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5 Was ist Medienkompetenz? Anmerkungen zur Computertechnologie in der Oberstufe Der pädagogische Ansatz Kritiker des Computergebrauchs in der Schule zitieren gern eine populär gewordene Phrase: „Autofahren, Krawatten binden und Internet sollen die Menschen bitte in ihrer Freizeit erlernen. Für die Vermittlung von Grundkenntnissen in diesen Bereichen sind die allgemeinbildenden Schulen zu schade…“ Autofahren, so erläutert der Autor im betreffenden Artikel, „kann man auch nicht von Natur aus, aber in kurzer Zeit lernt es fast ein jeder – Menschen mit geringer Intelligenz interessanterweise manchmal leichter als geistig höherbegabte…“ Dabei spricht er ein be- kanntes Phänomen an: Das Hantieren mit technischem Gerät setzt nicht unbedingt dessen intellektuelle Be- wältigung oder tieferes Verständnis voraus. Jugendli- chen fällt es auch deshalb oftmals leichter als lebenser- fahrenen Erwachsenen, fast scheint es, als hätten sie Fähigkeiten mitgebracht, die man als älterer Mensch erst mühsam erwerben muss. Die Art und Weise, wie sich die jungen Menschen in die Technikwelt hinein- stellen, lässt schon vorhandene Geschicklichkeiten er- ahnen, die ganz instinktiv genutzt werden können. Dennoch greifen die Argumente des Autors zu kurz, denn sie grenzen die Aufgaben von Schule und Unterricht in einer Weise ein, wie es nicht mehr zeit- gemäß ist. Tatsächlich wäre sogar das Thema „Führer- schein“ aktueller für die Schule, wenn der Erwerb nicht in ein Alter fiele, das ohnehin von zahlreichen Ab- schluss- und Prüfungsaktivitäten belegt ist. Verkehrs- erziehung hingegen ist durchaus ein Bestandteil unse- res Unterrichtsangebots in der Mittelstufe, und das Verständnis eines Motors oder anderer Grundfunktio- nen des Automobils ist Ziel des Technologieunterrichts an vielen Waldorfschulen. Es geht dabei um die be- wusste Beziehung, die der Mensch zu der ihn umge- benden Technikwelt herstellen kann. Würde man das Autofahren selbst zum Unterrichtsinhalt machen, so Die Zügel in der Hand: der Wagenlenker von Delphi Max Goldt, Erstveröffent- lichung August 2000 in „Titanic“

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Was ist Medienkompetenz?Anmerkungen zur Computertechnologiein der Oberstufe

Der pädagogische AnsatzKritiker des Computergebrauchs in der Schule zitieren gern

eine populär gewordene Phrase: „Autofahren, Krawatten bindenund Internet sollen die Menschen bitte in ihrer Freizeit erlernen.Für die Vermittlung von Grundkenntnissen in diesen Bereichensind die allgemeinbildenden Schulen zu schade…“ Autofahren,so erläutert der Autor im betreffenden Artikel, „kann man auchnicht von Natur aus, aber in kurzer Zeit lernt es fast ein jeder –Menschen mit geringer Intelligenz interessanterweise manchmalleichter als geistig höherbegabte…“ Dabei spricht er ein be-kanntes Phänomen an: Das Hantieren mit technischemGerät setzt nicht unbedingt dessen intellektuelle Be-wältigung oder tieferes Verständnis voraus. Jugendli-chen fällt es auch deshalb oftmals leichter als lebenser-fahrenen Erwachsenen, fast scheint es, als hätten sieFähigkeiten mitgebracht, die man als älterer Menscherst mühsam erwerben muss. Die Art und Weise, wiesich die jungen Menschen in die Technikwelt hinein-stellen, lässt schon vorhandene Geschicklichkeiten er-ahnen, die ganz instinktiv genutzt werden können.

Dennoch greifen die Argumente des Autors zukurz, denn sie grenzen die Aufgaben von Schule undUnterricht in einer Weise ein, wie es nicht mehr zeit-gemäß ist. Tatsächlich wäre sogar das Thema „Führer-schein“ aktueller für die Schule, wenn der Erwerb nichtin ein Alter fiele, das ohnehin von zahlreichen Ab-schluss- und Prüfungsaktivitäten belegt ist. Verkehrs-erziehung hingegen ist durchaus ein Bestandteil unse-res Unterrichtsangebots in der Mittelstufe, und dasVerständnis eines Motors oder anderer Grundfunktio-nen des Automobils ist Ziel des Technologieunterrichtsan vielen Waldorfschulen. Es geht dabei um die be-wusste Beziehung, die der Mensch zu der ihn umge-benden Technikwelt herstellen kann. Würde man dasAutofahren selbst zum Unterrichtsinhalt machen, so

Die Zügel in der Hand:der Wagenlenker von Delphi

Max Goldt, Erstveröffent-lichung August 2000 in„Titanic“

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käme es dabei selbstverständlich nicht auf das geschickte Bedie-nen von Hebeln und Knöpfen an, sondern darauf, ein bewusstesVerhältnis zu einem Gerät zu erarbeiten, das wir inzwischen alsunsere zweite Natur betrachten, das uns aber neben Segen undFreude auch Zerstörung und Leid bringt – und vermehrt bringenwird. Dies trifft in noch größerem Maße auf den Computer zu.So ist der Vergleich mit dem Autofahren in gewisser Weisedurchaus berechtigt, führt aber zu anderen pädagogischen Kon-sequenzen.

Im Unterricht der Oberstufe geht es nur teilweise um das Er-lernen und Erüben von Fähigkeiten. Im Unterschied zur Unter-und Mittelstufe, wo Weltbegegnung noch mehr auf der Ebenedes Gefühls erlebt wird, geht es in der Oberstufe mehr darum,auf dem Wege der Auseinander-Setzung eine neue, bewussteBeziehung zur Welt herzustellen, getreu der Sichtweise Goethes:„Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, soheiße ich‘s Wahrheit.“ Genau dies ist aber die Voraussetzungum mit Technik verantwortungsbewusst und selbstkritisch um-gehen zu können. Was gewöhnlich als Technikbeherrschung und„Medienkompetenz“ ausgegeben wird, ist oftmals nicht mehr alsbloßes halbbewusstes Hantieren mit technischen Geräten. „Be-herrsche“ ich etwa das Auto, wenn ich mit Hundert unversehrtdurch die Innenstadt kurve – oder werde ich nicht vielmehr be-herrscht? Um von wirklicher „Kompetenz“ sprechen zu können,müssen wir den seelisch-geistigen Radius und den betreffendenLebenszusammenhang viel weiter fassen und dürfen nicht nurdie reine Handhabung der Technik in den Blick nehmen. Ent-sprechend weit ist auch der pädagogische Rahmen für das Fach

Computertechnologie zustecken.

In der HeilbronnerWaldorfschule wurdedas Fach – in der Formvon Epochenblöcken imKH-Bereich mit gedrit-telten Klassen – vorerstnur für die Klassen 9 und11 eingerichtet, was teil-weise pädagogisch, teil-weise aber auch stun-denplantechnisch bedingtist. Allerdings wurde esvon Anfang an in Ver-bindung mit den anderenFachbereichen gesehen,sowohl mit dem mathe-

Der alte Computerraumhat bald ausgedient.

Goethe: Maximen undReflexionen

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matisch-naturwissenschaftlichen als auch mit dem sprachlich-historischen Fachbereich. Dies drückt sich schon darin aus, dassder Unterricht von Kollegen aus beiden Gebieten gegeben wird.Die hier angesprochenen Fragen und Probleme können in ande-ren Unterrichten aufgegriffen und in einen größeren Zusammen-hang gestellt werden.

Blick unter die OberflächeVorbereitend für die Arbeit mit der eigentlichen Computer-

Hardware und -Software in der 11. Klasse ist ein physikalischesPraktikum in der 9. Klasse, in dem einfache Schaltungen gebautwerden. Die Schüler machen dabei erste Bekanntschaft mit demGrundbaustein elektronischer Rechner. Es gibt in Schaltungenzwei Grundzustände – Spannung liegt an oder liegt nicht an –,die durch vielfältige Kombinationen zu komplexen Systemenausgebaut werden können. Will man diese Verhältnisse mathe-matisch ausdrücken, so kommt man mit dem gewohnten Zahlen-system nicht weit. An Stelle des Zehnersystems bedarf es eines„dualen“ Zahlensystems, wie es schon vor ca. 300 Jahren vondem deutschen Philosophen und Mathematiker Gottfried W.Leibnitz (1646-1716) entwickelt wurde. Sämtliche Zahlenwertewerden hier nicht mit zehn verschiedenen, sondern mit nur zweiZeichen ausgedrückt: den „Binärzeichen“ 0 und 1. Nur in einersolchen mathematischen Form entsprechen die gedanklichenProzesse, die „Informationen“, der Grundstruktur des „Prozes-sors“ und können von der maschinellen Datenverarbeitung über-nommen werden. Es trifft sich daher gut, dass im Mathematik-unterricht der 9. Klasse ohnehin Kombinatorik und der Umgangmit dem dualen Zahlensystem erarbeitet werden. Dieinnere Beziehung der beiden Unterrichtsinhalte wirddann aber erst wirklich in der Computertechnologie der11. Klasse deutlich, wenn auch das Verhältnis zwi-schen „Hardware“ und „Software“ herausgearbeitetwird.

In einer 11. Klasse wird man feststellen, dass der Computerfür viele schon zu einem selbstverständlichen Lebensbegleitergeworden ist. Die Zahl der Jugendlichen, die in diesem Alternoch keine Erfahrung mit dem Gerät haben oder, wie früher oft,skeptisch oder gar ängstlich damit umgehen, hat sich in wenigenJahren drastisch verringert, völlige Unkenntnis der Grundfunkti-onen und Bedienelemente ist inzwischen die Ausnahme. Aller-dings ist für die meisten der Computer nahezu ausschließlich einInstrument der „Freizeitgestaltung“ und Unterhaltung. NebenComputerspielen ist es das Brennen und Weitergeben von CDsund DVDs und das meist unstrukturierte Surfen im Internet, was

Gottfried Wilhelm Leibniz,1646-1716

Unten: mechanische Rechenma-schine von Leibniz

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interessiert. Wenig Bewusstsein ist davon vorhanden, was sichunter der inzwischen perfekten, bunten Oberfläche von „Win-dows“ abspielt, und ebenso wenig werden die Möglichkeiten desComputers als Arbeitsgerät richtig eingeschätzt. Schon die Frage„Was ist ein Computer?“ kann zu heilloser Verwirrung führen,manchmal auch zur Verärgerung: „Muss das sein? Reicht esnicht, wenn wir lernen ihn zu bedienen?“

Entsprechend werden in einem ersten einleitenden Teil desUnterrichts Grundbegriffe der Hardware und Software erarbeitet,deren Zusammenspiel und die Grundstrukturen des Betriebssys-tems. Ein Ausflug in die „unteren Etagen“ des „Disk OperatingSystems“ lohnt sich, wo nicht mehr mit dem Anklicken bunterBildchen operiert wird, sondern der Benutzer statt dessen mitBefehlszeilen arbeitet, was wiederum erfordert, dass er die

Funktionen und die Struktur desSystems im Bewusstsein habenmuss. Hier wird schnell deut-lich, dass unter der Benutzer-oberfläche moderner Betriebs-systeme wie Windows nichts istwie es scheint. Aber selbst diebis Ende der 80er Jahre nochübliche DOS-Oberfläche, sokryptisch und lebensfern sieauch dem heutigen Benutzererscheint, bedarf schon eineräußerst komplizierten Um-

wandlung der eigentlichen „Maschinensprache“ in die Strukturdes alltäglichen Bewusstseins. Oder ungekehrt: Was auch immeraus dem menschlichen Bewusstsein in den Computer eingegebenwird, muss letztlich in den Binär-Code übertragen, „kompiliert“werden: nur dieses komplexe System aus Binärzeichen (0/1)bestimmt und steuert dann die elektronischen und elektromag-netischen Prozesse, die in der Hardware ablaufen.

Die unvorstellbar große Anzahl von Verknüpfungen in denintegrierten Schaltungen der winzigen Chips und die unermess-lich hohe Geschwindigkeit, in der die Prozesse ablaufen, ermög-lichen die Darstellung ganzer „virtueller Welten“. Dabei verlau-fen die Vorgänge im sogenannten „Prozessor“ allerdings nichtkontinuierlich, sondern in schneller Folge diskreter Zustände, im„Takt“. Man denke beispielsweise an einen Filmprojektor, der25 mal pro Sekunde ruckartig einen neuen Bewegungszustandherbeiführt, so dass für den Betrachter die Illusion einer konti-nuierlichen Bewegung entsteht. Der „kleine Unterschied“ aller-dings ist, dass schon ein Computer mit einer Taktfrequenz von100 Megahertz in einer Sekunde 100 Millionen Zustandsände-

DOS-Oberfläche mitBefehlszeile

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rungen durchläuft – moderne Geräte leisten inzwischen ein Viel-faches davon. Vorstellen kann der Mensch sich das nicht mehr,und die hierfür nötigen Bauteile werden natürlich auch nichtmehr von menschlichen Händen geschaffen, sondern von hoch-komplizierten Robotern.

Was Physiker schon seit über hundert Jahren erfahren, näm-lich dass sich in den Grenzbereichen der materiellen Welt die„Dinge“ in einer Weise zu „verwandeln“ beginnen, wie es mitunseren gegenständlichen Vorstellungen nicht mehr erfasst unddargestellt werden kann, diese Erfahrung drängt sich mit dermodernen Technik zunehmend der ganzen Menschheit auf, ge-rade durch die elektronische Datenverarbeitung in bisher nieerlebter, beunruhigender Intensität. Es gibt offenbar mehr zwi-schen Himmel und Erde, als was sich unser Alltagsbewusstseinvorstellt, und wenn wir uns nicht verängstigtund resigniert in uns selbst zurückziehenwollen, sollten wir darauf achten, welcheHorizonte uns das Staunen über diese Tatsa-chen eröffnet. Staunen ist nicht dasselbe wieFaszination. Letztere hält uns gefesselt,indem sie die instinktive Gier nach demKitzel des Unfassbaren erregt, ersteres hin-gegen eröffnet in uns die Frage nach demWesenhaften eines Phänomens. Es warschon für die griechischen Denker das Torzu den Geheimnissen der Welt.

Vom Wesen des ComputersWichtig ist heute, dass der Mensch die Vorgänge im Com-

puter als rein maschinelle zu durchschauen lernt. Wie das kleineKind zunächst noch nach dem Fernsehbild greift, so ist der naiveComputernutzer, der sich keine bewusste Beziehung zu demGerät erarbeitet, immer geneigt, seine Alltagserfahrungen undseine Lebenswelt auf die Maschine zu übertragen. Dies liegtzum einen in der „wunderbaren Fähigkeit“ des Computers be-gründet, die Wirklichkeit zu simulieren, zum anderen darin, dassbei Begriffsbildungen im Bereich der elektronischen Datenver-arbeitung diese Identifikation auffallend gefördert wird unddamit die Grenze zwischen Mensch und Maschine zunehmendverwischt wird. So sprechen wir etwa von „Viren“, die unserenPC „infiziert“ haben und sich „vermehren“, obwohl wir wissen,dass es sich dabei lediglich um versteckte, unerwünschte Pro-gramme handelt. Es ist zu beobachten, wie durch diese Vermi-schung das große Ziel der Protagonisten „künstlicher Intelli-genz“, die Mensch-Maschine, bewusstseinsmäßig vorbereitet

Mikrochip aus Silizium (Mitte)mit Goldverdrahtung

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wird. Es bedarf daher besonderer Bemühung und Schulung, diescharfe Trennung zwischen Maschine und Menschenwelt imBewusstsein herzustellen und aufrecht zu halten.

Zum Wesen des Computers gehört nun insbesondere die un-serem Bewusstsein nur schwer zugängliche Tatsache, dass alleErscheinungen aus der Menschenwelt, wenn sie von der Ma-schine „verarbeitet“ werden sollen, vollkommen entmateriali-siert, nämlich in binären Zahlencode verwandelt werden müssen.Das Zauberwort heißt Digitalisierung. Im Unterschied zu analo-gen Signalen, die in allen ihren Wandlungen eine energetischeKontinuität aufweisen, werden digitale Signale quantifiziert, inabzählbare (diskrete) Zahlengrößen verwandelt, die dann wie-derum den Plan für die Rekonstruktion der Mitteilung liefern.Da die Quantifizierung nach dem Muster des dualen Zahlensys-tems vonstatten geht, sind die der virtuellen Computerweltzugrunde liegenden Strukturen immer dualistisch. Jede Bewe-gung, jedes Bild, jeder Klang wird vor dem Hintergrund einerMatrix in eine immens große, aber endliche Anzahl von entwe-der/oder-, ja/nein-, 0/1-Entscheidungen aufgerastert. Während inder Menschenwelt zwischen zwei Zuständen einer Bewegung,eines Prozesses, einer Entwicklung Kontinuität besteht, was sichzahlenmäßig als „unendlich viele“ Übergangsstufen beschreibenlässt (die Mathematiker mögen mir verzeihen), sind die Zwi-schenstufen in der digitalen Welt begrenzt – je größer die Zahlallerdings, abhängig von der Leistungsfähigkeit des Geräts,umso „natürlicher“ erscheint die Simulation der Wirklichkeit.

Suchen wir in der Lebenswelt des Menschen die Wirklich-keit, die als zusammenhängendes Ganzes eine Erscheinung be-wirkt, so kommen wir zum Wesen, das erscheint. Die Pflanzeerscheint in den Stadien ihrer Entwicklung sehr unterschiedlich,es ist aber immer dieselbe Pflanze: das Sein sprechen wir nichtden einzelnen Erscheinungsformen zu, sondern dem ganzenWesen. Das Wesen der Erscheinung ist von innerer Kohärenzund Kontinuität, es ist – im aristotelischen Sinne – die geistige„Substanz“, der wir erlebend begegnen und die wir – wenn auchnur schattenhaft – im Begriff erfassen („Substantiv“). In der„digitalen Welt“ kommt diesem Wesen keine Wirklichkeit zu.

Ein Bild, seine diskretisierteund seine digitalisierte Dar-stellung.Aus: Peter Rechenberg:Was ist Informatik?Zur Einführung empfehlens-wer!

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Im Zusammenwirken des bis zum Äußersten, zur bloßen 0/1-Struktur formalisierten Gedankens mit der Elektrizität werdendie Sinne durch diskontinuierliche Impulse affiziert, was aber„erscheint“, bildet sich aus unserer eigenen Seelensubstanz. Das„Wesen“ selbst existiert nur „virtuell“, ist eine Schimäre.

Man kann sich natürlich fragen, ob der so entstandene geistig„substanzlose Raum“ wirklich ganz „leer“ ist. Wir enthalten unsjedoch besser solcher Spekulationen, um nicht den Spott dererhervorzurufen, die sich einbilden alles zu durchschauen, was siein Wirklichkeit selbst nur glauben. Hingegen ist es legitim sichzu fragen, ob in die Wirkung des Computers auf den Menschenund die Gesellschaft etwas eingeht, das die beschriebene geistigeSignatur trägt.

Formalisierung des AusdrucksDie Arbeit mit dem Textverarbeitungsprogramm eröffnet uns

zunächst einmal ungeahnte Möglichkeiten. Zum einen kann ichwild drauflos schreiben, ohne mich um Fehler kümmern zu müs-sen, denn die lassen sich problemlos hinterher korrigieren.Wörter, Satzteile, ganze Textblöcke lassen sich verschieben, dieRechtschreibfehler sogar weitgehend automatisch korrigieren.Mit relativ wenig Aufwandlässt sich schließlich derText in eine perfekte äuße-re Form bringen, was einenicht zu unterschätzendeästhetische Bedeutung hat,beispielsweise in Schüler-arbeitsblättern oder Unter-richtsdokumenten. Hinzukommt die Möglichkeit,grafische Elemente einzu-fügen und so ein Seitenlay-out zu gestalten, wie esfrüher nur die Druckereileisten konnte. Die Mög-lichkeiten schließlich, Va-rianten zu speichern, Ko-pien zu versenden oderauszudrucken, vielleicht sogar das Ganze ins Internet zu stellen,haben die Druckereibranche, das Zeitschriften- und Verlagswe-sen revolutioniert. Am Beispiel unserer VierteljahreschriftKURSIV etwa können die Schülerinnen und Schüler sehen, wieelektronische Layoutgestaltung unmittelbar zur Druckvorlageführt. Sie sollen sich schließlich auch selbst – neben dem For-

KURSIV in Arbeit

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matieren von Geschäftbriefen und Ähnlichem – an die Gestal-tung einer Titelseite aus Text und Grafik wagen, wobei auch dieBild- und Textinhalte weitgehend ihrer Fantasie überlassen sind.

Zur Aufgabe gehört aber auch immer sich bewusst zu ma-chen, was man tut, die Selbstbeobachtung. Da zeigt sich zu-nächst einmal ein ganz äußerliches Problem. Schon der einfacheText lässt uns erfahren, dass die Aufmerksamkeit am Bildschirmschneller erlahmt als vor einem Blatt Papier, und da man sichzudem gern auf die automatische Rechtschreibprüfung verlässt,sind moderne Druckwerke nicht selten gespickt von Fehlern, wieman es mancherorts von der Tageszeitung kennt. Die Ursachefür die bewusstseinsdämpfende Wirkung des Bildschirms istschon vom Fernsehen bekannt: Im Unterschied zum Sehen imRaum sind die Augen starr gestellt, die Scharfstellung verändertsich nicht, der Blick scheint „gefroren“. Andererseits halten dieschnellen Veränderungen auf der hellbunten Oberfläche einenervöse Reizbarkeit aufrecht: die zahlreichen Schaltflächen, derdahinhuschende Mauszeiger, die dazugehörige Koordination derHandbewegungen unterscheiden sich gravierend vom kontinu-ierlichen Fluss einer Handschrift oder eines Malstifts. Man spürtdas in einem Computerarbeitsraum, in dem eine völlig andereStimmung herrscht als etwa im Malraum. Hinzu kommen die„Tücken“ des Programms, besonders in der Layoutgestaltung.Im Unterschied zur freihändigen Zeichnung oder zum grafischenEntwurf wird ständig die frustrierende Erfahrung gemacht, dassdie gewünschte Gestalt nicht nur an der eigenen Gestaltungsfä-higkeit scheitert, sondern an den Grenzen, die das Programmsetzt – was wiederum häufiges Kopfzerbrechen und Rätselratenzur Folge hat. Die konzentrierte, erfüllte Stille, die im Kunstun-terricht oft zu bemerken ist, weicht hier einer nervös erregtenAnspannung, von gelegentlichen emotionalen Äußerungendurchbrochen. Zweifellos, die Arbeit mit dem Gerät erforderterheblich mehr Geduld und Selbstbeherrschung, als wir norma-lerweise aufzubringen gewillt sind, sie zehrt und „nervt“, undman fühlt sich hinterher alles andere als belebt oder erfüllt.

Die Sachzwänge der Maschine absorbieren nicht nur unsereKreativität auf zermürbende Weise, sie korrumpieren sie auch.Sucht man etwa eine bestimmte Form für eine Aussage, dietechnischen Voraussetzungen stehen dem aber entgegen, so wirdman geneigt sein, das technisch Machbare zu wählen, auch wennes den eigentlichen Intentionen zuwider läuft. Zumal die ange-botenen Formen womöglich durchaus bestechen. Das Formaleschiebt sich – oft unbemerkt, wenn man nicht die Selbstbeo-bachtung pflegt – vor das Inhaltliche, und zwar im Gegensatzzum künstlerischen Prozess in geradezu kontraproduktiver Wei-se: Die Form ist weniger Offenbarung künstlerischer Freiheit als

Nerven-Chip-Verbindung

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technischer Zwanghaftigkeit. Umgekehrt lässt sich auf dieseWeise auch ein Mangel an Kreativität kaschieren. Stolz blickt somancher auf das, was ihm das Programm beschert hat. DerComputer fördert dadurch die Neigung, sich mit fremden Federnzu schmücken. Pädagogen fällt schon seit langem auf, dass dieBereitschaft Eigenleistungen durch Internet-Kopien zu ersetzen,rasant wächst. Mit verschärften Kontrollen wird man das auchkaum ändern, wenn man nicht eine Atmosphäre von Authentizi-tät und Verbindlichkeit im lebendigen Unterrichtsgeschehenschafft.

Der Wert lebendiger RedeEin merkwürdiges Gefühl stellt sich ein, wenn man erlebt,

wie ein selbst geschriebener Text mit wenigen Eingriffen völligumgeändert und manipuliert werden kann, in vielen Exemplarenkopiert und verschickt werden kann, aber auch – mehr oderweniger beabsichtigt – einfach verschwindet. Computerneulingesind zunächst davon überrascht, wie schnell sich „ihre“ Arbeitoder Mitteilung von ihnen loslöst und dann jedem Zugriff offensteht. Wir sind Zeuge eines letzten Abschnitts der Entwicklungder Sprache vom lebendig-beseelten Ausdruck des Menschen-wesens zur toten Form und flüchtigen Schimäre. Von der münd-lichen Rede über die Schrift, den Buchdruck bis zum Computerhat sich der Autor immer weiter von seiner Sprachschöpfungentfernt.

Heute sind Texte beliebig übertragbar undauswechselbar, tauchen oft in anderen Zusammen-hängen auf, nicht immer zur Freude des Autors.Dies erfordert eine völlig neue, wachere, wenigernaive Haltung gegenüber sprachlichen Äußerun-gen, was besonders im Hinblick auf das Internet zueiner erheblichen Verunsicherung geführt hat,nicht nur in Bezug auf das Urheberrecht. Wir wer-den uns bewusst: Inhalt und Bedeutung formalgleichlautender Texte verändern sich, je nach demZusammenhang, in dem sie stehen, oder je nachAutor, der mit ihnen etwas sagen will. Wenn zweidasselbe sagen, ist es eben nicht dasselbe! Manwird sich beispielsweise hüten, einen extremisti-schen Autor zu zitieren um eigene Behauptungenzu belegen, auch wenn Extremisten manchmaletwas „Richtiges“ sagen. Die beliebige Verfügbar-keit sprachlicher Aussagen zwingt uns zu etwas,das wir ohnehin zu leisten hätten: zu einer ver-stärkten Aufmerksamkeit gegenüber dem Umfeld

Philip NelsonDas Gespräch, 1996

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und den Absichten einer Aussage. Die auf die Spitze getriebeneMöglichkeit zu Lüge und Verdrehung kann uns dazu anhalten,unseren Sinn für Wahrhaftigkeit zu schärfen. Rudolf Steiner hatverschiedentlich dargelegt, wie der Mensch die Fähigkeit entwi-ckeln kann, die zur Phrase, zur leeren Worthülse erstorbeneSprache wieder zu beleben, indem er lernt „den Geist mitzuden-ken“. Das beste Übungsfeld hierfür ist das Gespräch.

Die Erfahrung zeigt dann auch: Was die Schülerinnen undSchüler im Unterricht am meisten schätzen ist das Gespräch,auch und besonders im Computerunterricht. Wenn die Bild-schirme ausgeschaltet sind und die Arbeit mit den Geräten reka-pituliert wird, wenn auch die Probleme dieser Technologie erör-tert werden, dann wird die Erfahrung gemacht, wie unersetzlichdoch das unmittelbare Gespräch, der lebendige Austausch derAnwesenden ist. Was man „nonverbale Kommunikation“ nennt,besonders aber die unmittelbare Wahrnehmung des anderen Ichhat einen unschätzbaren pädagogischen Wert. Die Menschenwerden zunehmend lernen müssen, in den andern hineinzuhören.Oft können wir im Gespräch dann die Erfahrung machen, dassder andere eigentlich etwas sagen wollte, was nicht „rüber kam“,oder auch, dass etwas gesagt wurde, hinter dem der andere ei-gentlich nicht „steht“, usw. Hält man sich nur äußerlich an denWorten auf, kann ein Gespräch völlig verfälscht und verdrehtwerden. Junge Menschen müssen das lernen. Gerade das Ge-genteil von dem, was die „Schulen-ans-Netz“-Ideologen propa-gieren, ist heute nötig: Nicht etwa sollte der Computer in denFachunterricht Einzug halten und den gemeinsamen Raum derBegegnung zerstören dürfen, sondern das Unterrichtsgesprächsollte gepflegt werden, die Möglichkeit der Erfahrung seelisch-geistiger Präsenz, einer „An-wesenheit“, wie sie heute fast nurnoch die Schule bietet, sollte verstärkt gesucht werden. Lehrer,die nicht in der Lage sind ein interessantes Unterrichtsgesprächzu führen, haben ein Problem, das sie nicht hinter dem Computerverstecken sollten.

Ähnliches gilt für den mündlichen Vortrag, der seit einigenJahren – zunehmend auch in den Schulen – von dem verdrängtwird, was man gespreizt als „Präsentation“ bezeichnet. Als kön-ne man geschichtliche Inhalte etwa präsentieren wie eine Wa-renkollektion. Der „Internet-Guru“ Clifford Stoll hat die sichschnell ausbreitende Gewohnheit, öffentliche Rede hinter einemBerg von Geräten zu verstecken und die Aufmerksamkeit derZuhörer auf eine Projektionswand zu lenken, spöttisch als „Po-wer-Point-Pest“ bezeichnet. „Fast niemand redet gern vor Publi-kum. Technikfans, die den Umgang mit Computern mehr ge-wöhnt sind als den mit Menschen, sind da besonders scheu.Deshalb sind sie natürlich von allem begeistert, was sie vor einer

„Heute ist die Zeit, wo dieMenschheit lernen muss, dasses gar nicht mehr so sehr aufden Inhalt ankommt, sonderndarauf ankommt, wer etwassagt; dass man kennen mussden Menschen aus dem, waser sagt, weil die Worte nurGebärden sind und mankennen muss, wer dieseGebärde macht…Suchen, nach den menschli-chen Zusammenhängen, su-chen, wie die Worte hervor-kommen aus dem Orte, vondem her sie gesprochen sind.Immer wichtiger und wichti-ger wird das…Darauf kommt es nicht an,was da für Worte stehen,sondern, aus welchem Geisteheraus sie sind.“Rudolf SteinerVortrag vom 16.10.1918

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solchen Erfahrung schützt… Vorausgesetzt, dass überhaupt dieElektronik funktioniert! Wenn der Computer hängt, die Softwareabstürzt oder der Videoprojektor seinen Geist aufgibt, ist derRedner geliefert…“ Was Stoll dann augenzwinkernd rät, klingtzunächst recht locker und humorvoll, man sollte es aber sehrernst nehmen: „Wollen Sie mit Ihrem nächsten Vortrag Furoremachen? Dann schauen Sie, dass Sie den Stoff so gut beherr-schen, dass Sie frei sprechen können – ohne Computer, ohneLeuchtzeiger, ohne Videoprojektor. Schreiben Sie die wichtigs-ten Punkte mit Kreide an die Tafel und betonen Sie sie beimVortrag. Schauen Sie Ihr Publikum an und nicht den Computer-bildschirm. Vergessen Sie jene trostlosen Clipart-Bildchen unddie Klischees von der explosionsartigen Entwicklung der Tech-nologie, der Herausforderung durch die Zukunft und der Kriseder Pädagogik. Lassen Sie Ihre Stimme hören, führen Sie IhreIdeen vor – und nicht fertige Schablonen von irgendjemandanderem. Setzen Sie die Leute mit Ihren Geschichten in Erstau-nen, reißen Sie sie mit Ihren Erfahrungen hin, zeigen Sie IhreBrillanz und überzeugen Sie mit Ihrer Leidenschaft, seien Sieaufgeregt und voll Begeisterung. Machen Sie alles – aber lang-weilen Sie niemand mit noch einer weiteren Präsentation vonComputergraphiken.“

Der (Be-)RechnerDer Umgang mit dem Textprogramm macht schnell deutlich,

wo die eigentlichen Stärken des Computers liegen: überall dort,wo immer wiederkehrende, routinemäßige Aufga-ben zu bewältigen sind, oder solche, die mit Hilfevon iterativen Denkformen bewältigt werden kön-nen. Als „Phrasendreschmaschine“ etwa kann erüberall dort eingesetzt werden, wo weder Origina-lität noch Persönlichkeit verlangt werden. Ver-gleichbares „leistet“ er in der Arbeit mit Kalkulati-onsprogrammen. Mathematische Aufgaben „löst“der Computer nämlich mit Hilfe von Algorithmen,das sind Rechenverfahren, in denen durch einebegrenzte Anzahl von eindeutig definiertenSchritten eine gesuchte Größe ermittelt wird. ImUnterschied zu mathematischen Lösungen tritt andie Stelle der Einsicht in einen geistigen Zusam-menhang die in Varianten so lange sich wiederho-lende „Schleife“, bis das Ergebnis erreicht ist.Dank der ungeheuren Schnelligkeit der Vorgängeim Computer entsteht für den Benutzer der Ein-druck, das Gerät arbeite zielgerichtet wie ein

Aufbau eines Mikrochips(„integrierter Schaltkreis“)

Clifford Stoll: LogOutdeutsch: Frankfurt 2001

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Mensch. In Wirklichkeit ist die Logik des Computers ausgespro-chen primitiv. Wer sich in eine „höhere Programmiersprache“einarbeiten will, muss vor allen Dingen lernen, alle Abläufe undBeziehungen, die er mit der „Sprache“ abbilden will, in ein Netzeinfachster alternativer Entscheidungen zu überführen: ja-nein,entweder-oder, wenn-dann…

Im Tagebuch des Ingenieurs Konrad Zuse, der1941 in Berlin den ersten programmgesteuertenDigitalcomputer baute, findet sich die Eintragung:„Entscheidender Gedanke 19. Juni 1937. Erkennt-nis, dass es Elementaroperationen gibt, in die sichsämtliche Rechen- und Denkoperationen auflösenlassen. Ein primitiver Typ eines mechanischenGehirns besteht aus einem Speicherwerk, Wähl-werk und einer einfachen Vorrichtung, in dereinfache Bedingungsketten von 2-3 Gliedern be-handelt werden können. Mit dieser Form desHirns muss es theoretisch möglich sein, sämtlicheDenkaufgaben zu lösen, die von Mechanismenerfassbar sind…“ Zuse macht somit eine vorsich-tige Einschränkung: nachdem er zunächst von„sämtlichen Rechen- und Denkoperationen“spricht, bezieht er sich dann doch nur noch aufsolche Denkvorgänge, „die von Mechanismenerfassbar sind“! Die Erfolge allerdings, die uns dieelektronische Maschine bei der Lösung quantitati-

ver Aufgaben inzwischen beschert hat, haben unsere Neigungverstärkt, alle Lebenserscheinungen so zu interpretieren undeinzurichten, dass sie einer solchen Berechenbarkeit unterworfenwerden können. So erleben wir heute auf allen Gebieten einerasche Ausweitung des Berechnungswesens: Wir werden über-häuft von Statistiken, Zahlenprognosen, Meinungstrends… Hießes bei Galilei noch: „Miss alles, was sich messen lässt, und machalles messbar, was sich nicht messen lässt“, so heißt es jetzt:Bringe alles in eine digitale Form, so dass es sich von der Ma-schine berechnen lässt. Was wir dadurch über die Welt erfahren,über Entwicklungen, soziale Phänomene und menschliche Fä-higkeiten, sind nur noch die äußerlichsten, formalsten Merkma-le. Sie bieten dann die Grundlage für Steuerungsmechanismen,in denen wir zurecht das eigentlich Menschliche immer mehrvermissen.

Durch die wachsende Macht der digitalen „Berechner“ wer-den wir zunehmend in Entscheidungsstrukturen gedrängt, dieunsere Freiheit in eine bloße Wahlfreiheit zwischen polarenAlternativen verwandelt. Wir kennen das von dem „Multiple-Choice-Verfahren“ in Meinungsumfragen oder Eignungstests,

Konrad Zuse mit einerNachbildung des erstenComputers

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deren Aussagen, wenn überhaupt, nur in einem sehr engen, vor-definierten Rahmen einen gewissen Wert haben. Wenig bekanntist, dass auch die Beurteilungskriterien für Prüfungsleistungenzunehmend diesen Denkschablonen angepasst werden. So hatdas in den 70er Jahren eingeführte Kurs- und Punktesystem imAbitur dazu geführt, dass jedes Fach aufseinen Punkteertrag hin berechnet wird:Bringt es viele oder wenige Punkte, dieaddiert die gewünschte „gute Note“ erge-ben? Einmal gewählt, wird den Abituran-wärtern neuerdings beim Punktesammelnnoch ein Bonus gewährt: Sie dürfen un-mittelbar vor der Prüfung wählen, welcheWertigkeit sie einem Fach beimessenwollen, Faktor 8 oder 12. Hat der Prüflingdann in seinen 8-Punkte-Fächern gut ab-geschnitten aber die 12-Punkte-Fächerverhauen, hat er Pech gehabt: falsch ge-wählt! Diese Technik des Kopfzerbre-chens, die unsere Schüler dazu veranlasst,ständig ihre Chancen auszurechnen, wirdauf der Seite der Leistungsbeurteiler nochweiter getrieben. Eine ausführliche Listegenau definierter und in ihrer Gewichtungfestgelegter Anweisungen, genannt „Ope-ratoren“, die vom Oberschulamt „erlas-sen“ wird, soll beispielsweise im FachGeschichte das Unmögliche möglich ma-chen: die Schülerleistungen zu berechnenund in Zahlen auszudrücken. Der Korrek-tor muss sich dadurch bei jedem Aufga-benschritt erneut die Frage stellen, ob dieDarstellung den Anweisungen des Opera-tors entspricht oder nicht. Auf die Absurdität einer Zahlenmatrixzur Beurteilung menschlicher Leistungen und Fähigkeiten wol-len wir hier nicht im einzelnen eingehen. Sie wird spätestensdann offenbar, wenn die Berechnung dazu führt, dass jemandwegen drei von zweihundert möglichen Punkten – oder wegeneiner Kommastelle – die Prüfung nicht besteht – oder sie besteht.Was dann in einer Prüfungskommission im mündlichen Abituroder Realschulabschluss vorgeht, kann man sich leicht vorstel-len. Wer darin Erfahrung hat und sich nichts vormacht wird sicheingestehen: Das Berechnungswesen, unter dem Vorwand ob-jektiver Leistungsmessung und gleicher Chancenvergabe einge-richtet, korrumpiert ständig die qualitativen Beurteilungskrite-rien der Korrektoren und Prüfer.

Leiterbahnen eines Speicher-chips in unterschiedlicherVergrößerung, unten mitabgehenden Kontaktdrähten

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Mathematik ist GeisteswissenschaftVon Heraklit, dem ersten griechischen Philosophen, dem das

Wesen des reinen Denkens aufging, stammt der Satz: „Der SeeleGrenzen kannst du schreitend nicht ausfindig machen, einen sotiefen Logos hat sie.“ Es ist gar nicht so schwer, das einzusehen.Im Denken erfährt das menschliche Ich seine Verwandtschaftmit dem „Unendlichen“. Wenn der Mensch „logisch“ denkt,nimmt er Teil am Wesen des Logos, das ihm zugleich seinengeistigen Wesenskern zum Bewusstsein bringen kann. Tatsäch-lich können wir das Unendliche denken, ebenso wie das Nichts.Nur bildhaft vorstellen können wir es uns nicht. Im reinen Den-ken können wir uns beispielsweise auch klar werden, dass injedem Kontinuum, in jeder Bewegung, in jeder Entwicklung dasUnendliche anwesend ist. Dieses Denken wird insbesondere inder Mathematik erfahren und geübt. Der „Satz des Pythagoras“etwa – dass im rechtwinkligen Dreieck die Summe der beiden„Kathetenquadrate“ dem „Hypotenusenquadrat“ entspricht –wird als unumschränkt wahr erkannt, wenn er einmal eingesehenwurde.

In Rudolf Steiners Autobiografie finden wir eine hochinte-ressante und ergreifende Darstellung von einer Erfahrung, die erals Kind machen durfte, nachdem er sich von seinem Lehrer einGeometriebuch ausgeliehen hatte. „Mit Enthusiasmus machteich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfülltvon der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken,Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sicheigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoreische Lehrsatzbezauberte mich. Dass man seelisch in der Ausbildung rein in-nerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke deräußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ichfand darin Trost für die Stimmung, die sich mir durch die unbe-antworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassenzu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, dass ichan der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe… In denGedanken konnte ich nicht etwas sehen wie Bilder, die sich derMensch von den Dingen macht, sondern Offenbarungen einergeistigen Welt auf diesem Seelen-Schauplatz. Als ein Wissen,das scheinbar von dem Menschen selbst erzeugt wird, das abertrotzdem eine von ihm ganz unabhängige Bedeutung hat, er-schien mir die Geometrie. Ich sagte mir als Kind natürlich nichtdeutlich, aber ich fühlte, so wie Geometrie muss man das Wis-sen von der geistigen Welt in sich tragen.“

Was in der Mathematik besonders rein erfahren wird, liegt allunseren Denkbewegungen zugrunde: das Erlebnis der Evidenz,die geistige Einsicht. Ohne dieses Erlebnis ist auch jede Beweis-

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führung sinnlos. Man kann niemandem etwas beweisen, der fürdie Evidenz eines Beweisgangs kein Organ hat. Die frühen Phi-losophen Griechenlands waren deshalb auch Mathematiker, undVoraussetzung für den Beitritt zur ersten großen Philosophen-schule, der Platonischen Akademie, war das Studium der Ma-thematik. Tiefere Geister haben immer wieder das Mathemati-sche als „göttlich“ bezeichnet, wie beispielsweise Novalis ineinem seiner tiefsinnigen Aphorismen: „Das höchste Leben istMathematik. – Das Leben der Götter ist Mathematik. – ReineMathematik ist Religion…“

Im Mathematikunterricht geht es also gar nicht inerster Linie darum, nützliche Rechenoperationen zuerlernen – gerade dies werden in Zukunft immermehr die Maschinen übernehmen –, sondern dieinnere Natur des Denkens zu erfahren, die für denMenschen zugleich eine in sein waches Bewusstseinhineinragende geistige Wahrnehmung ist – die letzte,die ihm aus dem Urquell der Weltweisheit verbliebenist. Das Erlebnis mathematischer Evidenz stärkt des-halb den menschlichen Wesenskern, gibt ihm innereSicherheit und Vertrauen in sein Denken und dieeigene Urteilskraft, vermittelt ihm das Bewusstsein seines geis-tigen Ursprungs. Die Gefahr, dass diese geistige Kraft in derGewöhnung an die „Denkmaschine“ verkümmert, nimmt rasantzu. Es ist deshalb von größter pädagogischer Bedeutung, dassdie Jugendlichen die Möglichkeit haben, unterschiedliche Denk-erfahrung machen zu können: dass sie differenzieren lernenzwischen geistigem Erleben einerseits und formal-mechanischenAbläufen andererseits – eine unentbehrliche Grundlage jedwederMedienkompetenz.

Der VerwalterDie wohl schwerwiegendsten und nachhaltigsten Auswir-

kungen der digitalen Technik auf Mensch und Gesellschaft lie-gen im Bereich der Datenverwaltung und Datenbankanwendung.Es gibt kaum einen Bereich unseres Lebens, der nicht durchDatenbanken geregelt wird: Straßenverkehr, Handels- undBankgeschäfte, Arztbesuch und Krankenpflege, Haushaltselekt-ronik und natürlich der Computer selbst. Und weil es so vielSpaß macht, hat man seit dem Siegeszug des PC auch im Pri-vatleben begonnen, alles zu verwalten, was sich verwalten lässt:Jeder Taubenzüchterverein hat jetzt seine „professionelle“ Ver-einsverwaltung, wer früher Briefmarken nur gesammelt hat,verwaltet sie jetzt, ja es gibt sogar – Überraschungseierdaten-banken.

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Der Spaß vergeht uns allerdings, wenn wir bemerken, mitwelcher Zielstrebigkeit und mit welchem Tempo in den letztenJahren an der Verwaltung des „gläsernen Bürgers“ gearbeitetwurde. Es gibt inzwischen Städte, in denen die Menschen in derÖffentlichkeit bei jeder Bewegung beobachtet und teilweiseregistriert werden, und mit verschiedenen Techniken wird darangearbeitet, etwa ehemalige Strafgefangene rund um die Uhrnicht mehr aus den Augen zu lassen. Besonders in Zusammenar-beit mit der neuen Wissenschaftsdisziplin der „Biometrie“ undder digitalen Funktechnik werden die ehemaligen Knüller vonScience-Fiction-Filmen – wie beim Betreten des Supermarktsmaschinell mit Namen begrüßt zu werden – sehr schnell zurAlltagsrealität. Die Fußball-WM wurde beispielsweise – wie diemeisten dieser Maßnahmen mit der Bedrohung durch Terroris-mus begründet – zu einem Großversuch der Überwachungstech-nik: zum Erwerb der Tickets musste man, wenn man nicht zueinem privilegierten Kreis gehörte, Fragebögen ausfüllen, mitderen Hilfe die Tickets „personalisiert“ und mit Funkchips aus-gerüstet wurden.

Was Datenbanken ihre enorme Macht verleiht, ist zunächstdie ungeheure Quantität der Datenmengen, die sie speichern undblitzschnell verarbeiten können, und das inzwischen auf äußer-lich engstem Raum. In den literarischen Werkausgaben auf CDs,die man heute für einen Spottpreis erwerben kann, gehen dieSeitenzahlen in die Hunderttausende. Dabei ist der gesamteWortbestand indiziert, das heißt für den Benutzer unsichtbartabellarisch aufgelistet, was einer weiteren faszinierenden Leis-tung dient: dem Auffinden einzelner und Gruppieren mehrererDatensätze nach eingegebenen Suchkriterien in Sekunden-bruchteilen. Such- und Filterfunktionen sind inzwischen so aus-gefeilt, dass der Eindruck entsteht, wir hätten es mit einer„künstlichen Intelligenz“ zu tun, die uns in „Echtzeit“ unsereFragen beantworten kann, die sogar dabei ist, das menschlicheWissen zu überholen. Die solchermaßen „intelligenten Maschi-nen“, mit denen wir heute allenthalben noch recht holprige „Ge-spräche“ führen – wie bei gewissen Telefondiensten –, werdenimmer weiter perfektioniert. Die fortschreitende Technik derMikrochips ermöglicht eine schnell wachsende, unvorstellbargroße Zahl von Reaktionsmöglichkeiten auf bestimmte Einga-ben, wodurch die „Flexibilität“ der Roboter-Maschinen immerweiter zunimmt. Indem wir deren Leistungen mit anthropomor-phen Begriffen beschreiben, tragen wir selbst zu ihrer Personifi-zierung bei: „Jetzt sucht er nach…“, „Er versteht die Fragenicht…“ Wir vergessen dabei gerne, dass es sich dabei dochimmer um eine rein quantitative Erweiterung von Datenmengenund der Komplexität ihrer Vernetzung handelt.

Biometrie-Boom bei Fußball-WM 06 – Deutsche Unterneh-men hoffen auf zehn Mrd. EuroUmsatzMit einem Biometrie-Boomrechnen deutsche Unterneh-men aufgrund der bevorste-henden Fußball-WM im Jahr2006. Der Groß-Event soll inder Bundesrepublik das Ge-schäft mit der Identifikationanhand körperlicher Merkmaleankurbeln und Umsätze vonbis zu zehn Mrd. Euro einspie-len. Ein Großteil davon werdenInvestitionen in die Gesichtser-fassungs-Kameras und Finger-abdrucksensoren sein. DerMarkt für biometrische Sicher-heitssysteme hat bis dato in derBundesrepublik ein Nischen-dasein geführt und wird erheb-lich an Fahrt gewinnen, so eineEinschätzung der IT-BeraterSteria Mummert Consulting.Aus:innovations-report, Forum fürWissenschaft, Industrie undWirtschaft zur Förderung derInnovationsdynamik und Ver-netzung von Innovations- undLeistungspotenzialen

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Die programmierte FreiheitVom digitalen Nachschlagewerk bis zu den großen Internet-

suchmaschinen haben wir es mit Datenbanken zu tun, sogar dieStruktur des Computer-Betriebssystems selbst stellt eine solcheDatenbank dar. Auf dem Bildschirm ist deren Funktionalität ineine gefällige Oberfläche eingebettet, deren Aufgabe darin be-steht, dem Benutzer eine instinktive – man sagt fälschlicherwei-se „intuitive“ – Handhabung zu ermöglichen. Tatsächlich beste-hen Datenbanken aus verknüpften und hierarchisch geordnetenTabellen und tabellarischen Abfragen, die ineinander ver-schachtelt sind und während einer „Laufzeit“ stets neu erstellt,gelöscht, geändert und in unterschiedliche Relationen zueinandergesetzt werden. Ein gekonntes Datenbankdesign gibt dem Be-nutzer dann das Gefühl, er sei im Dialog mit einem „Wissen-den“.

So nennt man beispielsweise die kleinen „Fenster“, durch diewir zu einer Eingabe aufgefordert werden, auch „Dialogfenster“.Um einen solchen „Dialog“ einmal exemplarisch zu entpersona-lisieren und das „Fenster“ wirklich zu „durchschauen“ kann manim Unterricht eine kleine Abfrage programmieren lassen, etwanach dem Muster: beliebige Zeichenfolge + Variable fürdie Benutzereingabe + beliebige Zeichenfolge. Die Vari-able gestaltet man so, dass als ein Schritt des Programm-ablaufs ein kleines Eingabeformular mit der Aufforde-rung „Geben Sie eine Zeichenfolge ein“ auf dem Bild-schirm erscheint, das sogenannte „Dialogfenster“. Einsolches – bei Microsoft Access etwa mittels der Pro-grammiersprache Visual Basic leicht realisierbares –Miniprogramm läuft dann so ab, dass die Zeicheneinga-be des Benutzers in den Programmcode integriert wirdund so mit Hilfe eines programminternen Suchalgorith-mus alle Datensätze herausgefiltert werden können, diediese enthalten. Der Programmierer kann dabei ver-schiedene Rahmenbedingungen für Eingabemöglichkei-ten vorausbestimmen, der Benutzer hingegen hat stetsnur die Möglichkeiten, die ihm der Programmierer zuge-steht. Alle „Kreativität“ und „Freiheit“ am Computerbeschränkt sich auf die Erfüllung solcher vorgegebenenRahmenbedingungen – der Blick hinter das Fenster ent-larvt das Wesen der scheinbaren „Interaktion“.

Das Beispiel kann uns im Kleinen verdeutlichen,worin das Problem im Großen besteht: die elektronischeDatenverarbeitung droht zum Rahmenprogramm zuwerden, in dessen Form und Rhythmus sich alles menschlicheund soziale Leben einzupassen hat. Medienkompetenz erwerben

Barry Flanagan: Larger Thinkeron Computer, 2003

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heißt zunächst, ein klares Bewusstsein hiervon zu entwickeln.Dann kann jeder an seinem Ort entscheiden, ob und inwieweit erdem etwas entgegensetzen will. Anstatt seine Kinder mit Lern-programmen zu füttern und mit Computerspielen zu beglücken,wird man vielleicht auf andere Erfahrungsmöglichkeiten zu-rückgreifen, wenn man sich einmal bewusst gemacht hat, inwelch enge Rahmenbedingungen einer verwalteten „Freiheit“und „Kreativität“ man sie sonst steckt. In einem modernen Ar-beitsbereich wie in heutigen Büros und Betrieben, wo die tägli-chen Routinearbeiten vom Computer übernommen wurden,damit aber auch die Zusammenarbeit und Kommunikation vomRegelwerk der Denkmaschine „verwaltet“ werden, wird sichMedienkompetenz darin äußern, dass die eigentlichen menschli-chen und sozialen Fähigkeiten umso bewusster und intensivergepflegt werden. Spontaneität, Fantasie und Originalität, Hilfs-bereitschaft, Rücksicht und Nachsicht (nicht nur der vielbe-schworene Teamgeist!), die Fähigkeit zu Improvisation, Innova-tion und Intuition sind Qualitäten der menschlichen Individuali-tät. Der Computer kann da nicht mithalten.

Kompetenz müssen wir schließlich auch erüben im Umgangmit dem global verwalteten „Wissen“. Riesige Datenbankenbeherrschen das Internet, und ganz im Gegensatz zur ehemalspropagierten „Demokratisierung des Wissens“ haben einigewenige dieser Informationslieferanten („Server“) inzwischenWeltmachtgeltung errungen („Google“). Die begehrtesten lassensich zudem oft teuer bezahlen, so auch die beliebten Hausaufga-ben- oder ähnliche Datenbanken. – Doch selbst wenn wir Profitund Manipulation einmal dahin gestellt sein lassen: Was demSurfer im weltumspannenden World-Wide-Web entgegentritt, istein undurchschaubarer Informationsdschungel, mit dem derungeübte und unkritische Internetnutzer hoffnungslos überfor-dert ist. Wer nicht denken, das heißt das Wesentliche vom Un-wesentlichen unterscheiden lernt, wird vom Datenmüll zuge-schüttet. Wer nicht unter die Oberfläche zu blicken lernt, wirdzunehmend lenkbar. Wer sich im Umgang mit der digitalen Weltnicht selbst beobachten lernt, verliert sich in die Faszination desMachbaren. Wer nicht seinen Realitätssinn übt und Menschen-begegnung sucht, vereinsamt im virtuellen Dschungel. Kompe-tenzerwerb im Umgang mit dem Computer erfordert die be-wusste Stärkung der geistigen Autonomie des Menschen unddamit die Schulung all derjenigen Kräfte, die dem Menschen dieHerrschaft über sich selbst verleihen.

Heinz Mosmann (L)

Eine der interessantesten Daten-banken im Internet ist die um-fangreiche Quellensammlungvon Hans Zimmermann, Görlitz(12koerbe.de). – Auch hier gilt:nur für Mitdenker!