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Page 1: Über die Bedeutung der Literatur für das Leben · kostet, jedes Jahr meinen Sessel umbauen zu lassen, damit ich noch hineinpasse – da helfen auch alle ... oder „Kochen ohne

Über die Bedeutung der Literatur für das Leben

„Les nicht so viel! Das ist schlecht für die Augen“. Warum musste gerade in diesem Moment wieder

Tante Milini von nebenan vorbeischauen? Jetzt war schon einmal ihre Großmutter nicht da und Julia

hatte sich lange darauf gefreut, endlich alleine zu sein und die Zeit ungestört nutzen zu können, um

mit „Der Schatz der Wüste“ fertig zu werden. Aber nein. Natürlich durfte sie nicht alleine bleiben.

„Eine Zehnjährige macht mir doch das ganze Haus unsicher.“ Ihre Großmutter war wirklich

unglaublich übervorsichtig. Dabei hatte Julia noch nie etwas Schlimmes angestellt, sodass ihre

Befürchtungen wirklich vollkommen unbegründet waren. Und natürlich hatte sie ausgerechnet diese

uralte Dame von nebenan fragen müssen, um an diesem Abend auf ihren Schützling aufzupassen.

Auch ihre Großmutter war schon alt, und jedes Mal, wenn ihre Enkelin auch nur über den Einband

eines Romans strich, beschwerte sie sich. Wie eine Alarmanlage im Museum. Julia konnte es einfach

nicht verstehen. Lesen konnte doch gar nicht schlecht sein – es war einfach viel zu schön dafür!

Wie man sieht, wurde ich vor ein paar Jahren noch von der älteren Generation verurteilt. Lesen sei

schlecht für die Augen – ja, ich muss leider zugeben, dass das Lesen tatsächlich die Tendenz zur

Kurzsichtigkeit verstärken kann. Der Augapfel befindet sich im Kindes- und Jugendalter noch im

Wachstum, - und wenn zu viel gelesen wird, passt er seine Größe an die Nähe an und … Ach egal.

Hören wir lieber auf mit den medizinischen Hintergründen. Das hat mich eigentlich noch nie

interessiert, außer wenn sie wie bei „House of Gods“ inmitten spannender Geschichten in mich

hineingepackt wurden. Da fällt mir auf – ich habe mich noch überhaupt nicht vorgestellt. Wie

unhöflich von mir - entschuldigen Sie bitte vielmals. Nun, lieber Leser, mein Name ist Literatur – und

somit bin ich unter anderem auch verantwortlich für „Der Schatz der Wüste“ ebenso wie für alle

anderen Werke von literarischem Charakter. Ich bin größer, als sich die meisten von Ihnen vorstellen

können – und werde zudem immer und immer dicker – 93124 neue Werke alleine in einem Jahr in

einem einzigen Land – in Deutschland. Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie viel es

kostet, jedes Jahr meinen Sessel umbauen zu lassen, damit ich noch hineinpasse – da helfen auch alle

momentan nur so auf den Markt sprießenden „Wie werde ich schlank?“- „Fitness auch im Alter“ –

oder „Kochen ohne Fett und Zucker – das Allheilmittel zum Abnehmen“ – Ratgeber nichts.

Doch das Wichtigste ist – nein; nicht, was ich bin; nicht, was ich denke. Das Wichtigste ist,

was Sie über mich denken – Ihre Meinung, Ihre Ziele, an denen ich, wie Sie hoffentlich noch

bemerken werden, durchaus einen großen Anteil nehme. Doch welche Bedeutung habe ich konkret

für Sie, Ihr Leben, Ihren Alltag?

Um dies herauszufinden, möchte ich nun wieder auf unsere Geschichte zurückkommen.

Julia ist inzwischen selbst über 70 Jahre alt und würde nie auf die Idee kommen, ihre Enkel darauf hin

zu weisen, weniger zu lesen. Mit Brille – an der vielleicht doch auch ich eine Teilschuld zugeben muss

– sitzt sie täglich auf ihrem Sofa und verschlingt alle Bücher, die sie als Kind nicht hatte lesen dürfen.

Als ihre Enkelkinder noch klein waren, hat sie ihnen oft etwas vorgelesen. Inzwischen aber

interessieren sich diese kein Stück mehr dafür. Zu alt sind sie geworden - 14 und 17 – und zum Lesen

werden sie nur ab und zu im Deutschunterricht gezwungen. Julia hat es schon längst aufgegeben,

ihnen die Welt der Literatur näherzubringen. Viel lieber als zu lesen, sitzen sie heute vorm Computer

oder Smartphone, sie gehören zu dem Viertel der deutschen Bevölkerung, das tatsächlich überhaupt

nicht mehr liest. Zu anstrengend finden sie es. Pah! Dass ich nicht lache. Ich bin doch nicht zu

anstrengend! Was sie verlieren, wenn sie auf mich verzichten, kann Julia wahrscheinlich viel besser

ausdrücken als ich.

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„Endlich war Tante Milini gegangen. Julia hatte es geschafft, sie davon zu überzeugen, dass ihr

Schützling für diese Nacht tief und fest schlief und in ihren Träumen schwelgte. In Träumen schwelgte

Julia tatsächlich, jedoch nicht in ihren eigenen. Sobald sie die Tür hatte ins Schloss fallen hören, hatte

sich Julia ihre Taschenlampe vom Nachttisch geschnappt und endlich, endlich wieder „Der Schatz der

Wüste“ aufgeschlagen. Sofort riss die Erzählung sie in ihren Bann. Julia bekam das Gefühl, nicht mehr

zu Hause in ihrem Bett zu liegen, sondern auf einer der heißen Sanddünen in Mitten der Sahara. Von

hier aus konnte sie dem Geschehen am besten folgen und mitfiebern, wie sich jetzt gleich Tonuma –

der Protagonist des Romans, entscheiden würde. Hoffentlich…“

Diese Textpassage zeugt doch wirklich für mich, finden Sie nicht auch? Darauf, was ich alles mit

Menschen machen kann, darüber bin ich tatsächlich stolz. Also – nicht, dass Sie mich nun für

eingebildet halten, aber es ist doch wirklich bemerkenswert, über wie viele Talente ich verfüge. Ich

kann Leser in fremde Welten entführen, schließe die Ketten der Entführung aber nur so fest, dass sie

sich jederzeit wieder davon befreien können – aber Spuren bleiben dennoch, wenn sie entfliehen,

sodass die Leser, auch wenn sie es geschafft haben sich von den Geschichten loszureißen, im Alltag

einen Nachhall spüren. Und all diese Reisen erleben sie, ohne dass sie dafür Geld ausgeben und am

Flughafen ellenlange Security-Kontrollen über sich ergehen lassen müssen. Ich kann Ihnen so viele

Geschichten aufzeigen, wie niemand von Ihnen sie in seinem Leben erleben kann, und Ihnen dabei

helfen, die Welt aus einem bisher unbekannten Blickwinkel zu betrachten. Ich schaffe es,

Weltweisheiten in die Köpfe der Menschen einzubrennen, oder Überzeugungen verschwinden zu

lassen. Ich setze nicht nur die Schwerkraft sondern auch alle anderen physikalischen und

mathematischen Gesetze außer Kraft. Ich bin auf nichts angewiesen, kann es schneien lassen, wenn

der Wetterbericht vierzig Grad Außentemperatur anzeigt, oder kann Blumen erblühen lassen, wenn

die Blätter vorm Fenster gerade beginnen sich langsam von ihren Ästen zu befreien. Darüber hinaus

bilde ich die Leser auch im Hinblick auf ihre sozialen Verhaltensweisen und wecke Ihre Empathie.

Geben Sie es zu: wer von Ihnen hat geweint, als Winnetou im dritten Teil des gleichnamigen Romans

gestorben ist, oder Harry Potter sich im letzten Band der Buchreihe von J.K.Roling von Dobby trennen

musste. Meine Leser jedoch werden nicht ausschließlich in diesen Momenten zum Weinen angeregt.

Sie fiebern nicht nur mit ihren Romanhelden mit – sondern suchen das beim Lesen Erlebte auch in

ihrer realen Welt. Selbst, wenn oft die Ereignisse in dieser deutlich ruhiger und weniger spektakulär

sind; vor allem, da meine Leser zu großen Teilen aus industrialisierten Ländern kommen. Dennoch

kann der Inhalt der Literatur auf den Alltag übertragen werden. Man wird hilfsbereiter,

verständnisvoller – und zu bestimmten Teilen auch selbstbewusster, wenn man früh genug Bücher

liest, in denen Selbstbewusstsein Leben rettet.

Wie auch Ulrich Greiner schon 1997 erkannte (Material 4 „Die Debatten um den deutschen

Literaturkanon“), schaffe ich es neue Gedankengänge zu öffnen, lasse die Menschen mit einem

neuen Blickwinkel auf die Straßen gehen und fördere ihre eigene Fantasie, die vor allem im

Erwachsenenalter viel zu sehr verloren geht. Natürlich können sie nun sagen, dass ich all das nur

behaupte, damit Sie mich anfragen und durchstöbern. Aber nein. Ich mache hier keine Werbung.

Nach Ulrich Greiner schadet es mir selbst ja nichts weiter, wenn die Menschen nicht mehr lesen. Nur

Sie, die Kinder wie auch die Erwachsenen, verpassen ein unübertreffliches Angebot – tja, ich kann Sie

schließlich nicht zu Ihrem Glück zwingen.

Auch Arthur Schopenhauer hatte zu diesem Thema eine decidierte Meinung „Lesen ist bloßes

Surrogat des eigenen Denkens. Man lässt dabei seine Gedanken von einem andern am Gängelband

führen“ (Z.1 „Material 3“). Natürlich muss ich diese Aussage zum Teil verteidigen, denn sie gehört

wie alles andere als Literatur bezeichnete auch zu mir, und ein Stück weit hat der liebe Herr auch

recht. Wie auch bei Julia schon deutlich wurde – es sind andere Gedanken, die man liest, andere

Ideen, die man aufnimmt – aber dennoch ist es nicht nur das. Denn man sollte, davon bin ich

überzeugt, nicht nur lesen, wenn „der eigene Gedanke stockt“ (Z.9 „Material 3“), so wie es

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Schopenhauer formuliert. Auch wenn das eigene Gehirn bereits von einer Fülle an Gedanken

überflutet wird, können Bücher diese Gedankengänge unterstützen und dabei helfen zu entscheiden,

welche davon es wert sind, weiter verfolgt zu werden und welche man besser aus seinem

Gedankenfundus streichen sollte. Denn es geht vor allem darum, Ideen von anderen

mitzubekommen, neue Ansätze zu erkenn und nachzuvollziehen. Bleibt man schlichtweg aus Prinzip

bei seinen eigenen Überlegungen stecken, könnte man sich auch eine Höhle bauen und sich als

Eremit weit abgeschottet von allen anderen niederlassen – doch wir leben nun einmal in einer

Gesellschaft, wir wollen miteinander leben, miteinander kommunizieren und miteinander glücklich

sein – und das schaffe ich auch mit Lesern, die selbst schon viel denken. Darüber hinaus sollte der

gute Herr Schoppenhauer einmal länger darüber nachdenken, dass seine Werke auch niemand

gelesen hätte, hätten die meisten Leser dieser Aussage tatsächlich Folge geleistet. Denn Gedanken

und Ideen hat wirklich jeder immer. In diesem Bereich muss ich keine Literatur lesen, sie kann mir

lediglich als Stütze dienen.

Aber wie bereits erwähnt, spielt auch die Fantasie eine enorme Rolle. Denn auch wenn Kinder viele

Gedanken im Kopf haben, empfiehlt es sich dennoch, Literatur zu verschlingen – denn es ist nicht,

wie Schoppenhauer behauptet, ein reines Übernehmen der Gedanken und Äußerungen sondern viel

mehr: Wem ist es noch nie passiert, dass er während des Unterrichts so sehr in die Geschichte

versunken war, die man noch am Morgen begonnen hatte zu lesen, sodass die Lehrerin eine

Strafarbeit verteilte, nur weil man sich gerade darüber Gedanken machte, wie die drei Fragezeichen

dem Bösewicht doch noch auf die Schliche kommen können, oder wie es Mila aus „Freche Mädchen“

schaffen könnte, Vanessa von Markus fernzuhalten, damit er bloß nicht Gefahr läuft, fremd zu

gehen? Ich kenne auch viele, vor allem Kinder, die über das Ende des Romans hinaus, die Geschichte

einfach in ihrem Kopf weiterspinnen – vor allem, wenn ihnen das Ende nicht gefällt, denken sie sich

schlichtweg ein neues aus, das in ihren Augen viel besser passt. Wer also behauptet, Literatur sei

nicht das, was am stärksten die Fantasie beflügelt – der soll mir erst einmal ausreichend

Gegenbeweise bringen.

Auch in der Erziehung bin ich nicht zu unterschätzen. Nicht nur die vielen Erziehungsratgeber für die

Erziehenden selbst wie z.B. „Wie bringe ich mein Kind dazu, auf mich zu hören“ oder „Mein Kind –

ein Talent“, die sich vor allem in den letzten Jahrzehnten rasant vermehrt haben, sondern auch ältere

Werke, wie der 1845 von Heinrich Hoffman geschriebene Struwwelpeter stellen Lehren fürs Leben

dar. Ausgedrückt nicht in Verboten oder Befehlen, sondern in einzelnen Geschichten wird den

Kindern deutlich, was sie tun oder doch besser lassen sollten - vielleicht etwas hart und drastisch,

jedoch durchaus wirksam.

Aber nicht nur im Denken oder in der Meinung der Leser schaffe ich es, etwas zu verändern, sondern,

viel wichtiger, auch im Handeln. Wer beginnt nicht, nach dem Lesen von „Anne Frank“ oder „Der

Pianist“ den Antisemitismus zu verfluchen und sich gegen den Rassismus einzusetzen, oder

zumindest bei der nächsten Anti-Pegida- Demonstration mitzulaufen. Wer kann weiter Tiere

misshandeln, umbringen und ruhig sein Schweinesteak verspeisen, wenn er Bücher über

verwahrloste Hunde, halbtote Hühner, und noch beim Aufschneiden lebende Rinder gelesen hat?

Viele von Ihnen werden nun sicherlich an Dokumentationen, Filme oder Bilder denken, die sie vom

Vegetarismus überzeugt haben – aber ich sage Ihnen. Die Fantasie kann viel grausamer, intensiver

und individueller sein, als jedes Bild oder jeder Film. Und nur beim Lesen wird Ihnen dieser Kanal

noch offengehalten und nicht wie bei den anderen Medien vorgegeben.

Sicherlich – Sie werden trotzdem laut aufschreien, denn es ist so sicher wie das Amen in der Kirche,

dass nicht alle von Ihnen, meine lieben Leser, sich vegetarisch oder gar vegan ernähren. Sie werden

gerade innerlich protestieren und mir all die Beispiele aufzeigen, bei denen ich als Literatur zu

keinerlei Veränderungen im Denken und Handeln geführt habe. Darunter vielleicht unter anderem

auch Sie selbst. Sicherlich – ich bin nicht allmächtig und kann nicht steuern, was die Leser und

Leserinnen mit mir anfangen – aber mindestens genauso sicher ist auch: Einfluss habe ich mehr als

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jeder Politiker, jeder Aktivist, jeder Großkonzernbesitzer auf dieser Welt. Denn auch, wenn ich Sie

vielleicht nicht augenblicklich überzeugen kann – das, was Sie lesen, verändert etwas in ihrem Leben.

Im Denken, Handeln, im Argumentieren – manchmal auch ganz unbewusst.

Auch wenn wir uns erneut das Anfangsproblem anschauen, habe ich natürlich eine Ausrede – oder

zumindest ein fundiertes Gegenargument für die Anschuldigungen gegen mich. Denn ich kann der

Nebenwirkung des Lesens - der Förderung der Kurzsichtigkeit - auch etwas entgegensetzen. Denn –

welches Kind ist nicht hinaus in die Welt gegangen, um die Abenteuer von „Tom Sawyer“ oder den

Protagonisten aus „Die drei Fragezeichen“ selbst zu erleben? Beim Rennen im Wald und

Hüttenbauen muss der Augapfel hauptsächlich mit weit entfernten Objekten umgehen. Und das ist

genau das, was die Kinder brauchen – und schon immer gebraucht haben: eine Mischung aus Weit-

und Nahsicht – dann wird sich der Augapfel optimal entwickeln.

Bei diesem Aspekt bin ich meinem Konkurrenten – der modernen Technik, die meine Leserschaft

immer mehr weg von mir hin zu Online-Kommunikationskanälen und animierten Flimmerspielen

zieht- also klar überlegen. Denn hier regt kaum etwas zum Rausgehen an – vor allem, da die

Konzerne ihre Kunden nur umso enger an sich selbst binden möchten. Sie süchtig machen, ist ihr Ziel.

Sie wollen die Nutzer davon abhalten, auch nur kurz das Handy aus der Hand zu legen, oder vom

Stammplatz vorm Computerbildschirm aufzustehen. Denn, je mehr gespielt wird, umso schneller

gelangt man auf ein neues Level, für dessen Freischaltung oftmals erneut Geld ausgegeben werden

muss. Natürlich könnte man sagen, dass die Kinder und Jugendlichen auch durch die Computerspiele

angeregt werden, diese in der realen Welt nachzuspielen – dem ist aber nicht so. Zumindest nicht in

dem Maße, wie ich es tue. Zum einen liegt das an dem Suchtpotential, zum anderen ist es schwer, die

auf den Bildschirmen gesehenen Situationen genauso in die Wirklichkeit umzusetzen. Wer hat schon

riesige Felsschluchten und Trampolinpilze im Garten, die natürlich genauso aussehen müssen, wie

auf dem Bildschirm bei „Super Mario“? Bei Büchern kann jedes Kind das Gelesene auf die eigene

Umgebung übertragen und das daraus machen, was ihm möglich ist. Wie Sie sicherlich bemerkt

haben, spielt auch hier wieder der Aspekt der Fantasie mit hinein. Selbstverständlich wird es

hingegen einfacher, sich über Kanäle wie WhatsApp oder Facebook zu verabreden, was natürlich

dafür spricht, dass man sich häufiger trifft und mehr rausgeht, als es nach der Lektüre eines Buches

der Fall ist. Aber meist betreffen diese Verabredungen nur Kinobesuche oder eine Shoppingtour. Der

blinkende Bildschirm bei ersterem ist vielleicht etwas weiter entfernt, aber dafür auch um ein

Vielfaches so groß, wie die Schrift in einem Buch und sollte daher auch nicht wirklich

Kurzsichtigkeitsvorbeugend sein – und Shoppen – naja; so wirklich der Natur des Menschen ist das

nun auch nicht nachempfunden, sich statt zwischen Bäumen zwischen Stahlständern

hindurchzuschlängeln, die statt mit Blättern, mit Hosen und T-Shirts mit riesigen Sale-Aufschriften

behängt sind.

Also: in einem Satz zusammengefasst – auch in der Kurzsichtigkeit habe ich noch deutlich bessere

Auswirkungen auf meine Konsumenten als mein Konkurrent.

Obwohl – zählt die Technik tatsächlich zu meinen Konkurrenten? Nach längerem Nachdenken sage

ich ganz klar – nein! Betrachten wir einmal wieder Julia – sie wäre 60 Jahre später geboren, könnte

nun also ihr eigenes Enkelkind sein – doch sie unterscheidet sich von ihnen in einem bestimmten

Punkt. Sie verbringt fast genauso viele Stunden am Smartphone wie ihre Enkel – das ist nicht das

Thema. Sie weiß auch genauso gut, wie ihre tatsächlichen Enkel, im Alter von Zehn, wie man nach

Begriffen googled und verabredet sich auch mit ihren Freundinnen über WhatsApp. Aber - sie liest

immer noch. Denn der Reiz der Bücher ist für das ein oder andere Kind, die ein oder andere

Jugendliche doch immer noch sehr verlockend – selbst in einem vollkommen digitalisierten und

automatisierten Umfeld. Auch wenn mindestens zehn Bildschirme im eigenen Haus umherflimmern,

so nimmt sie trotzdem das Buch und zieht es anderen Unterhaltungs- bzw. Informationsmitteln, wie

dem Fernseher vor. Denn die Technik ist keine Alternative zu mir. Auch sie zieht Menschen in ihren

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Bann – genauso wie ich; das ist richtig; aber dennoch sind wir keine Konkurrenten, die sich im

blutrünstigen Kampf gegenüberstehen, denn – wir können auch kooperieren.

Die Technik ist nämlich beispielsweise für mein Marketing gut. Während früher nirgends als auf ein

paar Extrazeitungsseiten oder kleinen Plakaten am Straßenrand einige wenige Einbände von einer

kleinen Auswahl weniger Bücheraus meinem Fundus abgedruckt waren, ist das heute ganz anders.

An jeder Litfaßsäule kann ein Bild eines Teils von mir befestigt sein. Auf jede Fläche kann dasselbe

Bild projiziert und ein paar Sekunden später durch das Cover eines anderen Werks ausgetauscht

werden. Im Internet wird mit Anzeigen auf neue Bestseller hingewiesen, die von der Thematik her

genau zu diesem Nutzer passen könnten, und in allen Kanälen wird Werbung für die Frankfurter

Buchmesse gemacht. Ohne all diese Neuerungen würde es nicht jedes Jahr 275.000 Besucher auf

dieser deutschlandweit größten Büchermesse geben und diese riesigen Menschenmassen zeigen

doch, wie wichtig ich auch heute noch im Leben der Menschen bin.

Ich wäre sonst auch nie ins Fernsehen gekommen. Denn darin werde ich heutzutage ja auch schon in

zahlreichen Bücher- und Autorensendungen angepriesen. Naja – so sehr kritisiert Werbung sein mag,

und so sehr sie auch den eigenen Willen manipuliert, sehe ich mich gerne in riesiger Auflösung

überall in den Städten, wie auch auf Bildschirmen – meine Schönheit hat es wirklich verdient.

Aber die ganzen Neuerungen führen nicht nur zu besserer und gezielterer Werbung, sondern

ziehen noch viel mehr mit sich – doch welchen Einfluss diese auf das Leben meiner Leser haben wird,

da bin ich mir selbst noch nicht ganz sicher.

Beginnen wir doch erst einmal mit diesen kleinen rechteckigen Computern – E-Books heißen sie. Am

Anfang war ich nicht wirklich begeistert, in einen solch dünnen Kasten hineingequetscht zu werden,

aber nach und nach habe ich mich daran gewöhnt. Denn die Vorteile sind wirklich nicht zu leugnen.

Als allererstes ist es natürlich toll, dass ich so mit einem riesigen Teil von mir auf Reisen mitkommen

kann. Früher waren es maximal zwei Bücher, die noch in den Koffer auf die Klamotten geworfen

wurden, um nicht doch noch aufgrund des Übergewichts, zusätzliches Geld zahlen zu müssen. Heute

wiegt ein E-Books nicht mehr oder weniger, wenn noch ein Werk zusätzlich heruntergeladen wird

oder nicht. So bin ich jederzeit in riesiger Fülle für alle erreichbar.

Doch trotz aller Vorteile bin ich ein wenig skeptisch: verändert sich durch diese Entwicklungen die

Bedeutung der Literatur für das Leben der Leser? Wird es mehr oder weniger zu einer Nebenbei-

Unterhaltung, auf die man sich gar nicht mehr konzentriert und die keinerlei Wertschätzung mehr

erfährt, weil die Texte kostenlos oder für einen Spottbetrag von wenigen Euro heruntergeladen

werden können? Ist es nicht für die Bedeutung der Bücher entscheidend, dass der Leser sich dabei

auch in der richtigen Stimmung befindet? Der Duft nach frischgedrucktem oder vielleicht auch

bereits sehr altem Papier, das Rascheln der Seiten beim Umdrehen in Erwartung, was als nächstes

passieren wird; oder präziser ausgedrückt: würde Julia eines meiner Werke genauso genießen, wenn

sie von Seite zu Seite wischen anstatt blättern würde und keine Taschenlampe mehr mit unter die

Bettdecke mitnehmen müsste?

Ich muss ehrlich sagen, ich weiß es nicht. Schließlich bin ich ja nicht uneingeschränkt allwissend, auch

wenn es einige Erzähler in meinen vielen Werken vorgeben. Vielleicht kann ich dafür auch einfach zu

wenig in die Zukunft schauen, oder ich bin zu sehr verwirrt durch die Bücher, die ich beherberge und

von denen jedes zweite etwas Anderes über die Zukunft erzählt. Ich kann lediglich meine Vermutung

äußern – ich denke, dass es entweder nie gelingen oder noch sehr lange dauern wird, bis sich diese E-

Books vollständig gegenüber den alten, traditionellen Büchern durchgesetzt haben werden. Vielleicht

wird es ihnen auch nie gelingen, diese ganz vom Markt zu drängen. Auf der anderen Seite bin ich als

Literatur so für wirklich alle jederzeit zugänglich – und erleichtere zusätzlich Menschen auf langen

Reisen, mich mitzunehmen. So werde ich vielleicht auch attraktiver für jüngere Menschen, die sich

besser mit dem Wischen als mit dem Blättern auskennen und anstatt nach ihrem Handy dann doch

auch ab und zu mal nach ihrem Tablet greifen. E-Books nehmen momentan gerade einmal 3,5 % des

Umsatzes von Buchhandlungen ein, also brauchen wir vor dieser vermuteten in mancher Munde als

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Gefahr dargestellten Digitalisierung der Kulturlandschaft aktuell noch keine zu große Angst haben.

Aber das müssen ja auch nicht allzu viele, denn mir gefallen die aktuellen Diskussionen durchaus gut

–was gibt es wohl besseres, als in Radio- oder Fernsehsendungen diskutiert zu werden – so wird nicht

nur die Aufmerksamkeit auf die neuen E-Books gelenkt, sondern viel mehr auch auf mich, die gute

alte Literatur – deshalb finde ich diese neuen Entwicklungen gar nicht unbedingt schlecht – ich will

schließlich auch modern sein und im Zweifelsfall muss ich mich dann eben in diese Tablets

quetschen.

Gleichzeitig wird es nicht nur einfacher sich Literatur anzueignen, sondern darüber hinaus

auch, selbst Literatur zu schreiben und zu veröffentlichen. Selfpublishing-Verlage wie epubli, indie-

books oder neobooks sprießen in rasanter Geschwindigkeit in die Höhe, sodass es heute jedem mit

Ausgaben von 20€ möglich ist, ein Buch zu veröffentlichen. 75 000 solcher

Selbstveröffentlichungsverlage gibt es bereits. Auch das nimmt großen Einfluss auf mich als Literatur,

und somit auch wieder auf meinen Einfluss auf das Leben der Menschen. Auf der einen Seite können

so natürlich alle ihre Ideen in die Welt setzen und es werden Stimmen gehört, die es ohne diese

Entwicklung nie an die Öffentlichkeit geschafft hätten. Es werden erfolgreiche Romane gefeiert, die

zuvor von keinem einzigen Verlag angenommen wurden und nun, nach der eigenen

Veröffentlichung, zu Bestsellern geworden sind. Aber natürlich kann so, wie es immer ist, wenn man

den Menschen – Autoren wie auch Lesern – mehr Freiräume und mehr Möglichkeiten lässt, auch

einiger Müll damit angestellt werden. Ohne Lektor, Grafiker und Co werden Bücher auf den Markt

gebracht, die keinem einzigen Wert von Literatur mehr entsprechen und die ich eigentlich gar nicht

in meinen Fundus mit aufnehmen möchte. Die falsche Rechtschreibung führt bei Lesern dazu, selbst

falsch zu schreiben, negative Ideen brennen sich in die Köpfe ein– vor allem, wenn sie genauso

mitfühlen wie Julia. Gleichzeitig kann es aber auch sein, dass diese Bücher, auch wenn es wenige

sind, zu keiner Begeisterung der Menschen führen und somit mein allgemeines Ansehen wiederum

verschlechtern. Die anspruchsvollen Rezipienten verfluchen die Qualität der Bücher, die sie

heutzutage zu kaufen bekommen und wenden sich von der Literatur ab. So kann die Literatur auch

durch die neuen Entwicklungen ganz neue Einflüsse auf das Leben nehmen: Neue Talente entdecken,

Hass schüren, schlechte wie gute Ideen verbreiten, aber auch viele Menschen in die Arbeitslosigkeit

treiben. Vollkommen verschiedene Auswirkungen also, auf jeden einzelnen individuell.

Wie bereits hieran erkannt werden kann, beeinflusst die Literatur auch sehr, was natürlich nicht nur

positive Auswirkungen, sondern auch Schattenseiten mit sich bringt. Denn ich kann auch manipulativ

sein. Ich kann nicht nur Empathie hervorrufen, und schöne, strahlende Gedanken und

hoffnungsfrohe Ideen in die Köpfe der Menschen einpflanzen, sondern kann ihre Meinung auch in

eine ganz andere Richtung drehen. Entscheidet sich ein Leser zu sehr für Bücher, die ununterbrochen

nur eine Seite der Wahrheit betrachten, wird dieser dazu tendieren, auch im Alltag und auch in

seiner politischen Orientierung eine ähnliche Meinung zu vertreten. Ich liefere diesem Leser unter

Umständen Argumente, die nur in diese eine Richtung zeigen. So bin ich auch in der Politik sehr

einflussreich. Denn nicht jeder liest sich jeden Morgen am Frühstückstisch die trockenen Zeilen der

Tageszeitung durch, oder schaut jeden Abend um 21:45 das Heute-Journal. Manche lesen lieber

Geschichten einzelner Personen oder Personengruppen, die aber genau von dieser Politik betroffen

sind, und durch die die trockenen Sätze auf einmal lebendig werden. Autobiographien von Frauen,

die beschnitten und misshandelt werden, Bücher über diskriminierte Menschen, die eine dunklere

Hautfarbe haben und in den USA aufwachsen, Geschichten über Flüchtlinge, die erst seit einem

Monat in Deutschland leben. Die Bandbreite an Themen ist riesig und Menschen sind nun einmal

stärker emotional als rational geprägt, weshalb ein Erlebnisbericht, oder eine erfundene Geschichte

über aktuelle politische Situationen doch oft besser in den Köpfen bleibt als unpersönliche

Schlagzeilen. In allen Fällen schaffe ich es so auch den Menschen den Spiegel vors Gesicht zu halten

und ihre Rolle in der gesamten Thematik zu erkennen. Sie kann erschreckend sein, die Menschen

zum Handeln animieren, kann aber auch beruhigen und zufriedenstellen.

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Doch ich beeinflusse nicht nur in diese Richtung, denn warum sonst bin ich so unvorstellbar riesig. Ich

bin vielseitiger als jeder Supermarkt und meine Leser können sich selbst heraussuchen, welche

Bücher sie lesen. Es ist wirklich für jeden etwas dabei. Für die Gemütlichen unter Ihnen, die im

Winter gerne vorm Kamin und im Sommer am Lagerfeuer sitzen, eingemummelt in eine Decke und in

Liebesgeschichten schwelgen oder mit einem Detektiv mitfiebern, aber auch auf die Sportsfreunde

unter Ihnen bin ich vorbereitet. Nicht nur autobiographische Werke über Sportlegenden habe ich in

meinem Repertoire, sondern auch Ratgeber für das richtige Krafttraining, oder der Selbstlernkurs für

Yoga mit eingeschweißter Mönchsmusik-CD. Die Musiker unter Ihnen kann ich selbstverständlich

auch zufrieden stellen - es sollte also wirklich jeder etwas Passendes finden. Wenn Sie denken, dass

genau für Sie wirklich gar nichts dabei sein sollte, weil Sie noch nie eine Literatur gefunden haben,

die zu Ihnen passt – dann schreiben Sie mir einfach einen Brief – ich werde Ihnen ein Gratis-Werk

heraussuchen.

Denn auch in den einzelnen Sparten verfüge ich wieder über eine riesige Menge an Werken. Doch in

allen Bereichen, insbesondere aber bei politisch angehauchten Themen, gibt es immer nur eine

Lesergruppe, die es richtigmacht und der ich alle Möglichkeiten offenhalten möchte: die wirklich

interessierten und klugen Leser, die sich innerhalb eines Themenfeldes nicht nur mit Büchern

beschäftigen, von denen sie wissen, dass sie ihrer eigenen Ansicht entsprechen, sondern die sich

genauso auch Geschichten zur Hand nehmen, die ein gegenteiliges Bild aufzeigen. Nur so lässt sich

ein wirklich ausgewogenes Abbild der Realität ziehen, die – das muss ich zugeben – in einigen

Romanen tatsächlich sehr stark verzerrt ist, sodass Sie als Kunden die Aufgabe haben, dies zu

erkennen und herauszufinden, wem sie wie weit Glauben schenken können. Denn so können auch

Sie darauf Einfluss nehmen, in welche Richtung ich in Ihrem Leben richtungsweisend bin.

Aber natürlich macht das nicht jeder. Das literarisch vollkommen schmerzende Werk „Mein Kampf“

hat nie vermutbare Folgen nach sich gezogen und auch das Erscheinen des Werkes „Werther“ von

Goethe hatte kein gutes Nachspiel. Doch natürlich bin ich nicht alleine an dem Tod zahlreicher Juden,

oder am Selbstmord einer ganzen Reihe junger Männer verantwortlich – denn ich bin nur ein einziger

Teil in dem riesigen Dominospiel, das zu derartigen Handlungen und Zuständen führt. Genauso wie

ich durch Provokation oder Meinungsmache selbst der Stein sein kann, der als erstes umfällt und alle

anderen mit herumreißt, kann ich auch der Stein sein, der fest stehen bleibt, obwohl die anderen

davor bereits umgekippt sind.

Darüber hinaus öffne ich Augen. Nicht immer kauft man bewusst eine Lektüre, die man schon immer

einmal lesen wollte. Oft bekommen Sie auch Bücher geschenkt, auf die Sie sonst nie gestoßen wären

– oder Sie gehen ziellos in eine Buchhandlung und nehmen das Buch mit, das Ihnen vom Einband her

am besten gefällt, das den spannungserregendsten Teaser auf der Rückseite hat, oder einfach das,

was gerade im Angebot ist. So kann man auch ganz zufällig zu neuen Erfahrungen kommen, die auch

wiederum das Leben entscheidend beeinflussen. Manch einer hat während des Lesens eines Romans

seinen Berufswunsch entdeckt, oder einen Weg gefunden, wie er seinen Lebenstraum verwirklichen

kann.

Aber – ich öffne nicht nur Augen, sondern schließe sie auch wieder, wenn etwas so schlimm ist, dass

man sich verstecken muss. Meine Kraft ist stark und ich schaffe es nicht nur, den 16-jährigen Tim von

seiner verhauenen Mathearbeit abzulenken, sondern auch eine 80-Jährige Dame aufzufangen, deren

Mann einige Tage zuvor gestorben ist. Ich schaffe es also, die Stimmung zu heben, wenn jemand

traurig ist, schaffe es an Beispielen gezeigte Tipps zu geben, wie man seinen Schwarm am besten für

sich gewinnen kann, oder wie man es gerade lieber nicht macht, sodass man nicht alles im

„wirklichen“ Leben ausprobieren muss, sondern nur die laut Erfahrungen anderer wirkungsvollen

Strategien. Eine Art „Learning by reading“, denn Mädchen lernen Dinge über Jungs, die diese nie in

privaten Gesprächen zugeben würden und Jungs erfahren den Unterschied zwischen dem, was eine

Frau sagt, und dem, was sie tatsächlich meint. Ich helfe Menschen über Schicksalsschläge

hinwegzukommen, indem ich den einen die Möglichkeit gebe, ihre Erlebnisse aufzuschreiben und sie

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dabei zu verarbeiten, gleichzeitig die anderen an den Erfahrungen der Ersten teilhaben lasse und

Ihnen so die Chance gebe, Auswege zu erkennen. In diesem Bereich nehme ich aber noch mehr

Einfluss auf die Lebenssituationen der Menschen. Denn ich biete auch Hilfe an, indem ich verbinde.

Leser erkennen in Buchautoren Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und Ihnen

vielleicht sogar einen Ausweg aus dieser Lebenssituation vorzeichnen, den sie nachgehen können.

Sie, lieber Leser, fühlen sich wohler, wenn sie wissen, dass sie nicht alleine auf der Welt stehen.

Wenn sie erkennen, dass sie kein Einzelfall darstellen, der sich in einer derartigen Lebenssituation

befindet, sondern es viele auf der Welt gibt, die Ihre Gedanken teilen. Ich helfe der Gründung von

Gemeinschaften, auch wenn es oft auf einer gedanklichen Basis verweilt, die aber mindestens

genauso wichtig ist, wie die eines persönlichen Kontaktes.

Aber nicht nur Menschen mit ähnlichen Erfahrungen führe ich zusammen – auch Menschen mit

ähnlichen Talenten, mit den gleichen Interessen, mit denselben Vorlieben. Ich lasse

Fangemeinschaften entstehen, in denen Menschen zusammenkommen und sich austauschen – die

Kirche ist in Bezug auf die Bibel nur eine der größten davon – „Twilight-Facebook–Kanäle“ oder „Herr

der Ringe-Theatergruppen“ sind weitere moderne Beispiele.

Nicht nur für den Alltag bin ich nützlich, sondern auch für den Intellekt. Nicht nur für

Anwendungstipps und das Tätig-sein kann man in mir Hilfe finden, sondern auch, wenn man nach

schönen Worten sucht. Sie werden überzeugender, wenn Sie viel lesen, erschließen sich einen

größeren Wortschatz, den Sie selbst anwenden können. Oft verhilft Sprachgewandtheit und ein

breiter Wortschatz viel wirkungsvoller zu einem Beruf, als eine gute Note im Mathematikabitur. Denn

vom ersten Satz an, formt das Wort beim Gegenüber ein Bild von Ihnen, das schwer später, durch

eine schön gezeichnete und anschließend integrierte Parabel, wieder stark verändert werden kann.

Ein Vorwurf, der mir auch häufig gemacht wird, ist meine fehlende Zeitlosigkeit.

Selbstverständlich muss ich zugeben, dass manche Dinge, die in meiner Sammlung stehen,

tatsächlich nur verstanden werden können, wenn man selbst Mitglied der zum

Erscheinungszeitpunkt lebenden Gesellschaft war. Es ist auch natürlich, dass einige Themen vielleicht

noch verstanden werden können, jedoch mit der Zeit das Interesse daran verloren geht, weil die

momentan geschehenden Dinge ganz andere sind und die Aktualität bereits nach kurzer Zeit verfällt.

Aber zum einen trifft dies nicht auf alle zu. Denn das Mindesthaltbarkeitsdatum meiner Werke liegt

in der Unendlichkeit. „Faust“ oder „Wilhelm Tell“ sind nur zwei Beispiele von Werken, die in jedem

Zeitalter ihren Sinn nicht verlieren werden. Zum anderen muss es auch für die Bücher, auf die es

zutrifft kein Nachteil sein – es interessiert viele, wie Menschen vor hundert, zweihundert, oder

dreihundert Jahren gelebt haben, wie sie dachten, und wie sie sprachen.- worin wird das schon

besser deutlich, als in literarischen Werken aus dieser Zeit?

Auch Shakespeare wird heute immer noch gespielt – und die Zuschauer lieben es heute wie vor 500

Jahren. Auch wenn vielleicht einige Witze anders verstanden werden, ist das doch genau das Schöne

daran – meine Werke verändern sich, ohne verändert zu werden. In jeder Epoche können sie neu

interpretiert werden und in jedem Zeitraum beeinflussen sie die Leser ganz unterschiedlich. Und das

geschieht nicht nur in Zeiträumen, in denen sich die Gesellschaft verändert, sondern auch in

Zeitabschnitten, in denen sich die einzelnen Personen verändern. Denn im Kindesalter versteht man

Worte, Sätze und ganze Erzählungen ganz anders als mit den wilden Gedanken eines Jugendlichen,

oder den Erfahrungen eines Erwachsenen oder Rentners im Hinterkopf.

Ich bin also beides: sowohl zeitgebunden als auch zeitlos.

Kurz und gut - ein Leben ohne mich wäre in keiner Epoche denkbar. Ohne mich könnte man sich

nicht selbstständig in andere Welten hineindenken. Ohne mich kann man sich nicht flüchten, an

einen selbstausgedachten Ort, für den man nur Gedankenansätze und keine anderen Vorgaben

bekommt – wie es bei Filmen unvermeidbar ist. Ohne mich könnte man nicht erfahren, was die

anderen denken und fühlen, außer wenn man sich persönlich mit ihnen unterhält - und hier trauen

Page 9: Über die Bedeutung der Literatur für das Leben · kostet, jedes Jahr meinen Sessel umbauen zu lassen, damit ich noch hineinpasse – da helfen auch alle ... oder „Kochen ohne

sich die Menschen viel weniger zu sagen, als beim Romaneschreiben dann tatsächlich ans Licht

kommt. Ohne mich wären in ganz Europa 32 000 Beschäftigte arbeitslos. Denn nicht nur Autoren sind

von mir abhängig, sondern auch die Arbeitsplätze von Lektoren, Verlegern, Layoutern, Graphikern,

Buchhändlern, Übersetzern, … . Wenn ich ehrlich bin, gäbe es ohne mich nicht nur diese

Arbeitsplätze nicht, sondern auch diese Welt überhaupt nicht – zumindest nicht so, wie Sie sie alle

kennen, so wie Sie diese tagtäglich erleben, denn ohne Literatur wären die besten Ideen in den

Köpfen der Individuen verstaubt und es wäre noch nicht einmal mehr der Buchdruck erfunden

worden, geschweige denn irgendwelche Roboter oder elektronischen Geräte.

Beenden möchte ich das Ganze mit einem Zitat von Ludwig Wittgenstein – wie schön ist es doch,

dass ich mein eigenes Repertoire immer wieder selbst verwenden kann – „Die Grenzen meiner

Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Denn ich als Literatur bin felsenfest davon überzeugt, dass

das Leben ohne mich keinen Spaß macht, und daneben reichlich an intellektuellem Niveau einbüßt.

Auch wenn ich einen ganz anderen Einfluss in das Leben ganz unterschiedlicher Menschen zu ganz

unterschiedlichen Epochen zu ganz unterschiedlichen Lebensabschnitten nehme, bin ich doch für alle

wichtig. Zum Glücklich machen, zum Bilden, zum Aufwecken, zur Horizonterweiterung - ich beinhalte

so unglaublich viel und kann nur abschließend sagen: nutzt mein Angebot, schnappt euch Literatur

und beobachtet, was sie mit euch macht.