Über regulierung der augenstellung durch den ohrapparat. ii. (weitere mitteilung.) schielen und...

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Dber Regulierung der Augenstellung durch den Ohr- apparat. II. (Weitere Mitteihng.) Schielen und Ohrapparat. Von Dr. 5/fartin Barrels in Strassburg i. Els. 1. Strabismus paralyticus nach Ohrerkrankung. In neuerer Zeit ist h~ufig Strabismus paralyticus infolge Augen- muskell~hmung nach Ohrerkrankung beschrieben worden. Die Physi01ogen hatten gelehrt, dass die Augen reflektorisch yore Ohr- apparat aus bewegt werden kSnnen. So kamen die Otiater dazu, der- artige Augenmuskellghmungen als reflektoriseh yore Ohr bedingt an znnehmen. Sie gingen znm Tell darin sehr weit~ es wird z. :B. ,eine reflektoriseh" bedingte AugenmuskelIghmung dutch einen Cerumen- pfropf besehrieben (Verdos). Am meisten aber interessierten die Augenmuskell~thmungen iln Gefolge einer Otitis media acuta. Gra- denigo 1) stellte ehl eigenes Krankheitsbild auf~ bekannt jetzt als ,Symptom de Gradenigo". Es ist charakterisiert durch eine akute, eitrige Mittelohrentziindung~ intensive S chmerzen in der Schl~fen- region nnd Parese oder Paralyse des gleiehzeitigen 5:[usculus late- ralis (Abducens). Die Krankheit pflegt nach Wochen oder Monaten zu heilen; in seltenen ]~gllen endigt sie mit dem Tode dutch ~[enin- girls. Dieses Gradenigosche Xrankheitsbild wurde yon allen Seiten bestittigt~ besonders in romauisehen Li~ndern; sehr zahlreiehe :Beobaeh- tungen sind dariiber verSffenflicht. Gradenigo selbst wie viele andere nehmen als Ursache der Abducensl~thmung eine circumscripte Menin- gitis an. Die Autoren~ welche an eine direkte Nervenl~sion glauben, fiihren diese entweder auf die ~{eningitis zuriick oder auf eine toxi- sche Neuritis. Zahlreiche andere Autoren~ wie Urbantschitsch , Ri- mini, @eronzi, Chierizi, ~Benoit, Alt u. A. halten mindestens a) Arch. f. Ohrenheilk. Bd. LXII. S. 255.

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Page 1: Über Regulierung der Augenstellung durch den Ohrapparat. II. (Weitere Mitteilung.) Schielen und Ohrapparat

Dber Regulierung der Augenstellung durch den Ohr- apparat. II.

( W e i t e r e M i t t e i h n g . )

S c h i e l e n u n d Ohrappara t .

Von

Dr. 5/fartin Bar re l s in Strassburg i. Els.

1. Strabismus paralyticus nach Ohrerkrankung.

In neuerer Zeit ist h~ufig Strabismus paralyticus infolge A u g e n - m u s k e l l ~ h m u n g nach O h r e r k r a n k u n g beschrieben worden. Die Physi01ogen hatten gelehrt, dass die Augen reflektorisch yore Ohr- apparat aus bewegt werden kSnnen. So kamen die Otiater dazu, der- artige Augenmuskellghmungen als r e f l e k t o r i s e h yore Ohr bedingt an znnehmen. Sie gingen znm Tell darin sehr weit~ es wird z. :B. ,eine reflektoriseh" bedingte AugenmuskelIghmung dutch einen Cerumen- pfropf besehrieben (Verdos). Am meisten aber interessierten die Augenmuskell~thmungen iln Gefolge einer Otitis media acuta. Gra- denigo 1) stellte ehl eigenes Krankheitsbild auf~ bekannt jetzt als , S y m p t o m de Graden igo" . Es ist charakterisiert durch eine aku te , e i t r ige Mi t t e loh ren tz i indung~ intensive S chmerzen in der Schl~fen- region nnd Parese oder P a r a l y s e des gleiehzeitigen 5:[usculus late- ralis (Abducens). Die Krankheit pflegt nach Wochen oder Monaten zu heilen; in seltenen ]~gllen endigt sie mit dem Tode dutch ~[enin- girls. Dieses Graden igosche Xrankheitsbild wurde yon allen Seiten bestittigt~ besonders in romauisehen Li~ndern; sehr zahlreiehe :Beobaeh- tungen sind dariiber verSffenflicht. G r a d e n i g o selbst wie viele andere nehmen als Ursache der Abducensl~thmung eine circumscripte Menin- gitis an. Die Autoren~ welche an eine direkte Nervenl~sion glauben, fiihren diese entweder auf die ~{eningitis zuriick oder auf eine toxi- sche Neuritis. Zahlreiche andere Autoren~ wie U r b a n t s c h i t s c h , Ri- mini , @eronzi , Chier iz i , ~Benoit, A l t u. A. halten mindestens

a) Arch. f. Ohrenheilk. Bd. LXII. S. 255.

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bei einem Tell der Fiille die Lghmung fiir reflektoriseh bedk~gt und zwm5 wie es meist heissg ,auf dem Wege des Deitersschml Kernes" (siehe dieses Arehiv Bd. L X X V I , S. 69). De LapersoIme*) retire eine ,reflektorisohe" Trochlearislghmung mit.

Wie sich eine so entstandene ,reflektorisohe Augenm~tskdlgb- mung ~ veto Ohr begriinden lgsst, dafiir bIeiben die Autoren den Nachweis sehuldig. Es wird yon ihren Verfeehtern einfa& auf die Physiologie hingewiesen. Anderseits wird diese noch gag nieht be- wiesen% sondern nur behauptete reflektorisehe Augenmuskellghmung sehon als feststehende Tatsaehe angenommen und zur Erklgrung phy- siologis&er Beobachmngen als Beweismaterial herangezogem So sttitzt sieh z. B. M a u p e t i t in seiner Erklgrung des kalorisehen Nystagmns auf die seiner Meinung naeh sieher beobaehtete reflektorisehe Abdu- eenslithmung naeh Otitis (siehe Bd. LXXVI. S. 42).

Bei dieser dunklen Saehlage scheint es mir nStig, sieh zungehst tiber die physiologisehen Nfiigliehkeiten einer solehen klar zu werden.

In der ersten Mitteilung (Bd. LXXVI , S. 1--97) habe ieh die bisher bekannten Beziehungen zwiseben Ohrapparat m~d Augenmus- kulatur zu er6rtern versueht. Dureh weitere Experimente (siehe Be- richt tier t~eidelbeNer ophthalmologis&en Gesellsehaft 1910) glaube ieh sdtdem festgestellt zu laaben, dass veto Ohr aus bei e r h a l t e n e n hSheren Bahnen tiberhaupt hie ein e inze tne r Mnskel alldi~ inner - vier t wird, sondern dass stets die Antagomsten gleiehzeitig in ihrem 5fuskeltonus veriindert werden; d. h. einer Kontraktion des einen NIuskels entsprieht stets eine Ersehlaffung des Antagonisten. Naeh diesen experimentellen Beobaehtungen w~tre also eine Liihmung eines e inze lnen Muskels veto Ohr aus tiberhaupt nieht mSglieh.

Die bei Otitis besehriebenen Abdueenslghmungen matspritehen einer Ersehlaffung des 5fuseulus tateralis. Eine isolierte Ersehlaffung eines Angenmnskels erhNt man veto Ohr aus aber bei kdner Ver- su&sanoNnung (die ausftihrliehe Publikation der Kurven, die dies be- weisen sollen, erfolgt spgter), nut eine fast isolierte Kontraktion ist mSglieh unter ganz bestimmten Umstiinden (ngmlieh naeh Aussehal- rang des Grosshirnes), die bier nieht in Betraeht kommeno

Aus diesen Griinden sehon erseheint die reflektorisdle Abdueens- Igkmung veto Ohr aus meht denkbar.

Wit kSnnen h6ehstmts noeh untersnehen, oh, Nlgemdner gesagg bei Otitis reflektorisch eine Augenstetlung erzeW werden kann, bei der sieh die Blieklinien nieht im ~xierpunkt sehneiden.

~) L'Eeho todd. du Nord. Nr. 229. 1901.

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tJ~ber Regulierung der Augenstellung durch den Ohrapparat. IL 533

So at]gemein gehalten ist die Frage wohl zu bejahen. Es fragt sich mlr, ob d a u e r n d e r Strabismus mSglich ist.

Jeder Ohrapparat hat auch beim Menschen die Neigung~ wie wit wissen, be ide A u g e n nach der G e g e n s e i t e zu drehen, alas be- n a e h b a r t e A u g e aber s t a r k e r wie das Auge der andern Seite. Bei Tauben hat dies E w a l d bewiesen, an Kaninchen habe ich dies, wie ich friiher erwEhnte, vielfach gesehen. Seitdem babe ich an Kanin- chen, die ich auf die versehiedenste Art narkotisierte, die 13eobaeh- tung wiederholt gemacht~ dass in einem bestimmten Narkosestadinm ein Auge w~.ba~end des Drehens fast allein Bewegungen zeigt (siehe Bd. LXXVI, S. 73). Dass beim Menschen veto Ohr arts sin Auge reflektorisch aaeh st~i.rker bewegt wird, sieht man zeitweise bei ver- se]hiedenen Reizanordnungen~ und dies zeigte besonders der mitgeteilte Kompressionsversuch (siehe Bd. L X X V I , S. 41). R e f l e k t o r i s e h w~ire also veto Ohr ~us D o p p e l t s e h e n bzw. die erwiihnte SchielStellung theoretisch denkbar. Wdcher Art w~re nun diese Stellungsanom~lie genauer? Wir mtissen dabei zwisehen t~eizung und L~hmung des Olarapparates unterseheiden. Bis ietzt ist eine st~rkere Bewegung des einen Auges und damit gewissermassen Sehielstellung nur bei l%ei- zung beobaehtet worden. Dabei wird das benaehbarte A~ge starker na& der Gegenseite gedreht als das entgegengesetzte. Wh ° h~tten da~m Verh~itnisse ~hnlieh wie bei einer A b d u e e n s t ~ h m u n g der- se lben Se i te (auf eine evenmelle gleiehzeitige Vertikaldivergenz komme ieh unten zurtiek), d . h. gleietmamige Doppelbilder mtissten auftreten. Aber n i ema l s ist es gelungen, d a u e r n d dutch Reizung des Ohrapparates solet~s Augenstellnng zu behalten. Derartige Stel- lungen dauerten nur Sektmden. 2vfit ihnen kSnnen wir deshalb die bei und naeh Ohrerkrankungen auftretenden Abducensl~hmungen nieht er]d~ren. Denn diese halten ja stets Wochen m~d Monate an. Welche Ersehdmmgen wiirden abet naeh Li~hmung eines Ohrapparates eir, treten ?

In diesem Falle miisste tier Einfluss des gesnnden Ohrapparates iiber'adegen and so wirken, Ms wenn er allein gereizt were.

Also wiirde das Auge der gesunden Seite mehr einwgrts gedreht sein, das Doppeltsehen entsprgehe dann in etwa dem, das bei A b d u - e e n s l g h m u n g der g e s u n d e n Seite auf~reten mtisste. Nine Abdueens- lghmnng der gesnnden Seite lag" abet bei den als reflektoriseh veto Ohr bedingten Augenmuskellghmtmgen, yon denen beriehtet wird, nieht ~or.

Uns fehlen bis jetzt alle Erfahrungen, dass die beiden eben er-

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53zi ~I. Bartels

wgSnten Augenstellungen bet Reizung oder Li~hmung sines Ohrappa~ rates bet Erwaehsenen mit binokularem Sehen and normaler Fusion bestehen k6nnten, hbehstens sehr fliiehtig w~re sis mgglieh. Denn diese vom Ohr reflektoriseh bedingten Augenstellungsanomalien wtirde bet normalen Mensehen die F u s i o n s t e n d e n z sofort korrigieren. Diese ist, wie ieh sehon frtiher hervorhob (siehe die erste Mitteilung), beim 5Iensehen bedeutend einflnssreieher wie der Ohrangenreflex.

Ieh babe bisher nm" horizontale Stellungsanomalien erw~ihnt. Wit wissen abet noeh nieht, ob nieht aueh beim Mensehen V e r t i k a l - d ive rgenzen yore Ohr aus, wenn anch nnr latent, reflektorisch entstehen k~nnten, also Hyperphor i e . Dariiber liegen, so viel ich weiss, noch gar keine Erfahrungen vor. Von Tieren mit seitli& s~ehenden Attgen wissen Mr ja (siehe Nap. I der ersten N2itteilung), welehe mSehtigen Vertikaldivergenzen ~*om Ohr aus eintreten. Bet Reizung sines Ohrapparates stetlt sieh das benaehbarte Auge naeh oben, das Auge der andern Seite naeh unten ein; naeh AussehaRnng eines Ohrapparates tritt die umgekehrte Augenstellung ein. Noeh bet Hunden mit zum. Tell gemehlsamem Gesiehtsfeld tritt diese Vertikal- divergenz anf. Bet Affen konnte ieh eimnal naeh Durehsehneidung eines Aeusticus in Narkose eine solehe Deviatio vertiealis beobaehten. Vom ~Iensehen ist dariiber bisher niehts bekannt geworden. Die ein- zige Beobaehtun N die ieh kenne, habe ieh an mir selbst wahrgenommen. !eh titt an einer heRigen, serSs h~morrhagisehen Otifis media. Eines Tages, w~hrend ich einen Patienten mit dem Augenspiegel tmter- snehte, senkte sieh die vor mir sitzende Person plStzlieh senkreeht nach uaten am ~[s re. Im ersten Augenbliek daehte ieh, der betreffende Patient versgnke im Zimmer aus einem mh ~ unerkliirliehen Grunde, deshalb versuehte ieh ihn sehnell festzuhalten, da hob er sieh aber schon wieder eben so senkrecht nach oben. Ieh rnerkte daran, dass ieh einer AugenmuskelstSrung nnd der damit verbundenen Sinnes- tguschung zum Opfer gefallen war. Irgendwelche Vor- oder Naeh- erseheinungen, abgesehen yon den gewShnliehen otitisehen Symptomen, bemerkte ieh an mir nieht. Der Vorgang ging so schnell vor sieh, dass der Patient gar niehts besonderes merk~e, sondern daehte, ieh set etwas ansgerutseht. Ob beide Augen bewegt wurden, konnte ich leider nicht feststellen, erstens wegen tier Sehnelligkeit des Vorganges und dann, weil ieh beim Augenspiegeln ein Auge bedeckt hatte. Jeden- fails bin ieh geneigt, da andere Krankheiten fehlten, diese ,~ertikale Augenbewegmag auf einen Reflex vom Ohrapparat zurttckzufiihren, der dutch die 0titis ausgelgst wurde. Es wgre damit wahrseheinlich

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gemacht~ d~ss vertik~Ie Augenbewegungen dt~ch solche Ohrerkr~nkungen insceniert werden kSnnten. Diese Frage miisste erstens experimenLell an Affen (damit bin ich besch~Lftigt) und zweitens an Menschen sm- diert werden. Man miisste Ohrerkrafikte systematiseh ~uf H3Sperphorie mit Maddoxst~behen und -Sk~la priffen. Denn auch solche eventuell yore 0hr ausgelSste VertikMdivergenzen wtirden nieht mgnifest bleiben~ sondern wie die horizontalen Deviationen dttrch die Fusionskraft tiber- wnnden werden, so dass kein Strabismus deorsum oder snrsum ver- gens agtreten kS~mte.

Dutch die bisherigen Uberlegungen stellten wir somit lest, dass S t rgb i smus p g r a l y t i e u s n~eh O h r e r k r a n k u n g n i ch t r e f l ek - tor i sch yore Ohr ~ns ausgelSst werden kann.

~Vir kommen damit ~uf einem andern -Wege zu einem ~hnliehen Resultate, wie es B a I d e n w e e k 1) in einer vorztigtiehen Arbeit klar- gelegt hat. Naeh ihm sind diese Augenmuskell~thmungen organiseh bedingt dur& direkte Nervenlgsion. Gelegenheit dazu ist ig bei Otitis vielfaeh gegeben.

Wit wissen, dass die PaukenhShle dureh pnetunatisehe Zellen Verbfildungen mit der Felsenbehlpyramidenspitze hat. Auf diesem Wege kSnnen sieh Entzihldungen leieht bis hierhin fortpflanzen and ehne Ostitis der Spitze erzengen. Die weitere :Folge ist dann eine cireumseripte Meningitis dieser Stelle und damit eine neuritis&e Ent- zi~ndung der bier vorbeiziehenden Nerven. Ausser dutch diese Luft- zellen bestehen aueh Oelegenheiten zur Fortpflanzung der Infektion in den Lymphbahnen, welehe die feinen Nerven und Gefgsse tier PankenhShle in die SehgdelhShle begleiten. Vom Labyrinth aus k6nnen ansserdem die IIirnhSute dutch den Meatus aeustieus und dutch die Aqui~dukte angegriffen werden. Jede Labyrinthitis ist ja gewisser- m.~ssen sgon eine lokalisierte Meningitis. Nun liegen, mit Ausnahme des Opt~us, alle Nerven in m~mittelb~rer Nachbarsehaft der knScher- hen GehSrkapsel. Der Abducens liegt ihr am l~tngsten und innigsten an, ngmlieh da, wo er nm den inneren Tell des oberen Randes der Pyramide sieh biegt. Es w~re wunderbar, wenn er bei Otitis und naeh- fo][gender Ostitis der Pyramidenspitze gelegentlieh nieht mit ergriffen wiirde. Wir brauehen also bei einer etwaigen Abdueenslghmung wirk- tieh nieht die reflektorisehe Beziehung zwisehen Augenmuskeln und Ohr heranzuziehen. Die anatomisehen Verhi~ltuisse erkl~ren etwaige Lghmungen dutch direkte Nervenerkrankung am ungezwungenstem Der Troehlearis ist der Felsenbeinpyramidenspitze ebenfalls nahe. Es

~) Annal. d'ocul. T. CXXXIX. p. 246.

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s/rid auch~ wie ich erw~hnte, otitische L~hmungen dieses Nerven be- schrieben worden, und es fragt sieh, ob sich nicht manche der soge- nannten Abducensl~hmungen bei genauerer Priifung als Trochlearis- l~hmungen herausgestellt h~tten.

Merkwiirdig ].st mir naeh Durchsieht der Literamr, dass hi Deuts&- laud gegeniiber den romaaisehen L~ndern verh~ltnismgssig so wenig AugenmuskellNlmangen nach Otitis beobachtet sind. Unter dem ge- wM~igen MateriM der Universi~tsohrenklinik in Strassburg babe ich nur eh~e v0riibergehende ~&bdueensparese nach Otitis media gefmlden. Der ~all war 2bet kompliziert dutch extraduralen Abscess mit Stau- ungspapille usw., er kaim deshalb eigentlich nicht zum ,,Symptom de Gradenigo" gereehnet werden. Dabei kSnnen sol&e L~hmungen wegen des stSrenden D0ppeltsehens nicht unbemerkt bleiben. Woran das ge- ringere Vorkommen in DeutsehIand liegt, ist unklar; vielleicht spielen frtihzeitige Paracentese oder Untersclfiede im ~natomischml Bau eine Rolle. Anhangsweise mgchte ieh bier noch einen yon S a c h s x) beschrie- benen ]~'M1 yon S t rab i smus eonvergens bei be ide r se i t ige r la te- ra le r Bl ickt? thmung erw~ihnen. Der ~:kumr beobachtete ein Mad- chert, bei dem naeh Otitis eine Nstei im linken horizontatell Bogen- gang festgesteltt wurde. Die Patientin lift an einer beiderseNgen Bliek- 15hmung mad Neigmlg zu Strabismus convergens; letzterer stellte si& ein bei dem Versuche seitlich zu sehen. Sachs f~ihr~ die Btickl~h- mung auf die Ohrerkrankung zurtiek. Den Strabismus conveNens er- klgrt er folgendenn~ssen: Um ttberhattpt seitlich sehen zu kSm~en, babe die Patient in konvergiert. Das konnte si% da die Konvergenz- bewegung die einzige Augenbewegung sei, die ganz yore Ohrapparat unabh~ngig sei.

Mir schemt es nach unsern bisherigen Kenntnissen ni&t mSg- lich, dureh eine Nstel in einem horizont~Ien Bogengang eine beider- seitige Blicklghmung zu erklgren. ~lan mS&re vermuten, dass hier zentrale nervSse StSrtmgen mitspielten~ z. B. Lgsionen der Brtieke. Jedenfalls scheh~t mir der Pall m a t zu reflektorischem Sgielen d u r g den Ohrapparat zu gehSren.

2. S trab i smus c o n c o m i t a n s und Ohrapparat.

Oben hatte ich auseinandergesetzt, dass etwaige yore Ohr bedingte reflektorische Augenstellungsanomatien dttrch die viel mgehtigere Fu- sionstendenz iiberwunden w/irden. Es lag aber nahe, nachdem der ge-

~) Wiener reed. Wochenschr. Nr. 21. 1904.

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l%er Regulierung der Augenstellung dutch den 0hrapparat. II, 537

waltige Ei1~uss tier Ot~apparate auf die Augemnuskdn feststand, dar~n zu denken, ob nicht D e f e k t e des O h r a p p a r a t e s vor A u f - t r e t en oder uach Ver lus t der F u s i o n reflektorisch Sohielstdlung bedingml kSnnten.

Den Begriff des Ohrapparates wollen wir dabd welter fassen. ~Vir verstehen bier darunter das periphere Sinnesorgan saint den ner- v~sen B~hnen bis zu den Angenmuskelkemen, wie iel~ sie in ~ig. 5 (13d. L X X ¥ I , S. 69) darzustellen versucht babe.

Lgsionen irgendeiner SteIle dieses ganzen Apparates rufen, wie wit wissen, die mehrfaeh erwiihnten Augenstellungsmmmalien (seitliehe und bei Tieren vertikale) hervor, und zwar des benaehbarten Auges st~irker wie des Auges der andern Seite (siehe Fig. 6, Bd. IJXXVI, S. 73). Dabei ist die Beweglichkeit yon den hSheren Zentren (z. ]3. yon der Hirnrinde)ungest~rt. Es kSnnte sich a.lso theoretis~h Strabis- mus eonvergens eoneomitans einstelten.

Vielleieht lassen sich so dureh Defekte im Ohrapparat ]?~ille yon Strabismus erkl~ren, deren Entstehung bisher dunkel war.

Es steht wohl fest, dass der angeboren e oder friihzeitig erworbene Slkmbismus convergens weder dnheiflich noeh fiir alle Fiille erschSp- fend zm:zeit dttrch die bisherigen Theorien erkl~rt ist (vgl. z. 13. B i d - schowsky~ SchieIen, Beilageheft znr mediz. Klinik). Nicht Mle F~lle mit mangelnder Fusion sehielen. Es muss, wie man zu sagen pflegt, ein ,,GMehgewichtsdefekt" anatomischer oder nervSser Art hinzutreten. Einseitige /leizung eines Ohrapparates vermag sogar beim Erwach- senen, wenn die Fusion ausgesehlossen ist, die Augen hi SeNdstellung zu bringen, das beweisg der erwiihnte Kompressionsversueh (Bd. L X X ¥ I , S. 41). Nun ist dieser Ohrapparat naeh meinen Vntersuehungen bei Friihgebnrten (siehe 13d. L X X V I , S. 3¢ u. 35) der erste nervSse Augenstdlungsregulator. Sehon im embryonalen Stadium (Ende des 5. UterJnmonats) wird die Augenstellung dur& ihn reflektorisch beein- flusst; also zu einer Zeit, wo die spi~teren nervSsen Eiilfliisse, wie Fixationsbestreben und Fusion, noch gar nicht in Betraeht kommen.

Deshalb kSnnte~ Defekte im Ohrapparat die Augen voi1 S~iug- lingen zm" S&ielstellmlg neigen lassen und so vielleieht die Ausbil- duag der norm~len Fusion erschweren oder verhindern. B d dem iiber- ragenden Einfluss der Fusion seheint mir aber dieser Fall meht so wahrscheinlieh wie die folgende MSgliehkeit.

Wenn n~mlich D e f e k t e im O h r a p p a r a t und m a n g e l n d e F u - sion bei einem Individuum zu_sammentreffen, so sind die Bedingungen zum Sehielen am ehesten gegeben. In diesem Fall wird also zun~chst der

v, Graefe's Archly f~r Ophthalmol~gi~. LXXVn. 3. ~

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538 M. Barrels

Defekt im Ohrapparat bei so~st vSllig el'haIte~er willktirticher ~eweg- i.ichkeit eine Schietsteliung beg~hlstigem Entwickelt sich d~mn die Fu- sion bei dem Kinde nicht odor nicht ~ormaI stark, so w~irde die Stethmgsanomalie nicht durch die Fusionstendenz korrigiert, well ihr ~]bergewicht fehlt. Ein Auge wiirde dauemd abweichen im stete~ Verhi~ltnis zmn andern und Strabismus coi~vergens coneomitaas bliebe.

Nach W o r t h hat das FusionsvermSgen normalerweise vor Ab- lauf des 6. Jahres seine volle Entwicklung erreicht. Im~erhalb dieser verhM~nism~issig la~gea Zeit kSnnte also schon ~ormalerweise ein Kampf z~ischen mlgleichm~ssigen Impulsen des 0hrapparates m~cl

der Fusionstendenz stattflnden. Dieser Kampf wiirde bei maugelnder [~usio~ in dem oben skizzierten Sinne mlsfallen.

Es kSnnte, wenn anfitnglich eine no~:nnale Fusion eine yore Ohr- apparat stammende falsche Augenstellung korrigiert h~tte, diese falsche Stellung manifest werden, wem~ die Fusio~l aus irgendeinem Grunde wieder erlSsche. Bis zu welehem Lebensalter sich dieser Einfluss no& geltend maehen kSnnt% mtissten erst genaue Naehforsehungen lehren.

Die theoretisehe Grundlage far die Entstehung eines Teiles der Schielf:£11e dutch Defekte im Ohrangenapparat schien mir danach vof handen z~ sein.

Aus diesen Erw~gungen heraus habe ich versucht, eine Anzaht Kinder mit Strabismus eonvergens concomitans auf ihre Ohraugen- bewegungen bin zu untersuehen.

Das ist nun sehr schwer. Denn wit besitzen, wie ich fNher her- vorhob (siehe Bd. LXXVt , S. 52), keine absoiut sicheren Mittel, welt zuriickliegende Defekte der Beeinflussung des Ohrapparates auf das :-kuge nachz-aweisen. Einige Untersuchungsme~hoden konnte ich aus leicht erklgrliehen Griinden nicht anwenden, z. B. konnte ich del~ Schielkindern nicht beide Ohren ausspritze~, um die thermische Reak- ~ion der Vestibuiarapparat, e festzustetlen. Die Prafung mit dem B~- r£nysehen Gegenrollungsapparat erwies si& besonders bei Ki~dern als viol zu komptiziert, ausserdem bedingt meines Erachtens die wech- selnde Fixation des zu nab angebrachte~a iFixierknSpfchens ~'ehler- quellen, auf die ich hier nieht n~her eingehen will. Es blieb mir nut die Pr~Nng aaf Drehnystagmus, dazv~ sta~d mir eine grosse Dreh- scheibe im hiesigen physiologischen Institut zur Verftigung.

Ich untersnchte 30 Kinder; und zwa.r beohac~ete ich die Zahl der Zuckm~gen wi~hrend des Drehet~s um einen bestimmten \Vi~tkel- ~ad (z. B. ~5 odor 90 °) und beim Nach~ystagmus nach mehrmaligem

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Uber Regulierung der Augensteltung dutch den 0hrapparat. II. 539

Drehen. ~Venl, es mSglich war, untersuehte ieh mit and ohne Brille 1) (siehe Bd. L X X V ! , S. 31).

Drei yon den nntersuchten Kindern hatten einmal eine Otitis gehabt, aber als sie sehon sehielten; bet den tibrigen war yon Ohr- erkrankungen niehts bekmmt.

Das Resultat meiner Untersuehungen ist i~a folgender Tabelle zusammeugestelit:

Untersu&ungen an 30 Fallen mit Strabismus convergens (17 reehts, 9 links, 4 alternierend) (16 miinnlieh, 14 weiblieh).

StSrungen des Drehnystagmus bet 15 = 500/0 (5 m., 10 W.)o Ausf~I1 nach der Schielaugenseite bet 13 = 86,6°/o. Ansfall nach der t~ixieraugenseite bet 2 ~--- 13,3°]o.

Normaler Nystagmus St~rungen des Nystagmus

Schielwinkel 22 o 27,5 o Hypermetropiegrad -[- 5,15 + 3,80 Es litton an Hypermetropie 100% 90% ,, ,, ,, Amblyopie 60% 800/0

Auff~llig erscheint zun~iehst an di'esem Resultat, dass 50 °/o der untersuehten Schielkinder StSrungen im Drehnystagmus au/wiesen. Und zwar ist mir dies deswegen auffi~llig', well ieh vorerst noeh nieht glauben mug, da~s wit einen so grossen Toil des Strabismus mit dureh Defekte ira Ohrapparat erkl~.ren sollen. Ausserdem ist die Zahl der nntersachten F~.lle ~iel zu klein, tun die Fr~ge zu entseheiden. Die Untersuchungen sb~d aber zeitraubend und sc.h~derig bet den Kindern (and Eltern!), so dass man erst langsam grSssere Zahlen gewinnen kann. Deshalb habe ieh gueh die VerSffentlichung der Einzelheiten, wie Alter, Astigmatismus nsw. auf eine sp5tere Zeit verschoben. Dureh diese Yer5ffentlichung mSchte ich ia nut die Frage zur Diskussion

stdlen.

J) Dass diese Brille praktisch die Fixation aufhebt and so Defekte des Ohr- apparates, die ohne BriBe nieht erkennbar stud, wieder erseheinen l~sst, konnte ieh noeh Mirzlich an einem Fall deutlieh zeigen.

Ein Patient hatte naeh einem Schuss in das Ohr Spontannystagmus naeb ether Seite bekommen. Nach einiger Zeit sehwand der Nystagmus beim Btiek gradeaus. Setzte ieh abet dem Patienten die Brille auf, so sah man sofort sehr sehSn den Spontannystagmus wieder auftreten. Er erschien doch wohl nur deswegen wieder, weil Fixation und Fusion unmOglieh gemaeht waren. Ieh erw~hne dies hier, well naeh tier Demonstration meiner BriBe anf der Ver~ammluDg der stid- westdeutsehen Neurologen in Baden-Baden, Mat 1910, B~rgny in der Diskus- sion bezweifelte, dass durch die Konvexgl~tser der Brille die Fixation genfigend au~geschaitet w~trde.

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560 hi. Bartels~ [-berRegulierung der A~gensteilung dutch den Ohrapparat. H+

In der Tabelle is+ abet fen+er schon bemerkenswert+~ dass bei den F~ttlen mit St~rungen im normalen ~Tysta,gmus der Sch i s lwinke l g rasse r und die R e f r a k t i o n s a n o m a l i e ge r inge r ist wie bei den ttbrigen Schislkindern, Auch dis Amb]yopie war bei den ersten h~u- tiger. Oerade bei diesen Kindern mit Ohrapparatdefekten und Am- blyopie musste ia hash den friiheren Ausftthrm~gen~ da ihnsn die Fusion fehlt~ sine Stellungsanom+/Ee um so Ieichter atgt+ret+en und dsmernd sich zei~en.

Wie erwghnt~ mttssen meine l%sultate nachgeprttft werden an einem grSsseren 1Katerial~ das ist der Zweek dieser Skizze. Bssonders wertv011 w~re e% Kinder yon Eltern, die sehislen, in sinem sehr frtthen Lebensstadium zu untersuehen, in einem Stadium~ in dem die Fusion noeh n~cht ~drkt. Wir wisssn~ welehe grosse Rolle die Heredit~it beim Schielen spielt. Sind nun, wis ice annehm% einige F~ille yon Strabis- mus auf Defek~e im Ohraugenapparat zur+iekzufiihren~ so miisste man dies an Siiuglingen, die derartigs ererbte Defekte haben, aln besten na.chweisen kiSnnen.

Theoretische Erw~igm~gen~ die auf die Physiologie sich sttttzen, nnd praktische Untersuchungen an Schielkindern sPrechen fiir die ~Vahrscheinlichkeit, dass StiSrungen in den retiektorischeu Beziehungen zwisehen Ohr und Augenmuskulatur bei Entstehung des J~egleitschielens mitwirken. Ja wenn wir den gewaltigen Einfluss des Ohrapparates mtf diese MushIatur beriicksichtigelt, wenn wir uns ferner vergegen- w.~rtigen, class dieser Apparat in so friiher Lebenszeit bei jsdem Men- schen ale shlziger nervSser Angenregulator wirkt~ so ware es mehles Erachtens fast wunderbar, wenn Defekte in diesem Mechanismus ant die Entstehnng einer Stellungsanomalie, d. h. wie der des Sehielens, gar keinsn Einfluss haben sollt~n. Man liest~ wie erwghnt, yon ,,mo- torischer KoordinationsstSrung ~ oder yon ,,Defekten des motorisehen Apparates", die zur FusionsstSrnng hinzukommen mtissten, um die Entstehung des Schielens zn erklgren. Ftir diese etwas unkiaren Be- griffe kiJnnen wir vielleicht in einigen F~llen S tSrungen im Ohr- a u g e n a p p a r a t einsetzen.