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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Freistil Wer Ohren hat zu lesen Über stumme und sprechende Buchstaben Von Jochen Meißner Produktion: SWR 2015 Redaktion: Klaus Pilger Sendung: Sonntag, 21.05.2017, 20.05-21.00 Uhr Regie: der Autor Sprecher: Britta Steffenhagen Wolfgang Condrus Christian Find Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Freistil Wer Ohren hat zu lesen Über stumme und sprechende Buchstaben Von Jochen Meißner Produktion: SWR 2015 Redaktion: Klaus Pilger Sendung: Sonntag, 21.05.2017, 20.05-21.00 Uhr Regie: der Autor Sprecher: Britta Steffenhagen Wolfgang Condrus Christian Find Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

© - unkorrigiertes Exemplar -

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Midi Desaster: Bach: Toccata und Fuge d-moll

Sprecher / Sprecherin: ת ,ש ,ר ,ק ,צ ,פ ,ע ,ס ,נ ,מ ,ל ,כ ,י ,ט ,ח ,ז ,ו ,ה ,ד ,ג ,ב ,א[Phönizisches Alphabet] Sprecherin: Wer Ohren hat zu lesen Sprecher: Über stumme und sprechende Buchstaben Sprecher: Eine Alphabetisierungskampagne Sprecherin: Von Jochen Meißner Tanzorchester Barnabas Géczy (1936):Blauer Himmel

Sprecherin: Anfangen … ach, adamische Angelegenheit! Also: Alphabet, auch ABC ausgesprochen – als Arbeitsgrundlage. (Alphabet auch als adamisch assoziiert.) Anschein augenfälliger Abgeschlossenheit. Angenehm. A analysieren – ausreichend Angebote, auch Assoziationen … Allerdings: allmähliche Ahnung ausufernder Ausdehnung, auch allerhand alphabettheoretische (alphabetmystische, alphabetphilosophische, alphabetpsychologische, alphabetsemiotische) Auswüchse. Alles aufnehmen? Allzu Allgemeines ausschließen? Andererseits: Absolutheitsanspruch aufgeben? Aufhören …? Achwas – Aleph/Alpha als Anfangsbuchstabe ableiten (ausholen: Ägypten, auch Assyrer?), an Anatomie anlehnen, anschließend Arbitrarität anwesend abwesend

ausarbeiten, außerdem atomistische Anspielungen anmerken, architektonische Alphabete ausbreiten, auch Adams Apfel anbringen, ach – Anagramme außerdem! Aufhören …! Sprecher: „Vorwörter“ von Cornelia Fränz, Diplomdesignerin, Schriftforscherin und OuTyPistin in ihrer Masterarbeit über „Letters and Loops“, die vom Art Directors Club, New York ausgezeichnet wurde. Aretha Franklin: R-E-S-P-E-C-T Sprecher: Worüber sprechen wir, wenn wir über Buchstaben sprechen?

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Sprecherin: Über Abecedare und Akzidenzer Sprecher: Über Alliterationen, Anlaute, Anagramme Sprecherin: Über Codes und Characters Sprecher: Über Grapheme oder Glyphen Sprecherin: Über Laute, Lettern, Ligaturen Sprecher: Über Phoneme, Plosive, Permutationen Sprecherin: Über Typen, Texte, Texturen, Textilität oder Textualtität Sprecher: Beginnen: Buchstaben bilden bedeutende Basis. Beide Bögen: Bauch, Busen. Biblisches Babel bis Borges Bibliothek besuchen! Buchdruck & Bleisatz bringen bewegliche Buchstaben bei beständiger Bauweise. Bibel behauptet bekanntlich: Brabbeln belebe, Buchstaben blieben beängstigend blass. Barthes bestreitet Behauptung, Buchstabe bilde bloß belangloses Beiwerk basierender Bedeutung! Brotzeit? Sprecherin: War das nicht Platon? [Einschub bei „Bibel behauptet bekanntlich …“]

Sprecher: Wenn wir über Buchstaben reden, dann reden wir über die Welt. Denn anders als es Goethe im Faust wähnte, stand am Ursprung der Welt weder das Wort, noch der Sinn, noch die Kraft oder die Tat, sondern der Buchstabe. Sprecherin: Woher wir das wissen? Aus der ältesten der Schriftreligionen, dem Judentum. Zit: „Gott selbst, der erste Abecedar, ordnet die Buchstaben, und ihrer Ordnung nachgebildet ist die Welt …“, sagt des Kabbalist Rabbi Eleasar von Worms im 12. Jahrhundert „und Gott permutierte sie und drehte sie und machte aus allen Buchstaben eine Sprache.“ Richard Strauss: Also sprach Zarathustra

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Sprecherin: Das heißt: Gott hatte den Dreh raus und die Phönizier machten es ihm etwa 1000 Jahre vor Christus nach, indem sie ein piktorgraphisches Zeichen um 90 Grad drehten und aus den Buchstaben die erste Schrift machten. Forssman: Das „a“ als umgekehrten, sagen wir, Kopf eines Hornträgers. Spiekermann: Das berühmte „a“ als Ochsenkopf. Schalansky: dass das „a“ vom Stierkopf kommt. Zit.: Die Urform des Buchstabens ist der Kopf eines Ochsen. Im phönizischen Alphabet taucht der Ochsenkopf in stark stilisierter und um 90 Grad gedrehter Form auf und steht für den Knacklaut am Beginn des phönizischen Wortes für Ochse – ›Aleph‹ – nach dem der Buchstabe benannt wird. Als die Griechen das phönizische Alphabet für ihre Sprache adaptierten, drehten sie das Aleph-Zeichen nochmals um 90 Grad. Da in der vokalreichen griechischen Sprache der ›Knacklaut‹ nicht vorkam, verwendeten sie das Zeichen für den Vokal „a“. Cornelia Fränz: „Letters und Loops – Untersuchungen des Alphabets auf seine Tragfähigkeit“. Johann Strauss: An der schönen blauen Donau

Sprecher / Sprecherin: ABC, DEF, GHI, JKL, MNO, PQR, STU, VWX, YZ Sprecherin: Seit den Phöniziern ist die Drehung der primäre Akt der Zivilisierung des Menschen, sind Rotation und Permutation die wichtigsten Verfahrenstechniken der Kultur.

Sprecher.: Der vergessene Schriftforscher Alfred Kallier interpretiert in seinem Buch „Sign und Design – Die psychogenetischen Quellen des Alphabets“ aus dem Jahr 1961 die Drehung als den Wandel von animalistischen zu anthropomorphen Erklärungen der Welt. Zit: »Die ersten acht Buchstaben unseres Alphabets bilden eine Prozession, die uns eine eindeutige Geschichte erzählt: Der Mann stellt als Schöpfer des Schriftsystems sein Selbstbildnis an den Anfang der Prozession – A. Er begegnet der Frau. Es folgen Zeichen für Lippen und Küsse und ihr hervorstechendes Merkmal, den Busen: B. Seine Blicke gleiten von ihrem Busen nach unten auf ihren Schoß: C. Indem die Höhlung und ein Querstrich eingefügt wird, soll die Vereinigung dargestellt werden: G. Der Segen des anwachsenden Mutterleibes wird in D abgebildet. Es folgt die Geburt: E – und die Ankunft des Kindes – F.

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Sprecherin: An dieser durchaus bezweifelbaren Interpretation ist eines bemerkenswert: Der Querstrich des G ist tatsächlich ein diakritisches Zeichen, das in das C eingefügt wurde, weshalb das G im altlateinischen Alphabet nicht als eigener Buchstabe galt. Sprecher: A B C D E F H I K L M N O P Q R S T V X [Altlateinisches Alphabet] Sprecher: Andere Buchstaben haben sich aus Buchstabenverbindungen, sogenannten Ligaturen, entwickelt, wie zum Beispiel das w, das sich aus einem Doppel-v entwickelt hat, was man seiner französischen double-v und englischen Bezeichnung double-u noch anhört. Sprecher: Das „w“ ist übrigens erst 2006 von der schwedischen Akademie der Wissenschaften offiziell ins schwedische Alphabet aufgenommen worden. Es kommt dort nur in Lehnwörtern wie „Whiskey“ vor. Sprecher: Anders als Alfred Kallier, der den Menschen als Maß der Buchstaben interpretierte, haben sich anthropomorphe Beschreibungen in die typographische Beschreibung der Buchstaben eingeschlichen. Sprecherin: So hat das kleine „e“ ein Auge, das kleine „g“ ein Ohr, das große „B“ eine Taille, während das kleine „b“ einen Bauch hat. Das große „F“ verfügt über Arme und das kleine „m“ über Schultern. Sprecher: Neben ihrer Materialität verfügen die Buchstaben über eine gewisse Körperlichkeit. Butzmann: Grimassenalphabet:

A B C D E F G H I J K LM N O P Q R S T U V W X Y Z Sprecherin: Der Komponist, Hörspielmacher, Lexikograph und Crachmacheur Frieder Butzmann hat für die expressionistische Tänzerin Valeska Gert ein Grimassenalphabet gemacht. Butzmann: Was ist ein Grimassenalphabet? Aha, aha, aha. Das ist schon mal ganz schwer zu sagen: Also das ist sozusagen die sprachlautliche Inkarnation von Buchstaben, die in einer Sprache existieren, in der Reihenfolge ihres Auftauchens im Alphabet unter Einbeziehung und Zurschaustellung des dabei entstehenden Gesichtsausdrucks, der sogenannten Grimasse.

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Sprecher: Wer von den Buchstaben redet, darf von den Alphabeten nicht schweigen. Zit: Betrachtet man das Alphabet von hinten, zeigt es uns den Po. Kurt Schwitters. Sprecherin: z y x w v u t s r q P O, n m l k j i h g f e d c b a. Butzmann: Das Schöne an dem ABC ist ja, das ist der einzige Sinn scheint mir vom Alphabet, dass es die Buchstaben ordnet und in ähnlicher Weise habe ich einfach die Grimassen geordnet. Sprecher: Allein vom lateinischen Alphabet gibt es 48 Varianten, inklusive des Maltesischen – der einzigen semitischen Sprache mit lateinischem Alphabet. Seit Mitte des 17. Jahrhundert verfügt auch das Vietnamesische als einzige tonale Sprache über ein lateinisches Alphabet. Die meisten dieser Alphabete haben Buchstaben die um diakritische Sonderzeichen erweitert sind: Akut und Gravis, Hatschek und Zirkumflex, Tilde und Trema, und so weiter und so fort. Sprecher.: Die ISO-Norm 639-1 definiert mit dem Stand vom März 2014 209 Schriftsprachen, beziehungsweise Sprachfamilien. Sprecherin: Und da ist das Klingonische noch nicht mal dabei. Butzmann: juHrop Track 11: mag’morgh (The Battle Formation) Sprecher: Aber das ist in der ISO-Norm 639-2 enthalten, die noch mal rund dreihundert

Schriftsprachen enthält. Zusammengefasst sind die Schriftzeichen im „Unicode“, der in der aktuellen Version 8.0 vom Juni 2015 mehr als 120.000 Zeichen enthält. Platz wäre für mehr als 1,1 Millionen Zeichen. Sprecherin: Wo soll die Inflation der Zeichen und Alphabete noch hinführen? Tagesschau, 11.08.2015: Fanfare Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Heute im Studio Thorsten Schröder. Guten Abend meine Damen und Herren, ich begrüße sie zur Tagesschau. Der Internetkonzern Google will künftig alle seine Aktivitäten unter dem Dach einer neuen Mutter mit dem Namen Alphabet bündeln.

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Die Nachricht verkündet der Firmenchef natürlich online unter der Überschrift G steht für Google. Man gründe gerade eine neue Firma steht da, die nenne man Alphabet, sie sei der neue Mutterkonzern. Sprecher: Die junge Designerin Yuliana Gorkorov, 1988 in der Ukraine geboren, emigrierte mit ihren Eltern nach Israel und studierte später an der Folkwang-Hochschule in Essen Kommunikationsdesign. Dort entwickelte sie ein neues Alphabet mit 26 Buchstaben und sie nannte es „Babel 2014“, weil es das arabische, hebräische, kyrillische und lateinische Alphabet vereinigt. Gorkorov: Man könnte sagen, es ist die schriftliche Variante für Esperanto, aber der Unterschied ist: Esperanto ist hauptsächlich von europäischen Sprachen inspiriert und in diesem Fall ich habe vier unterschiedliche Alphabete also nicht nur europäische sondern auch hebräisch, kyrillisch und arabisch. Es zeigt die Gemeinsamkeiten zwischen den Alphabeten und heutzutage haben wir eine kulturelle Annäherung und wir leben in der Zeit der Digitalisierung und Globalisierung und ich habe mir Gedanken über die Zukunft der Schrift gemacht und was wäre, wenn die Alphabete, die einen gemeinsamen historischen Ursprung haben – das phönizische Alphabet, was wäre, wenn die in Zukunft wieder zueinander näher kommen. Sprecher: Da Lateinisch und Kyrillisch von links nach rechts, Arabisch und Hebräisch aber von rechts nach links gelesen werden, braucht es eine Schrift, die die Richtung ändern kann. Gorkorov: Was interessant ist, beim phönizischen Alphabet, es war am Anfang keine definierte Schreibrichtung und man konnte auch in einem Text eine Zeile von rechts nach links und die nächste von links nach rechts schreiben. Ich könnte für diesen Zweck nicht mehr das phönizische Alphabet benutzen, weil die Formen haben schon weit weg entwickelt und man könnte die phönizischen Buchstaben nicht mehr zu den passenden Lauten erkennen heutzutage deshalb ich

habe mich viel mit der Schriftgeschichte befasst, aber die meine Zeichen sind schon neue Zeichen. Sprecher: Besinnt man sich auf den Dreh, den die Phönizier raushatten, ist die Lösung verblüffend einfach: man baut bestimmte Buchstaben so, das sie drehbar sind und man ihnen an erkennen kann in welche Schreib-Lese-Richtung sie weisen. Gorkorov: Manche Buchstaben müssen nicht gespiegelt, manche nur in einem Alphabet müssen gedreht sein, aber sie kommt in vier Varianten, also gedreht oder gespiegelt, aber ich finde man kann sie immer noch erkennen, weil die Grundform bleibt immer gleich.

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Sprecher / Sprecherin: Alphabet Gorkorov: Es hat 26 Buchstaben, gemeinsame Buchstaben und es hat noch sechs Buchstaben, die nur in einem Alphabet, eine Buchstabe auf lateinisch und fünf Buchstaben beim Kyrillisch, wie zum Beispiel x auf Lateinisch. Der Buchstabe für diesen Laut existiert nur auf Lateinisch und ich wollte diesen Buchstaben nicht weglassen Butzmann: X Schröder: Also im Deutschen habe wir 26, das hat man mal so in der Schule gelernt. Komischerweise fehlen da die Umlaute und das „ß“ dann kommt man eben auf dreißig. Dann kann man aber auch sagen, wie haben zwei Alphabete in der Sprache, nämlich die Kleinbuchstaben und die Großbuchstaben, die ja verschiedene Geschichten haben und dann werden es eben fast doppelt so viele. Das kommt eben auf die Sichtweise an. Sprecher: Martin Z. Schröder: ein Schweizerdegen aus Berlin. Schröder: Ja, dass war früher ein allgemeiner Begriff, der aber in der Druckersprache hängengeblieben ist, und das waren eben Leute, die gleichzeitig setzen und drucken konnten. Also der Reim hieß: „Ein Schweizerdegen ist ein Mann, der setzen als auch drucken kann“ und hämische Leute haben den dann umgewandelt in „Der Schweizerdegen ist ein Mann, der weder setzen noch drucken kann“, was aber nicht stimmt. Sprecher: Wovon spricht ein Drucker und Setzer, wenn er von seinen Arbeitsmitteln spricht? Von Buchstaben oder von Glyphen als der abstrakten Idee eines Schriftzeichens, die uns in den verschiedensten Ausformungen ein A identifizieren lassen?

Schröder: Also Buchstaben nennen wir das eigentlich nicht. Schriftsetzer sagen Typen oder Lettern und damit meinen sie dann diese kleinen bleiernen Stifte auf denen Kopf die Letter aufgegossen ist. Alles was ein Bild trägt, ganz egal was, ist eine Letter oder Type. Ne, das Blindmaterial würde man nicht als Type bezeichnen, das sind Spatien oder Quadraten oder so. Sprecher: Mit den 26 plus 4 Buchstaben des deutschen Alphabets kommt ein Setzer nicht aus. Die Setzkästen von Martin Z. Schröders haben 125 Fächer für Typen, Ligaturen, Satz- und Sonderzeichen. Druckmaschine

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Sprecher: Wie bringt man Buchstaben zum sprechen? Butzmann: Was bringt Buchstaben zum sprechen, ja ganz einfach die Verabredung. Dass ein A ausgesprochen wird wie ein an. Wobei ein „a“ ja ganz unterschiedlich ausgesprochen werden kann. Wenn man a meint sagt man nicht „u“, man sagt auch nicht „o“, nein man sagt „a“. Man sagt aber auch „a“ oder „a“ oder „a“ oder „a“ oder „a“ oder wie auch immer. Aber da geht’s sozusagen in die Meta-Typologie rein, ja. Sprecher: Cornelia Fränz: Cornelia Fränz: Lautskizze Fränz: Das Verhältnis Buchstabe – Laut ist komplex und auch nicht eindeutig und auch in jeder Sprache ganz unterschiedlich. Im Deutschen stehen den Buchstaben zum Beispiel ungefähr 40 Laute gegenüber, denn nicht jeder Buchstabe entspricht einem Laut und umgekehrt. Also derselbe Buchstabe kann für verschiedene Laute stehen und derselbe Laut kann mit verschiedenen Buchstaben notiert werden. Also im Grunde sind es zwei verschiedne Zeichensysteme. Schröder: Ne Kolumnen aus ’nem Plakat stellt mit serifenloser Schrift irgendwie große Balkenbuchstaben dann klingt da sicher ganz anders, also klingt visuell irgendwie anders als eine kleine Buchseite aus der Walbaum oder ein kleiner Vers. Schriftgeräusch: A Schröder: Beim Drucken klingt eine fette Schrift anders als eine magere. Also wenn der Unterschied wirklich groß ist. Weil die dann sehr viel mehr Farbe braucht und wenn

die wirklich decken soll und wenn das Papier vielleicht ein bisschen rau ist, da muss sehr viel Farbe drauf, und die schmatzt. Dann schmatzen die Walzen im Farbsystem und die Walzen schmatzen aber auch, wenn sie über die Schrift rollen. Feinere Schriften sind dann eher geräuschlos in Hinsicht auf den Farbauftrag. Also es gibt ein Geräusch beim Setzen, was für mich wichtig ist. Ne nicht beim Setzen, beim Ablegen, also am Setzkasten. Wenn ich Schrift ablege, dann muss ich erstens während des Ablegens hören, ob der Buchstabe wirklich runtergefallen ist, weil ich mit den Augen immer schon beim nächsten Kasten bin. Also das ist ne Tempofrage. Und ich höre auch Fehler, also wenn ich zum Beispiel ein „i“ also ich weiß, dass ich ein i fallenlasse und dann hört es sich aber ganz schwer an, wie ein ch oder ein m, dann weiß ich, dass da irgendwo was falsch war, entweder bin ich beim Ablegen falsch oder es war ein Fehler im Text, den ich übersehen habe oder so, also da spielen die Ohren auch ne Rolle.

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Schreibgeräusch: B Sprecherin: Wie bringt man Buchstaben zum klingen? Schreibgeräusch: A Sprecherin: Indem man sie singen lässt, wie Caterina Valente Dean Martin am 15. Dezember 1966 in seiner Show: Valente / Martin: One Note Samba Caterina Valente: Hey, I didn’t know you play the guitar. Dean Martin: I don’t but you do. Valente: I’d love to. One condition: Martin: What? Valente: You sing with me. […] Martin: What note I sink? You want some tschungarini[?] Valente: B-flat Martin: B-flat! Valente: B-flat. Martin: Alright, lay it on, my dear. Valente: Ba. Martin: Ba. Valente: Ba Martin: Ba Valente: Ba Martin: Ba Valente: Ba Martin: Ba Valente: Ba Martin: Ba. I got it, alright. Valente: It’s easy.

Martin: It’s easy. Valente: I will tell you, when to start. Martin: You tell me when to start and you give me the note. Valente: I give you the note. Martin: Alright. I get out of here so they can see you Valente: Ready, you got your note? Martin: No, but I’m ready Valente: Try again: Ba Martin: Ba Valente: Ba Martin: Ba Valente: Alright now Martin: Ba Valente: Wait a minute, I tell you. Now: Ba – Eis aqui este sambinha

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Feito numa nota só – ba Outras notas vão entrar Mas a base é uma só – ba Esta outra é consequência Do que acabo de dizer – ba Como eu sou a consequência Inevitável de você – That’s enough Quanta gente existe por aí Que fala tanto e não diz nada Ou quase nada Já me utilizei de toda a escala E no final não sobrou nada Não deu em nada – ba E voltei prá minha nota Como eu volto prá você – ba ou cantar com a minha nota Como eu gosto de você – ba E quem quer todas as notas Ré mi fá sol la si dó – ba Fica sempre sem nenhuma Fique numa nota só Rhythm Sprecherin: Was bringt Buchstaben zum Sprechen? Schreibgeräusche: A B C Sprecher: Einmal verfertigt macht die Schrift in der Regel kein Geräusch mehr. Nachdem man sie mit einem Meißel in Stein gehauen, mit Kreide an die Tafel geschrieben, mit dem Gänsekiel auf Papier gebannt oder mit der Druckmaschine vervielfältigt hat, schweigt die Schrift – bis man sie liest.

Sprecherin: Aber es gibt Ausnahmen. Martin Z. Schröder: Schröder: Als ich Schriftsetzer war da habe ich diese Maschinen immer nur gehört. Das war damals die Druckerei in der Friedrichstraße, Druckerei Raputan und wenn man am Setzkasten steht und hört das nur im Hintergrund und die Maschine erzählt einem nichts, dann war das für mich wie ein Schlaginstrument für meine eigene Musik, also ich habe mitgesummt mit der Maschine, und die hat auch einen musikalischen Klang. Aber wenn man Drucker ist, dann geht das nicht mehr, also dann hör ich die nicht mehr als Musikinstrument, sondern die erzählt mir was, also wie das Papier läuft, ob genug Farbe drauf ist, also man druckt auch mit den Ohren.

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Sprecherin: Doch es braucht nicht große Druckmaschinen um den Sound von Schrift zu hören. Ein User, der sich Midi Desaster nennt hat auf Youtube diverse Videos eingestellt, bei denen man einem Nadeldrucker bei der Arbeit zuhören kann. Midi Desaster: Bohemian Rhapsody Sprecher: Hier ist es zwar nicht die Schrift aber immerhin der Schreibverbund von Druckkopf, Tinte und Papier, der akustisch wirksam wird. Midi Desaster: Eye of the Tiger Sprecherin: Schriften, die von sich aus Geräusche machen, findet man im öffentlichen Raum. An Hausfassaden oder auf Dächern. Allerdings sind die Geräusch ihrer Buchstaben eher unspezifisch. Argon: Sprecherin: So klingt Argon, ein weiß leuchtendes Edelgas, das mit Abstand an häufigsten verwendet wird, um Buchstaben zum leuchten zu bringen. Neon: Sprecherin: … und so klingt Neon, das von sich aus rot leuchtet, für seine Farbigkeit also keine beschichteten Röhren braucht. Sprecher: Barbara Dechant und Anja Schulze betreiben seit zehn Jahren in Berlin das Buchstabenmuseum. Im November 2015 ist erst einmal Schluss bis sich wieder

Räume für die umfangreiche Sammlung aus bis zu dreieinhalb Meter hohen Buchstaben finden. Dechant / Schulze: Ich zumindest vertret’ so die Meinung, dass wir Zeichen ohne Inhalt hier haben, also wenn die losgelöst sind hat das natürlich ne ganz andere Wirkung, dann wird das zu ’nem Objekt ohne dass man vielleicht weiß, was es bedeutet. Da tun wir uns natürlich schwer, weil wir alle zum Glück lesen können, aber wenn man jetzt zum Beispiel nach Asien fahren würde und man steht vor so einem Zeichen, sieht man einfach nur dieses wunderbare, schöne gestaltete Zeichen und weiß überhaupt nicht was es heißt, und das ist so’n bisschen der eine Ansatz. Auf der anderen Seite haben wir auch die Idee, das gerade so prägende Schriftzüge aus ’ner Stadt die verschwinden, dass die bei uns landen, damit wir die bewahren und zeigen können.

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Und unser Ansatz ist, das man eigentlich den Zustand in dem wir die Objekte gerettet haben, hier bei uns im Museum konserviert … und das wollen wir dann hier zeigen und nicht irgendwie neu herrichten. Sprecher: Das Konzept der Sammlung besteht in einer weitgehenden Dekontextualisierung der Buchstaben. Den grün leuchtenden übermannsgroßen Lettern „A“ und „I“ sieht man nicht an, dass sie einmal für das Bekleidungshaus Ebbinghaus warben, Und den vier „E“s mit den überbetonten Serifen nicht, dass sie einst das Verlagshaus des Berliner Tagesspiegel in der Potsdamer Straße zierten. Dechant / Schulze: Wir wollen nicht die fertigen Schriftzüge zeigen, weil das wäre dann eher ein Logomuseum oder ein Schilder-/Schriftzugmuseum, sondern wir wollen doch immer wieder die Buchstaben auseinanderziehen und loslösen und sie dadurch aber auch so ein bisschen in den Vordergrund bringen. Sprecher: Ebenso schwer ist zu erkennen, dass eine verbogene Leuchtstoffröhre, die die Zeichenkette „orz“ formt dem Wort Porzellan seine Herkunft verdankt. In der Sammlung des Buchstabenmuseums finden sich auch die Lettern des alten Rundfunks der DDR und das erste Exponat der Sammlung war eine Werbung für das Radio – für Autoradios von Blaupunkt. Dechant / Schulze: Das ist ne kleine künstlerische Intervention hier bei uns im Museum. Sprecherin: Nur wenige Buchstaben bringen es zu so ikonischem Charakter, dass man sie schützen könnte. Das „T“ hat sich die Deutsche Telekom nicht markenrechtlich schützen lassen können – das Magenta als Markenfarbe aber schon. Sprecher: Während die Werbung den ikonographischen Charakter ihrer Logos, Buchstaben und Schriften betont und durch Marktpenetration ihren Bekanntheitsgrad steigern will, hat

die Literatur andere Techniken entwickelt, um auf die Bestandteile aus denen sich gemacht ist, hinzuweisen. Sprecher: Eine besondere Form entwickelte in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die französische Werkstatt für potentielle Literatur (Ouvroir de Littérature Potentielle) kurz OuLiPo. Sprecherin: François Le Lionnais, Raymond Queneau, Georges Perec aber auch Italo Calvino, Henry Matthews und Oskar Pastior gehörten zu der Gruppe, die sich für ihre literarische Produktion bestimmten formalen Zwängen unterwarf, sogenannten „contraintes“.

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Sprecher: François Le Lionnais wollte das das Prinzip Werkstatt für potentielle Literatur auch auf andere Künste erweitern. Aus OuLiPo sollte Ou-X-Po werden. Die Diplomdesignerin Cronelia Fränz hat diesen Anspruch ernst genommen und das Alphabet im wortwörtlichen Sinne auf seine Tragfähigkeit hin untersucht und dafür die Bezeichnung OuTriPo geprägt: Ouvroir de Tricoter Potentielle. Die Werkstatt für potentielles Stricken. Dabei sind ihr gewisse Ähnlichkeiten zwischen Schreiben und Stricken aufgefallen. Sprecher /Sprecherin

Sprecher: Cornelia Fränz: Fränz: Trotz der etymologischen Verbindung und den Gemeinsamkeiten in der Struktur bewegen sich Text und Textil also beide Welten eigentlich eher distanziert zueinander. Im Textilen wird ja nicht mit Worten kommuniziert, sondern das Material selbst spricht sozusagen und im Text wird der Buchstabe selbst, also das Material des Textes eigentlich übersehen, also der Buchstabe wird im Grunde transparent. Wenn man versucht während des Lesens den Buchstaben selbst, seine Form, seine Oberfläche zu sehen, dann liest man nicht mehr und wenn man liest, dann nimmt man nicht den einzelnen Buchstaben wahr. Das ist im Grunde so wie eine Art

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Kippfigur. Also man kann nie beide Seiten von Schrift gleichzeitig wahrnehmen, die der Materialität, es gibt dafür auch den Begriff der Textur, die sinnliche Seite, die sich zeigt und dagegen die Seite, die etwas sagt, also die sinnzentrierte Seite von Schrift, da gibt’s den Begriff der Textualität, sozusagen. Also Textur auf der einen Seite und Textutalität auf der anderen. Das ist sozusagen der Zwiespalt der Buchstaben. Sie changieren sozusagen zwischen Sagen und Zeigen, zwischen Bedeutung Materialität also im Grunde zwischen Sinn und Sinnlichkeit. Sprecher: Aus OuTriPo ist OuTyTriPo – die Werkstatt für potentielles typographisches Stricken geworden. Der Weg vom Text zum Textil ist kürzer als gedacht und führt über die Textur, das Gewebe des Materials aus dem sie gemacht ist. Fränz: Die gestrickten tragbaren Buchstaben bewegen sich im Grunde genau in diesem grundlegenden Zwiespalt der Buchstaben, sie thematisieren sozusagen das Spannungsverhältnis von Materialität und Interpretierbarkeit. Die Vokale sind aus voluminöser unversponnener Wolle gestrickt, die Konsonanten aus feinem verzwirnten Schurwollgarn. Die Schnittgestaltung basiert auf einem Buchstabenformzwang. Also Grundlage verwende ich die Majuskeln also die Großbuchstaben des lateinischen Alphabets. Die einzelnen Buchstaben entfalten am Körper getragen ihren eigenen Charakter und sie beeinflussen auch ihren Träger und sein Bewegungsvokabular. Das B betont Busen und Bauch, das H ein Hosenanzug, das elegante L, was allerdings nur sehr langsam gehen kann, da es eine Schleppe hinterher zieht. Das P und das R sind in der Bewegung des linken Arms eingeschränkt, das X dagegen hat völlige Bewegungsfreiheit. Zit.: Anton Voyl hat Schlaf nötig, doch Anton kommt nicht an und macht Licht. Auf Antons Uhr ists null Uhr zwanzig. Anton ächzt laut, wälzt sich mal so rum, mal so rum — Antons Schlafcouch ist hart —, stützt sich dann auf, griff sich 'n Roman, schlug ihn auf und las; doch lang ging das nicht gut, da Anton vom Inhalt absolut nichts schnallt und ständig auf 'n Wort stößt, wovon ihm Sinn und Signifikation total unklar ist. Also klappt Anton das Buch zu und ging ins Bad.

Sprecher: 1969 veröffentlichte Georges Perec den Roman „La Disparition“ in der der mit Abstand häufigste Buchstabe im Französischen, das „e“, nicht vorkommen durfte. Sprecherin: 1986 erschien die deutsche Übersetzung des leipogrammatischen Romans von Eugen Helmlé, der auf Deutsch nicht „Das Verschwinden“ heißen durfte, denn auch die deutsche Fassung sollte selbstverständlich ohne das „e“ auskommen. Der dreihundertseitige Roman erschien unter dem Titel „Anton Voyls Fortgang“. Georges Perec war nicht der erste Schriftsteller, der mit dem Verzicht auf Buchstaben experimentiert. Solche lipo- oder leipogrammatische Texte gibt es seit dem Barock. Sprecher:

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Den Buchstaben über seine Abwesenheit hervorzuheben ist nur der indirekte Weg, um die Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. Der direkte Weg führt über die Betonung seiner Anwesenheit, durch Alliteration. Anagramm und Aussprache. Rühm: Rühm, Gerhard, 12.2.1930, Wien, Reisen nach Ungarn, Deutschland, Schweiz, Italien, Griechenland, Libanon, Ägypten, Tschechoslowakei, Polen, Holland, Frankreich, Dänemark, Verfasser des rhythmus r. Sprecher: 1968 performte Gerhard Rühm „rhythmus r“ einen Hörtext der die Lautlichkeit des Buchstabens geradezu exhibitionierte. Gerhard Rühm: rhythmus r Rülpser, rumpf, rein, regen rauscht, reizt, rings, rechts, raum, im raum, raum im raum, räume im raum, raum in räumen, räume in räumen, schlagen, schlagen rschlagen, reinschlagen, eine richtung reinschlagen, rennen, rennen … Rühm: Das war 1958 ich halte das noch immer für eine exemplarische Arbeit von mir: der „rhythmus r“. „rhythmus r“ heißt das deshalb, weil das „r“ eine dominierende Rolle spielt. Es hat keine Handlung in dem Sinn, aber ein Thema. Das Thema ist, wenn man so will, Regen und Assoziationen zu dem Begriff Regen wobei Regen als Bewegungsmoment, man regt sich, gesehen werden kann, aber auch als Hauptwort, also Substantiv im Sinn: es regnet oder der Regen. Und diese Doppeldeutigkeit ist ganz bewusst da mit ins Spiel gebracht. Ich bin eine Vertreter der konsequenten Kleinschreibung, da wird das noch deutlicher und da hab ich versucht ein Art totales Buch zu machen, das es kein Zufall ist oder dem Satzspiegel überlassen wird, wann man umblättert, sondern das ganz bewusst kalkuliert wie viel auf eine Seite Text kommt. Und eine leere Seite hat dann gewissermaßen die Funktion wie in der Musik die Pause oder ein Spannungsmoment, auch. Und das hat mich dann gereizt zehn Jahre später etwa, oder waren es nicht ganz zehn Jahre, ein Hörspielversion zu machen, um wieder deutlich zu machen, wie sich eine Konzeption verändert, wenn man sie für ein anderes Medium macht, also in

dem Fall eben für den Rundfunk und dann kommt natürlich das Geräusch des Regens rein, dann auch das Geräusch eines Zerreißens, des Zerreißens eines Stoffes, dass dann besonders hörfällig ist und jetzt musste ich natürlich auch etwas finden statt des Rückens und da hab ich dann einen Rülpser aufgenommen, der natürlich mit meinem Körper wie der Rücken unmittelbar zu tun hat nur eben eine Geräuschdimension anspricht. Sprecherin: Der Laut „r“ ist geradezu prädestiniert für eine lautbuchstäbliche Analyse. Katharina Bihler und Stefan Scheib, die als „Liquid Penguin Ensemble“ die Hörspiellandschaft bereichern, haben mit dem barocken Grammatiker Valentinus Ickelsamer und seinem französischen Kollegen Louis Meigret zwei historische Figuren porträtiert. Liquid Penguin Ensemble:

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Ickelsamers Alphabet KATHARINA: Wie Früchte hingen die Buchstaben am Baum der Erkenntnis. Die Schüler saßen darunter mit aufgesperrten Schnäbeln. Und in den meinen fiel als runde reife Frucht das rollende Rrrr. Ich schnappte zu Komposition aus Rrrrs Ickelsamers Alphabet Dictionarium der zierlichen Wörter wiederentdeckt und ergänzt von Katharina Bihler und Stefan Scheib KATHARINA: (Allgäuer Mundart) an Ronk, griele, die feandrig Drickne, de Drou Rähnar, Riehrmill Auf der Zunge rundgerollter erdiger Wohllaut. Lustvolle Ertüchtigung des maßgeblichen Muskels meines Mundgerüstes. Markenzeichen meines mittelalemannischen Mutterdialekts. ELTERN BIHLER (singen): a Rrrriehrmill hon i drrrunke, an SchloIerrrr drrriii... KATHARINA: Ein sprechtechnisches Kabinettstückchen außerdem, das mir, der stolzen Allgäuerin, in der schwäbischen Diaspora, in der ich aufwuchs, so schnell keine Spielkameradin nachmachte. Ein rollendes R sprechen zu können, unterschied mich von den anderen. Es zeichnete mich aus. Sogar vor Ludwig dem Vierzehnten. Das versicherte mir meine französische Großkusine Eléonore. ÉLÉONORE: Le roi soleil régnait sans R roulé! (weiter unter Katharina) Il était pourvu d’un ridicule petit défaut de prononciation de la lettre “R“ qu’il ne savait rouler mais seulement grasseyer. D’où qu’il advint que désormais par décret royal il serait strictement interdit de prononcer le R d’autre manière que lui, Roi Soleil régnant sur le grand jardin de France. KATHARINA (über Eléonore) Der Sonnenkönig habe nämlich an einem Sprachfehler gelitten, er habe das R nicht mit der Zunge zu rollen gewusst, wie es seinerzeit allgemein üblich gewesen sei, sondern habe es nur als Rachen-R beherrscht. Also habe er kurzerhand auch seinen Untertanen strikt verboten, das R anders auszusprechen als er. Sprecherin: Ickelsamer wollte mit seiner „Teütschen Grammatica, daraus einer von ihm selbst mag lesen lernen“ den Deutschen das Lesen beibringen. Der Buchdruck war gerade erst erfunden und die Gesellschaft nicht annähernd so alphabetisiert wird die heutige.

Lesen hieß damals laut lesen: Liquid Penguin Ensemble: Ickelsamers Alphabet ICKELSAMER: und ich waiß kain bessern rath darinn zuogeben / dann das man in allen wörtern / der oren rath hab / wie es aigentlich kling / so wirdt man niI vil vnnützer oder vnrechter buochstaben setzen ÉLÉONORE: (frz. Alphabet) [a] - [be] – [ce] – [de] – [e accent aigu]: éléphant, éclatant, Eléonore. C’est moi! KATHARINA: Von einer solchen, unmittelbar körperlichen, oral-haptischen Buchstabenerkenntnis, wie sie im Deutschen möglich ist, darf das Französische nur träumen. ÉLÉONORE (beginnt allein, dann weiter unter dem Folgenden) „o-t“ se prononce “o“. „a-u-l-d“ se prononce “o“.

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„a-u-t“ c’est toujours “o“. „a-u-l-t“ – „o“... KATHARINA: Verließe man sich in dieser Sprache auf das Gehör und den Tastsinn seines Mundgerüstes, wäre man auf dem Gebiet der Rechtschreibung verloren. Allein der Laut „O“ kann im modernen Französisch auf rund ein Dutzend verschiedene Arten verschriftet werden, unter Verwendung von ein bis fünf verschiedenen Buchstaben. ÉLÉONORE (cont):... “e-a-u“ se prononce “o“. KATHARINA: Man hat es im Laufe der Jahrhunderte peu à peu und nonchalant vernachlässigt, sie einzeln und der Reihe nach auszusprechen. Sprecherin: Wenn die Buchstaben die Atome des Alphabets sind, dann hat sich das Liquid Penguin Ensemble mit deren Elementarteilchen beschäftigt. Sprecher / Sprecherin: Chaos alphabetischer Elementarteilchen Sprecherin: Katharina Bihler: Bihler: Mit Valentinus Ickelsamers Hilfe haben wir uns mit den kleinsten Teilchen beschäftigt, aus denen Sprache und Musik zusammengesetzt sind: Lauten, Klangpartikeln, Klanggesten, Buchstaben, ihre Charaktere, ihre zuweilen tierische Ausdruckskraft, auf die uns der erste deutsche Grammatiker mit ganzer „subtiligkait“ aufmerksam gemacht hat, und wir haben uns ganz dieser Geräuschfülle der Sprache und der Sprachkraft von Klängen hingegeben. Sprecherin: „Ickelsamers Alphabet – Dictionarium der zierlichen Wörter“ wurde sowohl mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet, als auch zum Hörspiel des Jahres gekürt. Der Juror Wolfgang Hegewald, Schriftsteller und Professor für Rhetorik und Poetik erklärt warum:

Hegewald: Wo anfangen? Ich wähle die eigenwillige Variation des berühmten ersten Satzes aus dem Johannes-Prolog im gleichnamigen Evangelium: AM ANFANG WAR DER BUCHSTABE, und der Buchstabe ward Laut und wohnte in uns, im Palais unter der Gaumenkuppel. Von Friedrich Nietzsche, dem theologisch versierten, sprachmächtigen und sprachkundigen Philosophen, stammt der Hinweis, dass die Grammatik die eigentliche Schöpfungstatsache sei. Der Generator jeder möglichen Sprachwelt. In „Ickelsamers Alphabet“ treten die Buchstaben als das auf, was sie, im Englischen beispielsweise, ohnehin sind: als Charaktere. Ob launisch, bissig, knurrend, lächelnd, hauchend oder hingehaucht – was diese Buchstaben genannten Virtuosen, die Zauberkünstler in einem Variete namens Mundraum und Akrobaten in der Menagerie unter dem Schädeldach gemeinsam haben, ist ihre Begabung mit Musikalität. Das Hörspiel handelt nicht zuletzt vom Zwiespalt, in dem sich Buchstaben fortwährend befinden: Läse man einen Text Buchstabe um Buchstabe, so käme einem bald jeglicher Sinn und jede Bedeutung abhanden. Die Sinnlichkeit

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des Alphabets muß verschwinden, damit der Sinn und die Bedeutung hervortreten. So betrachtet, fristen die Buchstaben das Dasein notorischer Masochisten, opfern sich auf für die Sache des Sinns. „Ickelsamers Alphabet“ aber ist ein phantastisches Plädoyer für die akustische Materialität der Buchstaben. Die Lust an oralhaptischer Buchstabenerkenntnis, diese Formel bringt womöglich das zentrale Erzählinteresse des Hörspiels auf den Begriff. Ich könnte auch von einer akustischen Emanzipationsbewegung sprechen: der Entdeckung des Alphabets als Notenschrift. Sprecher: Das O als der Laut, den Louis Meigret auf einen Buchstaben beschränken wollte, spielt in Gehard Rühms radiophonen Redeoratorium „Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt“ eine besondere Rolle. Denn dieses Hörspiel besteht ausschließlich aus monovokalen Wörtern. Dem Komponisten Hugo Wolf, der an einer Syphilis-bedingten Schizophrenie litt, hat Rühm je 25 Wörter auf „u“ und „o“ zugeordnet. Die drei wichtigsten Frauen seines Lebens, Vally, Melanie und Frieda, bekommen je 50 Wörter auf „a“, „e“ und „i“. Das ergibt in der Summe 200 Wörter mit Hilfe derer Rühm eine fast kubistische Liebesgeschichte erzählt. Gerhard Rühm: Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt. gewisse kennzeichen „konkreter poesie“ wie radikale reduktion des sprachmaterials und aufhebung der hierarchie des syntaktischen regelsystems zugunsten der freien verfügbarbeit des einzelwortes (oder lautes) erinnern bei flüchtigem blick vielleicht an spracheigentümlichkeiten schizophrener. ein längerer text wie der vorliegende, bei dem die begrenzung des wortbestands durch das monovokale auswahlprinzip methodisch verschärft wurde, mag diesen eindruck noch verstärken. rascheln eines papierblatts das blatt (bewegtes walzertempo, zm schluss hin sich steigernd) tanzt. fast tanzt das blatt, an-fangs. tanzt fast nackt das blatt fragt? sagt. wacht, macht, tanzt, lacht, tanzt anfangs lang-sam anfangs ja, anfangs nah anfangs da. da! da? fragt an-fangs, sagt an-fangs, lacht an-fangs, macht an-fangs, wacht an-fangs, tanzt an-fangs langsam, tanzt dann bald rasch tanzt rachs, tanzt nackt tanz, tanzt rasch dann tanzt nackt rast dann rast! Klatscht (sofort einsetzender publikumsapplaus, der gleich nach in sich zusammenfällt, mit

schleifer nach unten ausgeblendet wird.) halt. Sprecher: Für das nach oulipotischen Restriktionen gebaute Stück „Hugo Wolf und drei Grazien, letzter Akt“ ist der gerade 85 Jahre alt gewordene Gerhard Rühm mit dem Karl-Sczuka-Preis 2015 ausgezeichnet worden. Sprecherin: Dass ein Laut aus mehreren Vokalen bestehen kann, beweist das französische „o“, dass ein Vokal mehrere Laute beinhalten kann, kann man in Grace Yoons Hörspielbearbeitung von Dieter Roths Theatertext „Murmel“ aus dem Jahr 1974 hören. Der komplette 176-seitige Text besteht nur aus einem einzigen Wort: „Murmel“. Sechs Buchstaben, eine Lautverbindung aus zwei Silben. Fremdtexte sind für eine Inszenierung ausdrücklich nicht zugelassen – auch das eine starke Formbeschränkung, die den Oulipoisten gefallen könnte.

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Dieter Roth / Grace Yoon: Murmel: Murmel – Lemrum Sprecher: Die artikulatorischen Möglichkeiten sind vielfältig und wenn man das Murmelmotiv nach kompositorischen Regeln durchdekliniert wird daraus im Krebsgang „lemruM“. So umgeht man die strengen Regeln des Autors, ohne sie zu brechen. Sprecherin: Franz Mon ist wie Gerhard Rühm ein Vertreter der konkreten Poesie, Mon arbeitete immer an der Schnittstelle von visueller und auditiver Dimension der Sprache. Sein Hörspiel „ausgeartetes auspunkten“ aus dem Jahr 2007 arbeitet mit einer besonderen Form der Alliteration, in der es nicht nur auf die Anlaute der Wörter ankommt, sondern auf die Bedeutungsverschiebungen, die die Vorsilben „aus“, „an“, „ab“, „auf“ bewirken. Auch Mon arbeitet mit den ursprünglichen Kulturtechniken Rotation und Permutation. Franz Mon: ausgeartetes auspunkten Die vier genannten Patentwörtchen vermitteln ihre eigene Dramatik, indem sie die Grundbedeutungen aushebeln und ganz spezielle Bedeutungsbahnen hervorholen. Die Wörter sind die eine Sache. Man kann sie aufschreiben und hat sie schon. Nicht aufschreiben lässt sich dagegen ihre Verlautung durch die Stimmen, die doch ihre Buchstäblichkeit allererst zum Leben bringen und sie leibhaftig werden lassen. Die ertönenden Stimmen sind dann nicht mehr, wie man es gewohnt ist und verlangen kann, Dienstleister, sondern folgen ihren eigenen Impulsen, sind selbst die Sache um die es geht. Sie bezeugen die leiblich-leibhafte Souveränität der menschlichen Sprache. Es gilt: auch wo keine Wörter sind ist Sprache sobald Stimme Laut wird. Darf man denn ausgeartetes anbahnen und beim abändern aufaddieren, alles aufaddierte dann aber auch noch abgebalgt anbauen und ausatmen. und ausgeatmetes alsobald anbeißen und beim abbauen aufbahren,

alles aufgebahrte aber abgerissen anbellen und ausbaden. ausgebadetes geradezu anbeten und beim abbeizen aufbaumeln, alles aufgebaumelte aber abgebettelt anbetteln und ausbaggern. ausgebaggertes anbieten und beim abbiegen aufbauschen, alles aufgebauschte aber abgebildet anbinden und ausbaldowern. ausbaldowern und ausbaldowern da starrt am katafalk Aida ganz und gar apathisch Adams

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Marschflugkörper an anzwitschern und auspunkten anzwitschern und auspunkten anzwitschern und auspunkten ausgepumptes anzwinkern und beim abschotten aufstechen, alles aufgestochene aber abgeseift anzwitschern und auspunkten Sprecher: Nirgends steht der Buchstabe so im Fokus der Aufmerksamkeit wie im Anagrammgedicht. Jeder Buchstabe eines Wortes oder einer Zeile wird zur Bildung eines neues Begriffs oder einer neuen Wortreihe verwendet wird, ohne dass ein Buchstabe weggelassen oder hinzugefügt werden darf. Die Buchstaben rotieren so lange auf der Achse der Bedeutung bis sich ein neuer Sinn ergibt. Butzmann: Wir machen sozusagen eine Buchstabensalat und gucken, welche Kombination am besten schmeckt – das ist dann ein Anagramm, ja. Sprecher: Aus dem Kernsatz von Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-philosophicus: „Die Welt ist alles was der Fall ist“ hat der Anagrammlyriker Stephan Krass ein lyrisches Weltverständnis durchbuchstabiert. Stephan Krass: Alles was der Fall ist Falls reel was da ist Alles das will Strafe Lasst das Weltall frei. Stacey Kent: One Note Samba This is just a little samba Built upon a single note

Other notes are bound to follow But the root is still that note Now this new note is the consequence Of the one we've just been through As I'm bound to be The unavoidable consequence of you There's so many people Who can talk and talk, and talk And just say nothing Or nearly nothing I have used up all the scale I know and at the end I've come to nothing I mean nothing So I come back to my first note

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As I come back to you I will pour into that one note All the love I feel for you Any one who wants the whole show Re mi fa so la ci do He will find himself with no show Better play the note you know Sprecher: Wer Ohren hat zu lesen Sprecherin: Über stumme und sprechende Buchstaben Sprecher: Eine Alphabetisierungskampagne Sprecherin: Von Jochen Meißner Sprecher: Mit Britta Steffenhagen Sprecherin: Wolfgang Condrus Sprecher: und Christian Find Sprecherin: Technische Realisation: Sprecher: Christiane Neumann Sprecherin: Regie: der Autor Sprecher: Eine Produktion des Südwestrundfunks 2015 Sprecherin: Redaktion: Stephan Krass