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Drei Monate in Indien es wird Zeit fr einen ersten Zwischenbericht!

Eine Fremde im eigenen Land

Nun ist es also so weit: Es kommt mir zwar manchmal so vor, als wre ich gestern erst gelandet, aber tatschlich sind meine ersten dreieinhalb Monate in Indien bereits vergangen und es wird Zeit fr einen ersten Zwischenbericht. Das wiederum erscheint mir jedoch gar nicht so einfach, denn eines habe ich hier ganz schnell begriffen: Indien ist unfassbar vielfltig! Welchen Aspekt man auch betrachten mag ob Gesellschaft, Sprache, Religion, Politik, Landschaft oder Kultur berall wurde (und werde) ich konfrontiert mit neuen Eindrcken und Erfahrungen sowie Denk- und Lebensweisen, die ich aus meiner westlichen Heimat so gar nicht gewohnt bin. Ich wrde eigentlich nicht sagen, dass ich nach meiner Ankunft einen richtigen Kulturschock gehabt habe, trotzdem habe ich auch jetzt noch manchmal das Gefhl, nicht alle neuen Bilder und Eindrcke auf einmal verarbeiten zu knnen. Wie soll ich es da blo schaffen, einen auch nur halbwegs zutreffenden Bericht ber meinen bisherigen Aufenthalt zu verfassen? Im November kam es dann jedoch zu einer Begegnung, die mir das Schreiben etwas erleichtert hat: Bei einem Tagesausflug nach Murudeshwar habe ich eine sehr nette indische Studentin kennengelernt. Wir haben uns lange ber alle mglichen Themen unterhalten vom Essen und Studieren in Indien ber das Leben in Deutschland bis hin zu verschiedenen Aspekten der hinduistischen Religion und arranged marriages (arrangierten Ehen) und schlielich kamen von ihr folgende Worte: Manchmal habe ich das Gefhl, in meinem eigenen Land einen Kulturschock zu haben. Sie selbst kommt aus Kerala, studiert inzwischen aber in Karnataka und obwohl es sich dabei um Nachbarstaaten handelt, scheint es doch groe Unterschiede in allen Bereichen des tglichen Lebens zu geben. Fr mich kam dieser Kommentar sehr berraschend, aber auch beruhigend. Wenn eine junge Inderin von sich selbst sagt, dass sie sich manchmal im eigenen Land wie eine Fremde vorkommt, dann ist es vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es einer wirklich Fremden erst recht schwer fllt, ihre Erfahrungen vor Ort in Worte zu fassen!

Mein Alltag bei Alice und George

Vielleicht ist es am einfachsten, wenn ich zunchst einmal versuche, meinen indischen Alltag zu beschreiben: Morgens um 7 Uhr klingelt der Wecker, meistens wache ich aber schon frher auf, denn schon eine Stunde frher schallen die allmorgendlichen Hindu-Gebete aus dem nahegelegenen Tempel mit Hilfe von groen Lautsprechermasten durch das Dorf (mein Wohnort Tallur liegt etwa zehn bis 15 Busminuten entfernt von der kleinen Kstenstadt Kundapur). Nachdem ich mich geduscht und angezogen habe, begebe ich mich runter ins Wohnzimmer. Hier ist mein Gastvater George (75) bereits damit beschftigt, aufmerksam die Morgenzeitung zu studieren und nach dem er mein Good morning mit einem freundlichen Lcheln erwidert hat, setze ich mich dazu und vertreibe mir die Zeit ebenfalls mit Lesen. Aus der Kche sind whrenddessen das Rauschen des Gasofens und das Geklapper des typisch-indischen Metallgeschirrs zu hren. Kurz darauf kommt meine Gastmutter Alice (62) herein und stellt zwei Becher mit dampfendem Kaffee vor uns auf den Tisch, die wir in den nchsten paar Minuten gensslich leerschlrfen. Jeden zweiten Tag nutze ich die Zeit bis zum Frhstck auerdem zum Wschewaschen. Da die Inder im Allgemeinen sehr auf Reinlichkeit bedacht sind und die Kleidung stndig Belastungen wie Staub, Dreck und Schwei ausgesetzt ist, wrde hier niemand auf die Idee kommen, zwei Tage hintereinander die gleiche Kleidung zu tragen. Das wiederum erfordert ein hufiges Waschen, fr dessen Zweck es hinter dem Haus meiner Gastfamilie einen groen Waschstein, einen Wasseranschluss und mehrere Eimer gibt. Genau wie beim Duschen gibt es allerdings auch hier nur kaltes Wasser und vor allem in den ersten Wochen war es mit der fr mich vorher unbekannten Waschmethode nicht ganz leicht, die Kleidung auch wirklich sauber zu kriegen. Irgendwann ruft meine amma (Mutter) dann mit einem lauten und langgezogenen Teeeeeenaaaa zum Frhstck und sptestens nach dem obligatorischen chai (Tee) im Anschluss muss ich mich dann auch wirklich beeilen, um meinen Bus noch rechtzeitig zu erwischen. Die Fahrt von Tallur nach Kanchugodu dauert etwa 20 Minuten, von der dortigen Bushaltestelle aus laufe ich gemeinsam mit einigen Kolleginnen zu Fu weiter in Richtung Schule. Der Schultag beginnt um Punkt 10 Uhr mit dem Schlagen der Schulglocke und einer Art Morgenappell (der bersicht halber werde ich darauf an spterer Stelle noch genauer eingehen). Um kurz nach 16 Uhr verkndet ein zweiter Appell das Ende des Schultags und ich mache mich gemeinsam mit meinen Kolleginnen wieder auf den Weg zur Bushaltestelle. An den meisten Tagen steige ich allerdings nicht in Tallur aus, sondern fahre weiter bis nach Kundapur die Fahrt von meiner Einsatzstelle bis in die Kstenstadt dauert je nach Verkehrslage und Fahrweise des Busfahrers rund 30 Minuten. Dreimal die Woche jeweils von dienstags bis donnerstags nehme ich hier gemeinsam mit anderen Freiwilligen aus Deutschland an einem Kannada-Sprachkurs teil, montags und freitags nutze ich die freie Zeit meistens fr kleinere Besorgungen, Kopien, Besuche bei meiner FSL-Koordinatorin etc. In der Regel bin ich also nicht vor 18 Uhr zu Hause, meistens irgendwann zwischen 18.30 und 19 Uhr. Meine Gasteltern sitzen um diese Zeit vor dem Fernseher und verfolgen gebannt das Geschehen in den verschiedenen Sitcoms, die je nach Sender in verschiedenen Sprachen ber den Bildschirm flackern. Nachdem sie mich mit einem freundlichen Lcheln begrt haben und ich mich gewaschen und umgezogen habe, geselle ich mich wieder zu ihnen und mache es mir mit einem Buch gemtlich. Meine amma bringt mir zwischendurch einen kleinen Imbiss und manchmal sogar noch einen chai, der vom Nachmittag briggeblieben ist. Um 20 Uhr ziehe ich mich in mein Zimmer zurck, denn jetzt ist prayer time angesagt: Da meine Gasteltern glubige Christen sind, beten sie jeden Abend eine Stunde lang auf dem Wohnzimmersofa fr mich wiedermal ein Hinweis darauf, dass Religion in Indien eine viel wichtigere Rolle spielt, als es beispielsweise in Deutschland der Fall zu sein scheint. Ich nutze dieses Zeitfenster meistens, um ein paar E-Mails zu schreiben, mich auf spiegelonline ber die Nachrichten aus aller Welt zu informieren oder kleinere Unterrichtsvorbereitungen zu erledigen; wenn ich besonders mde bin, lege ich mich einfach ins Bett oder schaue mir eine DVD an. Nach der prayer time gibt es Abendessen. Inzwischen ist es zwischen 21.15 und 21.30 Uhr; eine Essenszeit, an die ich mich erst einmal gewhnen musste. Natrlich luft jetzt auch wieder der Fernseher und nach meinem Abwasch bleiben mir noch ein paar Minuten Zeit, um das Geschehen im Sitcom-TV mit zu verfolgen. Irgendwie ist es mir allerdings bis heute unerklrlich, wie meine Gasteltern diesem Programm so viel Begeisterung entgegenbringen knnen und ich bin daher nicht wirklich traurig, wenn die Flimmerkiste um 22 Uhr abgestellt wird, da mein appa (Vater) nun schlafen geht. Auch fr mich ist der Tag damit beendet und ich falle meistens ziemlich mde ins Bett. An den Wochenenden sieht der Tagesablauf meist hnlich aus, aber gemeinsam mit anderen Freiwilligen nutze ich die freien Tage auch gerne mal fr kleinere Tagesausflge oder zum Reisen.

Meine Einsatzstelle die Kanchugodu Higher Primary School

Bevor ich versuche, meine Arbeit in der Einsatzstelle zusammenzufassen, ist es vielleicht hilfreich, zunchst ein paar allgemeine Dinge zur Schule zu schreiben. Der Weg von der Bushaltestelle aus dauert nur etwa zehn Minuten und fhrt zunchst entlang der asphaltierten Strae, dann ber einen Schotterweg und schlielich ber einen Trampelpfad durch ein kleines Waldstck. Auf einer Lichtung erstreckt sich dann das Gelnde der U.Z.P. Kanchugodu Higher Primary School; dahinter sind die ersten Huser des gleichnamigen Dorfes zu erkennen, dessen Bewohner grtenteils von Landwirtschaft und Fischfang leben. Tritt man aus dem Waldstck heraus, erstreckt sich gleich links ein langer Gebudetrakt. Hier befinden sich die Klassenrume fr die 1. bis 3. Klasse (die hier als Nallikkali Class gemeinsam unterrichtet werden), die 5. und die 6. Klasse; der letzte Raum lsst sich bei Bedarf durch eine Tafel in zwei Rume teilen. Rechts davon befindet sich die kleine Schulkche, auf der anderen Seite erstrecken sich vier weitere Gebude der Klassenraum fr die 7. Klasse, eine Bhne, das Lehrerzimmer und ein Computerraum, der seinen Namen kaum noch verdient, da die drei Computer zurzeit auer Betrieb sind und der Raum meistens als Klassenraum fr die 4. Klasse dient. Die Schlertoiletten befinden sich am anderen Ende einer groen, aber recht kahlen Wiese, die als Schulhof dient. Tagsber breiten die Frauen aus dem Dorf hier ihre Wsche zum Trocknen aus, auerdem laufen zahlreiche Hunde, Katzen und Khe frei herum. Die Kanchugodu School ist eine staatliche Schule, deshalb werden Schulbcher und -uniformen sowie das (jeden Tag gleiche) Mittagessen von der Regierung finanziert, auerdem bekommen die Schler dreimal die Woche einen Becher warme Milch (zusammengerhrt aus Milchpulver und Wasser) und in unregelmigen Abstnden Vitamin- oder Jodtabletten zur verbesserten Nhrstoffversorgung. Der Schulalltag beginnt morgens pnktlich um 10 Uhr mit einer Art Morgenappell, fr das sich die gesamte Schlerschaft in ihren blauen Schuluniformen auf dem berdachten Gang vor den Klassenrumen aufstellt. Diese allmorgendliche Zeremonie, die unter anderem das Singen der indischen Nationalhymne und ein hinduistisches Gebet beinhaltet, ist an allen staatlichen Schulen in Indien blich und dauert nicht lnger als zehn Minuten. Im Anschluss daran begleite ich meine Kolleginnen zurck zum Lehrerzimmer. Als ich am 10. September zum ersten Mal in die Einsatzstelle kam, bestand das Kollegium nur aus fnf Lehrerinnen, von denen eine gleichzeitig das Amt der Schulleiterin ausbte. Inzwischen habe ich aber auch noch Bekanntschaft mit dem Hindi-Lehrer gemacht (der generell nur fr die 6. und 7. Klasse zustndig ist und eher unregelmig kommt), auerdem gibt es seit Anfang November einen neuen Schulleiter. Insgesamt besteht das Kollegium nun also aus sieben Personen, verstrkt durch meine Wenigkeit als Assistant Teacher. Mit ihren insgesamt 78 Schlerinnen und Schlern in den Jahrgangsstufen 1 bis 7 ist die Schule recht klein und bersichtlich. Die Schler kennen sich untereinander und klassenbergreifende Freundschaften sind keine Seltenheit. Auch die Atmosphre im Lehrerzimmer ist nicht nur kollegial, sondern wirkt an vielen Stellen auch freundschaftlich. Auf den Appell am Morgen folgen insgesamt sieben Schulstunden 4o Minuten, unterbrochen von kleinen Pausen zwischen den Lehrerwechseln und einer 45-mintigen Mittagspause. Nach der letzten Unterrichtsstunden haben die Kinder noch etwa eine halbe Stunde lang Zeit zum Spielen auf dem Schulhof, bevor um kurz nach 16 Uhr wieder die Schulglocke erklingt und ein zweiter Appell den Schultag beendet.

Mein Alltag in der Schule alles andere als alltglich

Mir ist gerade aufgefallen, dass ich im letzten Abschnitt das Wort Schulalltag verwendet habe. Das muss wohl ein Versehen gewesen sein, denn von Alltag kann in meiner Einsatzstelle eigentlich kaum die Rede sein. Jeder Tag ist irgendwie anders, immer wieder gibt es neue Herausforderungen und Erfahrungen der unterschiedlichsten Art, Rckschlge und Fortschritte, unvorhergesehene Erlebnisse und unangekndigte nderungen im Tagesprogramm. Aber der Reihe nach: Nach unserer Orientierungswoche in Kundapur und einem ersten Wochenende in der Gastfamilie hatte ich genau einen Tag lang Zeit, mich an die Schule, Lehrer und Kinder zu gewhnen, bevor ich mich meiner Aufgabe als Assistant Teacher widmete. Da stand ich dann also an meinem zweiten Tag in der Einsatzstelle, mchtig berfordert mit den vielen neuen Gesichtern, fremden Namen und einer Sprache, von der ich kaum ein Wort verstehen, geschweige denn auch nur einen einzigen Buchstaben lesen konnte, und sollte mit meiner Arbeit beginnen. Dass die von meinem indischen Partnerverein eigentlich fr rund zwei Wochen angekndigte Eingewhnungsphase pltzlich so drastisch gekrzt wurde, war fr mich wie ein Sprung in eiskaltes Wasser. Schlielich hatte ich bisher kaum eine Vorstellung von den Ablufen an einer indischen Schule, geschweige denn irgendwelche ausgearbeiteten Unterrichtsvorbereitungen, da mir der Leistungsstand der Schler zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt war und ich nicht wusste, welche Themen die Freiwilligen in den vergangenen Jahren vielleicht schon bearbeitet hatten. Improvisationsvermgen war also ab der ersten Minute gefragt. Eine lockere Vorstellungsrunde schien mir ein guter Einstieg in die gemeinsame Unterrichtszeit zu sein. Leider stie ich in der 4. und 5. Klasse bereits mit diesem einfachen Vorhaben an die Grenzen des indischen Schulsystems, das leider an vielen Stellen bestimmt wird von repetition and memorization (Wiederholung und Erinnerung). Dieses System ist geprgt davon, dass die Schler Buchstaben, Zahlen, Wrter oder Stze auswendig lernen, ohne den eigentlichen Sinn dahinter wirklich zu verstehen. Auf die Fragen Wie heit du?, Wie alt bist du? und Wo kommst du her? konnten mir die Kinder zwar mit Ullas, neun oder Kanchugodu antworten; als ich sie dann aber darum bat, vollstndige Stze zu bilden (Ich heie Ullas, Ich bin neun Jahre alt oder Ich komme aus Kanchugodu), schauten sie mich nur mit groen Augen an. Auch nach mehrmaligem Anschreiben an die Tafel, allmorgendlichen Fragerunden oder ganzen Unterrichtsstunden zu diesem Thema waren die meisten Kinder bis zum Ende der zweiten Woche nicht in der Lage, auf meine Fragen mit einer vollstndigen Antwort zu reagieren. Stattdessen schien es fast so, als htte ich die Armen noch mehr verwirrt, denn auf die Frage Wie heit du? bekam ich pltzlich Antworten wie Ich bin neun Jahre alt oder Ich heie Kanchugodu. Die Schler hatten also tatschlich nicht den Sinn hinter den Fragen verstanden, sondern bestenfalls die Stze auswendig gelernt und rieten nun so lange munter drauf los, bis sie die richtige Antwort zusammengebastelt hatten. Dies war das erste Mal, dass ich mir der Problematik und der zweifellos daraus resultierenden Konsequenzen des hiesigen Schulsystems bewusst wurde und es sollten weitere hnliche Situationen folgen. Auch bei Wochentagen und Monaten zeigten sich groe Schwierigkeiten. Zwar knnen (fast) alle Kinder deren Namen in der richtigen Reihenfolge aufsagen, beim Lesen und Schreiben stoen sie dann allerdings an ihre Grenzen. Auch hier musste ich leider feststellen, dass es trotz mehrmaligem Abschreiben, kurzen Diktaten und kreativeren Unterrichtsmethoden wie Kreuzwortrtseln, dem Buchstabierspiel Hangman (Galgenmnnchen) oder einem Aktionsspiel bisher kaum und allerhchstens klitzekleine Verbesserungen gab. In der 4. und 5. Klasse habe ich es deshalb zum allmorgendlichen Ritual gemacht, nach dem Datum zu fragen und dieses vollstndig an die Tafel zu schreiben. Wenn die meisten Schler auch immer noch nicht in der Lage sind, die Tage und Monate richtig zu buchstabieren, so wissen zumindest einige von ihnen inzwischen, welcher Wochentag gerade ist und dass wir im Jahr 2013 leben (ganz am Anfang antwortete mir ein Schler, wir befnden uns im Jahr 2002). Nach den ersten Diktaten und anderen Schreibaufgaben wurden mir schlielich die Augen fr noch ein weiteres Problem geffnet: Es gibt ausnahmslos in jeder (!) Klasse Schler, die das Alphabet nicht richtig beherrschen. hnlich wie bei den Wochentagen und Monaten knnen sie mir zwar die Buchstaben von A bis Z aufsagen, wissen aber nicht, dass zu dem Laut aaaaa der Buchstabe A gehrt. Es ist also kein Wunder, dass beim Durchsehen der eingesammelten Diktate pltzlich Zettel mit vllig abwegigen Buchstabenkombinationen wie ThlWK oder BctBo RE auftauchten. Von diesen Ergebnissen war ich zunchst ziemlich geschockt und ich konnte mir absolut nicht erklren, wo die Ursache fr dieses Problem liegen knnte. Inzwischen bin ich berzeugt davon, dass man unbedingt einmal den sprachlichen Hintergrund der Schler betrachten sollte: In ihren Familien sprechen die meisten Kinder Karvi, einen laut einer Kollegin mit der Sprache Konkani verwandten Dialekt. Sptestens ab der ersten Klasse lernen sie dann Kannada, die Regionalsprache des Bundesstaates Karnataka, und Englisch. Ab der 6. Klasse kommt schlielich noch Hindi, neben Englisch die zweite offizielle Amtssprache Indiens, als Unterrichtsfach hinzu. Noch vor Beginn der High School werden die Schler also mit mindestens (!) vier Sprachen und ebenso vielen vllig verschiedenen Schriftsystemen konfrontiert nur um sich innerhalb ihres eigenen Landes verstndigen zu knnen. Es ist also kein Wunder, dass die Schler Fehler machen, sondern eher, dass es berhaupt Kinder gibt, die dieses Sprachchaos noch einigermaen durchschauen. Ich versuche, dieses Argument nun immer im Hinterkopf zu haben, gleichzeitig glaube ich aber auch, dass es keine Entschuldigung sein kann fr das teilweise erschreckend niedrige Sprachniveau der Schler. Ganz im Gegenteil: Da die Schler wirklich darauf angewiesen sind, um sich auch auerhalb der Grenzen Karnatakas verstndigen zu knnen, sollte dem Sprachunterricht umso mehr Bedeutung zukommen. Leider ist das aber hufig nicht mglich, denn vielerorts fehlt es an festen Strukturen, geeigneten Unterrichtsmaterialien oder gut ausgebildeten Lehrern. Das bekomme ich auch an der Kanchugodu School tagtglich zu spren. Vor allem die fehlende Struktur hat mir in den ersten Wochen sehr zu schaffen gemacht. Eigentlich gibt es fr mich zwar einen festen Stundenplan, der jeden Tag gleich aussieht und neben dem Unterrichten in der 4. bis 7. Klasse einige Freistunden zur Unterrichtsvorbereitung vorsieht; die Anzahl der Tage, an denen ich wirklich diesem Plan entsprechend arbeite, ist allerdings verschwindend gering und wie bereits erwhnt einen Alltag gibt es in der Kanchugodu School eigentlich kaum. Weil es doch ziemlich hufig vorkommt, dass Kollegen an einzelnen Tagen nicht zur Schule kommen, werde ich nicht selten zum spontanen Vertretungsunterricht eingeteilt. Oder eine Kollegin wrde gerne den Unterricht tauschen oder zwei Stunden lang in einer Klasse unterrichten dann waren meine Unterrichtsvorbereitungen fr die betreffende Klasse vorerst umsonst. Vor allem am Anfang haben mich diese spontanen nderungen ziemlich irritiert und manchmal auch ein bisschen genervt. Inzwischen habe ich mich aber ganz gut daran gewhnt und angepasst. Improvisationsvermgen und viel Geduld sind auf jeden Fall zwei der Dinge, in denen ich ganz schnell Fortschritte gemacht habe! Was mich anfangs ebenfalls gestrt hat, war die Einstellung meiner Kolleginnen gegenber dem Unterricht. Vorbereitet betritt nmlich morgens scheinbar niemand das Schulgelnde. Erst wenige Minuten vor Unterrichtsbeginn werden die Bcher aufgeschlagen und passende Themen herausgesucht. Besonders verantwortungsbewusst oder motiviert schienen die Lehrer also nicht gerade zu sein. Doch auch hier habe ich gemerkt, dass man manchmal viel zu schnell vermeintliches Fehlverhalten verurteilt, anstatt nach den Hintergrnden zu fragen. Auf dem Weg zur Bushaltestelle hat mir eine Kollegin nmlich vor einigen Tagen erzhlt, wie eigentlich ihr Alltag aussieht: Mangula steht morgens gegen 5 Uhr auf, bereitet das Frhstck fr ihre Familie sowie das Mittagessen, dass sie selbst zur Schule mitnimmt, vor und fhrt dann mit dem Bus zur Arbeit. Wenn sie abends wieder zu Hause ist, muss sie das Abendessen kochen, ihre Familie versorgen und sich um den restlichen Haushalt (Putzen, Wschewaschen etc.) kmmern. Vor 23 Uhr kommt sie also nicht zur Ruhe. Natrlich knnte man jetzt sagen, dass sich ihr Alltag nicht unbedingt von dem einer deutschen Lehrerin unterscheidet. Ich glaube allerdings nicht, dass man den Aufwand in einem indischen und einem deutschen Haushalt miteinander vergleichen kann. In Deutschland wird morgens die Packung Brot aus dem Vorrat geholt und die Kaffeemaschine angestellt, in Indien wird der Kaffee oft noch ber dem Herd aufgebrht und das Frhstck wird jeden Morgen frisch zubereitet wobei das Raspeln von Kokosnssen, Kneten von Teig und Schnibbeln allerlei sonstiger Zutaten einen nicht geringen Zeitaufwand mit sich bringen. In Deutschland wird die Kleidung in die Waschmaschine geschoben und ist eine Stunde spter blitzeblank, in Indien wird jedes einzelne Kleidungsstck mhsam ber einen Waschstein geschrubbt. Und das wren nur zwei Beispiele. Ich kann es also inzwischen durchaus nachvollziehen, dass meinen Kolleginnen keine oder kaum Zeit zur Unterrichtsvorbereitung bleibt. Was ich jedoch bis heute absolut nicht verstehen kann, ist der lssige Umgang mit Unterrichtszeiten: Die Lehrer gehen regelmig versptet in die Klassen, lassen einzelne Unterrichtsstunden auch mal komplett ausfallen und die Mittagspause wird regelmig ausgedehnt. Ich mchte meine Kollegen und Kolleginnen nicht direkt kritisieren, aber versuche diesem Verhalten entgegenzuwirken, indem ich mich selbst an die geregelten Uhrzeiten zu halten (wobei auch das aus verschiedenen Grnden nicht immer mglich ist). Eine letzte Schwierigkeit, die ich noch erwhnen mchte, besteht fr mich in meiner Rolle als Autorittsperson gegenber den Schlern. Zwar sind selbst in der grten Klasse nicht mehr als 21 Kinder, aber auch meine gerademal sechs Viertklssler knnen mich ganz schn auf Trab halten und an einigen Tagen sogar bis an den Rand der Verzweiflung treiben. Manchmal komme ich mir tatschlich so vor, als htte ich keine Schler um mich herum, sondern 78 kleine Energiebndel, die so unglaublich aufgeweckt sind, dass sie kaum eine Minute lang auf ihrem Platz sitzen, geschweige denn leise sein und zuhren knnen. Stndig reden, rufen oder schreien sie durcheinander, springen von ihren Bnken auf, rennen in die Nachbarklassen oder zetteln kleine Prgeleien an. Damit das nicht falsch verstanden wird: Meine Schler knnen auch richtig lieb sein, ich erlebe jeden Tag aufs Neue wunderschne Momente mit ihnen und mir selbst sind sie sowieso lngst ans Herz gewachsen, aber Chaos im Klassenzimmer ist ganz einfach vorprogrammiert. Auch meinen ausgebildeten indischen Kollegen fllt es manchmal schwer, sich durchzusetzen, aber sie lsen dieses Problem auf ihre eigene Art: Mit Schlgen. Diese Methode gehrt in Indien leider immer noch vielerorts zum Schulalltag und obwohl ich schon mehrfach unfreiwillig zur Zuschauerin geworden bin, wenn meine Schler per Hand oder Lineal geschlagen wurden, zucke ich immer noch jedes Mal zusammen und wei bis heute nicht, wie ich damit umgehen soll. Welches Recht habe ich schon, meinen Kolleginnen und Kollegen als unausgebildete Auslnderin eine Moralpredigt zu halten? Fr mich selbst kommt das Schlagen meiner Schler jedenfalls nicht in Frage, auch wenn dieses Wissen fr sie leider gleichzeitig zu einem Autorittsverlust meinerseits fhrt. Ich kann allerdings besser mit etwas mehr Chaos leben als mit dem Bewusstsein, dass ein Kind Angst vor mir hat oder wegen mir anfngt zu weinen. Im Groen und Ganzen war mein Einstieg als Assistant Teacher an der Kanchugodu Higher Primary School also durchaus eine Herausforderung und eines habe ich ganz schnell kapiert: Einfach ist anders! Doch trotz aller anfnglichen Schwierigkeiten von Kommunikationsproblemen ber den Umgang mit dem indischen Schulsystem und den krassen Leistungsunterschieden innerhalb der einzelnen Klassen bis hin zur Konfrontation mit fehlenden Strukturen und stndigem Unterrichtsausfall gab es auch erste Erfolge zu verzeichnen: Ein Groteil der Viert- und Fnftklssler hat inzwischen eine ziemlich gute Vorstellung vom richtigen Datum des jeweiligen Tages, die Sechst- und Siebtklssler haben Briefe an zwei ehemalige Freiwillige geschrieben, die wir nach Deutschland geschickt haben und in allen Klassen (ausgenommen 1. bis 3.) haben wir uns rund zwei Wochen lang intensiv mit dem Verfassen von Steckbriefen befasst, die jetzt ordentlich auf weies Papier geschrieben und mit Fotos, Aufklebern und Buntstiftmalereien verziert die Klassenrume verschnern. Auerdem klappt die Kommunikation miteinander immer besser: Die Schler erscheinen mir mutiger, sich auf Englisch mit mir zu unterhalten; gleichzeitig freuen sie sich ber jeden neuen Brocken Kannada, den ich dazulerne und bernehmen dafr auch gerne mal selbst die Lehrerrolle. Insgesamt fhle ich mich sehr wohl in meiner Einsatzstelle, meine Kollegen sind nett und meine Schler die mchte ich schon jetzt gar nicht mehr hergeben!

Wie es weitergeht

Es gbe noch so unglaublich viel mehr zu schreiben ber meine Versuche, Kannada (die Regionalsprache) zu lernen und die damit verbundenen Schwierigkeiten, den Straenverkehr, das Reisen oder das indische Essen und Trinken beispielsweise aber ich frchte, dass der Bericht schon jetzt viel zu lang geworden ist. Deshalb werde ich mir diese Themen fr meinen Internet-Blog (tinagehtweltwaerts.wordpress.com) oder sptestens den nchsten Zwischenbericht im Februar/Mrz aufsparen. Wer Fragen oder Anregungen hat, kann sich aber natrlich auch gerne per Mail ([email protected]) an mich wenden. Wenn mich heute jemand fragen wrde, ob Indien tatschlich so ist, wie ich es vor meiner Abreise erwartet hatte, dann msste ich gleichzeitig sagen Ja, absolut! und Nein, auf gar keinen Fall! Dieses Land ist so riesig, so abwechslungsreich, so vielseitig und so undurchsichtig, dass es einfach keine zufriedenstellende Beschreibung dafr gibt. Es hat halt von allem etwas: Es ist oft laut, aber in wundersamen Momenten ganz leise; es ist wunderschn, aber zeigt einem auch oft seine hsslichen Grimassen; in manchen Dingen ist es leicht und unkompliziert, in anderen bleibt es ein Buch mit sieben Siegeln; es schillert in allen Farben und wirkt doch manchmal trostlos und grau; vor allem Frauen legt es manchmal Fesseln an, gleichzeitig vermittelt es ein Gefhl von Freiheit und Grenzenlosigkeit. Eines ist Indien aber garantiert nie: Langweilig oder gar einseitig!