vicente blasco ibáñez: schilf und schlamm
DESCRIPTION
Valencia, Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Lagune südlich der Stadt, die Albufera, wird zum Reisanbaugebiet. Fischer der Seeinsel El Palmar sehen ihre Existenz bedroht und wenden sich gegen die aufkommende Landwirtschaft. Die Interessenskonflikte spalten die Familie eines alten Fischers, Tío …TRANSCRIPT
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Das 19. Jahrhundert geht zu Ende; wirtschaftlicher und sozialer
Wandel erfassen auch die Iberische Halbinsel.
In der Albufera, einer großen, von unterirdischen Quellen gespeis-
ten Lagune südlich der Stadt Valencia, haben die meisten Bewoh-
ner einer Seeinsel, El Palmar, bisher ihr Leben als Fischer, Jagd-
helfer und Wilderer gefristet. Aber nun beginnen viele, dort neue
Reisfelder anzulegen – zum Ärger derer, die ihre gewohnte Le-
bensweise bedroht sehen. Dieser Konflikt zieht sich quer durch
die Generationen der Familie des alten Paloma. Sein leichtlebiger
Enkel, Tonet, zieht daraus persönlichen Nutzen, um so dem harten
Leben auf der Insel immer wieder zu entkommen.
Derweil erzählen die Leute von El Palmar einander noch immer
die Legende von einem Jungen, der Freundschaft mit einer klei-
nen Schlange geschlossen hat, die ihn spielerisch umschlingt und
liebkost. Der Junge wird in der Fremde erwachsen, kehrt in die
Heimat zurück und ruft nach seiner Spielgefährtin. Aber auch die
Schlange ist nicht mehr so klein wie einst ...
Vicente Blasco Ibáñez wurde am 29. 1. 1867 in Valencia als ältes-
tes von zwei Kindern einer aus Aragón stammenden Händlerfami-
lie geboren. 1882 begann er auf Wunsch seiner Eltern ein Jurastu-
dium, aber seine Liebe gehörte seit seiner Kindheit der Literatur.
Politisch prägte ihn der Kontakt mit progressiven Persönlichkei-
ten während des Studiums; zur Berufung als Schriftsteller fand er
1883/1884 durch ein mehrmonatiges Zusammensein mit dem fast
blinden Autor Manuel Fernández y González in Madrid, für den
er als Sekretär arbeitete.
Er lebte während einer der schwierigsten und konfliktreichsten
Epochen Spaniens, in der der Staat innenpolitisch fortwährend er-
schüttert war durch Bürgerkriege um die Thronfolge, durch die
Proklamation der Ersten Republik (1873-1874), durch die Wie-
dererrichtung der Monarchie, durch separatistische und sogar
anarchistische Bestrebungen – Krisen, die 1923 zum Staatsstreich
und zu einer 7 Jahre währenden Diktatur Primo de Riveras führ-
ten. Als größte außenpolitische Krise kam eine kriegerische Aus-
einandersetzung mit den USA (1898) hinzu, nachdem diese mit
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Erfolg Unabhängigkeitsbestrebungen in Kuba und auf den Philip-
pinen gefördert hatten. Der Friedensvertrag von Paris (1898) be-
siegelte dann das Ende des spanischen Weltreichs. Blasco Ibañez
stand auf der Seite innerspanischer Protestbewegungen, die sich
gegen die von Anbeginn erfolglosen Kolonialkriege des Staates
richteten.
Als Kirchenfeind und Anhänger der republikanischen Staatsform,
für die er besonders in seiner Zeitung El Pueblo (gegründet 1895)
kämpferisch eintrat, wurde er mehrere Male verhaftet und verur-
teilt. Als Abgeordneter der Republikanischen Partei wirkte er von
1898 bis 1907, aber weder die institutionelle Politik noch seine
Familie – eine Frau und vier Kinder –, noch sein Heimatland
selbst konnten ihn dauerhaft an Spanien binden. Ein Versuch, in
Argentinien zwei spanische Kolonien zu gründen und so seinen
zwei Söhnen Ansehen und Einkünfte zu verschaffen, scheiterte
1914 wirtschaftlich. Danach zog es ihn, wenige Monate vor Aus-
bruch des Ersten Weltkrieges, nach Paris, wo er Jahre zuvor wäh-
rend eines politischen Exils (1890/1891) Freundschaft mit Emile
Zola geschlossen hatte. 1916 veröffentlichte er in Paris seinen un-
ter dem Eindruck des Kriegsausbruchs entstandenen Roman Los
cuatro Jinetes del Apocalipsis (die vier apokalyptischen Reiter);
das Werk war später, nach einer Vortragsreise des Autors durch
die USA und nach seiner Verfilmung (1921), vorübergehend das
dort meistgelesene Buch nach der Bibel. Der Nobelpreis wie auch
die Mitgliedschaft in der Real Academia Española blieben ihm
wegen seines Engagements gegen den spanischen König Alfonso
XIII. aufgrund staatlicher Einflussnahme versagt.
In seinen letzten Lebensjahren unternahm er weite Reisen mit sei-
ner Lebensgefährtin und späteren zweiten Frau, Elena Ortúzar.
Zusammen mit ihr nahm er Wohnsitz in den französischen Seeal-
pen, Menton. Dort starb er am 28. 1. 1928 im Alter von 61 Jahren.
Sein schriftstellerisches Werk umfasst weit über 100 Romane und
Erzählungen; mehrere seiner Arbeiten wurden verfilmt. Blasco
Ibáñez gilt als letzter großer Autor des Realismus des 19. Jahr-
hunderts.
Sein früherer Wohnsitz in Valencia, Playa de Malvarrosa, ist heute
ein ihm gewidmetes Museum.
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1 - See und Schlange
Wie jeden Nachmittag verkündete das Postschiff seine Ankunft in
El Palmar mit einigen Stößen der Schiffssirene.
Der Schiffer, ein dürres Männlein, dem eine Ohrmuschel ampu-
tiert war, fuhr von Tür zu Tür, um Aufträge für Valencia anzu-
nehmen, und wenn er zu den Häuserlücken der einzigen Straße
des Dorfes kam, ließ er abermals das Horn tönen, um den am Ufer
des Kanals verstreuten Katen1 seine Gegenwart kundzutun. Eine
Schar schmutziger, fast nackter Kinder folgte dem Schiffer in ge-
wisser Ehrfurcht. Respekt flößte ihnen dieser Mann ein, der die
Albufera viermal täglich durchquerte, um die besten Fischfänge
des Sees nach Valencia mitzunehmen und von dort tausend Dinge
aus einer Stadt mitzubringen, die den auf einer Insel aus Schilf
und Schlamm aufwachsenden Kleinen geheimnisvoll und traum-
haft erschien.
Aus der Taverne von Cañamèl, dem wichtigsten Haus auf El
Palmar, kam eine Gruppe von Schnittern, Säcke auf den Schultern,
und strebte zum Schiff, um in ihre Heimat zu fahren. Frauen
drängten zum Kanal, der einer venezianischen Straße glich und
dessen Ufer gesäumt waren von Katen und Fischbecken, in denen
die Fischer ihre Aale hüteten.
Im toten, zinnfarben glänzenden Wasser lag das Postschiff still –
ein großer, mit Menschen und Gepäck beladener Sarg, sein Bord–
rand fast am Wasserspiegel. Das mit dunklen Flicken besetzte
Focksegel krönte ein verblichener Lappen, der zu früheren Zeiten
eine spanische Flagge gewesen war und der die öffentliche Eigen-
schaft des alten Bootes anzeigte.
Ein unerträglicher Gestank wogte um das Schiff. Seine Planken
hatten sich vollgesogen mit den Ausdünstungen der Aalkörbe und
dem Schmutz hunderter Fahrgäste – ein ekelerregendes Gemisch
aus schmieriger Haut und Schuppen im Schlamm aufgewachsener
1 La barraca (kastilisch, dt.: die Kate) war zur damaligen Zeit die gängige Bauform bei den Fischern der
Albufera und auch – als Bauernkate – bei den Gartenleuten des valenzianischen Gartenlandes (la huerta).
Typisch sind die niedrigen Seitenwände des Hauses und das steil aufragende, mit Schilfrohr oder Reis-
stroh gedeckte und an beiden Firstenden mit einem Holzkreuz verzierte Satteldach. Es gab unter den
Fischerkaten auch gewölbte Dachformen; sie sind jedoch kaum noch zu finden.
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Fische, schmutzigen Füßen und verschwitzter Kleidung, die nach
und nach die Sitze des Schiffs blank gewetzt hatte.
Die Fahrgäste, hauptsächlich Schnitter aus El Perelló, der am
Meer gelegenen Außengrenze der Albufera, schrien zum Schiffer
hin, er möchte schnellstens abfahren. Das Schiff war schon voll!
Mehr Leute passten nicht hinein!
So war es – aber der dürre Mann wandte ihnen den unförmigen
Stumpf seiner abgetrennten Ohrmuschel zu, als wollte er nicht auf
sie hören, und verteilte langsam auf dem Boot die Körbe und Sä-
cke, die ihm die Frauen vom Ufer her zureichten. Jeder der Ge-
genstände weckte neuen Unwillen – die Fahrgäste drängten zu-
sammen oder wechselten den Platz, und die, die aus El Palmar
hinzukamen, ertrugen in christlicher Bedachtsamkeit die Flut von
Schimpfworten derer, die bereits dort saßen. Ein wenig Geduld!
Im Himmel würden sie noch genug Platz finden!
Das Schiff sank nieder beim Aufnehmen all dieser Last, ohne dass
der an tollkühne Fahrten gewohnte Schiffer die leiseste Unruhe
zeigte. Kein einziger Platz war mehr frei. Zwei Männer hielten
sich aufrecht beim Großsegel, am Mast festgeklammert; ein ande-
rer hatte sich wie eine Galionsfigur auf der Bugspitze niedergelas-
sen. Noch immer blies der Schiffer gleichmütig, umwogt vom all-
gemeinen Protest, seine Schiffssirene ... Christus! Hatte der Erz-
gauner noch immer nicht genug? Sollten sie hier den ganzen
Nachmittag unter der Septembersonne verbringen, die ihnen auf
den Flanken schmerzte, den Rücken röstete?
Plötzlich wurde es still, und die Leute auf dem Postboot sahen am
Ufer des Kanals einen Mann daherkommen, der von zwei Frauen
gestützt wurde – ein weißes, zitterndes Gespenst mit fieberglän-
zenden Augen, das in ein Betttuch gehüllt war. Das Wasser schien
unter der Hitze dieses Nachmittags zu kochen; alle auf dem Schiff
schwitzten und versuchten, der klebrigen Tuchfühlung ihrer
Nachbarn zu entkommen, und dieser Mann zitterte, klapperte mit
den Zähnen in schaurigem Schüttelfrost, als sei die Welt für ihn in
ewiger Nacht versunken. Die Frauen, die ihn stützten, begehrten
mit groben Worten auf, als sie sahen, dass alle im Schiff sitzen
blieben. Man musste ihm einen Platz lassen – er war ein Kranker,
ein Arbeiter. Bei der Reisernte hatte ihn das Fieber, das verfluchte
Sumpffieber der Albufera, erwischt, und nun wollte er nach
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Ruzafa2, um sich im Hause von Verwandten auszukurieren. Gab
es vielleicht keine Christenmenschen? Barmherzigkeit! Einen
Sitzplatz!
Und das im Fieber zitternde Gespenst wiederholte wie ein Echo,
schluchzend im Schüttelfrost:
„¡Per caritat!3 ¡Per caritat!“
Er schob sich mit Ellbogenstößen hinein, ohne dass die selbst-
süchtige Menge ihm Raum gab, glitt zwischen die Beine der
Fahrgäste, legte sich auf dem Boden nieder, das Gesicht auf
schmutzige Leinenpantoletten, auf lehmbedeckte Schuhe ge-
schmiegt – eine ekelerregende Umgebung. Die Leute schienen an
derartige Begebenheiten gewohnt. Dieses Schiff diente allem – es
war Transportmittel für Nahrung, für das Hospital und für den
Friedhof. Täglich beförderte es Kranke, brachte sie zum Armen-
viertel von Ruzafa, wo die Bewohner von El Palmar mangels
Medikamenten ein paar elende Zimmer gemietet hatten, um dort
ihre Fieberanfälle zu kurieren. Starb ein Armer, der kein eigenes
Schiff besaß, schob man den Sarg unter die Sitzbank des Kurier-
schiffs, und das Boot begab sich auf Fahrt mit den gleichen teil-
nahmslosen Reisenden, die lachten, miteinander sprachen und mit
den Füßen gegen die Leichenkiste schlugen.
Nachdem sich der Kranke hineingezwängt hatte, erhob sich aber-
mals Unmut. Worauf wartete der Einohrige? Fehlte immer noch
wer? ... Und fast alle Fahrgäste empfingen mit Gelächter ein Paar,
das aus der Tür von Cañamèls Taverne kam, die direkt am Kanal
lag.
„Tío4 Paco!“, riefen viele. „Tío Paco Cañamèl!“
Der Besitzer der Taverne, ein gewaltiges Mannsbild, aufgedunsen,
mit wassersüchtigem Leib, bewegte sich in kleinen Sprüngen,
klagte über jedem Schritt mit kindlichem Seufzen, stützte sich auf
2 Damals ein Armenviertel südlich Valencias, heute Teil der Stadt.
3 Um der Barmherzigkeit willen! (kastilisch: ¡Por caridad!).
4 Das Wort tío beschreibt kurz und liebevoll – im Valenzianischen wie im Kastilischen – eine Gruppenzu-
gehörigkeit, ähnlich dem australischen mate; seine Bedeutung liegt also irgendwo zwischen Kollege und
Kumpel. Mit dem Namenszusatz tío wollte man den Angesprochenen auch von der Oberschicht (Fürsten,
Geistliche, Grundherrn, Amts- und Mandatsträger etc.) abgrenzen, denen die Anrede don vorbehalten war.
Unzutreffend wäre in derartigem Kontext eine Übersetzung des Wortes tío mit der Verwandtschaftsbe-
zeichnung Onkel oder dem deklassierenden Ausdruck Kerl. Das deutsche Wort Gevatter träfe am ehesten
zu, ist jedoch zu stark veraltet. Auf eine Übersetzung des Wortes tío wird deshalb hier und nachfolgend
verzichtet.
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seine Frau, Neleta, diese zierlich, mit rotem, wirren Haar und
grünen, lebhaften Augen, die ihn wie zarter Samt zu liebkosen
schienen. Der berühmte Cañamèl! Immer krank und klagend,
während seine Frau, stets schöner und liebenswerter, von ihrer
Theke aus über El Palmar und die Albufera herrschte. Ihn plagte
die Krankheit des Wohlhabenden: der Überfluss an Geld und
übertriebenes Wohlleben. Man brauchte nur seinen Bauch anzu-
sehen, das rot glänzende Gesicht, die Wangen, die seine kleine,
runde Nase fast verbargen und seine von Fettwülsten verdeckten
Augen. Wie solche Leute über ihre Krankheit klagten! Müsste er,
bis zur Hüfte im Wasser, mit der Reisernte seinen Lebensunterhalt
verdienen, käme es ihm nicht in den Sinn, krank zu sein!
Und Cañamèl streckte mühselig ein Bein ins Boot, mit schwäch-
lichem Klagen, ohne Neleta loszulassen, wobei er über die Leute
murrte, die sich über seine Krankheit lustig machten. Er wusste,
wie es um ihn stand! Oh Herr! Und er machte es sich auf einem
Sitzplatz bequem, den man ihm in zuvorkommendem Eifer, den
die Landleute einem Reichen entgegenbringen, frei gemacht hatte,
während seine Frau sich ohne Scheu den Scherzen derer aussetzte,
denen sie so schön und beherzt erschien.
Sie half ihrem Mann, einen großen Sonnenschirm aufzuspannen,
stellte an seine Seite einen Lastkorb voller Proviant für eine Reise,
die kaum drei Stunden dauern würde, und empfahl schließlich ih-
ren Paco der größtmöglichen Fürsorge des Schiffers an. Er würde
einige Zeit in seinem Häuschen in Ruzafa verbringen. Dort wür-
den gute Ärzte zu ihm kommen – dem Ärmsten ginge es schlecht.
Sie sagte es lächelnd, in kindlichem Tonfall, wobei sie den weich-
lichen Hünen streichelte, der beim leisesten Schwanken des
Schiffs erzitterte, als wäre er aus Aspik. Sie achtete nicht des bös-
artigen Augenzwinkerns der Leute, der ironischen, spöttischen
Blicke, die, nachdem sie von ihr abgeglitten waren, sich auf den
Wirt der Taverne richteten, der auf seinem Sitz unter dem Son-
nenschirm kauerte und schmerzvoll grunzend schnaufte.
Der Schiffer stieß seine lange Stake gegen die Uferböschung, und
das Schiff begann, durch den Kanal zu gleiten, verfolgt von den
Rufen Neletas, die fortwährend unter rätselhaftem Lächeln allen
Freunden auftrug, sich um ihren Mann zu kümmern.
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Hühner eilten durch das Unkrautdickicht des Ufers und folgten
dem Schiff. Entenschwärme schüttelten ihre Flügel im Umkreis
des Bugs, der den Wasserspiegel des Kanals aufwühlte, in dem
sich kopfüber die Katen des Dorfes spiegelten wie schwarze, arm-
selige Schiffe. An den Fischbecken, die Firstenden geschmückt
mit Holzkreuzen, standen sie, als wollten sie die Aale auf ihrem
Grund göttlichem Schutz anvertrauen.
Am Ende des Kanals begann das Postschiff, zwischen den Reis-
feldern hinzugleiten, riesige Felder aus flüssigem Schlamm, von
bronzefarbenen Ähren bedeckt. Die Schnitter, im Wasser versun-
ken, bewegten sich voran, die Sichel in der Hand, und kleine
schwarze Boote, schlank wie Gondeln, nahmen in ihrem Leib die
Garben auf, die zu den Dreschböden zu bringen waren. Inmitten
dieser Wasserkultur, die einer Verlängerung der Kanäle glich, er-
hoben sich in Abständen, auf kleinen Erdinseln, weiße, mit
Schornsteinen gekrönte Häuschen. Dort waren die Maschinen, die
die Felder, je nach den Bedürfnissen der Pflanzungen, überflute-
ten oder trocken legten.
Die hohen Böschungen verbargen das Netz der Kanäle, die „We-
ge“, über die die mit Reis beladenen Segelschiffe fuhren. Ihre
Bootsrümpfe blieben unsichtbar, und die hohen Dreiecksegel glit-
ten in der Stille des Nachmittags über die Felder hin wie Gespens-
ter, die über festen Grund wandern.
Die Fahrgäste betrachteten die Felder wie kundige Experten, äu-
ßerten ihre Meinungen zur Ernte und beklagten das Schicksal de-
rer, denen der Salpeter5 in die Erde gedrungen war und ihnen den
Reis vernichtet hatte.
Das Schiff glitt durch stille Kanäle voll gelben Wassers mit dem
goldfarbenen Widerschein von Tee. Hinter ihm bogen die Wasser-
pflanzen ihre Ranken unter der Reibung des Kiels. Die stille und
glatte Fläche verstärkte jeden Laut. Wenn die Gespräche ver-
stummten, hörte man deutlich den klagenden Atem des unter einer
Bank hingestreckten Kranken und das zähe Röcheln Cañamèls,
5 Ein früher gefürchtetes Phänomen, das besonders dann auftrat, wenn im Sommer der Nachschub von
Gebirgsquellwasser ausblieb und der Wasserspiegel der Albufera unter den Meeresspiegel sank. Das un-
terirdisch eindringende Meerwasser konnte dann Mineralien einschwemmen, die die Ernte vernichteten
und die Felder für lange Zeit unfruchtbar machten. Heute wird der Süßwasserspiegel der Albufera durch
große Schleusenanlagen – zum Beispiel in El Perelló – konstant über dem Meeresspiegel gehalten.
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wie er mit auf die Brust gesenktem Bart atmete. Von den fernen,
kaum sichtbaren Schiffen klangen, überlaut in der Stille, das Pol-
tern einer Stake, die aufs Deck fiel, das Knarren eines Mastes, die
Stimmen der Schiffer, die einander warnten, um in den Krüm-
mungen der Kanäle nicht zusammenzustoßen.
Der einohrige Schiffsführer ließ die Stake los, sprang über die
Beine der Fahrgäste, eilte von einem Ende des Schiffs zum ande-
ren und richtete das Segel, um die schwache Brise des Nachmit-
tags zu nutzen.
Man hatte den See erreicht, den von Inseln und Schilfbüschen
bewucherten Teil der Albufera, wo mit gewisser Vorsicht zu navi-
gieren war. Der Horizont weitete sich. Seitlich die dunkle und
gewellte Reihe der Pinien der Dehesa, die die Albufera von Meer
trennt – fast unberührter Urwald, der sich Meile um Meile dahin-
zieht, wo wilde Stiere weiden und im Schatten die großen Repti-
lien leben, die man sehr selten sieht, aber von denen man während
der Segelfahrten angstvoll spricht. Gegenüber die weite Ebene der
Reisfelder, die sich am Horizont bei Sollana und Sueca verlieren
und in die fernen Berge übergehen. Voraus die Reetbüsche und
kleinen Inseln, die die freie Seefläche verdeckten, durch die das
Schiff hindurchglitt und mit seinem Bug die Wasserpflanzen nie-
dertauchte, mit seinem Segel die Schilfrohre streifte, die von den
Ufern herandrängten. Garben dunkler, glitschiger Seegewächse
strebten wie schleimige Tentakel zur Wasserfläche hoch, schlan-
gen sich um die Stake des Schiffers, und die Blicke gingen müßig
über diese schattige, schmutzige Vegetation hin, in deren Schoß
das Schlickgewürm wimmelte. Die Augen aller sprachen densel-
ben Gedanken aus: wer hier hineinfiele, würde schwerlich davon-
kommen.
Eine Stierherde äste am Saum aus Schilfgras und Tümpeln, der an
die Dehesa grenzt. Einige von ihnen hatten sich schwimmend zu
den nahegelegenen Inseln begeben, weideten, bis zum Bauch im
Schlick versunken, in den Schilfbüschen und bewegten laut pat-
schend ihre schweren Hufe. Es waren große, schmutzige Tiere,
mit schorfigen Flanken, riesigen Hörnern und ständig sabbernden
Nüstern. Sie blickten wild zu der beladenen Barke, die zwischen
ihnen dahinglitt, und wenn sie ihre Köpfe bewegten, verbreiteten
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sie in ihrer Umgebung eine Wolke dicker Fliegen, die danach
wieder über ihre gelockten Schöpfe herfielen.
Ganz nah, auf einer Anhöhe, die nur eine schmale Landzunge aus
Schlamm zwischen zwei Wasserbuchten war, sah man vom Boot
aus einen Mann in gekauerter Haltung. Die aus El Palmar kannten
ihn.
„Es ist Sangonera!“, riefen sie. „Der Säufer Sangonera!“
Ihre Hüte schwenkend fragten sie ihn, wo er sich diesen Morgen
seinen Rausch geholt habe und ob er ihn dort drüben ausschlafen
wolle. Sangonera blieb still, aber, überdrüssig des Gelächters und
der Rufe der Schiffsgäste, richtete er sich auf, drehte sich bedäch-
tig um, klatschte einige Male verächtlich auf die Rückseite seines
Körpers und ging mühsam wieder in die Hocke.
Als man ihn aufrecht stehen sah, verstärkte sich das Gelächter an-
gesichts seines eigentümlichen Anblicks. Sein Hut war mit einem
großen Busch aus Blumen der Dehesa geschmückt, und über sei-
ne Brust wie auch um seine Leibbinde herum schlangen sich Ket-
ten wilder Glockenblumen, wie sie zwischen dem Uferschilf
wachsen.
Alle sprachen von ihm. Der berühmte Sangonera! Keiner in den
Dörfern am See war ihm gleich. Er hatte den festen Entschluss
gefasst, nicht zu arbeiten wie die anderen Männer, verkündete
stets, dass die Arbeit eine Beleidigung Gottes sei, und verbrachte
den Tag damit, jemanden zu finden, der ihn zum Trunk einlüde.
Er betrank sich in El Perelló und schlief in El Palmar; er trank in
El Palmar, um tags drauf in El Saler aufzuwachen, und wenn die
Dörfer auf dem Festland Fiestas feierten, sah man ihn in Silla o-
der Catarroja, wie er unter den Leuten, die die Felder der Albufera
bestellten, eine gute Seele suchte, die ihn freihalten würde. Ein
Wunder, dass seine Leiche noch nicht auf dem Grund eines Ka-
nals gelandet war während all dieser Wanderungen um den See in
Volltrunkenheit, die Säume der Reisfelder entlang, die schmal wa-
ren wie eine Hackenklinge, durch die Engpässe der Kanäle hin-
durch, das Wasser bis zur Brust, und quer über fließenden
Schlamm hinweg, in den niemand sich ohne einen Kahn hinein-
gewagt hätte. Die Albufera war sein Zuhause. Sein Instinkt als
Sohn der Lagune bewahrte ihn vor Gefahr, und manche Nacht,
wenn er sich in Cañamèls Taverne einfand, um einen Trunk zu
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erbetteln, hingen ihm der schleimige Schlick und dessen Geruch
an, als wäre er wahrhaftig ein Aal.
Der Wirt der Taverne murrte grunzend, als er die Unterhaltung
vernahm. Sangonera! Der ausgemachte Lump! Tausende Male
hatte er ihm verboten, sein Haus zu betreten! ... Und die Leute
lachten in Erinnerung an das seltsame Schmuckwerk des Vaga-
bunden, seine Besessenheit, sich wie ein Exot mit Blumen zu be-
decken und sich mit Girlanden zu schmücken, sobald in seinem
hungrigen Magen der Wein zu gären begann.
Das Boot drang in den See vor. Zwischen zwei Schilfbüschen, die
den Wellenbrechern eines Hafens glichen, sah man eine weite
Fläche glatten, glänzenden, blauweiß schimmernden Wassers. Es
war der lluent6, die eigentliche Albufera, der offene See mit sei-
nen weit verstreuten Schilfwäldchen, wo sich die Seevögel hin-
flüchteten, die von den Jägern der Stadt so sehr verfolgt wurden.
Das Schiff glitt an der Küste der Dehesa entlang, wo einzelne,
von Wasser bedeckte Sumpfflächen sich langsam zu Reisfeldern
wandelten.
In einer kleinen, von Abgrenzungen aus Schlick umgebenen La-
gune kippte ein kräftiger Mann Kübel voller Erde aus seinem
Boot. Die Fahrgäste bewunderten ihn. Es war Tío Toni, Sohn des
Tío Paloma und gleichzeitig Vater von Tonet el Cubano7. Beim
Namen des letzteren blickten viele argwöhnisch zu Cañamèl hin,
der weiter vor sich hin grunzte als hörte er nichts.
In der ganzen Albufera gab es keinen fleißigeren Mann als Tío
Toni. Er hatte es sich fest in den Kopf gesetzt, Grundeigentümer
zu werden, eigene Reisfelder zu besitzen, nicht vom Fischfang zu
leben wie Tío Paloma, der der älteste Schiffer der Albufera war.
Ganz allein – die Familie half ihm nur zeitweise, weil sie wegen
des Ausmaßes der Arbeit müde wurde – füllte er nach und nach
einen tiefen Tümpel mit Erde auf, die er von weit herholte; eine
reiche Frau hatte ihm den Besitz abgetreten, weil sie nichts damit
anzufangen wusste.
6 Glänzend (kastilisch: luciente). Der Ausdruck bedeutet hier eine von Bewuchs freie, blinkende Seeflä-
che. 7 Die Sitte, dass Angehörige derselben „Zunft“einander Spitznamen geben, ist in Spanien auch heute noch
weit verbreitet. Tonets Spitzname weist darauf hin, dass er sich einmal in Kuba aufgehalten hat. Die Er-
zählung geht später noch genauer darauf ein.
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Es war eine jahrelange, vielleicht sogar lebenslange Arbeit für ei-
nen einzelnen Mann. Der Tío Paloma spottete über ihn; sein Sohn
half ihm dann und wann, um sich jeweils nach wenigen Tagen
krankzumelden; und Tío Toni machte in unerschütterlichem
Glauben weiter, allein unterstützt von la Borda, einer armen Klei-
nen, die seine nun verstorbene Frau aus dem Findelhaus geholt
hatte – furchtsam gegenüber allen war sie und ebenso beharrlich
in der Arbeit wie er.
Alles Gute, Tío Toni, und munter geblieben! Hoffentlich würde er
auf seinem Feld bald Reis ernten! Und die Barke glitt davon, ohne
dass der trotzige Arbeiter noch ein weiteres Mal den Kopf geho-
ben hätte, um auf die spöttischen Grüße zu antworten.
Nach kurzer weiterer Strecke sah man in einem Boot, das klein
wie ein Sarg war, den Tío Paloma bei einer Reihe von Pfählen,
wo er seine Netze aushängte, um sie am nächsten Tag einzuholen.
Man stritt in der Barke, ob der Alte neunzig Jahre alt war oder
schon an die hundert. Was dieser Mann alles erlebt hatte, ohne die
Albufera je zu verlassen! Mit welchen Persönlichkeiten er schon
zusammengekommen war! ... Und sie wiederholten – alles in öf-
fentlicher Leichtgläubigkeit übertrieben – seine vertraulichen
Anmaßungen gegenüber dem General Prim8, dem er bei seinen
Jagden auf dem See als Bootsführer gedient hatte, seine Grobhei-
ten gegenüber hohen Damen und sogar Königinnen. Der Alte, so
als erriete er diese Bemerkungen und als fühlte er sich vom Ruhm
übersättigt, blieb gebückt über seinen Netzen, zeigte seinen mit
einem großkariertem Hemd bedeckten Rücken und seine schwar-
ze Mütze, die herabgezogen war bis zu den steifen Ohren, die ihm
vom Schädel zu fallen schienen. Als das Postschiff nahe an ihm
vorbeifuhr, hob er den Kopf, zeigte die schwarze Höhle seines
zahnlosen Mundes und die Kreise roter Falten, die seine Augen
umsäumten, aus denen ironischer Widerschein blitzte.
Der Wind begann aufzufrischen. Das Segel blähte sich in frischen
Stößen, die überladene Barke neigte sich und nässte die Rücken
derer, die auf Deck saßen. Um den Bug des Bootes sang das
8 Juan Prim y Prats (1814-1870). Ein Militär und Politiker, der insbesondere in den Bürgerkriegen um die
spanische Thronfolge (Carlistenkriege) wie auch in spanischen Kolonialkriegen eine wichtige Rolle spiel-
te. Nachdem er 1870 mit Erfolg den Sturz der Bourbonenkönigin Isabel II und die Inthronisierung des
Savoyers Amadeus I betrieben hatte, wurde er Opfer eines politischen Attentats.
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machtvoll geteilte Wasser mit immer lauterem Gluckern. Sie wa-
ren schon in der wirklichen Albufera, dem weiten lluent, blau und
glatt wie ein venezianischer Spiegel, der die Schiffe und die fer-
nen Ufer umgekehrt, mit leicht gekräuselten Umrissen widerspie-
gelte. Die Wolken schienen über den Seegrund zu rollen wie wei-
ße Spinnrocken. Am Ufer der Dehesa warfen ein paar von Hun-
den begleitete Jäger ihre Spiegelbilder ins Wasser und gingen
kopfüber einher. Die großen Siedlungen der Ribera9 auf dem Fest-
land, deren Felder in der Ferne verborgen blieben, schienen auf
dem See zu schwimmen.
Der Wind wurde immer stärker und verwandelte die Seefläche der
Albufera. Die Wellenschläge wurden deutlicher, das Wasser nahm
eine grünliche, dem Meer ähnliche Färbung an, der Seegrund ver-
barg sich, und an die Ufersäume aus grobem Muschelsand warfen
die Wogen Schaumflocken, seifige Blasen, die schillernd im Son-
nenlicht glänzten.
Die Barke glitt die Dehesa entlang; schnell zogen an ihr die
Sandhügel vorbei, mit den Häuschen der Jagdwächter auf den
Gipfeln, die dichten Gardinen des Dickichts, die Gruppen ver-
krümmter Föhren mit furchterregenden Umrissen, die zusammen-
geschnürten, gepeinigten Menschengliedern glichen. Begeistert
von der Geschwindigkeit und erregt durch die Gefahr, die das
Schiff weckte, indem eine seiner Bordkanten am Seespiegel ent-
lang glitt, grüßten die Reisenden rufend andere Barken, die fern
vorbeikamen, und streckten ihre Hände aus, um die Schläge der
Wellen zu fühlen, die die schnelle Fahrt aufwarf. Wasser umwir-
belte das Schiffsruder. Zwei capuzones, dunkle Vögel, die unter-
tauchten und die Köpfe erst nach langen Tauchgängen wieder bli-
cken ließen, schwammen in kurzer Entfernung und unterhielten
die Fahrgäste mit diesen Bewegungen ihres Fischfangs. Weiter
weg, in den matas, den großen Inseln aus Wasserschilf, erhoben
sich, als die Barke näher kam, die Blässhühner und die collvèrts10
zum Flug, langsam, als glaubten sie, dass diese Leute friedlich
wären. Einige erregten sich bei ihrem Anblick ... Was für eine Ge-
legenheit zum Schuss! Warum mussten die Menschen es verbieten,
9 Westlich der Albufera gelegene Landschaft und ebenso benanntes Kreisgebiet.
10 „Grünkragen“(valenzianisch); eine Wildentenart.
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dass jeder ohne Erlaubnis jagte, so, wie es ihm gut dünkte? Wäh-
rend die Jagdwütigen sich empörten, erklang vom Grund der Bar-
ke das Jammern des Kranken, und Cañamèl klagte wie ein Kind,
verletzt von den Strahlen der Abendsonne, die unter seinen Son-
nenschirm drangen.
Der Wald schien zum Meer hin wegzustreben und öffnete zwi-
schen sich und der Albufera eine weite, wild bewachsene Fläche,
die zuweilen von glänzenden Spiegeln kleiner Lagunen unterbro-
chen war.
Es war der llano de Sancha11
. Eine Ziegenherde weidete, von ei-
nem Jungen gehütet, im Bodendickicht, und bei seinem Anblick
entstieg den Erinnerungen der Söhne der Albufera die Legende,
die der Ebene ihren Namen gegeben hatte.
Die vom Festland, die nach Hause fuhren, nachdem sie sich mit
der Reisernte ihren Tagelohn verdient hatten, fragten, wer diese
Sancha gewesen sei, von der die Frauen mit gewisser Furcht
sprachen, und die vom See erzählten den Fremden an ihrer Seite
die einfache Geschichte, die sie alle schon als Kinder gehört hat-
ten.
Ein Hirtenjunge wie der, der eben am Ufer entlang gegangen war,
hatte auf derselben Lichtung in früheren Zeiten seine Ziegen ge-
hütet. Aber das war viele, viele Jahre her ... so viele, dass niemand
von den Alten, die noch in der Albufera lebten, den Hirten ge-
kannt hatten – noch nicht einmal Tío Paloma selbst.
Der Junge lebte in der Wildnis wie ein Eingeborener, und die
Schiffer, die auf dem See fischten, hörten ihn in der Stille des
Morgens ganz von fern rufen:
„Sancha! Sancha! ...“
Sancha war eine kleine Schlange, die einzige Gefährtin, die ihn
begleitete. Der eklige Wurm kam während der Rufe herbei, der
Hirt molk seine besten Ziegen und bot ihm eine Schale Milch.
Danach, während der Sonnenstunden, machte er sich eine Rohr-
flöte, indem er im Schilfgestrüpp Halme schnitt, und spielte wun-
derschön, das Reptil zu seinen Füßen, das einen Teil seines Kör-
pers reckte und wieder zusammenzog, als wollte es im Takt der
zarten Flötentöne tanzen. Dann wiederum vertrieb sich der Hirt
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Sancha–Ebene (kastilisch).
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die Zeit, indem er die Windungen von Sanchas Leib auseinander-
zog, wobei er sie in gerader Linie über den Sand hinstreckte und
sich daran erfreute, mit welch kraftvollem Ruck sie sich wieder
zusammenzog. Wenn er, dieser Spiele überdrüssig, seine Herde
ans andere Ende der weiten Ebene führte, folgte ihm die Schlange
wie ein kleiner Hund, oder sie umschlang seine Beine, reckte sich
bis zu seinem Hals empor und blieb dort, wie tot hingesunken, ih-
re Diamantaugen fest auf die des Hirten gerichtet, wobei sie, aus
ihrem winkligen Maul zischend, den Haarflaum seines Gesichts
hoch blies.
Die Leute der Albufera hielten ihn für einen Hexer, und mehr als
eine der Frauen, die auf der Dehesa Brennholz stahlen und ihn mit
Sancha um den Hals daherkommen sahen, schlugen das Kreuzes-
zeichen, als ob der Teufel erschiene. Nun begriffen alle, wieso der
Hirt im Buschland schlafen konnte, ohne Angst zu haben vor den
großen Reptilien, die im Dickicht wimmelten. Sancha, die in
Wirklichkeit der Teufel war, beschützte ihn vor jeder Gefahr.
Die Schlange wuchs, und der Hirt war schon ein Mann, als die
Bewohner der Albufera ihn eines Tages nicht mehr sahen. Man
hatte erfahren, dass er Soldat geworden war und in den Italieni-
schen Kriegen12
kämpfte. Keine andere Herde kam, um in der
wilden Ödnis zu weiden. Wenn Fischer an Land gingen, gelüstete
es keinen, sich in das hohe Ried zu wagen, das die stinkenden La-
gunen säumte. Da Sancha vom Hirten keine Milch mehr bekam,
musste sie die unzähligen Kaninchen der Dehesa jagen.
Acht oder zehn Jahre vergingen, und eines Tages sahen die Leute
von El Saler über den Weg von Valencia einen Soldaten daher-
kommen, der sich auf einen Stock stützte und einen Tornister auf
dem Rücken trug, einen hageren, trübsinnigen Grenadier mit
schwarzen Gamaschen bis über die Knie, weißem Kasack mit ro-
ten Puffärmeln und einer Mütze in Form einer Papstkrone über
der Zopffrisur. Sein riesiger Schnurrbart hinderte niemanden da-
ran, ihn zu erkennen. Es war der Hirt, der sehnsuchtsvoll zurück-
kehrte, um die Heimat seiner Kindheit wiederzusehen. Er schlug
den Weg zum Buschland ein, der am Seeufer entlang führte, und
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1494-1559. Eine Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen um Erbfolge und Herrschaft auf der italie-
nischen Halbinsel, an denen auch der Vatikan beteiligt war. Spanien und Frankreich waren in diesen Krie-
gen zunächst Verbündete, später aber Kriegsgegner.
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erreichte die Sumpfniederung, wo er in früheren Zeiten seine
Herde gehütet hatte. Niemand war da. Die Libellen bewegten ihre
Flügel mit leisem Summen über dem Schilfgras, und in den hinter
Gestrüpp verborgenen Tümpeln plätscherten, erschreckt durch die
Nähe des Grenadiers, die Kröten.
„Sancha! Sancha!“, rief sanft der frühere Hirt.
Totenstille. Das schläfrige Lied eines Fischers, der im Zentrum
des Sees fischte, drang zu ihm hin.
„Sancha! Sancha!“, rief er nunmehr aus voller Brust.
Und als er seine Rufe viele Male wiederholt hatte, sah er die ho-
hen Kräuter zittern, hörte das Krachen niedergerissenen Röhrichts,
als schleppte sich ein schwerer Körper darüber hinweg. Zwischen
dem Schilfgras blitzten, so hoch wie die seinen, zwei Augen auf
und ein flacher Kopf, aus dem eine gabelförmige Zunge fuhr,
strebten auf ihn zu mit finsterem Fauchen, das ihm das Blut ge-
frieren und seinen Körper erstarren ließ. Es war Sancha, aber rie-
sengroß und prächtig, zur Mannshöhe aufgerichtet, die ihren
Schwanz, dessen Ende sich im Dickicht des Blicks entzog, hinter
sich herschleppte, Sancha mit bunter Panzerhaut und einem Leib,
so dick wie der Stamm einer Föhre.
„Sancha!“, rief der Soldat und wich, von Furcht getrieben, zu-
rück. „Du bist aber gewachsen! ... Wie groß Du bist!“
Und er versuchte zu fliehen. Aber die frühere Freundin schien ihn
nach erstem Erstaunen wiederzuerkennen, schlang sich um seine
Schultern und drückte ihn mit einer Schlaufe ihrer rauen Haut, die
in nervösem Zittern bebte. Der Soldat wehrte sich.
„Lass los, Sancha, lass los! Keine Umarmung. Du bist zu groß für
solche Spiele.“
Eine weitere Schlaufe drückte seine Arme zusammen und fesselte
sie. Das Maul des Kriechtiers streichelte ihn wie in früheren Zei-
ten; sein Atem bewegte seinen Schnurrbart, ließ den Soldaten
bang erbeben, während sich die Ringe zusammenzogen und ver-
engten, bis der Soldat erstickt, mit geborstenen Knochen, einge-
hüllt in eine Walze aus bunten Schlaufen, zu Boden fiel.
Einige Tage später fanden ein paar Fischer seine Leiche – eine
formlose Masse aus zermalmten Knochen und violettem Fleisch,
entstanden aus Sanchas unwiderstehlichem Ansturm. So war der
Hirt als Opfer einer Umarmung seiner alten Freundin gestorben.
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Auf dem Postboot lachten die Fremden, als sie die Geschichte
hörten, während die Frauen etwas beunruhigt mit den Füßen
zuckten, im Glauben, was da so nahe bei ihren Röcken in dump-
fen Seufzern aufgurgelte, wäre Sancha, die sich unter den Rumpf
des Schiffes geflüchtet hätte.
Die Seestrecke war zu Ende. Abermals drang das Schiff in ein
Netz von Kanälen ein, und fern, ganz fern über den unendlichen
Reisfeldern erhoben sich die Häuser von El Saler, dem Dorf der
Albufera, das Valencia am nächsten liegt und dessen Hafen be-
setzt war von unzähligen heruntergekommenen Fischerbooten
und von großen Barken, deren Masten untätig in den Horizont
ragten wie geschälte Föhrenstämme.
Der Tag neigte sich. Die Barke glitt langsamer durch das tote Ge-
wässer des Kanals. Der Schatten des Segels zog wie eine Wolke
über die im Abendrot leuchtenden Reisfelder hin, und an der Bö-
schung hoben sich auf orangefarbenem Grund die Schattenbilder
der Fahrgäste ab.
Ständig fuhren, die Staken bewegend, Menschen vorbei, die von
ihren Feldern kamen. Sie standen aufrecht in winzigen schwarzen
Nachen, die Bordoberkante am Wasserspiegel. Diese Skiffs13
wa-
ren die Reitpferde der Albufera. Schon als Kinder lernten alle
Eingeborenen dieser Sumpfbevölkerung, sie zu handhaben. Sie
waren unentbehrlich für die Arbeit im Feld, für den Besuch im
Haus des Nachbarn, für den Lebensunterhalt. Kinder glitten in
ihnen ebenso schnell dahin wie Frauen oder alte Männer, und alle
bewegten die Staken mit Leichtigkeit, stießen sie in den schlam-
migen Grund, sodass dieser Holzschuh, der ihnen als Boot diente,
über den Wasserspiegel flitzte.
Auf den benachbarten Gräben glitten, unsichtbar hinter den Bö-
schungen, andere Nachen vorbei, und oberhalb des Gesträuchs
strebten, den Rumpf unbewegt, die Bootsführer im Takt ihrer
Fauststöße vorwärts.
Von Zeit zu Zeit sahen die auf dem Postboot Breschen in den
Uferhängen, aus denen sich lautlos und ohne Strömung die Was-
ser des Kanals ergossen, die unter einer Schicht schlüpfriger
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Kastilisch: esquifes. Kleine Wasserfahrzeuge, die mitunter auch als Beiboote mitgeführt wurden, um
schnell und trockenen Fußes durch enge Gräben zu den Pflanzungen zu kommen.
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Schwimmpflanzen ruhten. Von Staketen hängende Aalnetze ver-
sperrten diese Zugänge. Wenn sich die Barke näherte, sprangen
riesige Ratten von den Reisfeldern und verschwanden im
Schlamm der Gräben.
Alle, die vorher beim Betrachten der Seevögel in Jagdeifer ent-
flammt waren, fieberten abermals beim Anblick der Ratten in den
Kanälen. Das wäre ein prächtiger Schuss! Ein treffliches Abend-
essen! ...
Die vom Festland spuckten in Gesten des Abscheus aus, unter
dem Gelächter und den Protesten derer von der Albufera. Ein
köstlicher Bissen! Wie konnten sie urteilen, ohne ihn je probiert
zu haben? Die Ratten des Sumpflandes fraßen nichts als Reis –
sie waren ein Königsgericht. Man brauchte sie sich auf dem
Markt von Sueca nur anzusehen, wie sie abgehäutet zu Dutzenden
an ihren langen Schwänzen von den Tischen der Fleischer hingen.
Die Reichen kauften sie, die Aristokratie aller Orte der Ribera aß
nichts anderes. Und Cañamèl, als hielte er es in seiner Eigen-
schaft als Reicher für unerlässlich, etwas zu sagen, hörte auf zu
ächzen und versicherte rundweg, er kenne auf der Welt nur zwei
Tiere ohne Galle: die Taube und die Ratte. Damit war alles gesagt.
Die Gespräche wurden lebhaft. Die Gesten des Abscheus seitens
der Fremden ließen die von der Albufera aufbegehren. Die Her-
abwürdigung des Sumpfvolkes, die Armut der vom Fleischgenuss
ausgeschlossenen Menschen, die nur fern über die Dehesa laufen-
de Tierherden kennen, die dazu verdammt sind, sich ihr Leben
lang von Aalen und Schlammfischen zu ernähren, offenbarte sich
nun in trotzigem Widerstand, im sichtbaren Wunsch, die Fremden
zu verblüffen, indem sie die eigenen tapferen Mägen lobpriesen.
Die Frauen zählten die Vorzüge des Rattenfleischs im Reis der
Paella auf; viele schon hatten sie ahnungslos genossen und sich
über den Wohlgeschmack dieses unbekannten Fleisches gewun-
dert. Andere erinnerten an den Schmorbraten aus Schlangen-
fleisch und priesen seine weißen, süßlichen Scheiben, die sogar
den Aal übertrafen, und der einohrige Schiffer brach sein während
der ganzen Reise gehütetes Schweigen, um zu erzählen, wie er
mit Freunden in Cañamèls Taverne schon so manche neu gebore-
ne Katze verzehrt hatte, zubereitet von einem Seemann, der viel
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von der Welt gesehen und nun für derartige Gerichte eine ge-
schickte Hand hatte.
Die Nacht brach herein. Die Felder wurden dunkel. Der Kanal
färbte sich im sanften Dämmerlicht hell wie geschmolzenes Zinn.
Auf dem Grund des Wassers glänzten, im Kurs der Barke zitternd,
die ersten Sterne.
El Saler war erreicht. Über den Dächern der Fischerkaten erhob
sich zwischen zwei Pfeilern die Glocke der Casa de la Demaná,
wo sich die Jäger und Schiffer am Vorabend der Jagdsaison ein-
fanden, um die Reviere auszulosen14
. Daneben sah man eine rie-
sige Postkutsche, die die Fahrgäste des Postboots zur Stadt brin-
gen würde.
Der Wind erstarb; das Segel fiel in ganzer Höhe schlaff gegen den
Mast, und der Einohrige umgriff die Stake, stemmte sie gegen die
Böschungen, um das Schiff anzutreiben.
In Fahrtrichtung zum See kam ihnen eine kleine Barke entgegen,
die mit Erde beladen war. Ein Mädchen stakte schwungvoll vom
Bug aus, und am anderen Ende half ihr ein junger Mann, der ei-
nen großen Hut aus Jipijapa15
trug. Alle kannten die beiden. Sie
waren die Kinder von Tío Toni, die Erde zu seinem Feld fuhren –
la Borda, dieses unermüdliche Findelkind, das mehr als ein Mann
leistete, und Tonet el Cubano, der bestaussehende Bursche der
ganzen Albufera, ein Mann, der die Welt gesehen hatte und eini-
ges zu erzählen wusste.
„Adiós, Bigòt!“16
, riefen sie ihm freundschaftlich zu.
Man gab ihm diesen Spitznamen wegen des Schnurrbarts über
seinem sonnenbraunen Gesicht – ein in der Albufera, wo jeder
sein Gesicht rasierte, nicht üblicher Zierrat. Einige fragten ihn,
scherzhaft erstaunt, seit wann er denn arbeite.
Das kleine Boot entfernte sich, und es schien, dass die Scherze zu
Tonet – er hatte einen raschen Blick auf die Fahrgäste geworfen –
nicht hingedrungen waren.
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Jeweils zu Sankt Martin (11.11.) und zum Namenstag der Heiligen Catalina (25.11.) wurden hier die
Jagdrechte ausgelost. Das Verfahren wird im achten Kapitel des Buches näher beschrieben. 15
Im spanischen Sprachgebrauch eine sehr strapazierfähige Pflanzenfaser aus den tropischen Gebieten
Lateinamerikas. Ihre Bezeichnung verdankt sie der ecuadorianischen Stadt Jipijapa, wo heute noch Hüte
aus diesem Material gefertigt werden. Sie sind inzwischen unter der gängigeren (aber irreführenden)
Bezeichnung „Panamahüte“weltberühmt. 16
Der (kastilische) Abschiedsgruß adiós (valenzianisch: adéu) gilt auch als kurzer „Gruß im Vorüberge-
hen“. Bigòt (kastilisch: bigote) ist ein weiterer Spitzname Tonets.
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Viele sahen etwas unverfroren zu Cañamèl hin und erlaubten sich
die gleichen unverschämten Witze, die sie auch in seiner Taverne
von sich gaben ... Vorsicht, Tío Paco! Er fuhr nach Valencia, und
Tonet würde die Nacht in El Palmar verbringen! ...
Der Wirt gab anfangs vor, sie nicht zu hören, doch dann richtete
er sich, des Leidens müde, in einer Anwandlung von Unruhe em-
por, und seine Augen blitzten zornig. Aber die aufgetriebene Kör-
permasse schien seinen Willen zu besiegen, und er kauerte sich
wieder auf die Bank, wie erdrückt von seiner Anstrengung, ächzte
abermals und murmelte unter Klagen:
„¡Indesents! ... ¡Indesents! ...“17
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Sinngemäß: Gemeines Volk! (kastilisch: indecentes).