wie lehramtsstudierende ihr praktikum erleben – selbstbildbeschädigung, selbstbildbestärkung und...

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ORIGINALBEITRAG Zusammenfassung: Studierende nutzen die Lernchancen, die sich durch Schulpraktika bieten, nicht hinreichend. Um dies zu ändern wäre Wissen darüber hilfreich, welche bedeutsamen Situ- ationen Studierende in den Praktika erleben und wie sie diese subjektiv verarbeiten. Im Rahmen der im Artikel vorgestellten Studie wurden 319 Studierende der Ludwig-Maximilians-Universität München nach bedeutsamen Situationen in ihren Praktika sowohl per Paper-and-Pencil als auch online befragt und eine gegenstandsverankerte Theorie erstellt. Dabei stellte sich heraus, dass das vordringliche Ziel der Studierenden der Schutz oder die Verbesserung ihres Selbstbildes ist. Im Rahmen des Artikels wird beschrieben, durch welche Situationen das Selbstbild der Studierenden in Frage gestellt wird und warum sie zu welchen Maßnahmen greifen, um das Selbstbild wieder zu stabilisieren. In der Diskussion wird einerseits ein praktischer Vorschlag formuliert, wie die Lernchancen durch Praxissituationen besser genutzt werden könnten, und andererseits wird auf- gegriffen, welchen Beitrag die Studie zur Aufklärung bisheriger Forschungsergebnisse im Bereich der Praktika leisten kann. Schlüsselwörter: Lehrerbildung · Schulpraktische Studien · Praktikum · Kritische Ereignisse · Grounded Theory · Selbstbild Abstract: Students do not use the learning opportunities offered through school internships suf- ficiently. In order to change this it would be useful to know more about significant situations in internships and how students process them. Therefore, the study presented in this article analyzed critical incidents delivered by 319 students of the Ludwig-Maximilians-University at Munich ei- ther online or by paper and pencil. A key result of the bottom up developed Grounded Theory is that the primary aim of the students is to protect or improve their self-image. We describe which situations challenge the student’s self-image, which measures students take on in order to deal with the challenge and how they justify the stabilization. At the end we suggest a way to improve Z f Bildungsforsch (2014) 4:23–41 DOI 10.1007/s35834-013-0075-3 Angenommen: 01.10.2013 / Online publiziert: 15.10.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Dr. B. E. Meyer () Lehrstuhl für Schulpädagogik, LMU München, Martiusstr. 4, 80802 München, Deutschland E-Mail: [email protected] Prof. Dr. E. Kiel Lehrstuhl für Schulpädagogik, LMU München, Leopoldstr. 13, 80802 München, Deutschland Wie Lehramtsstudierende ihr Praktikum erleben – Selbstbildbeschädigung, Selbstbildbestärkung und Entwicklung Barbara E. Meyer · Ewald Kiel

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Page 1: Wie Lehramtsstudierende ihr Praktikum erleben – Selbstbildbeschädigung, Selbstbildbestärkung und Entwicklung

Originalbeitrag

Zusammenfassung: Studierende nutzen die Lernchancen, die sich durch Schulpraktika bieten, nicht hinreichend. Um dies zu ändern wäre Wissen darüber hilfreich, welche bedeutsamen Situ-ationen Studierende in den Praktika erleben und wie sie diese subjektiv verarbeiten. Im Rahmen der im Artikel vorgestellten Studie wurden 319 Studierende der Ludwig-Maximilians-Universität München nach bedeutsamen Situationen in ihren Praktika sowohl per Paper-and-Pencil als auch online befragt und eine gegenstandsverankerte Theorie erstellt. Dabei stellte sich heraus, dass das vordringliche Ziel der Studierenden der Schutz oder die Verbesserung ihres Selbstbildes ist. Im Rahmen des Artikels wird beschrieben, durch welche Situationen das Selbstbild der Studierenden in Frage gestellt wird und warum sie zu welchen Maßnahmen greifen, um das Selbstbild wieder zu stabilisieren. In der Diskussion wird einerseits ein praktischer Vorschlag formuliert, wie die Lernchancen durch Praxissituationen besser genutzt werden könnten, und andererseits wird auf-gegriffen, welchen Beitrag die Studie zur Aufklärung bisheriger Forschungsergebnisse im Bereich der Praktika leisten kann.

Schlüsselwörter: Lehrerbildung · Schulpraktische Studien · Praktikum · Kritische Ereignisse · Grounded Theory · Selbstbild

Abstract: Students do not use the learning opportunities offered through school internships suf-ficiently. In order to change this it would be useful to know more about significant situations in internships and how students process them. Therefore, the study presented in this article analyzed critical incidents delivered by 319 students of the Ludwig-Maximilians-University at Munich ei-ther online or by paper and pencil. A key result of the bottom up developed Grounded Theory is that the primary aim of the students is to protect or improve their self-image. We describe which situations challenge the student’s self-image, which measures students take on in order to deal with the challenge and how they justify the stabilization. At the end we suggest a way to improve

Z f Bildungsforsch (2014) 4:23–41DOI 10.1007/s35834-013-0075-3

Angenommen: 01.10.2013 / Online publiziert: 15.10.2013© Springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Dr. B. E. Meyer ()Lehrstuhl für Schulpädagogik, LMU München, Martiusstr. 4, 80802 München, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. E. KielLehrstuhl für Schulpädagogik, LMU München, Leopoldstr. 13, 80802 München, Deutschland

Wie Lehramtsstudierende ihr Praktikum erleben – Selbstbildbeschädigung, Selbstbildbestärkung und Entwicklung

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the learning outcomes of teacher students through internships and we discuss the contribution of our study to internship research.

Keywords: Teacher education · School internships · Practical training · Critical Incidents · Grounded Theory · Self-Image

1 Einleitung und theoretischer Hintergrund

Im Rahmen der ersten Phase der Lehrerbildung gelten zwei Aspekte als besonders lern-wirksam. Es sind dies einerseits die schulpraktischen Teile der Lehrerbildung (vgl. Mayr 2002; Hascher 2006; Fichten 2006), diese besonders bei qualitativ hochwertiger mento-rieller Begleitung in Schule und Universität (Hascher und Moser 2001; Kreis und Staub 2007; Gröschner et al. 2013). Auf der anderen Seite erweist sich die Simulation von schulischen Situationen, evtl. unter Einbezug von Videographie, als wirksam (Sherin und van Es 2005; Grossman und McDonald 2008; Kocher et al. 2010; Kersting et al. 2012). Hascher resümiert, dass die Lernchancen durch praktische Anteile der Lehrerbildung jedoch bei weitem nicht hinreichend genutzt werden (2012). Daher wäre es für diese Ausbildungselemente wertvoll zu wissen, welche aus ihrer Sicht bedeutsamen Situatio-nen den Studierenden in Ausbildungspraktika begegnen und wie sie diese Situationen verarbeiten. Einblicke in beide Aspekte ermöglichen es Ausbildnerinnen und Ausbildern Praktika adaptiv vorzubereiten und zu begleiten, weil sie wichtige Informationen über die Lernvoraussetzungen der Praktikantinnen und Praktikanten erhalten.

Um an Informationen über diese subjektiven und situationellen Aspekte von Lernvo-raussetzungen zu gelangen, wurden im Rahmen der nun vorgestellten Studie einerseits Situationen gesammelt, die Studierende in ihren Praktika als bedeutsam bewerteten, und andererseits wurde nach der subjektiven Verarbeitung dieser Situationen und den aus der Verarbeitung folgenden Handlungen gefragt. Dabei war das einzige Kriterium, wann eine Situation als „bedeutsam“ definiert wurde, im Sinne Seyfrieds (2002) die Zuschreibung von Bedeutsamkeit durch die Studierenden. Hascher spräche davon, dass durch eine solche Befragung die Mikroperspektive der Praktika in den Blick genommen wird (2012), Dick würde dies als Forschung im widersprüchlichen Handlungsfeld (2002) und Anderson und Herr als „insider research“ (1999) bezeichnen. Die Erforschung bedeutsamer Situationen birgt die Vorteile, dass ein zeitlich begrenztes, konkretes und damit methodisch handhab-bares Phänomen betrachtet wird, das gegenstandsnah die Praxis in den Blick nimmt, dabei aber möglichst unabhängig vom speziellen Setting des Praktikums an einer spezifischen Universität ist und somit eine hohe Übertragbarkeit der Ergebnisse gewährleistet.

Neben dem Ziel, der Praxis der Lehrerbildung relevante Informationen über die Lern-voraussetzungen von Studierenden bereitzustellen, will die Studie dazu beitragen, fol-gende als problematisch anzusehende Forschungsergebnisse im „Lernfeld Praktikum“ mit aufzuklären1:

1. Die Studierenden überprüfen ihre Berufseignung im Praktikum nicht wirklich kritisch.2. Das Streben nach Anerkennung durch Schüler/innen und betreuende Lehrkraft spielt

eine so große Rolle, dass dies teilweise zu unerwünschten Anpassungsverhalten führt.3. Das Verhältnis zu Schüler/innen verschlechtert sich durch das Praktikum.

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4. Lehramtsstudierenden wird die „Kontrolle über Schüler/innen“ durch das Praktikum so wichtig, dass sich diese als Haltung etabliert.

5. Praktikant/innen wenden sich im Praktikum eher von Theorien und Konstrukten ab, anstatt Theorie und Praxis zu verknüpfen.

2 Methode „Grounded Theory“

Als geeignetes Verfahren zur Bearbeitung dieser Fragen wurde die Grounded Theory aus-gewählt und konsequent nach den Vorgaben von Strauss und Corbin (1996) und Charmaz (2007) durchgeführt. Das Ziel ist dabei, von vorhandener Theorie möglichst unbeeinflusst eine so genannte gegenstandsverankerte Theorie zu entwickeln, die jedoch als Bezugs-punkt für weitere Theorien dienen kann. Mit diesem qualitativen „bottom up“-Ansatz ist es möglich, sich auf das subjektive Erleben der Studierenden zu konzentrieren. Folgende Forschungsfragen leiteten die Untersuchung:

● Welche bedeutsamen Situationen erleben Studierende im Praktikum? ● Wie lassen sich die ausgewählten Situationen typisieren? ● Wie handeln die Studierenden in der Praxis und aus welchen Gründen handeln sie so? ● Welche Wirkungen haben erlebte Praxissituationen auf Studierende?

2.1 Methodisches Vorgehen und Auswertung

Die Grundidee der Grounded Theory ist ein Abstraktionsprozess, durch den aus vielen Situationsbeschreibungen das gesucht werden soll, was allen Situationen gemeinsam ist. Dazu wird nach einem Phänomen gesucht, das in allen Situationen vorkommt und das wesentlich für die weiteren Geschehnisse und Wirkungszusammenhänge in der Situation ist. So gibt es Elemente, die das Phänomen auslösen, zudem können eine Reihe von Hand-lungs- und Interaktionsstrategien identifiziert werden, mit denen die Akteure versuchen, das Phänomen zu bewältigen und schließlich folgen Konsequenzen aus den Strategien.

In einem Beispiel von Strauss/Corbin gruppieren sich bei Unfällen die Interaktionen um das Phänomen (auch Kernkategorie genannt) „Angst“, wobei ein starker Sturz mit Verletzungsfolge Angst auslöst und die Handlungsstrategie, Hilfe zu holen, bei Erfolg in der Konsequenz die Angst mindert. Durch das Feststellen einer Kernkategorie können also Wirkungen und Wirkungszusammenhänge auf diese hin gedacht und beschrieben werden, was ein gewisses Maß an Prädiktabilität ermöglicht, dem grundlegenden Ziel von Forschungsvorhaben. Das Verfahren ist hermeneutisch interpretativ, aber gleichzeitig methodisch kontrolliert und bei Durchführung nach den Vorgaben von Strauss und Cor-bin (1996) intersubjektiv überprüfbar.

Die methodische Kontrolle wird im Rahmen der Grounded Theory durch eine Reihe von Maßnahmen sichergestellt. Dazu gehören Forscher-, Daten-, interdisziplinäre und methodische Triangulationen (Flick 2008). Im vorliegenden Fall wurden neben dem Führen von speziellen „Memos“ (Strauss und Corbin 1996, S 169) Ideen und vorläu-fige Ergebnisse aus der Auswertung konsequent mit weiteren Forschern diskutiert2 und Kontrollfragen gestellt (vgl. Strauss und Corbin 1996; Charmaz 2007). Die (vorläufigen)

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Ergebnisse wurden mit den untersuchten Personen in Tiefeninterviews und Workshops besprochen, ebenso mit Lehrkräften, die als Praktikabegleiter an die Universitäten abge-ordnet sind. Weiterhin wurden Daten nacherhoben, wenn aufgestellte Hypothesen an den vorliegenden Daten nicht (ausreichend) überprüft werden konnten; so gab es eine Vorerhe-bung und zwei große Online-Erhebungen, in denen, und das ist bei Grounded Theories eher selten, quantitative und qualitative Erhebungs- und -Auswertungsmethoden syste-matisch und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Forschungslogiken kombiniert wurden. Auch die Datenauswertung wurde immer wieder angepasst und die Ergebnisse gegen Ende mit vorhandenen Forschungsergebnissen und Theorien abgeglichen.

Bei Grounded Theories werden sowohl zur Beschaffenheit der Kernkategorie als auch zur Beschaffenheit der Wirkungszusammenhänge im Laufe des Forschungsprozesses systematisch Hypothesen aufgestellt und überprüft. Dazu wird zuerst offen kodiert, ohne Wirkungszusammenhänge zu bedenken, die erst im Anschluss im „axialen Kodieren“ in den Blick genommen werden. Ist eine Kernkategorie bestimmt, wird selektiv kodiert, um Hypothesen zu den Zusammenhängen überprüfen zu können. Die Kodierungen erfolgen nicht chronologisch, sondern im ständigen Wechsel, so dass z. B. nach einer widerleg-ten Hypothese über eine Kernkategorie wieder mit dem axialen oder offenen Kodieren begonnen wird.

Im Laufe des Auswertungsprozesses wurden hunderte Hypothesen aufgestellt und widerlegt; beispielsweise wurden die Kategorien Unsicherheit, Störungsregulation, Rollenfindung, Suche nach Bestätigung, Suche nach Selbstwirksamkeit, Taxieren von Anforderungen, Situationskontrolle und Testen der eigenen Fähigkeiten als zentrale Phä-nomene angedacht, letztlich konnten sie ihrer Bedeutung nach aber nicht als Kernkate-gorie bestätigt werden. Die Widerlegung vieler Hypothesen wäre alleine durch qualitative Erhebungen und Auswertungen nicht möglich gewesen, woraus sich der Mehrwert dieser „Quasi-Mixed-Method“ unter Dominanz des qualitativen Ansatzes zeigt.

Das Rahmenkonzept der Grounded Theory macht es schwierig, wie in rein hypothe-sengeleiteten Forschungen zwischen Forschungsmethode, Fragestellung, Ergebnissen und Diskussion streng zu trennen. Bei korrekter Anwendung zwingt die Methodologie dazu, diese Bereiche systematisch „im Fluss“ zu halten. So kann sich aufgrund von vor-läufigen Ergebnissen die Fragestellung verändern, es kann nötig werden, neue Untersu-chungsmethoden auf die Daten anzuwenden und die Interpretation vorläufiger Ergebnisse kann die Grundlage für neue Datenerhebungen darstellen, was im Falle dieses Projekts mehrfach geschehen ist. Im Laufe der Auswertung hat so immer mehr die Frage eine Rolle gespielt, warum Studierende Praxissituationen als bedeutsam oder kritisch erleben und inwiefern sie das zu Handlungen veranlasst.

2.2 Durchführung und Stichprobe

Die Gesamtstichprobe wurde zwischen August 2007 und Mai 2009 gewonnen, wobei ins-gesamt 319 Lehramtsstudierende der LMU München nach bedeutsamen Erlebnissen wäh-rend ihrer ersten Praxiskontakte befragt wurden. Die ersten 65 Situationsschilderungen zur ersten Orientierung und zur Erstellung erster Hypothesen stammen aus Praktikumsleitfäden (Kiel 2007), die von Studierenden praktikumsbegleitend angefertigt werden. In den beiden Haupterhebungswellen, die über einen Online-Fragebogen erhoben wurden, beantworteten

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die Studierenden nach der Situationsbeschreibung einerseits wenige offene Fragen (z. B. die Frage nach der wohl wichtigsten Handlung in der Situation oder die Frage, wodurch diese vermutlich beeinflusst war) und andererseits eine Reihe auf einer sechsstufigen Likert-Skala einzuschätzende Fragen (z. B. nach verschiedenen mit der Situation einhergehenden Empfindungen, dem Einfluss von in der Situation anwesenden Personen, den Folgen der Situation etc.). Je nachdem, ob die Studierenden die Situation beobachtet, selbst erlebt, oder kein Ereignis als relevant eingeschätzt hatten, wurden andere Fragen gestellt.

Alle Datenerhebungen wurden im Rahmen des pädagogisch-didaktischen Schulprak-tikums erhoben, das 150 bis 160 Unterrichtsstunden umfasst und in der Regel nach dem dritten Semester begonnen wird. Das Praktikum besteht aus zwei Block- und einer stu-dienbegleitenden Phase und ist das erste innerhalb des Studiums. Die Studierenden sind in den Praktika einer Lehrkraft zugeordnet und gestalten selbst mindestens vier Lehrver-suche. Die Praktikumsleitfäden werden von an die Universität abgeordneten Lehrkräften korrigiert und kommentiert. Diese Lehrkräfte betreuen auch die Begleitkurse zur Vor-lesung „Einführung in die Schulpädagogik“ für Studierende vor dem Blockpraktikum.

Von den 254 Teilnehmer/innen der zweiten und dritten Online-Erhebung studierten 141 Lehramt für Grund- und Haupt/Mittelschule sowie 111 Studierende Lehramt Sonder-schule, zwei Teilnehmer machten keine Angaben. Die Studierenden waren durchschnitt-lich 23 Jahre alt und 82 % von ihnen waren weiblich, was für die untersuchten Schularten in Bayern eine weitgehend repräsentative Geschlechterverteilung darstellt. Aus organisa-torischen Gründen konnten im Vorfeld keine Situationsschilderungen von Realschul- und Gymnasiallehramtsstudierenden erhoben werden, die Theorie wurde jedoch im Nach-gang an acht Fällen aus diesen Bereichen überprüft und konnte auch dort in ihrer Gültig-keit nicht widerlegt werden. Die Studentin, mit der das Tiefeninterview geführt wurde, studierte Hauptschullehramt. An den beiden Workshops mit Studierenden nahmen neun bzw. zehn Personen aus allen Schularten teil, der Workshop mit den betreuenden Lehr-kräften hatte 16 Teilnehmer/innen, die in Grund-, Haupt- und Förderschulen tätig waren. Am Ende der Workshops wurden jeweils kurze Fragebögen ausgeteilt, um zu den bespro-chenen Themen die Ansichten aller Beteiligten zu erfassen (vgl. Meyer 2010).

3 Ergebnisse: Die gegenstandsverankerte Selbstbildspannungstheorie

Das Ziel von Forschung im Kontext einer Grounded Theory ist eine gegenstandsver-ankerte Theorie, diese wird in diesem Abschnitt skizziert. Als eine Art Kurzform der Theorie stellen wir fünf wichtige Fragen von Studierenden voran, die deren subjektives Erleben im Praktikum kennzeichnen:

1. Genüge ich meinen eigenen Ansprüchen?2. Genüge ich den Ansprüchen, welche die betreuenden Lehrkräfte im Praktikum an

mich stellen?3. Genüge ich den Ansprüchen, die die Schülerinnen und Schülern an mich stellen?4. Kann ich mich so verhalten, dass mein eigenes Verhalten im Unterricht und im Um-

gang mit Schülern anderen Beteiligten der Institution Schule angemessen erscheint?5. Gelingt es mir, die Schüler in einem Rahmen akzeptablen Verhaltens zu halten, der

mir angemessen erscheint?

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Wie bereits andere Forschungsvorhaben vermuten lassen, war die Frage nach fachwis-senschaftlichen oder fachdidaktischen Ansprüchen („kann ich so unterrichten, wie ich es theoretisch gelernt habe“) kaum relevant. Die fünf vorgestellten Fragen spielten direkt oder indirekt (durch Antizipation oder Identifikation) in jeder der als bedeutsam geschil-derten Situationen eine Rolle. Durch sie kann illustriert werden, welche Emotionen in den Praktikant/innen entstehen, aber auch, warum und welche Maßnahmen die Studierenden ergreifen bzw. was das Ziel ihrer Handlungen ist.

Allein aus diesen Fragen können jedoch weder alle Zusammenhänge noch deren exakte Beschaffenheit beschrieben werden, weshalb wir die entwickelte Theorie nun genauer darstellen. Dazu bedienen wir uns des Strukturvorschlags für alle gegenstands-verankerte Theorien nach Strauss und Corbin (siehe oben). Demnach ist ein Phänomen zentral, das in allen Situationen vorkommt, und die Akteure, im Versuch es zu bewältigen, zu Handlungen veranlasst. Das Phänomen der bedeutsamen Situationen in den Praktika war, dass die Studierenden ihr Selbstbild in irgendeinem Bereich bedroht sahen und eine „Selbstbildspannung“ aufgebaut wurde. Ein Indiz dafür, dass diese Spannung in allen Situationen vorkam, ist folgende Begebenheit: Es gab einige Studierende, die statt einer bedeutsamen Situation eine beliebige Situation schilderten (da sie nach eigenen Angaben keine bedeutsame erlebt hatten); die beliebigen Situationen unterschieden sich jedoch nicht von jenen, die andere als bedeutsam eingeschätzt hatten. Ein wesentlicher Unter-schied war aber, dass die Studierenden auf den Likert-Skalen im Anschluss angaben, dass sie zum Beispiel keine intensiven Emotionen erlebt hätten und sich nicht in ihrer Rolle bzw. Berufswahl etc. bedroht gesehen hätten. Diese Werte waren aber in solchen Situationen, die wir nicht als bedeutsam eingeschätzt hätten, tendenziell hoch (z. B. die Schilderung einer beobachteten Klassensprecherwahl).

Die „ursächlichen Bedingungen“, die zu Selbstbildspannungen führen, sind in 3.1 the-matisiert. In 3.2 werden die drei verschiedenen Arten der Selbstbildspannung beschrie-ben, die wir identifizieren konnten. Alle Maßnahmen der Studierenden in den Situationen zielten darauf ab, die erlebte Spannung wieder abzubauen. Die Darstellung der Frage, mit welchen Mitteln dies versucht wurde (3.3) und wie die Zusammenhänge zwischen den vermuteten Ursachen und den ergriffenen Maßnahmen sowie deren Ablauf beschrieben werden können (3.4), schließt den Ergebnisteil ab.

3.1 Auslösende Prozesse: Bewertung von Verhalten mithilfe von OK-Korridoren

Da ein und dieselbe Situation bei einer Person eine Selbstbildspannung erzeugte, bei einer anderen jedoch nicht (z. B. der Wunsch von Grundschüler/innen nach körperlichem Kontakt), müssten subjektive Einschätzungsprozesse von Handlungen eine große Rolle spielen. Um diese Einschätzungsprozesse handhabbar zu machen wurde ein Konstrukt entwickelt, das sich im folgenden Forschungsverlauf als notwendig zur Darstellung der Zusammenhänge erwies und nun vorgestellt wird. Einleitend ein Beispiel:

Die Schüler meiner Praktikumsklasse waren sich zunächst sehr unschlüssig, wie sie uns Praktikanten nennen sollen. Zunächst wurden wir alle mit „Sie“ angespro-chen und es gab keinerlei Probleme. In der zweiten Praktikumswoche kam ein kleiner Junge auf mich zu und nannte mich von da an „Heinzelmännchen“. Da ich eigentlich nicht dem Bild eines Heinzelmännchens entspreche, fand ich dies

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zunächst nur komisch. Allerdings wiederholte dies der Schüler mehrmals. Auf die Frage, warum er mich so nenne, konnte er mir keine Antwort geben. Auch die Bitte, dass er mich nicht mehr so nennen möge, war sinnlos. Er nannte mich weiterhin so. Erst als mein Tonfall strenger wurde, hörte er damit auf. Er erkannte, dass ich nicht sein großer Bruder bin, sondern ein „Lehrer“. Im weiteren Verlauf hatten wir keinerlei Probleme und er hat sich angemessen verhalten.

An diesem Beispiel werden die Einschätzungsprozesse sichtbar. Das Verhalten, den Stu-denten „Heinzelmännchen“ zu nennen, wurde zu Beginn als Scherz aufgefasst und damit geduldet. Aufgrund der häufigen Wiederholung war sich der Student anscheinend unsi-cher, wie er das Verhalten interpretieren sollte, weshalb er den Grund des Verhaltens erfragte. Als darauf keine Antwort erfolgte und auch eine Bitte zu keiner Veränderung führte, interpretierte der Student das Verhalten eindeutig als unerwünscht und reagierte daraufhin „strenger“, was zum Erfolg führt. Es gibt also verschiedene Interpretations-möglichkeiten, die so auch auf andere Einschätzungsprozesse übertragen werden können: Einen erwünschten und einen geduldeten Bereich, in dem das Verhalten als „OK“ einge-schätzt wird, einen unsicheren Bereich und einen unerwünschten, in dem das Verhalten eindeutig „Nicht OK“ ist (Abb. 1).

Im Rahmen des Tiefeninterviews und der Workshops zeigte sich, dass es für jede/n Studierende/n eine individuelle Menge an Handlungsweisen gibt, die den jeweiligen Bereichen zugeordnet werden können, so dass ein subjektiver „OK-Korridor“ entsteht, in dem die Menge aller erwünschten oder geduldeten Verhaltensweisen erfasst ist. Wenn eine negative Selbstbildspannung entsteht, hängt dies immer damit zusammen, dass Ver-haltensweisen am Rande oder außerhalb dieses Korridors eingeordnet werden.

OK-Korridore erfassen also die Menge aller erwünschten oder zumindest geduldeten Verhaltensweisen; darüber hinaus ließen die Daten folgende Vermutungen zu:

● OK-Korridore spielen in jeder menschlichen Interaktion eine Rolle und sind relativ stabile Konstrukte zur schnellen und konsistenten Beurteilung von eigenem und frem-dem Verhalten.

● OK-Korridore erfassen interindividuell qualitativ und quantitativ unterschiedliche Verhaltensweisen.

● Der Hintergrund für die Einordnung von Verhalten sind individuelle Werte, die mit dem eigenen Selbstbild zusammenhängen.

● Die Grenzen des OK-Korridors sind nicht eindeutig gekennzeichnet: Die Studieren-den waren sich in der Einordnung eines Verhaltens immer dann unsicher, wenn sie das Verhalten gleichzeitig positiv/neutral und negativ bewerteten wie z. B. eine mit großem Aufwand falsch erledigte Hausaufgabe.

● Der Korridor ist den Studierenden nicht von vorneherein bewusst, die Einordnung erfolgt eher intuitiv (vgl. Meyer 2010).

● Wenn Einordnungen in den erwünschten, unsicheren und unerwünschten Bereich erfolgen und damit positive oder negative Selbstbildspannungen auslösen, sind sie von Affekten begleitet.3

Aus dem Beispiel oben wurde deutlich, dass je nach Art der Einordnung einer Handlung und je nach Intensität, mit der das Selbstbild der Studierenden unter Spannung geriet, jeweils andere Maßnahmen getroffen wurden. Daher ist die Frage nach Einordnung und Intensität

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sehr relevant für die Wirkungszusammenhänge. Die Einordnung wiederum wurde davon beeinflusst, dass für eine einzige bedeutsame Situation sehr viele OK-Korridore eine Rolle spielen und miteinander in Konflikt geraten können. So gibt es OK-Korridore,

a. die ein/e Student/in an andere Person richtet (Richtkorridor),b. die er oder sie an sich selbst stellt (Selbstkorridor) und/oder,c. die andere Personen an den Studenten oder die Studentin haben (vermuteter

Fremdkorridor).

Wenn Studierende in den Situationen mit einem dieser OK-Korridore in Kontakt kamen, zog das fast automatisch weitere OK-Korridor-Abgleiche nach sich. Erst das Resultat eines Abgleichs mit dem OK-Korridor ist die konkrete Anforderung, die Studierende im Praktikum an sich gestellt sehen, auf die sie wiederum mit Handlungen reagieren. Wenn im vorgestellten Beispiel der Studierende also glaubt, der Schüler wolle, dass er nicht wie „ein großer Bruder“, sondern wie ein „Lehrer“ handle, so wird diese Erwartung abge-glichen mit dem Richtkorridor („meiner Ansicht nach darf er das“), dem Selbstkorridor („ich will und kann mich so verhalten“) und relevanten Fremdkorridoren („andere sehen das vermutlich genauso“). Das Endergebnis („ich sollte mich also strenger und eher wie ein Lehrer verhalten“) leitet dann die Handlung.

Die geschilderten Situationen bestanden oft aus einer Reihe von Anforderungen, die miteinander in Einklang gebracht werden wollten. Auf diese Art und Weise wird eine Situation durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen OK-Korridore komplex.

Die Fälle zeigten, dass es für die Studierenden besonders schwierig war, eine Spannung abzubauen, wenn mehrere Korridore miteinander konfligierten. Solche Korridor-Konflikte traten immer dann auf, wenn ein Fremdkorridor nicht mit einem anderen vereinbar war; beispielsweise wenn eine betreuende Lehrkraft von Studierenden erwartete, mit harten Sanktionen auf Fehlverhalten zu reagieren (Fremdkorridor), diese selbst jedoch eher ein nachsichtiges und freundschaftliches Verhalten zeigen wollten (Selbstkorridor). Die Stu-

Abb. 1: Bereiche des OK-Korridors

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dierenden mussten dann im konkreten Fall entscheiden, welchem OK-Korridor sie den Vorrang gaben oder eine Möglichkeit finden, beide Korridore zu berücksichtigen. Kor-ridor-Konflikte führten also zu „unklaren Selbstbildspannungen“, bei denen die Studie-renden teilweise viele unterschiedliche Überlegungen zur Lösung anstellten und die oft dennoch nicht gelöst wurden, was dafür spricht, dass diese schwieriger abzubauen waren.

Es ist deutlich, dass das Konstrukt „OK-Korridor“ und seine Ausprägungen maß-geblich dazu beitrugen, die geschilderten Situationen verstehen und analysieren zu können. Zudem erleichterte es das Aufstellen und Überprüfen von Hypothesen zu Zusammenhängen.

3.2 Arten der Selbstbildspannung

Wenn eine „Selbstbildspannung“ auftrat, waren die Studierenden vor die Frage gestellt, ob sie aufgrund des Vorfalls das eigene Selbstbild verändern müssen (bei negativer Verände-rung) beziehungsweise dürfen (bei positiver Veränderung). Um diese Spannung entstehen zu lassen reichte es bereits aus, wenn eine Situation durch Beobachtung nachvollzogen oder antizipiert wurde, wenn also die auszubildenden Lehrer/innen beispielsweise die Praktikumslehrkraft beobachteten oder sich vorstellten, wie ihre erste Unterrichtsstunde ablaufen könnte.

Wurde die Spannung negativ erlebt, entstand das Gefühl einer „Selbstbildgefähr-dung“; wurde sie hingegen positiv empfunden, entstand die Hoffnung, das Selbstbild dürfe aufgewertet werden. Daneben gab es noch einige Fälle, in denen die Spannung unklar war, da z. B. Fremdkorridore nicht bekannt waren oder aber die Situation nur antizipiert wurde, wobei eine Auswirkung auf das Selbstbild in naher Zukunft vermutet wurde. Hier ein Fall mit positiver Selbstbildspannung:

Wie jeden Morgen nehme ich am Gutenmorgenkreis in der Klasse teil. Doch dieses Mal übernehme ich im Anschluss den aktiven Part […] während sich die Klassen-leitung mit den anderen Praktikanten nach hinten zurückzieht. Ich beginne mein zu Hause erarbeitetes Unterrichtskonzept umzusetzen und bin erleichtert zu sehen, dass die Schüler darauf einsteigen und Freude am Lernen haben. Es ist mir möglich, meine Stunde wie geplant umzusetzen. Ich trete (nach Aussage meiner Praktikums-lehrkraft) souverän und selbstbewusst vor die Klasse. Die anfängliche Anspannung hat man mir nicht angemerkt. […] Ich bin zufrieden, dass mein erster Unterrichts-versuch gut geklappt hat und ich fühle mich in meiner Berufswahl bestätigt. Es hat mir Freude bereitet zu unterrichten und zu sehen, dass ich auch in einer Klasse das Vertrauen der Kinder gewinnen kann.

Die Studentin war sich nicht sicher, ob sie die Situation gut meistern würde. Die Handlun-gen der Schüler/innen und die Einschätzung der Lehrerin waren jedoch im erwünschten Bereich ihres OK-Korridors und daher war ihr Selbstbild im Anschluss an die Situation positiv gespannt. Sie änderte daraufhin ihr Selbstbild („ich weiß nicht, ob ich eine gute Lehrkraft bin“) zum positiven („Ich fühle mich in meiner Berufswahl bestätigt und kann das Vertrauen der Kinder gewinnen“).

Weiterhin setzten auch noch jene Einordnungen das Selbstbild unter Spannung, die im „fraglichen“ Bereich des Selbstkorridors vorgenommen wurden und bei denen die

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Studierenden nicht klar einordnen konnten, ob sie negativ oder positiv zu interpretieren seien. Dies war immer dann der Fall, wenn sie sich beispielsweise nicht sicher waren, ob ein Verhalten ihren Wertvorstellungen entspricht, was wohl genau von ihnen ver-langt wird, welche Ursache ein fremdes Verhalten hat oder welchem OK-Korridor sie bei Widersprüchen Vorrang geben sollten.

Über die Einordnung von Verhaltensweisen in OK-Korridore wurden also die subjek-tiven Auswirkungen einer Situation auf das Selbstbild überprüft. Nun folgt ein zentrales und sehr interessantes Ergebnis: Für die Studierenden war es wesentlich, dass ihre Inter-pretationen im Rahmen der geschilderten Vorfälle ihr eigenes Selbstbild bestätigten oder sogar verbesserten. So gaben selbst jene Studierenden, die sehr unzufrieden mit dem Ausgang einer Situation waren, eine Verbesserung ihres Selbstbilds an. Als Beispiel dazu erstaunt folgender knapp geschilderte Fall:

Ein Junge stört regelmäßig im Unterricht und wirft oft unproduktive Aussagen in den Raum. Die Klasse machte einen Ausflug zur Isar. Der Junge war nicht zu bewegen, mit seiner Gruppe ein LandArtKunstwerk herzustellen, sondern störte durch unproduktives Verhalten. Er leidet an Hyperaktivität. Durch den räumlichen Abstand zur Lehrkraft im offenen Gelände gab es keine Grenzen, die durch das Klassenzimmer erzeugt werden. Die Kinder waren enttäuscht über ihre geringen Fortschritte am Projekt. Ich war dazu gezwungen, mich auf ihn zu konzentrieren. Ich muss mehr an meiner Autorität arbeiten.

Trotz des negativen Tons der Schilderung gab die Studentin im anschließenden quantiativen Bereich des Fragebogens an, sie sei sich als Folge der Situation jetzt sicher, dass der Leh-rerberuf der richtige für sie sei (volle Zustimmung). Diese Tendenz der Einordnung wieder-holt sich für alle Fälle, sogar für jene, in denen eine bedeutsame Situation nur beobachtet wurde. Dies verwundert nicht, wenn man betrachtet, dass der Median der Zustimmung zur Aussage „Ich bin mir jetzt sicher, dass Lehrer der richtige Beruf für mich ist“ bei 5 von 6 lag, der Mittelwert bei 4,97 (Standardabweichung 1,24, n = 168). Die Vermutung, dass das zentrale Bedürfnis der Studierenden in den bedeutsamen Praktikumssituationen der Schutz oder die Verbesserung ihres Selbstbilds ist, wurde einerseits von zahlreichen Ergebnissen gestützt und konnte andererseits durch kein Detail in den Daten widerlegt werden.

3.3 Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen

Studierende ergriffen in den bedeutsamen Situationen stets deshalb Maßnahmen, um die Spannungen, die sich durch Anforderungssituationen in ihrem Selbstbild aufgebaut hat-ten, wieder abzubauen. Welche Maßnahmen sie genau trafen und welche Zusammen-hänge sich feststellen ließen, ist Inhalt dieses Abschnitts.

Je nach Art der Selbstbildspannungen (negativ, positiv oder unklar), aber auch je nach-dem, in welchem Bereich das Selbstbild gespannt war, wurden unterschiedliche Maß-nahmen zur Spannungsreduktion ergriffen. In Bezug auf die unterschiedlichen Bereiche steht die Frage, welchen Grund die Studierenden hinter einer Handlung vermuten. Wenn beispielsweise eine Betreuungslehrkraft Student/innen, die in Not geraten, nicht hilft (unsicherer Bereich des Richtkorridors), so könnten diese folgende Gründe vermuten:

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● Die Klassenlehrkraft mag mich nicht (Beziehungsqualität). ● Die Lehrkraft zeigt mir, dass ich ohne ihre Expertise nicht zurechtkäme

(Stellungsgefüge). ● Ich habe es noch nicht geschafft, deutlich zu signalisieren, dass ich Hilfe brauche

(Leistung).

Der Bereich Beziehungsqualität ist immer dann angesprochen, wenn Verhalten so inter-pretiert wurde, dass es auf ein zu viel oder zu wenig Nähe zwischen einem Interaktions-partner und einer/einem Studierenden hinwies. Die Entscheidung darüber, was jeweils „zu viel“ oder „zu wenig“ Nähe ist, ist in den OK-Korridoren der Studierenden operatio-nalisiert. Gegenmaßnahmen mit dem Ziel, mehr Nähe herzustellen, waren

● Interesse am Gegenüber zeigen bzw. Interesse an der eigenen Person wecken, ● sich öffnen bzw. um Öffnung werben, ● Annahme der Person signalisieren bzw. selbst vom Handlungspartner erwünschte

Handlungen ausführen, ● sich als zuverlässig erweisen bzw., Zuverlässigkeit einfordern, ● Gemeinsamkeiten schaffen bzw. betonen.

Mit dem jeweiligen Gegenteil dieser Maßnahmen versuchten die Studierenden, Distanz zu erreichen.

Wenn Studierende sich in ihrer Stellung zu wenig anerkannt fühlten, konnten sie ihre eigenen Ziele nicht in gewünschtem Ausmaß gegenüber den Interaktionspartnern durch-setzen, was daran festgemacht wurde, dass das Gegenüber überraschenderweise zu wenig Ressourcen einsetzte. Das war beispielsweise der Fall, wenn eine Schülerin nicht dazu bewegt werden konnte, ein Arbeitsblatt auszufüllen. Ob Ressourcen „investiert“ wurden, hing laut der Analyse der Daten davon ab, wie viele Leistungen das jeweilige Gegen-über erbracht hat, wie die Beziehungsqualität gestaltet ist und wie die Rollenverteilung zwischen den Interaktionspartnern gesehen wird. In welcher dieser drei Subkategorien Studierende einen mangelnden Ressourceneinsatz jeweils verorteten, schien einerseits mit begleitenden, auch nonverbalen Äußerungen und dem Umfeld zusammenzuhängen; möglicherweise spielen aber weiterhin persönliche Dispositionen und Attributionspräfe-renzen eine Rolle, was nicht überprüft werden konnte.

Wenn nicht die gewünschte Beziehungsqualität oder das erwünschte Stellungsgefüge hergestellt werden konnte, wurde dies oft als mangelhafte eigene Leistung beurteilt. Bei dieser oder anderen negativen Interpretation einer eigenen Leistung, wie z. B. einer miss-lungene Erklärung, versuchten die Studierenden teilweise sich zu regulieren, mehr Infor-mationen einzuholen oder die Ereignisse umzuinterpretieren, bevor sie erneut reagierten.

Alle Begründungen aus den Situationsschilderungen sowie alle tatsächlich ergriffe-nen Maßnahmen konnten diesen drei Bereichen zugeordnet werden. Tendenziell ergrif-fen die Studierenden Maßnahmen in jenen Bereichen, in denen sie den Grund für eine Handlung vermuteten. Teilweise attribuierten die Studierenden auf mehrere der drei vorgestellten Bereiche gleichzeitig, dabei wirkten sich studentische Maßnahmen oft auf mehrere Bereiche aus. Wenn eine Studentin beispielsweise eine Schülerin anbrüllte, so konnte sie damit ihre Stellung zwar verbessern, gleichzeitig verschlechterte sich die Beziehungsqualität.

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3.4 Abfolge und Ort der Wirkung von Maßnahmen

Neben der vorgestellten Kategorisierung nach Art der Attribution konnten die in den Fäl-len geschilderten Maßnahmen je nach dem Ort, wo die Maßnahme eine Veränderung herbeiführt, wiederum in drei weitere Kategorien eingeteilt werden:

● Wenn Studierende die Selbstbildspannung durch eine direkte Interaktion mit einem Interaktionspartner abbauen wollen und dazu sichtbar handeln, ist dies eine extern verändernde Maßnahme. Solche Maßnahmen wurden hauptsächlich dann vorgenom-men, wenn eine Handlung in den unerwünschten Bereich eines OK-Korridors ein-geordnet wurde. Im Rahmen der extern verändernden Maßnahmen können so die Beziehungsqualität und das Stellungsgefüge verändert werden.

● Wenn Studierende zuerst abwägen wollten, ob und wie der Abbau der Spannung in Übereinstimmung mit den eigenen Werten am besten zu erreichen sei, wurden vor-bereitende Maßnahmen getroffen. Die Studierenden hemmten Impulse und suchten relevante Informationen zur Situation. Zudem versuchten sie, unterschiedliche Ideen für Maßnahmen aufzufinden und auf ihre Durchführbarkeit und Effektivität hin zu bewerten, beziehungsweise beides zu verbessern. Dadurch konnten sie die Wirkung ihrer Handlungen und damit ihre Leistung verbessern.

● Wenn eine Selbstbildspannung abgebaut wurde, ohne dass Studierende sichtbar han-delten, ist dies eine intern ausgleichende Maßnahme. Das Attribut „ausgleichend“ weist darauf hin, dass durch diese Maßnahme die Selbstbildspannung im Gegensatz zu den vorbereitenden Maßnahmen direkt abgebaut wurde. Intern ausgleichende Maß-nahmen wurden vor allem dann getroffen, wenn die Selbstbildspannung positiv war, sie nicht durch eine extern verändernde Maßnahme abgebaut werden kann/konnte oder bei vorbereitenden Maßnahmen situationsändernde Zusammenhänge gefunden wurden. Dabei konnten in den Daten folgende Handlungen identifiziert werden:

– Auf- bzw. Abwertung des Interaktionspartners – Relativierung des Ereignisses – Bewertung intervenierender Bedingungen – Änderung von Werten – Änderung des Selbstbilds4

Positiv empfundene Spannung wurde in den erhobenen Fällen am leichtesten abgebaut. Dabei wurde meist das Selbstbild (nach eventuellen Überprüfungen als vorbereitende Maßnahmen) in Richtung erwünschtes Selbstbild verändert (intern ausgleichende Maß-nahme). Bei uneindeutigen Selbstbildspannungen wurden meist weitere Informationen eingeholt (vorbereitende Maßnahme) und entsprechend der anschließenden Einschätzung weitere Maßnahmen ergriffen. Bei negativ empfundenen Selbstbildgefährdungen schil-derten die Studierenden mitunter sehr viele Maßnahmen, da einzelne nicht ausreichten, um die Spannung zu lösen.

Im Laufe des Prozesses konnten sich Spannungen verändern, also entweder geringer werden oder sich weiter aufbauen. Zusätzlich konnten Selbstbildspannungen in anderen Bereichen entstehen, wodurch die Situationen an Komplexität zunahmen. Eine Übersicht über den Ablauf von bedeutsamen Situationen und möglichen Maßnahmen bietet Abb. 2.

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Eine wesentliche Frage für die Beurteilung der Situationen ist, wann eine Maßnahme als „gut“ oder „erfolgreich“ bezeichnet werden kann. Aus der Datenauswertung geht hervor, dass die Studierenden immer dann von einer hohen Zufriedenheit berichteten, wenn sie Maßnahmen getroffen hatten, die mit ihrem Selbstbild vereinbar waren und diese Maßnahmen gleichzeitig Folgen nach sich zogen, die das Selbstbild bestätigten oder es sogar aufwerteten. In diesem Fall fühlten sich die Studierenden „selbstwirk-sam“. Genauer gesagt waren sie zufrieden, wenn sie mit einem als adäquat empfundenen Ressourceneinsatz ein gewünschtes Ergebnis erzielen und die Beziehungsqualität oder das Stellungsgefüge wie gewünscht gestalten konnten. Wenn die Maßnahme und deren Ergebnis zudem mit formalen Zielen der Lehrerbildung übereinstimmt, kann von einer „funktionalen“ Maßnahme gesprochen werden.

4 Diskussion

Die erstellte gegenstandsverankerte Selbstbildspannungstheorie besagt, dass Studierende in bedeutsamen Situationen in den Schulpraktika eigene oder fremde Handlungen erleben, die sie (operationalisiert im Konstrukt eines „OK-Korridors“) als besonders erwünscht, unerwünscht oder aber unsicher einschätzen. Diese Einschätzungen haben einen Einfluss auf das studentische Selbstbild, das vor dem Hintergrund des Vorfalls potentiell verän-dert werden muss und daher „unter Spannung“ steht. Um diese Spannungen abzubauen, treffen die Studierenden vorbereitende, extern verändernde oder intern ausgleichende Maßnahmen. Je nach Attribution der Handlung finden diese in den Bereichen Bezie-hungsqualität, Stellungsgefüge und/oder Leistung statt.

Die Einführung des Begriffs „OK-Korridor“ ist sinnvoll, da damit Grossmans und McDonalds Forderung nach der Erstellung eines wohldefinierten Vokabulars „for

Abb. 2: Ablauf bedeutsamer Situationen

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describing and analyzing teaching“ (Grossman und McDonald 2008, S. 186) nachge-kommen wird. Zudem stellt es einen Begriff für ein bisher nicht existierendes Konzept im vernachlässigten Bereich der Beziehungsvorgänge (Grossman und McDonald 2008) bereit. Im Austausch mit Wissenschaftlern hat sich ebenso wie im Austausch mit zahlrei-chen Studierenden gezeigt, dass der gewählte Begriff intuitiv verständlich ist und richtig verwendet wird sowie den Austausch über Prozesse vereinfacht.

4.1 Bereitstellen von Wissen für Praktikumsbegleitung und Simulation

Welches Wissen stellt die Studie nun für die in der Einleitung als besonders wirksam herausgestellten Elemente der Lehrerbildung bereit? Die Darstellung der Elemente ist verknüpft mit dem Vorschlag einer konkreten Implementation.

4.1.1 Vier Arten bedeutsamer Situationen an konkreten Beispielen

Zusammenfassend gibt es vier Arten bedeutsamer Praxissituationen, die in Tab. 1 in stei-gender Komplexität, zusammen mit Anmerkungen und möglichen Beispielen aus den untersuchten Fällen dargestellt sind. Diese sind abstrakt über OK-Korridore formuliert. Damit können und sollen Lehrerausbildner Situationen konstruieren, die einerseits auf spezielle Rahmenbedingungen und kulturelle Gegebenheiten angepasst sind und anderer-seits von Studierenden als tatsächlich bedeutsam empfunden werden. Begleitend zu den Schulpraktika können dabei real vorgefallene Situationen samt ihrer Einordung in die Tabelle aufgegriffen werden. Ebenso können vorbereitend häufige Probleme im speziel-len Ausbildungskontext angesprochen werden (z. B. die vielfache Praxis, Studierende als Vertretung von ausfallendem Personal einzusetzen).

Um den Studierenden die Relevanz dieser Situationen aufzuzeigen, genügt vermutlich das Betrachten von Aufzeichnungen, da in der Studie die einfache Beobachtung oder Antizipation einer solchen Situation ähnliche Effekte hervorrief wie das eigene Durch-leben, was auch andere Untersuchungen bestätigen (Kleinknecht und Schneider 2013).

4.1.2 Simulation und Übung von Impulshemmung

Theoretisches Wissen hat oft nur einen äußerst geringen Einfluss auf die tatsächliche Hand-lung, jedoch werden Simulationen als geeignet angesehen, um die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu überbrücken und Kompetenzerwerb anzubahnen (Wahl 2006; Korthagen 2010). Die vorgestellte Studie stellt Wissen darüber bereit, was im Vorfeld einer Handlung in den Studierenden vorgeht. Bei spontanen Reaktionen im Rahmen von Simulationen erkennen die Studierenden möglicherweise, dass sie oft nicht in der Lage sind, theoreti-sches Wissen in einer konkreten Situation umzusetzen. Die vorliegende Studie ergab, dass zwei Probleme Studierende davon abhält, sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen:

a. Es stehen zu wenig relevante Informationen zur Verfügung.b. Vor dem Hintergrund von hohen Affekten und Zeitdruck gelingt es Studierenden

nicht, Impulse zu hemmen.

Um dem zu begegnen, kann in dieser Phase – und möglichst nach Auftreten einer miss-lungenen Umsetzung – mit den Studierenden einerseits darüber gesprochen werden,

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wie sie fehlende Informationen identifizieren und einholen können, andererseits können Techniken des Zeitgewinns und Methoden der Affektkontrolle vorgestellt und eingeübt werden. Ebenso könnten Handlungsgewohnheiten, die sich oft aus der Erfahrung generie-ren, aufgedeckt und überprüft werden, um die Impulshemmung zu verbessern.

4.1.3 Handlungsplanung

Wenn die Studierenden ihre ersten Handlungsimpulse hemmen und sich Zeit für die Reaktion verschaffen können, ist es ihnen möglich, geordnet vorbereitende Maßnahmen zu treffen. Dies kann exemplarisch gemeinsam durchgeführt werden:

● Studierende sammeln möglichst viele potentielle Reaktionen. ● Die Ausbildungsperson ergänzt weitere Möglichkeiten, unter Zuhilfenahme der Kate-

gorien sowohl bei extern verändernden aber auch bei intern ausgleichenden Maßnah-men (letztere werden erfahrungsgemäß von den Studierenden anfangs nicht bedacht).

Tab. 1: Vier Arten bedeutsamer Situationen mit BeispielenVier Arten von bedeutsamen Situationen

Anmerkungen Mögliche Beispiele

Das Verhalten von Schüler/innen (evtl. auch Eltern, Aus-bilder) entspricht nicht den OK-Korridoren der Studierenden

Beides wird an negativen Emotio-nen deutlich, erstens Anderen und zweitens sich selbst gegenüber. Eine Voraussetzung zur Konstruk-tion dieser Fälle ist, dass vorab zusammen mit den Studierenden deren Selbst- und Richtkorridore erkundet wurden

Die Klasse ist nicht inter-essiert an einer neuen Me-thode. Schüler/innen hören nicht auf, sich zu unterhalten

Studierende haben in einer Art und Weise gehandelt, die ihrem Selbstkorridor widerspricht

Studierende sprechen im Affekt wegen einer Kleinig-keit eine harte Strafe aus

Studierende haben unerwar-teterweise außerhalb des OK-Korridors von Schüler/innen, Ausbilder (evtl. auch Eltern) gehandelt oder befürchten dies

Dies interpretieren die Studieren-den aufgrund einer als negativ empfundenen Reaktion dieser Personen. Bei der Situationskons-truktion muss hier über potentielle und möglicherweise unerwartete OK-Korridore von Anwesenden spekuliert werden

Die anleitende Lehrkraft kritisiert einen gelungen empfundenen Unterricht

In einer Situation entsteht ein Interessenskonflikt, da sich OK-Korridore nicht vereinba-ren lassen

Diese Fälle machen Entschei-dungen, Verhandlungen bzw. Konfliktlösungen nötig. Es gibt zwei Ausprägungen: 1) Studierende sehen keine Möglichkeit, sich innerhalb eines Fremdkorridors zu bewegen, da dies ihrem Selbstkorridor oder anderen Fremdkorridoren wider-spräche 2) Andere weigern sich, den Richtkorridoren der Studieren-den zu entsprechen, da es deren Selbstkorridoren zuwiderliefe

1) Eine Klasse möchte weni-ger Hausaufgaben bekom-men.Eltern erwarten, dass sich ihr Kind in der Schule gewaltsam durchsetzen darf 2) Strenge Aufforderungen verletzen den Stolz von Schüler/innen, weshalb diese mit Widerstand reagieren

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● Die Studierenden überprüfen, ob sie die Ressource hätten, eine Reaktion zu zeigen. ● Sie denken über kurz- und langfristige Folgen der einzelnen Handlungen nach und

bewerten in Relation dazu den Aufwand, der mit der Durchführung verbunden ist.

4.1.4   Identifikation des Exemplarischen und weiterführender Maßnahmen

Im Anschluss an die Handlungsplanung könnte mit den Studierenden hypothetisch die Umsetzung der positiv bewerteten Maßnahmen besprochen und geplant werden, wie fehlende Ressourcen akquiriert und/oder Kompetenzen aufgebaut werden könnten, um die besprochene Situation bei Auftreten tatsächlich zu bewältigen. Es ist nicht möglich – aber auch nicht nötig – alle vorstellbaren Fälle gemeinsam mit den Studierenden durch-zudenken. Im Sinne der Reduktionstechnik „Oberflächenstruktur und Tiefenbohrungen“ (Lehner 2012) könnte im Anschluss an eine Situation besprochen werden, inwiefern diese exemplarisch für alle anderen Fälle aus der gleichen Kategorie (siehe Tab. 1) steht. Es wäre sinnvoll, aus jeder der vier dargestellten Kategorien einen Fall zu besprechen.

4.2 Beitrag zu den Forschungsdesiderata

Nach diesen praxisorientierten Vorschlägen möchten wir die fünf eingangs dargestellten Forschungsergebnisse zu Schulpraktika in Form von Fragen nochmals aufgreifen und aus Sicht der neuen Forschungsergebnisse deuten.

4.2.1 Warum wird die Berufseignung nicht wirklich kritisch überprüft?

Das oberste Ziel der Studierenden in kritischen Praktikumssituationen ist der Schutz oder die Verbesserung ihres Selbstbilds. Dieses Ziel lässt sich nicht mit einer echten kritischen Prüfung der Berufseignung vereinbaren, bei der das Selbstbild als „gute Lehrkraft“ ggf. in Frage gestellt werden müsste.

4.2.2 Warum spielt das Streben nach Anerkennung durch Schüler/innen und betreuende Lehrkraft eine so große Rolle, dass dies teilweise zu unerwünschtem Anpassungsverhalten führt?

Schüler/innen und betreuende Lehrkraft stellen die unmittelbarsten Fremdkorridore an die Studierenden. Da in den Praxissituationen nur durch die Anerkennung durch diese Personen eine angestrebte Selbstbildbestätigung möglich ist, werden sogar unerwünschte Anpassungen vorgenommen. Erst wenn die Fremdkorridore den Selbstkorridor der Stu-dierenden widersprechen, passen sich die Studierenden nicht oder nur widerwillig an.

4.2.3 Warum verschlechtert sich durch das Praktikum das Verhältnis zu Schüler/innen?

Es kann sein, dass Studierende den Fremdkorridoren von Schüler/innen nicht entsprechen können; entweder weil diese Erwartungen ihrem Selbstkorridor oder anderen Fremdkor-ridoren widersprechen oder weil sie nicht genau wissen, was die Schüler/innen eigent-lich wollen. Hinzu kommt neben einer generellen Unsicherheit, die mit dem beruflichen

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Handeln von Lehrkräften verknüpft ist (Kurtz 2006), die Tatsache, dass das Praktikum in der Regel den ersten Rollenwechsel vom Lernenden zum Lehrenden darstellt, was mit weiteren Unsicherheiten und unklaren Vorstellungen verbunden ist. Wenn die Studieren-den also dem Fremdkorridor von Schüler/innen vor dem Hintergrund all dieser Faktoren nicht entsprechen können, baut sich eine negative Selbstbildspannung auf. Eine sehr ein-fache, aber für Lernprozesse meist nicht förderliche Möglichkeit des Spannungsabbaus ist die intern ausgleichende Maßnahme, die Schüler/innen abzuwerten. Das entspricht einer externalen Attribution von Misserfolg, die selbstwertdienlich wirkt (Heckhausen und Heckhausen 2010; Weiner 1988). Wenn das Gegenüber abgewertet wird, muss weder das eigene Selbstbild abgewertet werden, noch besteht das Bedürfnis, weitere extern ver-ändernde Maßnahmen unternehmen zu müssen.

4.2.4 Warum wird Lehramtsstudierenden die „Kontrolle über Schüler/innen“ durch das Praktikum so wichtig, dass sich diese sogar als Haltung etabliert?

Ein Grund kann die eben angesprochene, bisweilen schlechte Beziehung zwischen den Studierenden und den Schüler/innen sein. Durch diese sinkt das Bedürfnis, den Lernen-den zu einem Lernerfolg zu verhelfen und das Bedürfnis, sie zu kontrollieren, steigt. Wenn zudem im Selbstbild der Studierenden verankert ist, dass sie nur dann gute Lehr-kräfte sind, wenn sie es schaffen, dass sich die Schüler/innen in ihren Richtkorridoren bewegen (was in den Situationsschilderungen häufig der Fall zu sein schien), ist das ein zweiter Grund. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit entspricht das Verhalten von Schü-ler/innen irgendwann jedoch nicht den Richtkorridoren. Folgende Maßnahmen können dann ergriffen werden: eine Veränderung der Beziehungsqualität, eine Erhöhung der stu-dentischen Leistung und eine Veränderung des Stellungsgefüges – letzteres kommt einer Kontrolle gleich. Möglicherweise misslingt eine Maßnahme mit dem Ziel, die Bezie-hungsqualität oder die eigene Leistung zu verbessern oder kommt zu wenig in den Blick. Das kann daran liegen, dass die mangelnde Entsprechung der Schüler/innen nicht auf den Bereich Beziehung oder Leistung attribuiert wird, in diesem Bereich zu wenige Maßnah-men bekannt sind oder bereits getroffene Maßnahmen in diesem Bereich nicht geglückt sind. So könnte ein Student glauben, dass eine Schülerin nicht deshalb frech antwor-tet, weil sie spaßen möchte (Beziehung) oder dem Unterricht nicht mehr folgen kann (Leistung des Lehrers), sondern er vermutet, dass sie seine Stellung nicht anerkennt und reagiert entsprechend. Vielleicht kommt es ihm nicht in den Sinn beispielsweise nur dis-tanziert darauf zu reagieren, den Versuch zu unternehmen, ihre Gründe zu verstehen oder aber ihr zu erklären, warum er ihre Antwort inadäquat findet, vielleicht aber hat er es im Vorfeld auch ohne Erfolg versucht. In diesem Fall könnte der Student keine Handlungs-alternativen zur Veränderung des Stellungsgefüges und dem Versuch sehen, die Schüler/innen zu kontrollieren.

4.2.5 Warum wenden sich Praktikant/innen eher von Theorien und Konstrukten ab, anstatt Theorie und Praxis zu verknüpfen?

Die mangelnde Verknüpfung kann nach der vorgestellten Selbstbildspannungstheorie drei Gründe haben:

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a. Die „Theorie“ wird überhaupt nicht als Fremdkorridor wahrgenommen.b. Studierende nehmen die „Theorie“ als Fremdkorridor zwar wahr, sie erscheint jedoch

wenig relevant als die OK-Korridore von Schüler/innen oder Praktikumslehrkräften.c. Studierende wollen zwar nach einer „Theorie“ handeln, doch Gewohnheit, starke Af-

fekte oder andere Gründe halten sie davon ab, entsprechende Maßnahmen zu setzen.

Resümierend scheint das ungewöhnliche Design der vorgestellten „Quasi-Mixed-Met-hod“-Studie, die mithilfe der Methodologie der Grounded Theory „bottom up“ situative und subjektive Verarbeitungsprozesse untersuchte, sowohl für die Praxis der Lehrerbil-dung als auch für den Forschungsstand zu schulpraktischen Studien wertvolle Beiträge leisten zu können. Es wäre sinnvoll, in einem nächsten Schritt und unter Einsatz einer Kontrollgruppe zu überprüfen, ob die Implementierung der Vorschläge das Lernen bzw. den Kompetenzerwerb der Studierenden tatsächlich verbessert.

Anmerkungen

1 Diese Ergebnisse wurden aus einem Überblicksartikel zur Forschung im Bereich Schulprak-tika von Tina Hascher (2012) extrahiert. Wir haben dabei jene Ergebnisse herausgegriffen, zu deren Aufklärung die vorgestellte Studie einen Beitrag leisten kann.

2 v. a. Judith Neumair und Tobias Tretter.3 So lag beispielsweise der Median des Items „Die Empfindungen, die ich während der bedeut-

samen Situation hatte, waren sehr stark“ auf einer sechsstufigen Skala bei fünf.4 Beispiele und nähere Beschreibung der Aspekte in Meyer (2010).

Danksagung: Unser Dank gilt der Hanns-Seidel-Stiftung für die freundliche Unterstützung des Forschungsprojekts.

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