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Hélène Visconti

FremdGeschichte eines Lebens

Aus dem Italienischenvon Karin Krieger

Knaus

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Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel«Straniera» bei Neri Pozza Editore, Vicenza

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das FSC-zertifizierte Papier EOS für dieses Buch

liefert Salzer, St. Pölten.

1. AuflageCopyright © der Originalausgabe 2008

by Neri Pozza Editore, VicenzaCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010

beim Albrecht Knaus Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Gesetzt aus der Founier von Greiner & Reichel, KölnDruck und Einband: Friedrich Pustet KG, Regensburg

Printed in GermanyISBN 978-3-8135-0361-6

www.knaus-verlag.de

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Für meine Mutter Vicenta Espert Gil

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Vorbemerkung

Die Sprache vieler basanés, der von Camus beschriebenen Dun kelhäutigen, ist auch meine. Es ist die Sprache von Menschen, die sie, so wie ich, nicht systematisch erlernt, sondern sich notgedrungen angeeignet haben, um sich irgendwie durchzu schlagen.

Es ist die Sprache, die mir half, das Volk und das Land zu lieben, das mich aufgenommen hat. Ich habe gelernt, sie zu schreiben, um Ihnen eine Geschichte zu erzählen, die vielen von uns gehört und die die Ihre sein könnte.

Ich habe sie in meinem zuweilen schlichten Mischlings-italienisch geschrieben, mit dem Sie sich beim Lesen an-freunden müssen. Tun Sie es.

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Morgen würden sechshundert Millionen Gelbe, Milliar-den von Gelben, von Schwarzen, von Braunen über das Kap von Europa strömen … und [es] bestenfalls [umwan-deln]. Dann würde alles, was man ihn und seinesgleichen gelehrt hatte, auch alles, was er gelernt hatte, von diesem Tag die Menschen seiner Rasse, würden alle Werte, für die er gelebt hatte, an Nutzlosigkeit sterben. Was würde dann noch gelten? … Das Schweigen seiner Mutter. Er streckte seine Waffen vor ihr.

Albert Camus, Der erste Mensch

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Algerien

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Lassen Sie Algier, die Hauptstadt, hinter sich. Nehmen Sie die Straße nach Osten, in Richtung Tunesien, und durchqueren Sie die von windschiefen Eukalyptusbäu-men umstandenen Äcker und kleine, einladende Ort-schaften, bevor Sie die sechsundzwanzig Kilometer des letzten Wegstücks in Angriff nehmen, das am Fuß der strengen und zugleich sanften Berge von Dellys in der Großen Kabylei beginnt und bis zum Mittelmeer abfällt. Die letzte der unzähligen Kurven führt nach Tigzirt, was in der Sprache der Berber so viel wie «Insel» bedeutet, ein winziges Dorf mit Häusern, die sich auf dem leicht abschüssigen Gelände bis zum Meer hinunter erstrecken. Stille und Weiträumigkeit empfangen Sie hier und der Eindruck, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Nie-mand wird sich hier über die Ankunft eines Fremden wundern, und falls Sie überhaupt einem Menschen be-gegnen, wird er nicht einmal Notiz von Ihnen nehmen. Das ist keine Gleichgültigkeit, das ist Respekt.

Gehen Sie bis zum höchsten Punkt, drehen Sie sich um und betrachten Sie den Horizont. Sie werden verblüfft sein über die seltene Schönheit der kleinen Insel, die da vor Ihnen im Meer liegt, dem indigoblauen, weiten, ein-drucksvollen Meer.

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Das zu den Bergen aufsteigende, fruchtbare Land hin-ter Ihnen ist mit jahrhundertealten Korkeichen und Oli-venbäumen bewachsen, angepflanzt von den Römern, wie es heißt, die hier Rusucuru gründeten, eine Stadt, die offenbar sehr bedeutend war, bevor sie durch ein heftiges Erdbeben ausgelöscht wurde.

Gehen Sie nun rechts am Dorf vorbei zum Strand von Farny, vorüber an den Ruinen der christlichen Basilika aus dem 5. Jahrhundert mit dem noch erhaltenen Baptis-terium, und Sie werden über den unvermittelten Anblick der Säulen und Bogen aus gelbem Stein staunen, die sich vom Meer und vom Cap Tédlès abheben, diesem wun-derschönen, schattigen Gebirge, das majestätisch aus dem Meer ragt wie ein riesiges, geheimnisvolles und immer-fort schlafendes Tier.

Diese Orte tauchen zusammen mit meinen Kindheits-erinnerungen in meinem heutigen Leben ständig wieder auf, sie ziehen sich durch meinen Alltag in der zuweilen besessenen Suche nach einer Vergangenheit, die sich an-maßend in den Vordergrund schiebt und mich auf dem Weg meines Werdens leitet. Dies ist mein Land, das erste, das ich kennenlernte, das erste von vielen, und es gehört zur Geschichte eines Missverständnisses, das ich noch immer zu verstehen suche, während ich mich bemühe, Bilder, Episoden und die Fetzen einer Zeit zurückzu-holen, die sich mir entzieht und mich manchmal quält, als befände ich mich in einem unkontrollierbaren Taumel am Rand eines gigantischen schwarzen Lochs.

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Dies ist die Geschichte unserer Familie, und sie ende te für uns mit dem Schmerz, das Land verlassen zu müssen, das wir für unsere Heimat hielten. Es ist die Geschichte meiner Großmutter, Madame Pierre, die 1912 mit ihrem Mann von Spanien nach Algerien auswanderte, wenig später Witwe wurde, sich und ihre Kinder durchbrin-gen musste und mich lehrte, aufrecht zu stehen, mit bei-den Beinen fest auf der Erde, mit geradem Rücken und erhobe nem Kopf, so weit wie irgend möglich zu schauen und nicht aufzugeben, niemals. Es ist die Geschichte eines jeden von uns, von Menschen, die, jeder auf seine Art, versuchen, das Leid und die trockenen Tränen des letzten Blicks auf die hinter ihnen liegende Katastrophe zu ver-gessen, alle zur Abreise in einer Reihe hintereinander, bevor sie sich für immer umdrehen, sich niederbeugen und mit unsicherer Hand das einzige Gepäckstück auf-nehmen, das ihnen erlaubt ist: die Erinnerung.

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1936

Es ist die Stunde der Siesta, an einem heißen Nachmittag vor Mariä Himmelfahrt. Das Zirpen der Zikaden scheint kein Ende nehmen zu wollen und gehört zur Stille des Hauses von Madame Sciumà, das auf der linken Seite der Straße zur romanischen Basilika liegt. Das Mädchen, das dort auf dem Fußboden sitzt, bin ich, abseits von der Gruppe der Erwachsenen. Frauen auf unbequemen, leicht wackligen Stühlen. Eine davon ist meine Mutter, die zweite meine Großmutter, und die dritte ist Madame Sciumà, die mit Onkel Carlo aus Neapel verheira tet ist.

Auf der Suche nach etwas Abkühlung auf ihren Stüh-len schaukelnd, plaudern die Frauen, ohne ihre Arbeit auch nur einen Moment zu vernachlässigen. Meine Groß-mutter häkelt an einem komplizierten Spitzendeckchen aus weißer Baumwolle. Meine Mutter strickt einen Pullo-ver aus grober Schafwolle, der bis zum Beginn der kalten Tage fertig werden muss, und Madame Sciumà, die ein Holzei bis zur Ferse in einen Strumpf geschoben hat, voll-bringt ein Meisterwerk, indem sie mit geschickter Hand sich kreuzende Fäden miteinander verflicht und so, ver-siert, wie sie in der Kunst des Stopfens ist, ein Loch, ja

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einen Abgrund schließt. Der große, kühle Raum liegt im wohlorganisierten Halbdunkel der zugezogenen Vor-hänge und des sorgfältig abgemessenen Luftzugs von halb offenen Türen, der die Außentemperatur von vierzig Grad vergessen lässt.

Ich mag den Mittagsschlaf nicht. Ich möchte bei den Großen bleiben, ihnen zuhören, ihre Gesten beobachten, etwas Neues lernen. Durch die angelehnten Fensterläden betrachte ich still das funkelnde Blau des Meeres und ver-treibe mir die Zeit damit, mir Bilder auszudenken, die ich später malen möchte.

Mir entgeht keine Bewegung, und aufmerksam lausche ich dem Gespräch. Im Spiegel mir gegenüber sehe ich mein Bild, ein kleines, klares Gesicht mit regelmäßigen Zügen, einer winzigen, kaum sichtbaren Nase, hellem Haar, kastanienbraun und glatt, das übertrieben kurz ge-schnitten und leicht verstrubbelt ist und auf einer Seite über meiner zu breiten Stirn von einer winzigen Spange gehalten wird; dazu dunkelgrüne Augen, die unangenehm sind, wie die Frauen mir sagen, und außerdem starrsinnig wirken, fügen sie hinzu, durch meinen inquisitorischen, strengen Blick. Ich habe Mühe, mich wiederzuerkennen.

Doch ich bin still. Immer. Ich höre zu.Vicenta, meine Mutter, ist Spanierin. Sie spricht ein

zögerndes, doch klares Französisch. Meine Großmutter väterlicherseits, Marcela, die «Madame Pierre» genannt wird, weil sie die Witwe Pedros ist, spricht ein unver-ständliches Kauderwelsch aus Spanisch und Arabisch. Madame Sciumà spricht ein tadel loses Französisch. Die

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Spanier nehmen oft Anstoß an ihrer mahon-maltesischen Herkunft.

Meine Mutter spricht stets Spanisch mit mir, meine Großmutter in ihrem ganz persönlichen Idiom, das ich inzwischen verstehen kann, und die anderen reden Fran-zösisch, das ich lernen muss, weil es meine Sprache sein wird. Mein liebster Spielkamerad, der Sohn unserer Nach-barin Madame Hazim, spricht nur Arabisch mit mir. Die vielen verschiedenen Sprachen verwirren mich. Muss ich die etwa alle lernen? Das frage ich mich manchmal.

In der Welt, die mich umgibt, sehe ich ausschließlich Frauen, rings um mich her Frauen, die viel reden, die an mir herumnörgeln, die mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe, und die mir allzu oft Vorschriften machen, die ich nicht einsehe.

Männer sind mir lieber. Sie sind freundlich und erzählen mir Geschichten, die ihnen helfen, die Strapazen des har-ten Arbeitstags zu vergessen oder sich an den Teil ihres Lebens zu erinnern, den sie nicht vergessen möchten und der mir wie das schönste aller Märchen vorkommt, die ich zuweilen höre. Etwa die Märchen von Onkel Carlo Schiuma, der in der französischen Aussprache Sciumà ge-nannt wird und von dem ich weiß, dass er nicht mein rich-tiger Onkel ist, denn wir sind Spanier, und das ist schon ein Unterschied. Ich liebe Onkel Carlo sehr, ein sanfter Mann mit großen blauen Augen, die er vielleicht von einem normannischen Kreuzfahrer geerbt hat, der vor langer Zeit in das Land kam, in dem Carlo geboren wur-de. Er ist Maurer wie mein Vater und spricht ein farben-

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frohes Französisch, das ich gern höre. Immer gut gelaunt und liebenswürdig, erzählt er mir Geschichten, viele Ge-schichten, von seinem Neapel, von dem er annimmt, dass er es nie wiedersehen wird, nachdem auch er nach dem Ersten Weltkrieg aus Italien fortgegangen ist und nun nicht einmal die Absicht hat, dorthin zurückzukehren. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er darüber spricht, sagt er, die letzten Jahre hier seien trotz aller Schwierig-keiten wunderschön gewesen. Er habe sich einen kleinen Betrieb aufbauen können, es fehle nicht an Arbeit, er habe tausend Ideen im Kopf, neue Herausforderungen, denen er sich stellen könne, und außerdem habe er vor kurzem geheiratet, eine seit dem Weltkrieg verwitwete Französin, Madame Sciumà, eine freundliche, wohlhabende Frau mit zwei bereits erwachsenen Kindern, Sohn Marcel und Tochter Simone, er habe nun also eine Familie. Kurz, er sei glücklich.

Gegen Abend, wenn Carlo von seinem anstrengenden Tag heimkommt, erholt er sich im kühlen Schatten des Gartens vor dem Haus. Er sitzt aufrecht auf einem der Holzstühle mit Korbgeflecht, die für seinen wuchtigen Körper zu klein sind, die Handflächen auf den gespreizten Beinen nach oben, als wollte er ganz sicher sein, dass sei-ne schwieligen Hände sich ausruhen können.

Ich komme herbei, klettere auf seine Knie, und schon scheint diese Statue aus ihrer uralten Müdigkeit zu neuem Leben zu erwachen. Ich bitte ihn um eine Geschichte, und er erzählt mir auf Neapolitanisch von längst vergangenen Dingen und verliert sich in der Sehnsucht nach Orten

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und Ereignissen, an die er sich nicht mehr genau erinnern kann, und ich höre ihm neugierig zu, auch wenn ich kaum etwas verstehe und oft einschlafe.

Ich sitze mit gekreuzten Beinen auf dem kühlen, roten Backsteinboden. Rings um mich her habe ich nach einem undurchschaubaren Plan meine Schätze verteilt. Nie-mand scheint Notiz von mir zu nehmen, als plötzlich Ma-dame Sciumàs energische Stimme ertönt: «Hélène! Wo ist deine Schwester? Schläft sie? Sieh nach, ob sie wach ist. Bring sie her. Sie ist so niedlich! Immer lacht sie …» Ah, da haben wir den Unterschied. Zumindest sagt mir jemand, was ich nicht bin. Das ist doch schon etwas. Ich muss mich anpassen. Ich habe keine Lust, mich zu be-wegen. Mit einer Hand umklammere ich die beiden Stifte und das Stück Papier, das ich erbeutet habe. Ich will ma-len. Vor wenigen Tagen hatte ich Geburtstag. Niemand denkt daran. Natürlich, man muss sich ja um meine kleine Schwester kümmern, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht und noch dazu niedlich, artig und immer zu einem Lachen aufgelegt ist! Ich dagegen schaue stets kritisch in die Welt, und nicht immer tue ich gern, was man mir sagt. Sie bringen mir bei, dass ich hören soll, gehorchen, und dass ich das später schon verstehen werde. Immer wollen sie etwas von mir. So wie jetzt auch, die übliche dumme Frage: «Was willst du werden, wenn du groß bist?»

Uff! Ich bin aufgestanden und sehe die Frauen an.«Ich? Ich werde unabhängig!»«Was ist denn das für eine Antwort?», schimpft Ma-

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dame Sciumà und fügt hinzu: «Das ist doch kein Beruf!» Die Frauen knurren und murren im Chor und geben mir barsch zu verstehen, dass ein Mädchen, wenn es groß ist, zum Beispiel heiraten und Kinder bekommen könne. Das sei zwar auch kein richtiger Beruf, doch wenigstens eine Bestimmung, und meistens fingen die Mädchen so an. Dann, eventuell …

Jede der Frauen erläutert ihre Vorstellung davon, was ein Mädchen tun kann, wenn es groß ist, doch ich weiß es bereits und antworte erneut:

«Ich? Wenn ich groß bin, werde ich unabhängig!»

Meine Mutter erzählt, wie mein Vater im vergangenen Juni plötzlich beschloss, nach Algier zu fahren, und wir unsere erste Reise unternahmen. Ich durfte mit, weil ich schon groß genug war, während meine Schwester bei un-serer Großmutter blieb. Wir fuhren mit einem klapprigen Bus, der voller Araber war, überall hielt und jedes Mal nur mit Mühe wieder anfuhr. Einhundertzweiunddreißig Kilometer, ohne dass wir die Anstrengung spürten, so glücklich waren wir, vor den Fenstern eine neue Land-schaft vorüberziehen zu sehen. Man sprach über nichts anderes mehr als über die neue Regierung, die im ver-gangenen Mai vom Chef der Sozialistischen Partei, Léon Blum, gebildet worden war und «Volksfront» genannt wurde. Mein Vater wollte sich ein Bild machen und mehr darüber erfahren.

Es war nicht schwer, meine Mutter zu überreden, die seit langem auf ihre ersten Ferien wartete, und so kamen

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wir zu dritt in Algier an, in «Algier, der Weißen», auf-geregt, neugierig und zu Gast in der Wohnung unserer Freunde Sanchez im ersten Stock in der Rue Belcourt, ei-ner langen, volkstümlichen Straße, die zu einem Armen-viertel führte.

Meine Mutter freute sich, in der «großen» Stadt zu sein, wollte alles anschauen, schlenderte mit mir auf dem Arm durch die Straßen und sah sich alle Schaufenster der endlosen Rue Michelet an, und als sie schließlich das elegante, riesige Geschäft «Les Galeries de France» be-trat, durchstöberte sie es bis in den letzten Winkel. Sie untersuchte alles, befühlte die Stoffe, denn damit kannte sie sich aus, betastete sie fachmännisch, analysierte sie, bemängelte sie und prüfte, ob es sich um Baumwolle oder um reine Wolle handelte. Und die Kleider? Waren sie gut gearbeitet? Nach der neuesten Mode? Nicht zu teuer? Ich beobachtete alles aufmerksam und nahm Anteil an ihrem schwierigen Vorhaben, etwas zu kaufen, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, was es denn sein sollte. Doch sie wusste, dass sie eine, wenn auch bescheidene, Summe ausgeben konnte, und sehnte sich nach etwas Luxus, der sie für alle Entbehrungen entschädigen sollte, für alle Opfer, die sie gebracht hatte, seit sie Spanien ver-lassen hatte, um René zu folgen, meinem Vater, der in ihr kleines Dorf im Umland von Valencia gekommen war, der um sie geworben und sie geheiratet hatte.

Geduldig verfolgte ich jede ihrer Bewegungen und fragte mich: «Wann wird die Müdigkeit siegen?» Endlich entschied sie sich für eine kurze Jacke, eine Art Bolero in

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Dunkelbraun, mit großen, flauschigen Bouclémaschen, die wie Astrachan anmuteten, und zog sie, kurz nach-dem sie sie gekauft hatte, trotz der Hitze an. Ich berührte den weichen Flor ihrer Jacke und schlief wohlig an ihrer Schulter ein, während sie weiterschlenderte und mich, stolz auf ihre Erwerbung, zur Wohnung der Sanchez’ zurücktrug. Dort angekommen, zeigte sie sie allen und rechnete mit Komplimenten, doch stattdessen traf sie auf eine gewisse Zurückhaltung, die sie sich nicht erklä-ren konnte. Man hatte sich versammelt und diskutierte. Jemand sagte, dass mit schwierigen Zeiten zu rechnen sei. Jemand anders erklärte, künftig müsse jeder für den Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie mobilisiert werden.

Arbeiterumzüge, die sozialistische Linke, Freudenkund-gebungen und Forderungen nach sozialen Verbesserun-gen prägten das Stadtbild, und auf den Straßen erklang die Internationale. Vom Balkon aus sahen wir auf der Stra-ße einen Menschenstrom vorüberziehen. Nie zuvor hatte ich so viele Menschen gesehen. Wo kamen sie her? «Was sind das für Versprechungen, die unser Los verbessern sollen?», fragte mein Vater. Er hat nie an Versprechun-gen geglaubt und sagte, es sei schlichtweg unmoralisch, von den Reichen zu nehmen, um den Armen zu geben. Er wolle nicht der Komplize politischer Kräfte sein, die solche Pläne verfolgten und dann auch noch seine Zu-stimmung haben wollten. «Die einzige Lösung ist», fügte er hinzu, «dass wir hart arbeiten und uns jedes Stück Brot, das wir essen, selbst verdienen.»

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Mein Vater hatte nichts übrig für Menschenmassen, für die Umzüge, für den Lärm und die Aufregung jener Leute, die mit Fahnen und lauthals gerufenen Slogans durch die Straßen zogen. Politik war nichts für ihn, doch man darf nicht vergessen, dass er Ausländer war und des-halb zu den Spionen und Subversiven gerechnet wurde, die schon 1934 von Premierminister Daladier als «Troja-nisches Pferd» bezeichnet worden waren und alle inter-niert werden sollten.

Nun, im Jahr 1936, hat sich die Situation verändert. Die Linke hat gewonnen. Léon Blum, der Chef der Sozialis-tischen Partei, hat vor kurzem eine Volksfrontregierung gebildet, und mein Vater ist gekommen, um sich ein Bild zu machen. Die im schattigen Wohnzimmer versammel-ten Leute, die Zuflucht vor der Hitze suchen, reden darü-ber und äußern Urteile und Meinungen. Ein Freund von Sanchez zitiert den neuesten Kommentar, den er vor kur-zem in einem Blatt der Métropole gelesen hat und der alle wegen seines aggressiven Rassismus überrascht: «Zum ersten Mal wird dieses alte gallorömische Land von einem Juden regiert, und für eine Agrarnation wie Frankreich wäre es wünschenswerter, von jedem anderen regiert zu werden, selbst von jemandem von bescheidenster Her-kunft, der dafür in unserem Boden verwurzelt ist, und nicht von einem spitzfindigen Ausleger des Talmud.»

Meine Mutter kannte keine politischen Diskussionen, und mit einem Blick zu meinem Vater spürte sie das gleiche Unbehagen wie er. Im selben Moment und mit diesem

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einen Blick verstanden sie, dass sie nicht Teil der politi-schen Situation waren, die sie vor sich hatten.

Meine Mutter hatte keineswegs ein schlechtes Gewissen wegen ihres Kaufs. Sie bemerkte zwar den in der Luft liegenden Unmut, versuchte jedoch nicht, sich zu recht-fertigen. Sie wollte lediglich sagen, dass fünf Jahre harter Arbeit ins Land gegangen waren, seit sie aus Spanien herübergekommen war, dass sie zwei Kinder zur Welt gebracht hatte und dass ihr das kleine Geschenk, das sie sich gekauft hatte, durchaus zustand.

Sie hatte unweigerlich etwas Vorwurfsvolles und fast schon Voreingenommenheit aus den Gesprächen um sie her herausgehört.

Auch die Frauen hier in Tigzirt, die wie üblich in Ma-dame Sciumàs großem Zimmer zusammensitzen, bean-standen die Unbedachtheit meiner Mutter, die ihre Zeit in Algier nur für die Suche nach einem Geschenk vergeudet habe. Sie strickt verbissen weiter, kann ihren Verdruss nicht verhehlen und betont wieder und wieder, dass sie schon so lange auf diese Reise gewartet habe, wie auf eine Belohnung oder zumindest wie auf einen verdienten Ur-laub, sie habe nicht für möglich gehalten, dass der Kauf eines Jäckchens sich in ein Schuldgefühl verwandeln kön-ne. Doch bei ihrer halblauten Einschätzung der jüngsten Nachrichten weisen die Frauen darauf hin, dass die Lage leider immer beunruhigender werde, so dass sich meine Mutter unbehaglich fühlt und ihr Ton ruhiger, zögernder und sogar verlegen wird.