Jahren eingesetzt hatte. In diesen Ana­lysen zur russischen Bildungstransformation wurde jedoch die ethnisch­nationale Bildung, deren Hintergrund die Nationalitätenproblematik Russ­lands und dessen Selbstverständnis als Vielvölkerstaat bildet, weitgehend ausgespart. Dieser Lücke, die auch unter dem Aspekt vergleichender Bil­dungsforschung Aufmerksamkeit verdient, soll im folgenden nachgegangen werden. Die ungelöste Nationalitätenfrage war eine wesentliche Triebfeder beim poli­tischen Zerfall der UdSSR gewesen und hatte zu den zentralen Programm­punkten der Bürger- und Menschenrechtsbewegungen gehört. Eine genauere Betrachtung des Aspekts ethnisch-nationaler Bildung verspricht deshalb Auf­schluss auch unter dem Gesichtspunkt des politischen und gesellschaftlichen Systemwechsels insgesamt: Dies gilt für die Ausrichtung des Bildungswesens an den Menschen- und Bürgerrechten sowie an den Ansprüchen einer neu zu errichtenden pluralistischen multiethnischen Zivilgesellschaft. Dies gilt aber auch für die Abkehr von den bisherigen zentralistischen Strukturen des uni­formen sowjetischen Bildungssystems und seinem Staatsmonopol zugunsten einer größeren national-regionalen Autonomie und Vielfalt in einem föderati-

Im Russischen umfasst der Begriff »Nation« ethnische, sprachliche sowie historische, soziale und politische .Merkmale; der Begriff »Nationalität« ist auf den ethnischen und sprachlichen Aspekt begrenzt. Im vorliegenden Text wird den russischen Originalformulie­rungen gefolgt. Im Alltagsgebrauch, aber auch im wissenschaftlichen Diskurs werden die Begriffe nicht streng unterschieden; anstelle der hierarchischen sowjetischen Begrifflich­keit von Nation, Volk, Völkerschaft, Volksgruppe wird heute in der Regel Volk (narodJ, »Ethnos« oder »ethnische Gruppe« verwendet (Drobireva 1996). Der Begriff der Minder­heit ist nur noch in begrenzten Zusammenhängen anzutreffen. In Verbindung mit Bildung und Kultur wird häufig das Adjektiv »etno-nacional'nyj«, aber auch »etnokul'turnyj« ge­braucht.

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ven System. Schließlich spiegelt sich in diesem Gegenstand auch der inner­russische Transformations-Diskurs - die Frage nach einem besonderen Mo­dernisierungspfad Russlands und seinen Besonderheiten oder gar seiner Rückständigkeit gegenüber dem Westen.

1 Bildungsreform im Spannungsfeld von Nationalitätenproblematik und Systemumbruch

Die Russische Föderation hat als Nachfolgestaat nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems das historisch-politische Erbe Russlands und der Sowjetunion angetreten. Ein Kontinuum bildete nicht nur der der zaristi­schen Autokratie entstammende Reichsgedanke, der später im Sowjetimperia­lismus seine Fortsetzung fand. Zu nennen ist auch die Multiethnizität in einem von Europa bis nach Ostasien ausgedehnten Vielvölkerreich, das in seiner Siedlungsstruktur einem Flickenteppich gleicht. Vielfältige Migrations­bewegungen sowie eine expansive Kolonisierung, die mit anhaltenden kriege­rischen Nationalitätenkonflikten verbunden war, prägten die Geschichte des Landes. Bereits im Zarenreich, aber auch unter dem Sowjetregime wurde jedoch nicht ausschließlich die Politik einer Russifizierung der nichtrussi­schen Völker betrieben.

Das öffentliche Schulwesen, das sich in Russland im Vergleich zum Wes­ten Europas erst relativ spät herausgebildet hatte, war stets auch mit den Auf­gaben einer Bildung für die »fremdstämmigen« ethnisch-nationalen Gruppen konfrontiert (vgl. Süss 1999). Nach der Oktoberrevolution wurde es unter den damals neuen ideologischen Vorzeichen gezielt in den Dienst nationalitäten­politisch bedeutsamer Zielsetzungen gestellt, an die auch heute wieder ange­knüpft wird:

• den Ausgleich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Differen­ziertheit zwischen den Ethnien im Fortgang des Modernisierungsprozes­ses voranzutreiben;

• interethnischen Spannungen vorzubeugen und sie mit dem Ziel zu ent­schärfen, die politische Kohäsion des Vielvölkerreichs zu erhalten; später trat der Auftrag einer Erziehung zum Sowjetpatriotismus, zur »Liebe zur Heimat und zum Vaterland« hinzu;

• die Vielfalt der Sprachen und Kulturen der Völker als Ausgangsbedin­gungen der Nationalitäten- und der Bildungspolitik anzuerkennen und im Bildungswesen besonders zu pflegen und zu schützen.

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Die mit diesen Aufgaben verbundenen Herausforderungen haben sich durch den Zusammenbruch des sowjetischen Systems erheblich zugespitzt und wur­den in ihrem vollen Umfang teilweise erst im nun einsetzenden Prozess des ethnic revival sichtbar. Zu nennen sind:

• eine große Spannweite zwischen kulturell hoch entwickelten sowie sol­chen Völkern, deren Lebensweise als vormodern zu charakterisieren ist; eine solche Kluft bestand bis in die Sowjetära auch innerhalb des russi­schen Volkes und begründete nicht zuletzt das traditionelle Selbstbild der Russen von ihrer Rückständigkeit gegenüber den Völkern des westlichen Europa;

• der Widerspruch zwischen dem kollektiven historischen Gedächtnis zahlreicher Völker, in dem die gewaltsame »Kolonisierung« fortlebte, und ihren traditionellen Sicherheits- und Schutzbedürfnissen; letztere er­möglichten der russischen Mehrheit, einen politischen und kulturellen Paternalismus zu etablieren, und führten nicht selten unter den »Fremd­stämmigen« eine freiwillige Assimilation herbei;

• der Gegensatz zwischen der seit Jahrhunderten gefestigten russischen Hegemonie in Staat und Gesellschaft, eingeschlossen eine weit fortge­schrittene sprachlich-kulturelle Russifizierung, und der tiefen Verwurze­lung der ererbten Sprachen, Kulturen und Religionen in der Lebensweise vieler Völker: dem neben der russischen Orthodoxie verbreiteten Chris­tentum der nichtrussischen Völker, dem Islam, dem Buddhismus und Lamaismus in ihren vielfachen Ausprägungen.

Die Bewältigung der resultierenden nationalitätenpolitischen Fragen im Bil­dungs wesen fiel nach dem Systemumbruch mit einem Paradigmenwechsel zusammen. Den programmatischen Rahmen bildeten hierbei die Demokrati­sierung, verstanden im Sinne einer weitgehenden Entstaatlichung und Orien­tierung an den pluralen Interessen und Bedürfnissen von Individuen und ge­sellschaftlichen Gruppen in einer Bürgergesellschaft (grazdanskoe obs­cestvo), sowie der Übergang zur Marktwirtschaft.

Kennzeichnend für den Paradigmen wechsel war die Orientierung an den westlichen Demokratien sowie die teilweise Übernahme entsprechender Mo­delle und Begriffe. Zu den zentralen Ansatzpunkten für die neue Bildungs­und Nationalitätenpolitik gehörten:

• die Etablierung der Menschen- und Bürgerrechte unter Einschluss des Rechts auf Bildung; formuliert wurde die Aufgabe, den »gesellschaftli­chen Auftrag« (social'nyj zakaz) an das Bildungswesen zu bestimmen;

• die Errichtung eines föderativen Staatsaufbaus mit eigenen Autonomie­und Rechtsetzungsbefugnissen bei den sog. »Föderationssubjekten«, den ca. 70 territorialen Gebietseinheiten und den 21 ethnisch definierten »na­tionalen Republiken« (als »asymmetrischer Föderalismus« bezeichnet);

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• die Anerkennung einer Pluralität politischer Interessen der ethnisch­nationalen Gruppen, die Förderung der ethnischen Renaissance sowie der Schutz der kulturellen Vielfalt in dem multiethnischen Land, das bislang von einem lediglich »sprachorientierten Nationalismus« (language orien­ted / linguistic nationalism; vgl. ReidlReich 1995; Taylor 1992) sowie einem als »monoethnisch« bezeichneten Sowjetpatriotismus zusammen­gehalten worden war (vgl. Taylor 1992, S. 83; den Inbegriff bildete der homo sovieticus).

Die Umsetzung dieser umfangreichen politischen Zielsetzungen war von einer Reihe nicht nur günstiger politischer, ökonomischer und sozialer Begleiter­scheinungen gekennzeichnet: Nach dem Zerfall des Sowjetimperiums und der Abkehr von der zugehörigen Ideologie befand sich das Land in einer politi­schen und ideellen Krise sowie einem Wertvakuum, was weitere staatliche Zerfallstendenzen nicht ausschließen ließ; dies setzte die Suche nach einer neuen, auch ideologisch untermauerten staatlichen Identität sowie einem für die gesamte Gesellschaft gültigen Wertkonsens auf die Tagesordnung. Der Zusammenbruch der politischen Macht Russlands und seines ökonomischen Potentials hatte Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Natur und Umwelt auch physisch-materiell in eine Krisensituation geführt. Im Bereich des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens erfolgte ein rasanter Einbruch des bis dahin ausschließlich staatlich organisierten Leistungsangebots und der zugehörigen Infrastruktur. Es kam zur Verarmung großer Teile der Bevölkerung und Rückschritten bei der Volksgesundheit in allen Altersgruppen, eingeschlossen eine sinkende Geburtenrate und Lebenserwartung. Nach der lang anhaltenden Abschottung der Weltmacht Sowjetunion gegenüber dem Westen verlief die plötzliche Öffnung Russlands für internationale Kontakte und Kooperationen sowie die Aufnahme neuer politischer und wissenschaftlicher Konzepte und Lösungsmuster nicht konfliktlos. Dies erschwerte die Rückkehr in die welt­weit bestehende westlich dominierte Wertegemeinschaft und ihre internatio­nalen Organisationen und stellte sie verschiedentlich in Frage.

Bedingt durch eine spezifische politische Kultur fand anders als in den Staaten des östlichen Mitteleuropa in Russland seither kein Wechsel der poli­tischen Macht zwischen postkommunistischen und sozialliberalen oder libe­ralkonservativen Kräften statt. Unter der Führung eines zunehmend mit einer besonderen Machtkonzentration ausgestatteten Präsidenten zeichnete sich der Versuch einer Bündelung der politischen Kräfte der »Rechten« (Liberalen) und »Linken« (Postkommunisten) ab, ohne dass die unterschiedlichen politi­schen Grundpositionen miteinander versöhnt werden konnten, wie der fortge­setzte lebhafte Diskurs zeigt. Im Zuge des Systemumbruchs fand bereits eine eigene Transformationsdebatte statt, in der die »Besonderheiten des russi­schen Modernisierungspfades« sowie eine »spezifisch russische Mentalität« und die »kulturell-historische Eigenständigkeit« gegenüber dem Westen her-

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ausgestellt wurden.2 Für die neu einsetzenden Übergangsprozesse wurden von der Sozialwissenschaft unterschiedliche theoriegeleitete Interpretationen erarbeitet: Genannt werden der Rückbezug auf Spezifika des historisch tra­dierten (autoritären) Herrschaftssystems Russlands, die modernisierungstheo­retische Perspektive vom »'Anschluss' Russlands an die globale Zivilisation« und schließlich eine Interpretation des Übergangs unter Bezug auf die »Glo­balität der ,Postmoderne'« (vgl. Teminka/Grigor'Ev 1996, S. 45f.).

2 Politische, staatliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die ethnisch-nationale Bildung und Entwicklungstendenzen seit dem Umbruch

2.1 Das neue Paradigma - Programmatik und Realität

Für einen Paradigmenwechsel bestanden auf dem Gebiet des Bildungswesens günstige Voraussetzungen: Die Väter der auf die Perestroika zurückgehenden und im Jahre 1992 gesetzlich kodifizierten liberalen russischen Bildungsre­form waren Vorreiter einer liberalen Reformpolitik gewesen (vgl. Dneprow 1996). Die ethnisch-nationale Bildung - verstanden als Gesamtheit der Inhal­te und Maßnahmen zur Pflege der nationalen Sprachen und Kulturen sowie der »interkulturellen« und »transnationalen« Bildung und Erziehung in einem multinationalen Staat - hat dabei bis heute nicht an der Spitze der bildungspo­litischen Prioritäten gestanden. In systematischer Betrachtung stellt der Prob­lemkomplex jedoch einen konstitutiven Bestandteil der neuen russischen Bildungsreform dar; tangiert werden insbesondere:

• die staatsbürgerliche Bildung und patriotische Erziehung unter dem As­pekt einer demokratisch ausgerichteten Föderalisierung und Regionalisie­rung im Prozess des nationbuilding;

• die Frage der politischen Willens- und pluralistisch geprägten geistigen Wertegemeinschaft (duchovnaja obSenost'), die von den Bürgern der »russländischen Superethnie« gebildet wird, die sich unterschiedlichen ethnischen Gemeinschaften und Kulturen zurechnen;

• bildungspolitische Grundfragen wie die Bildungsgerechtigkeit und die Frage des gleichen Zugangs zu den Bildungsinstitutionen, die Inklusion bzw. Exklusion einzelner Schüler oder Schülergruppen sowie das Pos tu-

2 Als "Besonderheiten des russischen Weges" genannt wurden im einzelnen "Demokratie und Autoritarismus ...• aber auch die russische Modemisierung und die Übergangsperiode insge­samt - wie auch Mentalität. Kultur usw." (TeminkalGrigor'ev 1996, S. 12,27,45).

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lat eines im ganzen Land erreichbaren qualitativ gleichwertigen Bil­dungsniveaus - zusammengefasst unter der Losung des »einheitlichen Bildungsraums« (edinoe obrazovatel'noe prostranstvo).

Über die Fragen der ethnischen Renaissance und politischen Emanzipation der bislang kolonisierten Völker hinaus hat eine nach dem Zerfall der UdSSR massenhaft einsetzende neue ethnisch, politisch und wirtschaftlich bedingte Migration die Situation für das Bildungswesen zusätzlich kompliziert. Inner­halb von Russlands Grenzen entstand eine vielfältig wachsende »Diaspora« von Angehörigen der Völker aus den neuen unabhängig gewordenen Staaten, die dort aus verschiedenen Gründen keine Existenzgrundlage mehr fanden. In die Heimat ihrer Vorfahren kehrte schließlich ein Teil jener 25 Mio. Russen zurück, die außerhalb Russlands zu einer ethnisch-nationalen Minorität ge­worden waren. Gegenwärtig leben auf dem Territorium Russlands über 160 verschiedene ethnische Gruppen, die großenteils über eigene sogenannte »Muttersprachen« verfügen. Gegenüber etwas mehr als der Hälfte der Be­wohner der Sowjetunion umfasst die russische Mehrheit nun jedoch ca. vier Fünftel der Bevölkerung im neuen Russland.3 Nur ein Teil der Minderheiten lebt auf ihrem eigenen, historisch angestammten und mit Autonomierechten ausgestatteten Territorium, darunter die 21 nationalen Republiken.

Während die neu errichteten Nachbarstaaten eine nationalstaatlich ausge­richtete Politik auf der Basis einer sprachlich-kulturellen und ethnischen Ho­mogenisierung betrieben, hielt Russland im Prozess des ,nationbuilding' und der rechtlichen und politischen Grundlegung seiner Eigenstaatlichkeit an der Konstruktion des Vielvölkerstaates fest. Die Multiethnizität wurde mit der Definition vom »multinationalen Staatsvolk« (mnogonacional'nyj narod) in der Verfassung verankert4• Diese Festlegung stellt in Verbindung mit dem Reichsgedanken eine Grundkonstante von Russlands neuer Staatlichkeit dar und wird seither in der Unterscheidung von »russkij« (auf das russische Ethnos bezogen) und »rossijskij« (russländisch; auf das Territorium und den Staat bezogen) auch sprachlich zum Ausdruck gebracht.

Der weitreichende reformerische Anspruch, der bald zu Kollisionen mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit führte, kommt insbeson­dere in den folgenden neuen Regelungen zum Ausdruck:

3 Die Zahlen können sich nach der Volkszählung für das Jahr 2001 verändern, wenn Personen nichtrussischer ethnischer Herkunft, insbesondere Abkömmlinge aus interethnischen Ehen, die Volkszählung zum Anlass nehmen sollten, sich nun als Nichtrussen zu deklarieren.

4 Zum Träger der Souveränität, dem Staatsvolk, wurde in der Präambel der Verfassung von 1993 nicht die ethnische Mehrheit der Russen, sondern ein »multinationales Volk« be­stimmt; vgl. hierzu und zu den weiteren erwähnten Rechtsakten die Quellenangaben bei Brunner 1999.

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• Hervorzuheben ist gegenüber der sowjetischen Minoritätenpolitik das verbriefte "Recht eines jeden Bürgers, seine nationale Zugehörigkeit frei von jedem Zwang selbst zu bestimmen und sich zu ihr zu bekennen" (SchmidtlKrüger-Potratz 1999, S. 52). Diese nationale Bekenntnisfreiheit ist in der Verfassung der Russischen Föderation von 1993 vorrangig als ein Schutzrecht verankert (Art. 26, 1; vgl. Brunner 1999, S. 300). Als 1997 die bis dahin obligatorische Eintragung der Nationalität in den Aus­landspass aufgehoben wurde, zeigte sich jedoch die Ambivalenz dieses Prinzips: Die neue Maßnahme wurde von Seiten nationalbewusster An­gehöriger der Minoritäten, aber auch manchen national-patriotisch einge­stellten Russen abgelehnt (vgl. Abdulatipov 1999, S. 2).

• Russisch bildet als lingua franca zugleich die Staats sprache, was auch in der Bildungspolitik zum Ausdruck kommt. Im Rahmen der Verfassung ist das individuelle Recht auf die Wahl der Unterrichtssprache (1993 Art. 26 [2]; ähnlich schon die sowjetische Verfassung von 1977, Art. 45 und frühere sowjetische Dokumente) sowie das Recht der einzelnen Völker verbrieft, die erforderlichen Voraussetzungen für das Erlernen der jewei­ligen Muttersprache zu schaffen (Art. 68 [3]). Ein einklagbarer Anspruch wird jedoch nicht eingeräumt (vgl. Kuebart 1996, S. 170). In den nationalen Republiken, die innerhalb des föderativen Staatsaufbaus ihre politische Souveränität durchsetzen konnten, wurde rasch eine weitere Staatssprache eingeführt (vgl. Brunner 1999, S. 302; Heinemann-Grüder 1998, S. 682).

• Für den Erhalt der nationalen Kulturen ist schließlich das im Bildungsge­setz festgelegte Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, Schule und Religion bedeutsam. Mit dem Religionsgesetz von 1997 (vgl. Föderales Gesetz 1997), das der Ausbreitung der zahlreichen neuen »nichteinheimi­schen« (prislye) Religionsgemeinschaften und Sekten Einhalt gebieten sollte, wurden zugleich neue Akzente gesetzt. Sie weisen auf eine Aus­höhlung des Prinzips in Richtung der russisch-orthodoxen als einer po­tentiellen Staatsreligion hin. Andere »einheimische« Religionen wie der Islam, der in einigen Regionen Russlands historisch tief verwurzelt ist, finden keine gleichwertige Berücksichtigung.

• Eine - über mehrere Jahre hinaus verzögerte - Ergänzung der territorial definierten Autonomierechte für die ethnisch-nationalen Minderheiten stellt das Föderationsgesetz über die nationale Kulturautonomie von 1996 dar (vgl. SchmidtlKrüger-Potratz 1999, S. 62-81). Mit diesem Ge­setz wird den ethnischen Gruppierungen, die außerhalb eines national de­finierten Territoriums verstreut angesiedelt sind bzw. kein eigenes Terri­torium besitzen, nun die gesetzlich abgesicherte Möglichkeit eröffnet, bei den staatlichen Organen ethnisch-nationale Bildungsbedürfnisse einzu­bringen; sie können eigene nichtstaatliche Bildungsinstitutionen bzw. -angebote mit ethnisch-kultureller Orientierung einrichten sowie die fi-

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nanzielle Förderung von Einzelprojekten beantragen, für die sie freilich rechenschaftspflichtig sind.5 Hierbei handelt es sich nicht um eine öffent­lich-rechtliche oder personale, sondern um eine lediglich »funktionale« Kulturautonomie, nämlich die Übertragung öffentlicher Aufgaben des Staates auf privatrechtliehe Vereine zwecks eigenständiger Wahrneh­mung (vgl. Brunner 1999, S. 292f.). Vielfältige unaufgelöste Widersprüche zwischen den Zielsetzungen und Regelungen, die unter dem neuen Paradigma getroffen wurden und die im Bildungswesen nur eine Widerspiegelung der gesamtstaatlichen poli­tischen Entwicklung darstellen, sind - zumal von den liberalen Refor­mern - mittlerweile benannt worden:

• Der Föderation, dem »Zentrum«, gelang es nicht, den einzelnen Subjek­ten des föderativen Systems hinreichende Budgetmittel zur Verfügung zu stellen, um die höchst unterschiedliche Finanzierungslage in den Regio­nen und Republiken auszugleichen. Die nationalen Republiken trafen mit der Föderation überwiegend bilaterale Vereinbarungen und Abkommen, da in dem neuen föderativen System ein »intermediärer Unterbau« zur gemeinsamen Durchsetzung ihrer Interessen fehlte (vgl. Heinemann­Grüder 2000, S. 989f.).6 In den Autonomiebestrebungen der national de­finierten Föderationssubjekte wurden nun Schritte zur Separation und Desintegration gesehen, zumal für die Organe der Föderation die Kohä­renz der vor Ort getroffenen Maßnahmen nicht mehr landesweit kontrol­lierbar war. Der Autonomiespielraum der Minoritäten im Rahmen des neuen föderativen Staatsaufbaus erschien den politischen und gesell­schaftlichen Zielen der Föderation gegenüber zu weit gefasst, und man sah die Einheit und Integrität (celostnost') Russlands - auch in Hinsicht auf den »einheitlichen Bildungsraum« - gefährdet.

• Vom Diskurs der Perestroika ausgehend war eine Verpflichtung des Staates formuliert worden, ethnischen Gemeinschaften und Individuen bei der Durchsetzung ihrer politischen sowie kulturellen Zielsetzungen und Interessen Protektion zu gewährleisten. Mit einer solchen positiven Diskriminierung sollte den Auswirkungen der sowjetischen Nationalitä­tenpolitik auf die Minderheiten und deren nunmehr erforderlicher politi­scher Emanzipation Rechnung getragen werden. Die innewohnende Am-

5 Die ersten nationalen Kulturautonomie-Verbände, die die Rechte auf Unterstützung ihrer ethnisch-nationalen kulturellen und Bildungsbedürfnisse nun auch im staatlichen Bil­dungswesen geltend machen können, wurden Anfang 1997 von den Russlanddeutschen ge­gründet (zu ihrer Einschätzung vgl. Brunner 1999, S. 295f.; Hilkes 1999, S. 126f.). In unse­rem Zusammenhang ist besonders hervorzuheben, dass mittlerweile auch russische nationa­le Kulturautonomie-Verbände entstanden sind.

6 Erste Dachorganisationen von ethnischen Assoziationen bestehen in Russland bereits (vgl. Brunner 1999, S. 296); im Gesetz über die nationale Kulturautonomie sind sie als zentrale Akteure vorgesehen.

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bivalenz hinsichtlich der Protektion einzelner Gruppen - als Subjekten einer Bürgergesellschaft verstanden - im neuen multiethnischen Staat kam aber rasch zum Ausdruck: Beabsichtigte protektive Maßnahmen -hier zu Gunsten der kleinen Urvölker des Nordens - wurden mit der ju­ristischen Begründung blockiert, der Gleichheitsgrundsatz der Verfas­sung werde dabei verletzt (vgl. Brunner 1999, S. 311). Noch fehlen schließlich ein Instrumentarium und neue Erfahrungen, um die Interessen und Rechte der Minderheiten in Russland als einem Staat mit vielfältigen Sprachen, Kulturen und Weltanschauungen in Abgrenzung zwischen ge­samtstaatlichen Gemeinschafts- und ethnisch-nationalen Sonderinteressen einzufordern und gemeinsam auszuhandeln,? und der Staat kann als Ak­teur der russischen Mehrheit dominieren (ähnlich auch Kuz'min 1998, S. 241). Die Problematik weist zugleich eine weitere nicht erfüllte Voraus­setzung auf: Die gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte Russlands als Vielvölkerstaat in einer multiperspektivischen Sicht befindet sich noch im Anfangsstadium.

Die beherrschenden Denkfiguren und Einstellungen sind in spezifischer Wei­se mit den Vorstellungen von einer Homogenität der einzelnen Ethnien und der Harmonie ihres Zusammenlebens verbunden, die noch aus der sowjeti­schen Ära herrühren. Hier ist die Zwitterstellung des »russischen Ethnos« als primus inter pares hervorzuheben. Dem russischen Volk kommt danach ein mit der Mehrheitsposition verbundener Hegemonieanspruch seiner Kultur und Sprache zu. Zugleich haben die unter dem Sowjetregime erlittenen politi­schen Repressionen sowie die eingetretenen Deformationen auch für die rus­sische Sprache und Kultur Forderungen hervorgerufen, hinsichtlich der natio­nalen Wiedergeburt in eine Reihe mit den anderen Völkern gestellt sowie gleichfalls durch staatliche Förderung begünstigt zu werden (vgl. Schmidt 1999, S. 29ff.).

2.2 Aktuelle Tendenzen - Korrektur oder Bestätigung des neuen Paradigmas?

Vor dem Hintergrund der beiden Tschetschenienkriege, der vorgeblich einsei­tig vom ethnic revival geprägten Politik in einigen nationalen Republiken und den mit der Zuwanderung verbundenen sozialen und ökonomischen Proble­men ist fraglich geworden, ob grundlegende Postulate des liberal­reformerischen Gesamtkonzepts, die auch für die ethnisch-nationalen Bil­dungsaktivitäten maßgeblich sind, aufrecht erhalten werden können. Mit dem

7 In der »Konzeption zur Gestaltung der staatlichen Nationalitätenpolitik«, die Präsident Jelzin 1996 dekretierte, wird z. B. die Frage der Bildung einer Versammlung der Völker Russlands aufgeworfen, "um den Dialog zwischen der Staatsmacht und den nationalen Gruppen in die Wege zu leiten" (SchmidtlKrüger-Potratz 1999, S. 61).

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Regierungsantritt Putins sowie seiner Wahl zum Präsidenten stiegen die Er­wartungen auf mehr Stabilität und die dafür notwendigen Kurskorrekturen auch auf dem Gebiet der Nationalitäten- und Bildungspolitik; diese tragen aber bislang Kompromisscharakter bzw. sind noch nicht umfassend fest ge­schrieben worden.

Im politischen Programm Putins bedeutet der »starke Staat« eine erneute Machtkonzentration bei der Föderation, und das heißt innerhalb des russi­schen Verfassungssystems beim Präsidenten selbst. Eine Verwaltungsreform bezweckt unter dem Schlagwort einer »Reintegration« die Rezentralisierung und Entmachtung der Föderationssubjekte, darunter der national definierten Republiken und autonomen Gebietseinheiten zu Lasten des noch kaum konso­lidierten Föderalismus. Die nationalen Republiken haben ihre 1993/94 erstrit­tenen weitgehenden Souveränitätsrechte bereits 1999 wieder verloren. Hin­sichtlich der demokratischen Gewaltenteilung ist die Entmachtung der Regio­nen und Republiken zu Gunsten des Zentrums (des Präsidenten) und zu Las­ten des Souveräns, des Wählers in den Regionen, noch nicht abgeschlossen (vgl. Heinemann-Grüder 2000, S. 985f.). Der bereits zuvor in den Hinter­grund gedrängte politische Grundsatz der Entstaatlichung ist aufgegeben, eine Entwicklung, die insbesondere die erst im Aufbau befindlichen Partizipations­instrumente und -institutionen für die Gesellschaft berührt.

Veränderte Akzentsetzungen kennzeichnen schließlich die Leitlinien für die Auslegung der Multinationalität des Staates der »Russländer«, also aller in Russland ansässigen ethnischen Gemeinschaften. So wurden vom - finanziell marginalisierten, aber politisch durchaus profilierten - Nationalitätenministe­rium Ende 1999 folgende Prioritäten formuliert, die eine teilweise Umdeu­tung der von Präsident lelzin 1996 dekretierten »Konzeption zur Gestaltung der staatlichen Nationalitätenpolitik« (SchmidtlKrüger-Potratz 1999, S. 47-61) erkennen lassen:8

• "die Heranbildung von Fachleuten (kadry) aus den Nationalitäten, die ihrem Selbstverständnis nach Zugehörige des russländischen Staates sind", d. h. eine politisch loyale Einstellung der Russischen Föderation gegenüber;

• "ein effektiver Schutz der Menschenrechte sowie der Rechte der Nationa­litäten"9, d. h. der Schutz vor ethnisch-nationaler Diskriminierung;

8 Ein alleiniger Zusammenhang mit dem Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges sollte nicht hergestellt werden, denn der damalige Minister für Nationalitätenpolitik Ramazan Abdulatipov hatte schon seit längerer Zeit eine entsprechende Position erarbeitet und sie po­litisch, historisch und soziaIpsychologisch ausführlich begründet.

9 So wurde kürzlich ein Gesetz zum Schutz der kleinen indigenen Völker des Nordens verab­schiedet (vgl. Brunner 1999, S. 309ff.). Diese »kleinen Völker« umfassen etwa 500 Tsd. Personen in 65 autochthonen ethnischen Gruppen, das sind 0,3 Prozent der Bevölkerung Russlands (vgl. Koremmym 1999, S. 1).

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• "die staatliche Unterstützung der national-kulturellen Entwicklung des russischen [nicht mehr des ,russländischen', die Verf.] Volkes - ( ... ) als des Grundpfeilers der russländischen Staatlichkeit" (Babaeva 1999, S. 2).10

Einschneidende Veränderungen kennzeichnen die Einwanderungspolitik, insbesondere die staatliche Protektion der Zuwanderer aus der GUS: Die Auflösung des Föderalen Migrationsamtes, die Einführung der Visumpflicht für den Verkehr zwischen den übrigen Ländern der GUS und Russland sowie die Entscheidung für eine verstärkte Unterstützung der außer Landes leben­den ethnisch-russischen Bevölkerung vor Ort kennzeichnen eine neue restrik­tive Einwanderungspolitik. Die Einschränkungen bei der Freizügigkeit für die »Kompatrioten im nahen Ausland« und das Ende einer breiten sozialen Un­terstützung für die sog. »Zwangsflüchtlinge« werden in der Öffentlichkeit durchaus kritisch gesehen, wobei auch die schwierige Lage von Kindern und Jugendlichen erörtert wird. 11 In der Presse werden lebhafte Auseinanderset­zungen zwischen Vertretern liberaler und national-patriotischer Positionen ausgetragen, wobei zunehmend auch gegen die verbreiteten fremdenfeindli­chen, nationalistischen, ja »rassistischen« Einstellungen in Politik und Öffent­lichkeit (ksenojobija; 2tnofobija) polemisiert wird.

In der Bildungspolitik zeichnen sich erste Einschnitte, dabei aber Akzent­setzungen ab, die auf einen politischen Konsens abzielen und eine eindeutige Festlegung zu Gunsten des national-konservativen Lagers oder der liberalen Reformer bislang vermeiden (vgl. Kuebart 2001). Hiermit wird zugleich der Kluft zwischen den radikal-liberalen Postulaten sowie den vorhandenen Ein­stellungen und dem Bildungsverhalten der Bürger Rechnung getragen. Die eingetretene Bildungskrise bewirkte eine Mythenbildung hinsichtlich des - in Wahrheit nie im ganzen Land gleichmäßig anzutreffenden - hohen Leistungs­standes des sowjetischen Bildungswesens und seiner - vielfach durch eine positive Diskriminierung gesicherten - Chancengleichheit auch der nationalen Minderheiten. Zwar konnte ein vielfältig differenzierter Sektor von neuen Schultypen, darunter auch Privatschulen, errichtet werden; dieser Sektor blieb jedoch vom Umfang her eher begrenzt, und die Strukturen des sowjetischen Schulsystems zeigten insgesamt eine erhebliche Beharrung. Nach einem nur

10 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Verordnung des Ministerpräsidenten Putin vom Januar 2000 zur Errichtung eines wissenschaftlichen Rates für die Entwicklung, Verbrei­tung und den Schutz der Reinheit der russischen Sprache (0 Sovete Po Russkomu Jazyku 2000).

ll Nach Zahlenangaben aus dem Jahr 2000 belaufen sich die Zuwanderer mit einem »offiziel­len Status« auf 880 Tsd. von insgesamt ca. 8 Mio. Migranten aus den Baltischen Staaten und der GUS, die sich illegal in Russland aufhalten, sowie einem Migrationspotential au­ßerhalb Russlands von 20 Mio. ehemaligen Sowjetbürgern. (vgl. Grafowa 2000, S. 3). Gro­ße Städte, allen voran Moskau, haben begonnen, verschärfte Kontrollen zwecks Ausweisung von Zuwanderern durchzuführen, die keine Aufenthaltsgenehmigung (propiska) vorweisen können.

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kurzen Einbruch lebte die Tradition hoher Bildungsaspirationen und die Be­reitschaft der Bevölkerung wieder auf, für den Bildungserwerb finanzielle Opfer zu bringen. Dies gilt auch für die »nationalen Eliten«, die sich von der Entscheidung für ethnisch-national ausgerichtete Bildungsangebote besondere Vorteile für den späteren Lebensweg ihrer Kinder versprachen (Verslovskij 1997). Die gleichzeitig zu »innerpädagogischen«, d. h. schulorganisatorischen und curricularen, Fragen in den Denkmustern der Beteiligten fortlebenden Konzepte der sowjetischen Pädagogik - das Verständnis der harmonisieren­den »Erziehung zum Internationalismus« oder der »nationalen Schule« als Einrichtung für die nichtrussischsprachige Bevölkerung - können an dieser Stelle nicht dargestellt werden (vgl. hierzu Schmidt 1999, S. 26f.).

3 Entwicklungen im Schulwesen in Hinblick auf die ethnisch -nationale Bildung

In Russland ist, vereinzelt bereits seit der Spätzeit der Perestroika und zu­nehmend nach dem Umbruch, eine Vielfalt ethnisch-national ausgerichteter Bildungskonzeptionen und -angebote entstanden, die unterschiedlichen natio­nalitätenpolitischen Aufgabenbereichen und Zielsetzungen zuzuordnen sind (Überblick siehe Schmidt 1999, S. 32ff.). Die von den Kulturautonomie­Verbänden gemäß dem Kulturautonomie-Gesetz getragenen Aktivitäten bil­den hierbei ein neues Element, das sich - wenn es künftig stärker als bisher zur Anwendung kommt - hierbei mit den verschiedensten Ansätzen verbinden kann. Die Entwicklungen berühren in der praktischen Umsetzung sämtlich Grundprinzipien der Verfassung der Russischen Föderation sowie des Bil­dungs gesetzes von 1992, so Fragen von Multiethnizität und Sprachenpolitik, die ethnisch definierte territoriale Autonomie innerhalb des föderativen Staatsaufbaus, die Trennung von Staat und Kirche, aber auch das gleiche Recht auf Bildung in einem einheitlichen Bildungsraum und den Aspekt der gesellschaftlichen Bildungsbedürfnisse einschließlich der Privatisierung von Bildungseinrichtungen.

Die aufgetretenen Spannungen zwischen Programm und Realisierung sol­len an zwei Bereichen demonstriert werden:

• der Entwicklung in den nationalen Republiken auf dem Hintergrund des föderativen Staatsaufbaus;

• den bildungspolitischen Aktivitäten von Staat und Gesellschaft in den alten und neuen Zentren multiethnischer Zuwanderung12 am Beispiel Moskaus.

12 Bedingt durch die Flüchtlingsströme aus den GUS-Staaten sowie aus Tschetschenien sind zu den traditionellen multiethnischen Zentren wie Moskau und Sankt Petersburg einige neue an der Peripherie gelegene Regionen wie etwa die Oblast' Orenburg mit nationalitä­tenpolitischen Konzepten und Maßnahmen hervorgetreten.

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Die Entwicklung in den nationalen Republiken wird gegenwärtig besonders unter dem Aspekt der Re-Integration in die gesamtstaatliche Bildungspolitik diskutiert. Hierbei stehen Tatarstan, Baschkortostan sowie Iakutien im Mit­telpunkt der Aufmerksamkeit der föderalen Bildungspolitik, während Tsche­tschenien eine Sonderposition einnimmt. Die Förderung der nationalen Staatssprachen (Angaben zu einzelnen Republiken bei Brunner 1999, S. 308ff.) bei gleichzeitiger Zurücksetzung der russischen Sprache13 sowie in­haltliche Abweichungen vom föderationsweit gültigen »Minimum-Bil­dungs standard« in den humanwissenschaftlichen Schulfächern wurden als »monokulturell«, d. h. einseitig von den politischen, sprachlichen, ethnisch­nationalen und religiös verankerten Bildungsbedürfnissen der namengeben­den, der »Titularnation« geprägt, beurteilt. 14 Wie weit die befürchteten sprachlichen Sonderentwicklungen tatsächlich fortgeschritten sind, ist wegen des begrenzten Finanzierungsspielraums und des Mangels an qualifiziertem pädagogischen Personal fraglich; die materielle und personelle Hilfe des Auslands, so der Türkei im Falle Tatarstans, erwies sich bislang als nicht dauerhaft.

In einigen der »nationalen Zentren« mit ihrer ethnisch, sprachlich und häufig auch sozial sehr heterogenen Bevölkerung betonten die Bildungspoli­tiker der Titularnation, dass die Pflege von Sprachen und Kulturen sämtlicher ethnischer Minderheiten im Schulwesen nachdrücklich unterstützt werde. Durch die besondere Protektion der neuen nichtrussischen Staatssprache im Bildungswesen fühlte sich die russischsprachige Bevölkerungsgruppe jedoch vielfältig diskriminiert. 1s Zumal die ethnisch russische Bevölkerung reagierte empfindlich auf die sog. »Ethnokratie« in den national definierten Gebiets­einheiten des Landes und sah in den nationalen Eliten die Gewinner im Pro­zess der ethnischen Mobilisierung und Reethnisierung - auch auf dem Gebiet des Bildungswesens.

Von der Regierung Putins liegen inzwischen Pläne vor, die Kompetenzen für die inhaltliche Festlegung der Schulcurricula zwischen der föderalen und der national-regionalen Bildungspolitik und -verwaltung neu abzugrenzen. So soll der Einflussbereich der nationalen Republiken gegenüber der Föderation zugunsten gemeinsam wahrzunehmender Verantwortungsbereiche reduziert

13 hn Jahre 1999 proklamierte die Republik Tatarstan schließlich noch den Übergang von der kyrillischen zur lateinischen Schrift.

14 In einigen nationalen Republiken und autonomen Gebietseinheiten seien in Hinsicht auf die Durchlässigkeit des Bildungssystems Sackgassen entstanden; dies verletze die auf föderaler Ebene fonnulierten Kriterien des einheitlichen Bildungsraums (vgl. Kuz'min 1998, S. 244f).

15 Von der Bereitschaft russischer bzw. russischsprachiger Kinder, in einzelnen Republiken die neue Staatssprache zu erlernen - so etwa in Tatarstan das Tatarische, berichtet jedoch Drobisheva; vgl. 1996, S. 286.

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werden.16 Auf eine indirekte Steuerung läuft schließlich die geplante straffe Zentralisierung der bisherigen Abiturprüfung an den allgemeinbildenden Schulen durch die Einführung eines zentralen, landesweit wirksamen staatli­chen Testsystems hinaus; dieses soll zugleich die in Russland traditionell von den Hochschulen durchgeführte selektive Hochschuleingangsprüfung ablösen.

Die Aktivitäten des Bildungskomitees der Stadt Moskau sind schließlich als Teil der Veränderungen in jenen Regionen Russlands von Interesse, die in besonderem Maße mit der Dynamik multiethnischer Zuwanderung konfron­tiert sind. Die Entwicklung in der Hauptstadt zeichnet sich dadurch aus, dass ihr Bürgermeister Luzkov Bildungsprobleme zu einem wichtigen Gegenstand seiner Politik machte, Moskaus Position als die eines »Staates im Staate« auszubauen. I?

Im Zuge der ethnischen Mobilisierung sind seit 1990/91 »nationale Schu­len« und Bildungseinrichtungen in Moskau aus der Initiative von Schulleitern und Eltern »von unten« entstanden. Das Spektrum, das sich anfangs aus ar­menischen, jüdischen und tatarischen Einrichtungen - Vorschul gruppen und einzelnen Schulklassen - zusammensetzte, umfasst inzwischen einen großen Fächer »ethnokultureller« Profile aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion. Schließlich sind unter den insgesamt 47 Einrichtungen (1997) eine multikul­turelle sowie 17 russisch-nationale Vorschulen, Schulen und sog. Schulkom­plexel8 hervorzuheben.

Von Anfang an standen staatliche neben nichtstaatlichen Bildungseinrich­tungen. Kennzeichnend ist inzwischen eine Vielfalt von Initiativen unter­schiedlicher rechtlicher Stellung, Trägerschaft und finanzieller Unterstützung. Genannt werden Einrichtungen von Nationalitätenverbänden und Landsmann­schaften, darunter Verbände gemäß dem Gesetz über die Kulturautonomie, und von staatlichen oder privaten Institutionen und Stiftungen aus dem Aus­land (Botschaften, ausländische Vertretungen); hinzu kommen schließlich Schulen mit enger Verbindung zu den großen internationalen Organisationen (z.B. der UNESCO; vgl. Programma Razvitija 1999, S. 23ff.).

Die Entwicklung hat bereits mehrere Phasen durchlaufen; in ihr kommt die Ambivalenz zum Ausdruck, die für die liberale Programmatik im System­umbruch kennzeichnend ist. Die Schulen vermittelten über die Anforderungen der »gewöhnlichen« (obycnye) Schulen hinaus muttersprachlichen Unterricht sowie Kenntnisse über die Geschichte, Literatur und das Brauchtum von

16 Die ursprüngliche Regelung der Kompetenzen sah die Aufteilung in eine zentral vorgegebe­ne föderale Komponente der Bildungsinhalte, eine regional bzw. von der nationalen Repu­blik sowie schließlich eine örtlich zu bestimmende Teilkomponente der Schu1curricula zu je einem Drittel vor (vgl. Schmidt 1999, S. 33f).

17 LuZkov stützte sich hierbei auf vielfältige Fonnen einer »Inszenierung der Macht«, was besonders anlässlieh der 750-Jahrfeier Moskaus im Jahr 1997 sichtbar wurde.

18 Dies sind um vor- und außerschulische Angebote sowie auch vorberufliche Bildungsrnaß­nahmen erweiterte Schulen (vgl. Gosudarstvennaja skola 1997; Programma Razvitija 1999).

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meist nur einer ethnischen Gruppe. Sie zogen bereits frühzeitig die Aufmerk­samkeit der Bildungsverwaltung der Stadt Moskau auf sich. Schon Ende 1994 legte das Bildungskomitee eine Konzeption vor, die im Rahmen der neuen »variativnost'« (V arianten-Vielfalt) die Existenz von ethnisch-nationalen Schulprofilen - sog. Schulen und Klassen mit »ethnokultureller (nationaler) Komponente« - bestätigte und die staatliche Förderung dieses »Subsystems« als einer »Nische« (nisa) innerhalb des Schulsystems vorsah. Um eine beob­achtbare »monokulturelle« Orientierung zu Lasten der russischen Sprache und Kultur zu vermeiden, sollten die Schulen bilingual ausgerichtet werden sowie für Schüler aus anderen ethnischen Gemeinschaften offen sein. Einen Ansatz für den erforderlichen »multikulturellen Dialog« zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen stellte in dieser Konzeption die Einführung eines Schul­fachs »Moskauer Stadtkunde« dar, das die Behandlung der gemeinsamen multinati9nalen Geschichte Moskaus unter dem heimatkundlichen Aspekt vorsah.

In einem weiteren Schritt wurde die über Moskau hinaus weisende ge­samtstaatliche Einbindung und Steuerung dieses »Subsystems« auf die Tages­ordnung gesetzt. Die »Nischen«-Position der Bildungsangebote mit einem ethnokulturellen Profil sollte überwunden werden: Es war vorgesehen, staatli­che Bildungsprogramme (Curricula) für eine »Russische«, eine »Tatarische« oder eine »Jüdische Schule« zu entwickeln und ihren Geltungsbereich auf die gesamte Föderation auszudehnen (vgl. Schmidt 1999, S. 36ff.). Angesichts heftiger Kritik der liberalen Reformer wurde dieser Vorschlag jedoch nicht umgesetzt. 19 Kritisiert wurden insbesondere der Gedanke einer besonderen »russischen nationalen Schule« sowie die ethnische Separierung, aber auch eine soziale Selektivität und »Exklusivität«; dies geschah nicht ohne Grund, erhofften die interessierten Eltern doch, in diesen Schulen eine besonders gute Ausstattung und ein pädagogisches Innovationspotential vor zu finden (vgl. Verslovskij 1997).

Bei der Korrektur der Konzeption im Spätsommer 1998 trat der liberale Akzent des »Subsystems« ethnisch-kultureller Bildung wieder mehr in den Vordergrund. In den Mittelpunkt gerückt wurden nun die »gesellschaftlichen Dienstleistungen im Bildungsbereich« (socioobrazovatel 'nye uslugi) hinsicht­lich der ethnokulturellen Forderungen und Ansprüche der Bevölkerung. Her­vorzuheben ist jedoch eine deutliche Akzentverschiebung hinsichtlich des Adressatenkreises.

Vor dem Hintergrund der neuen restriktiven Zuwanderungspolitik fiel der Kreis der Kinder von Zwangsflüchtlingen aus der GUS und dem Baltikum, die bis dahin unter einem besonderen politisch-moralisch begründeten Schutz

19 Die liberalen Refonner kritisierten die separierende statt einer integrierenden Tendenz in der Konzeption. Sie argumentierten, dass die öffentliche Schule die russische Gesellschaft (so­cium) als Ganzes nicht nach >>erfundenen nationalen und ethnischen Quartieren (kvartiry)« auseinanderdividieren dürfe (vgl. Gersunskij 1997).

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der Stadt Moskau gestanden hatten, aus dem Konzept heraus. Kennzeichnend ist hingegen die Einbeziehung neuer, politisch und ökonomisch gewichtiger staatlicher, nichtstaatlicher (Nichtregierungs-Organisationen) und gesell­schaftlicher Akteure: In- und ausländische Interessen- und Trägergruppen sollten, auch mit Unterstützung aus der GUS sowie Ländern wie Deutschland, Israel oder Korea, in die Organisation und Finanzierung schulischer und au­ßerschulischer Aktivitäten, insbesondere die Schaffung eines »ethnokulturel­len Milieus« - an den Schulen eingebunden werden.

Mit der Konzeption einer »russischen nationalen Schule« wurde zugleich für jene Kreise Wünschen nach der Verbreitung russisch-nationalen Gedan­kenguts Rechnung getragen, die dem »patriotischen Konsens« in der Gesell­schaft nahe stehen (vgl. Schmidt 1998). Einen besonderen Streitpunkt stellt freilich die Annäherung von Schule und russisch-orthodoxer Religion dar, die im Widerspruch zum Postulat der Trennung von Schulwesen und Kirche im Russischen Bildungsgesetz steht. Bei dieser jüngsten Konzeption ethnisch­nationaler Bildung wurde der Blick weiterhin auf die Perspektive des gesam­ten Schulsystems gelenkt: Unter Hinweis auf die multinationale Zusammen­setzung sämtlicher Moskauer Schulklassen sollte den Schulen mit »ethnokul­tureller Komponente« eine Vorreiterrolle auf dem Weg zukommen, Maßnah­men interkultureller (mezkul'turnoe) Bildung und Erziehung künftig auch in den »gewöhnlichen Schulen« der Stadt zu etablieren (vgl. Programma Razvi­tija 1999, S. 23ff.).20 Der Auftrag einer Renaissance auch der russischen Kul­tur und Sprache21 macht deutlich, dass die Konzeption zugleich Grundforde­rungen des national-konservativen Lagers aufnimmt. Unter diesem Aspekt stehen die neuen Schulen mit einer »ethnokulturellen Komponente« für Fach­leute, Öffentlichkeit und Eltern im Wettbewerb, aber auch in Spannung zu einem liberalen Verständnis der »gewöhnlichen« russische Schule.

4 Ausblick

Ein knappes Jahrzehnt nach der Gründung der Russischen Föderation ist die Auseinandersetzung um die weitere Ausgestaltung des neuen Paradigmas -des Übergangs zu einer Bürgergesellschaft in einem demokratisch-föderativen Staat und zur Wirtschaftsform der Marktwirtschaft - noch nicht zu einem Ruhepunkt gekommen. Mit der Regierung Putins zeichnet sich vielmehr eine neue Phase ab. Hinsichtlich der Nationalitätenpolitik verdienen in unserem

20 In Fortführung der Muster sowjetischer Didaktik entstand ein Streit über die Einführung eines speziellen Unterrichtfachs »Völkerkunde« (Ethnograpie, Ethnologie) oder aber eines entsprechenden Unterrichtsprinzips für die Wahrnehmung der Aufgaben multikultureller Bildung und Erziehung.

21 Vgl. Anm. 10.

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Zusammenhang die folgenden Akzentverschiebungen besondere Aufmerk­samkeit:

• Dem russischen Volk als dem "Grundpfeiler der russländischen Staat­lichkeit" (Babaeva 1999, S. 2) wird bei der staatlichen Unterstützung sei­ner »national-kulturellen Entwicklung« nun gegenüber den anderen eth­nischen Gemeinschaften der Vorrang eingeräumt. Das Prinzip, die russi­sche Mehrheit als primus inter pares in Russlands multinationalem Staat zu verstehen, muss für diese Weichen stellung nicht einmal aufgegeben werden. Es könnte sich gerade wegen seiner Ambivalenz und Offenheit für unterschiedliche Auslegungen in der Nationalitäten- sowie in der Bil­dungspolitik weiterhin als zweckdienlich erweisen, um die bestehenden Spannungen zwischen der Mehrheit und den Minderheiten politisch aus­zubalancieren. Der Anspruch der Minoritäten auf die staatliche Protekti­ort ihrer ethnischen Renaissance gegenüber der Mehrheit soll aber die bisherige Priorität verlieren.

• Ungewiss ist gegenwärtig die Zukunft des föderativen Staatsaufbaus. Der Spielraum für eine weitere Festigung der demokratisch-föderativen Strukturen in den Regionen und nationalen Republiken hat sich unter der Präsidentschaft Putins bereits erheblich verringert. Ein Festhalten an der historischen Tradition des divide et impera könnte dennoch bewirken, dass in den nationalen Republiken eine Vielfalt an Formen der politi­schen Emanzipation und der ethnischen Renaissance erhalten bleibt. Of­fen und für die Bildungspolitik bedeutsam ist, wie die bisherige bilaterale Interessenaushandlung zwischen der Föderation und den ethnisch­national definierten Territorien künftig weiter ausgestaltet werden wird; diese bringen höchst unterschiedliche politische, wirtschaftliche und so­ziale Voraussetzungen ein, wobei der tschetschenische Separatismus bis­lang den Ausnahmefall bildet.

• Die historisch rückwärts weisende Losung vom »starken Staat«, die nun die bisherige politische Programmatik gleichsam überwölbt, bedeutet ei­ne Absage an das Ziel der Entstaatlichung und damit tendenziell auch der politischen Partizipation der Bürger »von unten«. Das Programm der Marktwirtschaft sowie die Orientierung an den Ansprüchen einer plura­len Gesellschaft und ihrer Bürger ist jedoch, auch in der Bildungspolitik, nicht aufgegeben worden. Eine pluralistische Bürgergesellschaft hat sich erst in Anfängen herausgebildet, und ihre Akteure sind in den rechtlichen und politischen Strukturen noch nicht hinreichend verankert sowie viel­fach ökonomisch mittellos. Gesucht wird derzeit jedoch nach einem öko­nomischen Steuerungsmechanismus des Bildungswesens: Die staatlichen Bildungsangebote sollen - bei verstärkter öffentlicher Finanzierung - mit der Nachfrage der Gesellschaft verknüpft werden und die Nutzer im Ma­ße der persönlichen Inanspruchnahme zur Finanzierung der staatlichen Bildungsleistungen beitragen. Eine solche Konstruktion impliziert im

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Grundsatz die Möglichkeit einer freien Wahl und damit auch einer inhalt­lichen Einflussnahme der Bürger; ob und wie diese gesichert werden muss, ist umstritten.

Für das Bildungswesen, eingeschlossen die ethnisch-nationale Bildung, ste­hen denn auch im Zeichen des liberalen Paradigmas gegenwärtig weniger die inhaltlichen Fragen der gemeinsamen Grundwerte, sondern die strukturellen Fragen der Steuerung im Vordergrund. Dazu gehört die Herausbildung inter­mediärer Institutionen für das Zusammenwirken von Staat und Gesellschaft, von »Oben« und »Unten«, im Schul- bzw. Bildungswesen. Die bisher gesam­melten Erfahrungen und derzeit absehbaren Veränderungen lassen sich hin­sichtlich ihrer Ambivalenz wie folgt resümieren: Die Föderalisierung und Dezentralisierung in Verbindung mit der ethnischen Emanzipation haben angesichts der beobachtbaren Desintegrationstendenzen einen Behauptungs­willen der russischen Mehrheit in der Nationalitätenfrage provoziert und gefestigt. Die bestehenden Interessengegensätze werden mit Blick auf das Bildungswesen im öffentlichen Diskurs bis in die jüngste Zeit artikuliert. Die geplanten Veränderungen in der bildungspolitischen Kompetenzverteilung zwischen dem »Zentrum« und den Föderationssubjekten, hier den nationalen Republiken, weisen vorerst auf bilaterale Zusammenarbeit und Kompromiss hin. Die neu entstandene bildungspolitische Autonomie der national definier­ten Republiken und Territorien hat einigen kaum kontrollierbaren Wildwuchs in der strukturellen, finanziellen und inhaltlichen Vielfalt ethnisch-national ausgerichteter Bildungsangebote herbeigeführt. Dies ist zumindest einigen Akteuren deutlich geworden; sie sehen die verantwortlichen Faktoren für die Gefährdung des »einheitlichen Bildungsraums« jedoch nicht primär in der Bildungspolitik der Republiken, sondern in den mangelnden Voraussetzungen für einen funktionsfahigen Föderalismus in der Russischen Föderation insge­samt. Die Formulierung eines gesellschaftlichen Auftrags an das Bildungswe­sen hat sich bislang als ungelöste Aufgabe auf der Tagesordnung behaupten können. Unter dem Aspekt der ethnisch-nationalen Bildung sind gesellschaft­liche Akteure aufgetreten, die Formen einer Zusammenarbeit in neuen Netz­werken entwickeln. Das Beispiel Moskaus zeigt jedoch, dass sie bislang an­gesichts der ungelösten Finanzierungsfrage politisch leicht zu instrumentali­sieren sowie zu marginalisieren sind. Der gleichzeitige teilweise Rückzug des Staates aus der Finanzierung des Bildungswesens zugunsten einer marktwirt­schaftlichen Orientierung und Verlagerung von Kosten auf die Nutzer hält jedoch den Weg dafür offen, die Inhalte und Strukturen der Bildungsangebote an der gesellschaftlichen Nachfrage auszurichten. Hinsichtlich der Probleme ethnisch-nationaler Bildung für die Minderheiten profitieren hiervon bislang überwiegend ethnische Eliten, die sich in den neuen »Nischen« im Bildungs­wesen erfolgreich etablieren konnten. Mit Blick auf die sozial schwachen Bevölkerungsschichten in den ethnischen Gemeinschaften erweist sich der Rückzug des Staates jedoch als eine politisch äußerst widersprüchliche Stra­tegie.

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Die übergreifenden Fragen, die der dargestellten Entwicklung in der Russi­schen Föderation zugrunde liegen, bilden nicht nur ein Problem der dortigen Systemtransformation, sondern sind auch in den westlichen Ländern aktuelL Ihre weitere Entwicklung wird unsere Aufmerksamkeit verdienen.

Literatur

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Autorinnen und Autoren

Döbert, Hans, Dr. habil., geb. 1947, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle Berlin des Deutschen Instituts für internationale pädagogi­sche Forschung, Arheitsschwerpunkte: Historisch und international­vergleichende Schul- und Lehrerforschung.

Fabel, Melanie, Assessorin des Lehramts für Geschichte und Mathematik, geb. 1968, Promotionsstipendiatin im Kolleg der Hans-Böckler-Stiftung "Biographische Risiken und neue professionelle Herausforderungen" an der Martin-Luther-Universität Halle-WiUenberg, Arbeitsschwerpunkte: Qualitati­ve Sozialforschung, Biographieforschung, Schulforschung.

Fuchs, Hans-Wemer, Dr. phil., geb. 1960, wissenschaftlicher Assistent im Fachbereich Pädagogik der Universität der Bundeswehr Hamburg, Arbeits­schwerpunkte: Transformation des Bildungswesens in den neuen Bundeslän­dern; Bildungsforschung, Zeitgeschichte von Bildung und Erziehung.

Gehrmann, Axel, Dr. phil., geb. 1961, wissenschaftlicher Assistent am Institut für Schulpädagogik und Bildungssoziologie der Freien Universität Berlin, Arbeits schwerpunkte: Schulpädagogik, Profess ions theorie und -forschung, Transformation des Schulsystems in den neuen Bundesländern.

Köhler, Gabriele, Dr. phil, geh. 1954, AR am Institut für Allgemeine Erzie­hungswissenschaft und Empirische Bildungsforschung der Universität Erfurt, Arbeitsschwerpunkte: Transformation des Bildungswesens in den neuen Bun­desländern, Theorie- und Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissen­schaft, Professionalisierung in pädagogischen Berufsfeldern.

Reuter, Lutz R., Dr. jur., geb. 1943, Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Bildungspolitik im Fachbereich Päda­gogik der Universität der Bundeswehr Hamburg, Arheitsschwerpunkte: Mig­ration und Minderheiten im Bildungssystem, Bildungsrecht, Bildungssystem­komparatistik.

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Schmidt, Gerlind, Dr. phil., geb. 1942, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für internationale pädagogische Forschung, Frankfurt am Main, Arbeitsschwerpunkte: Bildungsreformen in den Transformationslän­dern des östlichen Europa, Bildung und Erziehung im neuen Russland.

Steyn, Johann, D.Ed., geb. 1941, Professor in der Abteilung für bildungspoli­tische Studien der Universität Stellenbosch, Südafrika, Arbeitsschwerpunkte: Bildungssystemtransformation, Bildungsphilosophie.

Weishaupt, Horst, Dr. phil., geb. 1947, Professor für Empirische Bildungsfor­schung am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Empirische Bildungsforschung der Universität Erfurt, Arbeitsschwerpunkte: Transforma­tion des Bildungswesens in den neuen Ländern, empirische Bildungsfor­schung, Bildungskomparatistik.

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