volumentherapie 2013 – ein meilenstein für die patientensicherheit?; fluid resuscitation 2013 –...

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Notfall Rettungsmed 2014 · 17:21–24 DOI 10.1007/s10049-013-1834-3 Online publiziert: 22. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 F.M. Brunkhorst 1, 2, 3 1 Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Sepsis und Sepsisfolgen (CSCC), Universitätsklinikum Jena 2 Zentrum für Klinische Studien (ZKS), Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Jena 3 Paul-Martini-Forschergruppe für Klinische Sepsisforschung, Universitätsklinikum Jena Volumentherapie 2013 –   ein Meilenstein   für die Patientensicherheit? Hintergrund In Europa war der Gebrauch von kolloida- len Volumenersatzmitteln, insbesondere von Hydroxyethylstärke(HES)-Lösungen, bis vor wenigen Jahren sehr verbreitet [1]. Anwender von HES favorisierten die Praktikabilität im klinischen Alltag, die rasche und sichtbare Verbesserung von Surrogatparametern für das klinische Outcome, unter anderem den schnelleren Anstieg des mittleren arteriellen und des zentralvenösen Drucks sowie verschiede- ne aus pathophysiologischer Sicht mögli- cherweise günstige Effekte auf die Mikro- zirkulation, die in der Arbeit von Chappell u. Jacob [2] ausführlich dargestellt sind. Eine Überlegenheit von HES gegen- über kristalloiden Lösungen war jedoch nicht belegt, da randomisierte klinische Studien mit ausreichend langer Nach- beobachtungszeit und großer Fallzahl fehlten [3]. Darüber hinaus fehlten sys- tematisch erhobene Daten zur Sicherheit von HES aus klinischen Studien entlang der Standards der ICH Guideline E2A [4] zu unerwünschten Nebenwirkungen, ob- gleich bekannt war, dass HES-Lösungen durch organspezifische Akkumulation in der Haut zu Pruritus sowie zu Nieren- und Leberschäden führen können [5–7]. Erste klinische Hinweise auf eine Nephro- toxizität von HES in der Behandlung von Patienten mit hypovolämischem Schock bei schwerer Sepsis wurden bereits 2001 in einer Studie von Schortgen et al. [8] publiziert. Die Ergebnisse wurden jedoch in der Intensiv- und Notfallmedizin we- nig wahrgenommen. Aufgrund des Feh- lens weiterer Evidenz zu diesem The- ma entschloss sich daraufhin die deut- sche Studiengruppe Kompetenznetz Sep- sis (SepNet) in den Jahren 2003 bis 2005 erstmals eine große randomisierte Studie (RCT) zur Wirksamkeit und Sicherheit von HES bei Patienten mit schwerer Sep- sis und/oder septischem Schock durch- zuführen, deren Ergebnisse in der Folge weltweit weitere RCTs zu dieser Fragestel- lung ausgelöst haben. VISEP-Studie In der 2008 publizierten VISEP-Studie [9] wurden 600 (537 auswertbare) Patien- ten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock randomisiert entweder mit einem – in den Jahren 2003 bis 2005 noch sehr häufig in der klinischen Routine verwen- deten – hyperonkotischen HES-Produkt (10%, MG 200 kD, molarer Substitutions- grad 0,5) oder mit einer Ringer-Lactat- Lösung behandelt. Die VISEP-Studie ver- wendete erstmals ein AE/SAE Reporting System, obgleich dieses damals gesetz- lich noch nicht vorgeschrieben war (die 15. AMG-Novelle trat erst 2009 in Kraft). Patienten in der HES-Gruppe wiesen ein dosisabhängig signifikant erhöhtes Risiko für ein akutes Nierenversagen mit konse- kutiver Notwendigkeit für eine Nieren- ersatztherapie, verbunden mit einer Ver- dopplung von Nierenersatzbehandlungs- tagen, auf. Die Ergebnisse der VISEP-Stu- die wurden kontrovers diskutiert. Argu- mente waren, dass eine „ältere“ HES-Lö- sung verwendet wurde und „moderne“ HES-Lösungen (6%, MG 130 kD, Substi- tutionsgrad 0,4) keine nephrotoxischen Nebenwirkungen aufweisen würden. CHEST-Studie In der 2012 publizierten CHEST-Studie [10] wurden 7000 Patienten mit hypo- volämischem Schock, davon 28,5% mit Sepsis auf 32 Intensivstationen in Aus- tralien und Neuseeland rekrutiert. Die Pa- tienten erhielten randomisiert und dop- pelblind entweder HES (130/0,4, Volu- ven®) oder eine Kochsalzlösung (NaCl 0,9%). Der primäre Endpunkt war die Sterblichkeit nach 90 Tagen, das Auftre- ten eines akuten Nierenversagens und die Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie. Patienten in der HES-Gruppe wiesen mit 7,0% ein um 21% relatives Risiko (1,2% ab- solut) auf, mit Nierenersatztherapien be- handelt zu werden, verglichen mit 5,8% in der mit NaCl behandelten Gruppe (num- ber-needed-to-harm: 83). HES-Patienten benötigten zwar weniger Volumentherapie (in ml), aber mehr Blutprodukte. Zudem waren das Serum-Bilirubin und die Ra- te an Pruritus (4,0% vs. 2,2%) höher. Der Vasopressorbedarf war bei HES-Patienten Kommentar zu Chappell D, Jacob M (2013) Flüs- sigkeits- und Volumentherapie 2013. Ein Spagat zwischen Physiologie, Evidenz und Politik. Not- fall Rettungsmed 8:617–625. Redaktion M. Baubin, Innsbruck B. Gliwitzky, Offenbach a. d. Queich T. Luiz, Kaiserslautern H.P. Moecke, Hamburg S. Poloczek, Berlin 21 Notfall +  Rettungsmedizin 1 · 2014| Konzepte - Stellungnahmen - Leitlinien

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Page 1: Volumentherapie 2013 – ein Meilenstein für die Patientensicherheit?; Fluid resuscitation 2013 – a milestone in patient safety?;

Notfall Rettungsmed 2014 · 17:21–24DOI 10.1007/s10049-013-1834-3Online publiziert: 22. Januar 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

F.M. Brunkhorst1, 2, 3

1 Integriertes Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) Sepsis

und Sepsisfolgen (CSCC), Universitätsklinikum Jena2 Zentrum für Klinische Studien (ZKS), Klinik für Anästhesiologie

und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Jena3 Paul-Martini-Forschergruppe für Klinische Sepsisforschung, Universitätsklinikum Jena

Volumentherapie 2013 –  ein Meilenstein  für die Patientensicherheit?

Hintergrund

In Europa war der Gebrauch von kolloida-len Volumenersatzmitteln, insbesondere von Hydroxyethylstärke(HES)- Lösungen, bis vor wenigen Jahren sehr verbreitet [1]. Anwender von HES favorisierten die Praktikabilität im klinischen Alltag, die rasche und sichtbare Verbesserung von Surrogatparametern für das klinische Outcome, unter anderem den schnelleren Anstieg des mittleren arteriellen und des zentralvenösen Drucks sowie verschiede-ne aus pathophysiologischer Sicht mögli-cherweise günstige Effekte auf die Mikro-zirkulation, die in der Arbeit von Chappell u. Jacob [2] ausführlich dargestellt sind.

Eine Überlegenheit von HES gegen-über kristalloiden Lösungen war jedoch nicht belegt, da randomisierte klinische Studien mit ausreichend langer Nach-be obachtungszeit und großer Fallzahl fehlten [3]. Darüber hinaus fehlten sys-tematisch erhobene Daten zur Sicherheit von HES aus klinischen Studien entlang der Standards der ICH Guideline E2A [4] zu unerwünschten Nebenwirkungen, ob-gleich bekannt war, dass HES-Lösungen durch organspezifische Akkumulation in der Haut zu Pruritus sowie zu Nieren- und Leberschäden führen können [5–7]. Erste klinische Hinweise auf eine Nephro-toxizität von HES in der Behandlung von Patienten mit hypovolämischem Schock bei schwerer Sepsis wurden bereits 2001 in einer Studie von Schortgen et al. [8] publiziert. Die Ergebnisse wurden jedoch

in der Intensiv- und Notfallmedizin we-nig wahrgenommen. Aufgrund des Feh-lens weiterer Evidenz zu diesem The-ma entschloss sich daraufhin die deut-sche Studien gruppe Kompetenznetz Sep-sis (SepNet) in den Jahren 2003 bis 2005 erstmals eine große randomisierte Studie (RCT) zur Wirksamkeit und Sicherheit von HES bei Patienten mit schwerer Sep-sis und/oder septischem Schock durch-zuführen, deren Ergebnisse in der Folge weltweit weitere RCTs zu dieser Fragestel-lung ausgelöst haben.

VISEP-Studie

In der 2008 publizierten VISEP-Studie [9] wurden 600 (537 auswertbare) Patien-ten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock randomisiert entweder mit einem – in den Jahren 2003 bis 2005 noch sehr häufig in der klinischen Routine verwen-deten – hyperonkotischen HES-Produkt (10%, MG 200 kD, molarer Substitutions-grad 0,5) oder mit einer Ringer-Lactat-Lösung behandelt. Die VISEP-Studie ver-wendete erstmals ein AE/SAE Reporting System, obgleich dieses damals gesetz-lich noch nicht vorgeschrieben war (die 15. AMG-Novelle trat erst 2009 in Kraft). Patienten in der HES-Gruppe wiesen ein dosisabhängig signifikant erhöhtes Risiko für ein akutes Nierenversagen mit konse-kutiver Notwendigkeit für eine Nieren-ersatztherapie, verbunden mit einer Ver-dopplung von Nierenersatzbehandlungs-tagen, auf. Die Ergebnisse der VISEP-Stu-

die wurden kontrovers diskutiert. Argu-mente waren, dass eine „ältere“ HES-Lö-sung verwendet wurde und „moderne“ HES-Lösungen (6%, MG 130 kD, Substi-tutionsgrad 0,4) keine nephrotoxischen Nebenwirkungen aufweisen würden.

CHEST-Studie

In der 2012 publizierten CHEST-Studie [10] wurden 7000 Patienten mit hypo-volämischem Schock, davon 28,5% mit Sepsis auf 32 Intensivstationen in Aus-tralien und Neuseeland rekrutiert. Die Pa-tienten erhielten randomisiert und dop-pelblind entweder HES (130/0,4, Volu-ven®) oder eine Kochsalzlösung (NaCl 0,9%). Der primäre Endpunkt war die Sterblichkeit nach 90 Tagen, das Auftre-ten eines akuten Nierenversagens und die Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie. Patienten in der HES-Gruppe wiesen mit 7,0% ein um 21% relatives Risiko (1,2% ab-solut) auf, mit Nierenersatztherapien be-handelt zu werden, verglichen mit 5,8% in der mit NaCl behandelten Gruppe (num-ber-needed-to-harm: 83). HES-Patienten benötigten zwar weniger Volumentherapie (in ml), aber mehr Blutprodukte. Zudem waren das Serum-Bilirubin und die Ra-te an Pruritus (4,0% vs. 2,2%) höher. Der Vasopressorbedarf war bei HES-Patienten

Kommentar zu Chappell D, Jacob M (2013) Flüs-sigkeits- und Volumentherapie 2013. Ein Spagat zwischen Physiologie, Evidenz und Politik. Not-fall Rettungsmed 8:617–625.

RedaktionM. Baubin, InnsbruckB. Gliwitzky, Offenbach a. d. QueichT. Luiz, KaiserslauternH.P. Moecke, HamburgS. Poloczek, Berlin

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geringfügig niedriger, allerdings waren Parameter der Gewebeperfusion (Laktat) und der mittlere arterielle Blutdruck nicht unterschiedlich. Die 90- Tage-Sterblichkeit war nicht unterschiedlich (17% vs. 18%, re-latives Risiko RR 1,06, p=0,26). HES-Pa-tienten hatten höhere Serum-Kreatinin-Werte und eine niedrigere Urinausschei-dung innerhalb der ersten Behandlungs-woche.

6S-Studie

In der ebenfalls 2012 publizierten 6S-Studie [11] wurden 804 Patienten mit schwerer Sepsis auf 26 Intensivstationen in 4 skandinavischen Ländern doppel-blind in einen HES- (HES 6% 130/0,42; Tetraspan®) oder einen Ringer-Acetat- Behandlungsarm randomisiert. Der pri-märe Endpunkt war Tod oder termina-le Niereninsuffizienz mit Dialysepflicht 90 Tage nach der Randomisierung. Die 90-Tage-Sterblichkeit betrug 51% (201/398) in der HES-Gruppe und 43% (172/400) in der Ringer-Acetat- Gruppe. Daraus ergab sich ein RR von 1,17 mit einem 95%-Konfidenzintervall (95%-KI)

von 1,01–1,36; p=0,03 zu ungunsten der HES-Gruppe.

Innerhalb des 90-Tage-Zeitraums wurden 22% (87/398) der Patienten aus der HES-Gruppe mit einem Nieren-ersatzverfahren im Vergleich zu 16% (65/400) der Patienten aus der Ringer-Acetat-Gruppe (RR 1,35; 95%-KI 1,0–1,80; p=0,04) behandelt. In der HES-Gruppe traten bei 10% (38/398) und in der Rin-ger-Acetat-Gruppe bei 6% (25/400) der Patienten eine schwere Blutung auf (RR 1,52; 95%-KI 0,94–2,48; p=0,09).

CRISTAL-Studie

In der 2013 publizierten CRISTAL-Stu-die [12] wurden Kristalloide mit Kolloi-den bei 2857 erwachsenen Patienten mit akutem hypovolämischem Schock auf 57 Intensivstationen in 5 Ländern über eine Studiendauer von 9 Jahren verglichen. Die Randomisierung erfolgte stratifiziert nach Diagnose (hypovolämischer Schock auf-grund von Trauma, Sepsis, oder aus ande-ren Gründen) und unverblindet „pragma-tisch“ in entweder eine Kristalloidgruppe oder Kolloidgruppe. In der Kristalloid-gruppe waren dabei jede Art von iso- oder hypertonischen Kochsalz lösungen oder Ringer-Acetat oder - Lactat-Lösungen er-laubt. In der Kolloidgruppe konnten jede Art von hypoonkotischen Lösungen, wie Gelatine, 3% oder 4% Albumin, oder hy-peronkotischen Lösungen, wie Dextrane, HES oder 20% oder 25% Albumin, ver-abreicht werden. Die Studie war konzi-piert, um einen 5% igen absoluten Unter-schied in der 28-Tage-Sterblichkeit nach-zuweisen, wurde aber auf der Grundlage einer vorgegebenen Stopp regel nach Ein-schluss von 2857 der geplanten 3010 Pa-tienten vorzeitig beendet. Während die Patienten in der Kris talloidgruppe deut-lich mehr Volumen erhielten, war die 28- Tage-Sterblichkeit in den Gruppen nicht unterschiedlich [359/1414 (25,4%) Patienten in der Kolloid gruppe vs. 390/1443 (27,0%) Patienten in der Kris-talloidgruppe]. Patienten in der Kolloid-gruppe wiesen weniger Vasopressor- und Beatmungstherapie an den Tagen 7 und 28 sowie eine signifikant niedrige-re 90-Tage-Sterblichkeit auf [434/1414 (30,7%) vs. 493/1443 (34,2%)]. Andere se-kundäre Endpunkte, einschließlich einer

Behandlung mittels Nierenersatzverfah-ren an den Tagen 7 und 28 waren nicht unterschiedlich.

CRISTAL – ändert sich die Evidenz?

In einem begleitenden Editorial zur CRISTAL-Studie [13] wird betont, dass die Ergebnisse der „pragmatischen“ Studie im Gegensatz zu den anderen RCTs mit Vor-sicht interpretiert werden müssen. Erstens wurden in der Studie nicht spezifische Substanzen, sondern Substanzklassen ver-glichen, was die externe Validität der Stu-dienergebnisse extrem erschwert. Zwei-tens war der Studienzeitraum mit fast 10 Jahren für eine derartige Studie unge-wöhnlich lang, was sowohl einen „selec-tion bias“ als auch einen „attrition bias“ nahelegt. Drittens muss der Unterschied in der 90-Tage-Sterblichkeit relativiert werden, da dieses nicht der primäre End-punkt war und die Konfidenzintervalle sich der 1,0 nähern (RR [95% CI]): 0,92 [0,86–0,99]). Die Befunde legen vielmehr nahe, dass eine Behandlung mit Kolloiden innerhalb des CRISTAL-Studien designs möglicherweise „sicher“ ist, mögliche protektive Effekte sind jedoch spekulativ und benötigen eine Validierung.

Die Ergebnisse von 6S und CHEST haben die Therapierisiken mit HES, welche durch die VISEP-Studie erstmals aufgezeigt wurden, bestätigt und sind als starkes Signal für ein ungünstiges Nutzen-Risiko-Verhältnis in der Therapie von Pa-tienten mit hypovolämischem Schock, insbesondere für Intensivpatienten und Patienten mit Sepsis, anzusehen.

In keiner Studie konnte bisher ein Überlebensvorteil für Kolloide aufgezeigt werden, vielmehr ergab sich für HES-Produkte eine signifikant höhere Rate an Neben wirkungen, v. a. an Nephrotoxizität. Im Vergleich zu HES-Lösungen sind viel-mehr 3%ige Albuminlösungen als sicher anzusehen [14]. In der SAFE-Studie zeig-te sich darüber hinaus in einer Subgruppe von 1620 Patienten mit Sepsis ein Trend zu einer reduzierten 28-Tage-Sterblichkeit zugunsten von Albumin 3% im Vergleich zu NaCl 0,9% [14].

Infobox 1

Rote-Hand-Brief HES vom 12.11.2013Information zur Anwendungsbeschränkung von Hydroxyethylstärke-haltige Arzneimittel sind unter folgender Internetadresse einzu-sehen:http://www.akdae.de/Arzneimittelsicher-heit/RHB/Archiv/2013/20131118.pdfEuropean Medicines AgencyDie European Medicines Agency hat am 11.10.2013 die StellungnahmePRAC confirms that hydroxyethyl-starch soluti-ons (HES) should no longer be used in patients with sepsis or burn injuries or in critically ill patientsveröffentlicht.Siehe:http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Press_release/2013/10/WC500151964.pdfAm 25.10.2013 folgte die StellungnahmeHydroxyethyl-starch solutions (HES) should no longer be used in patients with sepsis or burn injuries or in critically ill patients – CMDh endorses PRAC recommendationsSiehe:http://www.ema.europa.eu/docs/en_GB/document_library/Press_release/2013/10/WC500153125.pdf

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Konsequenzen – was sagen die Aufsichts behörden?

Aufgrund dieser Ergebnisse initiierte das BfArM in Deutschland im November 2012 auf europäischer Ebene ein Risi-koverfahren (Referral Procedure, Artic-le 31 of Directive 2001/83/EC) zur grund-legenden Überprüfung des Nutzen-Risi-ko-Verhältnisses von HES-haltigen In-fusionslösungen. Am 28.10.2013 been-dete der Ausschuss für Risikobewer-tung im Bereich der Pharma kovigilanz (PRAC) der europäischen Arzneimittel-agentur (EMA) das Bewertungsverfah-ren zu HES-haltigen Infusionslösungen [15]. Die PRAC-Empfehlung wurde von der Koordinierungsgruppe (Coordina-tion Group for Mutual Recog nition and Decentralised Procedures – Human, CMDh), auf ihrer Oktobersitzung mehr-heitlich angenommen. Die finale Verab-schiedung einer rechtlich verbindlichen Entscheidung obliegt nun der Europä-ischen Kommission.

Der am 12.11.2013 vom BfArM versen-dete Rote-Hand-Brief (s. auch . Infobox 1) sei hier noch einmal zitiert [16]:

HES-haltige Infusionslösungen sollten nur für die Behandlung einer Hypovolämie auf-grund akuten Blutverlustes verwendet wer-den, wenn die Gabe von kristalloiden Infu-sionslösungen alleine nicht als ausreichend betrachtet wird. Sie sollten in der niedrigst wirksamen Dosis und so kurz als möglich angewendet werden. Die Behandlung soll-te sich an den Ergebnissen kontinuierlicher hämodynamischer Überwachung orien-tieren, sodass die Infusion beendet werden kann, sobald die hämodynamischen Ziele erreicht wurden. HES-haltige Infusionslö-sungen sind nun kontraindiziert bei:F SepsisF VerbrennungenF Eingeschränkter Nierenfunktion

oder bei NierenersatztherapieF Intrakranieller oder zerebraler

BlutungF Kritisch kranken Patienten (in der

Regel auf der Intensivstation)F Hyperhydratation, einschließlich

Patienten mit LungenödemF DehydratationF Schwerer GerinnungsstörungF Schweren Leberfunktionsstörungen

Es liegen keine ausreichend robusten Lang-zeitdaten zur Sicherheit von HES bei chir-urgischen und Trauma-Patienten vor. Der erwartete Nutzen der Behandlung soll-te sorgfältig gegen die Ungewissheit in Be-zug auf die langfristige Sicherheit abgewo-gen werden. Andere verfügbare Behand-lungsmöglichkeiten sollten in Betracht ge-zogen werden. Große randomisierte klini-sche Studien haben über ein erhöhtes Risiko für Nierenfunktionsstörungen bei kritisch kranken Patienten, einschließlich Patienten mit Sepsis, berichtet. HES sollte bei diesen Patienten nicht weiter angewendet werden. Der Einsatz von HES sollte beim ersten An-zeichen einer Nierenschädigung beendet werden und es wird empfohlen, die Nieren-

funktion der mit HES behandelten Patien-ten zu überwachen.

Wo ist der Beweis? – Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin

Vor dem Hintergrund der vorliegen-den Daten zu HES in der Behandlung des hypo volämischen Schocks und de-ren Implikation für die Patientensicher-heit erscheint es befremdlich, dass Chap-pell u. Jacob [2] die Evidenz in Frage und die Erkenntnisse aus der Pathophysiologie in den Vordergrund stellen. Politik ist ein schlechter Ratgeber, wenn es um wissen-schaftlich begründete Evidenzfindung geht.

Zusammenfassung · Abstract

Notfall Rettungsmed 2014 · 17:21–24 DOI 10.1007/s10049-013-1834-3© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

F.M. BrunkhorstVolumentherapie 2013 – ein Meilenstein für die Patientensicherheit?

ZusammenfassungHintergrund. Hydroxyethylstärke(HES)-hal-tige Infusionslösungen sollten nur für die Be-handlung einer Hypovolämie aufgrund aku-ten Blutverlusts verwendet werden, wenn die Gabe von kristalloiden Infusionslösungen al-leine nicht als ausreichend betrachtet wird. Sie sollten in der am niedrigsten wirksamen Dosis und so kurz wie möglich angewendet werden.Material und Methoden. Auswertung der aktuellen Literatur und klinischer Studien.Ergebnisse und Schlussfolgerungen. Gro-ße randomisierte klinische Studien haben über ein erhöhtes Risiko für Nierenfunk-

tionsstörungen bei kritisch kranken Patien-ten, einschließlich Patienten mit Sepsis, be-richtet. HES sollte bei diesen Patienten nicht weiter angewendet werden. Der Einsatz von HES sollte beim ersten Anzeichen einer Nie-renschädigung beendet werden und es wird empfohlen, die Nierenfunktion der mit HES behandelten Patienten zu überwachen“.

SchlüsselwörterHydroxyethylstärke · Intensivmedizin · Nierenversagen · Volumentherapie · Klinische Studien

Fluid resuscitation 2013 – a milestone in patient safety?

AbstractBackground. The Pharmacovigilance Risk Assessment Committee (PRAC) of the Euro-pean Medicines Agency recently conclud-ed that the benefits of hydroxyethyl starch (HES) no longer outweigh the risks and rec-ommended that the marketing authoriza-tion for HES products should be suspended. The recommendation applies equally to pa-tients with hypovolemia, hypovolemic shock, critically ill patients including those with sep-sis, burns or trauma and those undergoing surgery.Material and methods. Research of current literature and analysis of clinical trials.Results and conclusions. The decision was based mainly on the results of three random-

ized trials in critically ill patients comparing HES with crystalloids which showed a great-er risk of kidney damage requiring renal re-placement therapy in the HES group. Of these studies two also showed a greater risk of mortality in patients treated with HES. Other studies have also shown that use of HES is as-sociated with renal impairment.

KeywordsHydroxyethyl starch · Intensive care medicine · Renal failure · Plasma substitutes · Randomized trials

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Unter dem Titel „Wo ist der Beweis? – Plädoyer für eine evidenzbasierte Medi-zin“ ist kürzlich ein überaus lesenwertes Buch der renommierten Epidemiologen und Mediziner um Imogen Evans, Hazel Thornton, Iain Chalmers und Paul Glasziou erschienen [17]. Die Autoren er-läutern darin an historischen und aktu-ellen Beispielen, wie Forscher blind für einseitige Auswertungen sind oder gerne das glauben wollen, was sie von ihren Stu-dien anfangs erhofft hatten – obwohl es die Ergebnisse nicht hergeben.

Daraus möchten die Autoren folgende Sätze zitieren, die zu den Voraussetzungen guter klinischer Praxis gehören:F Die Überprüfung neuer Therapien ist

notwendig, weil die Wahrscheinlich-keit, dass neue Therapien schlechter sind als bestehende Behandlungen, ebenso hoch ist wie die Wahrschein-lichkeit, dass sie besser sind.

F Die Tatsache, dass eine Therapie zuge-lassen ist, ist keine Gewähr dafür, dass sie auch sicher ist.

F Oft dauert es gewisse Zeit, bis die Nebenwirkungen einer Therapie er-kennbar werden.

F Die nützlichen Effekte einer Therapie werden häufig übertrieben, während schädliche Wirkungen negiert werden.

Um die entsprechenden Erkenntnisse auch Laien zugänglich zu machen, ist der komplette Buchinhalt im Internet abruf-bar (http://testingtreatments.org). Eine deutsche Version findet sich ebenfalls unter http://de.testingtreatments.org.

Fazit für die Praxis

HES-haltige Infusionslösungen soll-ten nur für die Behandlung einer Hypo-volämie aufgrund akuten Blutverlusts verwendet werden, wenn die Gabe von kristalloiden Infusionslösungen alleine nicht als ausreichend betrachtet wird. Sie sollten in der am niedrigsten wirksamen Dosis und so kurz wie möglich angewen-det werden.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. F.M. BrunkhorstZentrum für Klinische Studien (ZKS), Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum JenaSalvador-Allende-Platz 27, 07747 [email protected]

Danksagung. Integriertes Forschungs- und Behand-lungszentrum (IFB) Sepsis und Sepsisfolgen (CSCC) ge-fördert vom Deutschen Ministerium für Bildung und Forschung (BMBF; 01 EO 1002), Paul-Martini-Forscher-gruppe für Klinische Sepsisforschung, Universitätskli-nikum Jena gefördert vom Bundesministerium für Ge-sundheit (Förderkennzeichen: IIA5-2512FSB114), vom Thüringischen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst (PE 108-2), der Thüringischen Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung (STIFT) und der Deutschen Sepsis-Gesellschaft (DSG).

Ethische Richtlinien

Interessenkonflikt. F.M. Brunkhorst gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Das vorliegende Manuskript enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur

1. Finfer S, Liu B, Taylor C et al (2010) Resuscitati-on fluid use in critically ill adults: an international cross-sectional study in 391 intensive care units. Crit Care 14(5):R185

2. Chappell D, Jacob M (2013) Flüssigkeits- und Vo-lumentherapie 2013 – ein Spagat zwischen Phy-siologie, Evidenz und Politik. Notfall Rettungsmed 16:617–624

3. Schierhout G, Roberts I (1998) Fluid resuscitation with colloid or crystalloid solutions in critically ill patients: a systematic review of randomised trials. BMJ 316(7136):961–964

4. http://www.ich.org/products/guidelines/efficacy/article/efficacy-guidelines.html. Zugegriffen: 28. Nov. 2013

5. Kamann S, Flaig MJ, Korting HC (2007) Hydroxy-ethyl starch-induced itch: relevance of light micro-scopic analysis of semi-thin sections and electron microscopy. J Dtsch Dermatol Ges 5:204–208

6. Dickenmann M, Oettl T, Mihatsch MJ (2008) Osmo-tic nephrosis: acute kidney injury with accumula-tion of proximal tubular lysosomes due to admi-nistration of exogenous solutes. Am J Kidney Dis 51:491–503

7. Christidis C, Mal F, Ramos J et al (2001) Worse-ning of hepatic dysfunction as a consequence of repeated hydroxyethylstarch infusions. J Hepatol 35:726–732

8. Schortgen F, Lacherade JC, Bruneel F et al (2001) Effects of hydroxyethylstarch and gelatin on renal function in severe sepsis: a multicentre randomi-sed study. Lancet 357(9260):911–916

9. Brunkhorst FM, Engel C, Bloos F et al (2008) Inten-sive insulin therapy and pentastarch resuscitation in severe sepsis. N Engl J Med 358:125–139

10. Myburgh JA, Finfer S, Bellomo R et al (2012) Hydro-xyethyl starch or saline for fluid resuscitation in in-tensive care. N Engl J Med 367:1901–1911

11. Perner A, Haase N, Guttormsen AB et al (2012) Hy-droxyethyl starch 130/0.42 versus Ringer’s acetate in severe sepsis. N Engl J Med 367:124–134

12. Annane D, Siami S, Jaber S et al (2013) Effects of fluid resuscitation with colloids vs crystalloids on mortality in critically ill patients presenting with hypovolemic shock: the CRISTAL randomized trial. JAMA 310(17):1809–1817

13. Seymour CW, Angus DC (2013) Making a pragma-tic choice for fluid resuscitation in critically ill pati-ents. JAMA 310(17):1803–1804

14. The SAFE Study Investigators (2004) A comparison of albumin and saline for fluid resuscitation in the intensive care unit. N Engl J Med 350:2247–2256

15. http://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Pharmako-vigilanz/RisikoBewVerf/Liste/RV-hes3.html. Zuge-griffen: 28. Nov. 2013

16. http://www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/RHB/20131118.pdf. Zugegriffen: 28. Nov. 2013

17. Evans I, Thornton H, Chalmers I, Glasziou P (o J) Wo ist der Beweis – Plädoyer für eine evidenzbasierte Medizin. Verlag Hans Huber, Bern (ISBN 978-3-456-85245-8)

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