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WIE UNTERNEHMEN DEN EXISTENZKAMPF IM EINZELHANDEL ÜBERLEBEN KÖNNEN
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KURZFASSUNG
Die Geschichte des Einzelhandels ist geprägt von einem langwierigen Existenzkampf einiger
Unternehmen und der Konkurrenz um Kunden und deren Budgets. Diese Untersuchung
beschäftigt sich mit der Frage, wie Einzelhändler den Kampf für sich entscheiden, sich über
die Zeit weiterentwickeln und den Erfolg langfristig erhalten können.
Um gegen sie zu bestehen, muss man nicht schneller als sie sein, sondern nur
schneller als andere Einzelhändler.
Um zu überleben, müssen sie ständig in
Bewegung bleiben.
Wer nicht schnell genug reagiert, wird von Innovatoren und
etablierten Anbietern vom Markt verdrängt.
INNOVATOREN ETABLIERTE ANBIETER TRADITIONALISTEN
Disruptive neue Marktteil-nehmer, deren Format etablierten Anbietern
erhebliche Marktanteile kosten kann. Ihr Wachstum
beruht auf einem Ausbau des Filialnetzes und An-
gri�en auf weitere Märkte.
Dank ständiger kleiner Verbesserungen steigern sie in ihren Märkten ihren
flächenbereinigten Umsatz kontinuierlich.
Langsam wachsende oder schrumpfende Einzelhänd-
ler. Innovatoren neuer Formate und etablierte
Anbieter auf Wachstumskurs setzen sie unter Druck.
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DIE EVOLUTION IM EINZELHANDEL
Alle erfolgreichen Formate basieren auf einer innovativen Konzeption: Die Unternehmen
lernen durch die Innovation neuer Formate im Wettbewerb zu überleben. Wenn sie
erfolgreich sind, vergrößern sie in der Expansionsphase durch einen Ausbau des
Filialnetzes zunächst ihr Territorium. Nach Eroberung aller neuen Märkte werden sie
schließlich reife, etablierte Einzelhändler und überleben, indem sie die flächenbereinigten
Umsätze kontinuierlich steigern. Wenn dieses Wachstum nicht mehr ausreicht, sind die
Unternehmen gefordert, selbst neue Innovationen auf den Markt zu bringen und Konzepte
für ein Wachstum außerhalb ihres Kerngeschäfts zu entwickeln. Im Rahmen dieses
Lebenszyklusmodells müssen Einzelhändler ihr Geschäftsmodell von Phase zu Phase
verändern, um zu überleben. Wie Unternehmen diese Veränderungen erfolgreich meistern
können, wird nachfolgend erläutert.
WIE ETABLIERTE ANBIETER ÜBERLEBEN KÖNNEN
Es gibt vier entscheidende Ansatzpunkte, um in einem sich ständig verändernden Markt zu
überleben und zu wachsen:
1. Antizipation der nächsten Bedrohungen im Wettbewerb
2. Analyse der Ist-Situation über das gesamte Filialnetz hinweg
3. Gezielte Investitionen in Erfolgsfaktoren
4. Frühzeitiger Beginn der eigenen Neuerfindung
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TEIL 1: ZWEI ERFOLGSMODELLE
Die Preise können Einzelhändler langfristig nur im
Rahmen der Inflation erhöhen, während die Löhne
sowie häufig auch die Kosten der Lieferanten schneller
steigen. Es erfordert einen ständigen Kampf, um das
Niveau der Gewinne zu erhalten. In den USA müssen
Unternehmen beispielsweise jährlich 40 Basispunkte
kompensieren. Aus diesem Grund müssen
Einzelhändler wachsen, um zu überleben. Hierfür gibt
es zwei grundsätzlich verschiedene Modelle.
Zu Beginn wachsen die meisten Einzelhändler mit
einem neuen Format, das bestehende Märkte von
Grund auf verändert. Die Eröffnung neuer Filialen
erhöht ihren Marktanteil im Wettbewerb mit
etablierten Anbietern und steigert die Umsätze. Diese
Einzelhändler gelten als Innovatoren. Als etablierter
Anbieter muss man nicht zwingend schneller als sie
sein, sondern nur sicherstellen, dass die Konkurrenz
langsamer ist. Sie stehen vor der Herausforderung,
ständig in Bewegung zu bleiben, um trotz begrenzter
Möglichkeiten zur Expansion weiter zu wachsen.
Ihr Wachstum resultiert dabei aus steigenden
Umsätzen auf bestehender Fläche. Wer weder zu den
Innovatoren noch den etablierten Anbietern zählt,
gehört zur Kategorie der Traditionalisten, die sich mit
dem Risiko konfrontiert sehen, von Innovatoren und
etablierten Anbietern verdrängt zu werden.
Der Lebensmitteleinzelhandel in den USA ist für
diese Entwicklung ein sehr gutes Beispiel, weil die
Bewegungen hier sehr deutlich nachvollzogen werden
können. Abbildung 1 zeigt Innovatoren, etablierte
Anbieter und Traditionalisten im US-Markt des
Jahres 2014. Etablierte Anbieter und Traditionalisten
von heute waren zu einem früheren Zeitpunkt einmal
Innovatoren. Walmart zum Beispiel zählte in den
1980er und 1990er Jahren zu dieser Kategorie. Kmart
war noch bis in die 1990er Jahre hinein ein Innovator,
Home Depot zumindest bis Ende der 1990er Jahre und
Walgreens sogar bis 2008.
Das jüngste Beispiel in der Kategorie der innovativen
Anbieter in diesem Markt ist Amazon mit
spektakulären Wachstumsraten. Zu Beginn dominierte
das Unternehmen das Geschäft mit Büchern und
expandierte danach in einen Sortimentsbereich
nach dem anderen. In vielen Bereichen ist Amazon
mittlerweile die erste Wahl der Kunden. Dennoch
bleibt Raum für Wachstum: Als nächstes greift der
Onlinehändler unter anderem bei Lebensmitteln,
Bekleidung und im B2B-Geschäft an.
Abbildung 1: Wie sich der Einzelhandel in den USA verändert (Platzierung nach Umsatzranking)
EINZELHÄNDLER 1980 1990 1999 2008 2014
TRADITIONALISTENKmart 3 2 6 x x
A&P 7 9 26 49 x
ETABLIERTE ANBIETER
Kroger 5 5 2 2 3
Walmart 15 3 1 1 1
Home Depot x 43 4 4 4
Costco x 39 10 3 2
Walgreen Co. x 20 15 6 7
INNOVATOREN Amazon.com x x x 25 5
Quelle: Chain Store Age Top-100-Ranking von Einzelhändlern in den USA, 2014
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GERINGFÜGIGE GEWINNE UND VERLUSTE MACHEN DEN UNTERSCHIED
Der Einzelhandel ist durch hohe Fixkosten geprägt.
Für den Break-Even braucht jedes Format und jeder
Standort einen bestimmten Mindestumsatz. Der
Gewinn reagiert an dieser Stelle äußerst empfindlich
und selbst kleine Rückgänge können bei Filialen
knapp oberhalb der Schwelle zu dramatischen
Gewinneinbußen führen (vgl. Abbildung 2).
Dieser Zusammenhang erklärt die disruptive Wirkung
der Innovatoren neuer Formate. Sie erobern schnell
einen kleinen Marktanteil und stoßen damit viele
Filialen der etablierten Marktteilnehmer in die
Verlustzone. Die meisten großen Einzelhändler
betreiben heute bereits viele Läden im abschüssigen
Teil der Kurve aus Abbildung 2. Schon ein geringer
Rückgang der Umsätze bringt viele dieser Filialen in
die roten Zahlen; noch weniger reicht bereits aus,
damit die Kapitalrendite unter einen Punkt sinkt, der
Investitionen rechtfertigt. Daher ist es für etablierte
Anbieter so entscheidend, sich neue Wege für
weiteres Wachstum zu erschließen. Häufig geschieht
dies auf Kosten direkter Wettbewerber, die dann
weiter abrutschen.
Abbildung 2: Sensitivität des Gewinns bei Umsatzrückgängen
-10%
0%
10%
UMSATZ PRO WOCHE
EBIT-
MARGE
Größe der Punkte repräsentiert die Filialgröße
Ein kleiner Umsatzrückgang bedeutet signifikante EBIT-Verluste
Quelle: Oliver Wyman-Analyse
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FALLSTUDIE 1: STAPLES UND DER US-MARKT FÜR BÜROBEDARF
Amazon entfaltet bereits in vielen Branchen eine
disruptive Wirkung. Am Beispiel des US-Marktes
für Bürobedarf lässt sich gut zeigen, wie sich das
Ökosystem durch Amazon verändert hat.
Der Angriff von Amazon sowie übergreifende
Trends (wie eine allgemein rückläufige Nach-
frage nach Druckmaterial) haben die Rahmen-
bedingungen im Geschäft mit Büroartikeln
enorm verschärft. Dessen ungeachtet konnte sich
Staples gut entwickeln. Als etablierter Anbieter
gelang es dem Unternehmen, sich ständig
schneller als der Wettbewerb zu bewegen.
Office Depot und Office Max wurden dagegen
von Staples geschluckt.
Als sich die Situation am Markt zu verschärfen
begann, befand sich Staples bereits in einer
besseren Position als die Konkurrenz. Das
Unternehmen verfügte über die besseren
Standorte, die bessere Marke, die bessere
Preiswahrnehmung, eine höhere Onlinepräsenz,
einen effizienteren Betrieb sowie ein strukturell
vorteilhaftes Portfolio von Geschäftskunden.
Dank dieser Vorteile waren die Staples-Filialen
weiter von der Verlustzone entfernt als ihre
Wettbewerber (vgl. Abbildung 3).
Im Ergebnis traf das Gros der Filialschließungen
nicht Staples, sondern Office Depot und Office
Max. Abbildung 4 zeigt eine Prognose von
Oliver Wyman aus dem Jahr 2013 über die
Zahl der Filialschließungen bis 2017. Diese
Entwicklung zeichnete sich ab, als Staples die
Übernahme von Office Depot bekannt gab.
Die Akquisition ist ein klarer Beleg dafür, dass
Staples den Kampf ums Überleben gewonnen
hat – zumindest vorerst.
7
Abbildung 3: Vorteilhafte Ausgangssituation von Staples
-10%
0%
10%
20%
2 3 4 5 6 7 8 9 10
UMSATZ PRO FILIALE (IN MIO. USD)
OPERATIVE
EINNAHMEN
(IN PROZENT) O�ce Depot
Staples
O�ce Max
Abbildung 4: Kumulierte Schließung von Filialen für Bürobedarf
2014 2015 2016 2017
Staples
O�ce Depot / O�ce Max
172 199282 331
369445
722
891
8
TEIL 2: DIE EVOLUTION IM EINZELHANDEL
Staples hat nicht immer zur Kategorie der etablierten Anbieter und Office Depot nicht immer zu den um Anschluss
kämpfenden Traditionalisten gehört. Vielmehr haben beide Unternehmen in der Vergangenheit neue Formate
entwickelt und Marktanteile erobert. Tatsächlich verändert sich die Rolle von Einzelhändlern regelmäßig und ihre
Formate durchlaufen mit zunehmender Reife einen Lebenszyklus.
Am Anfang stehen Konzeption und
Innovation: Junge Unternehmen
entwickeln ein vielversprechendes und
wirtschaftlich attraktives Format mit
hoher Anziehungskraft. Es kann sich um
innovative Konzepte im stationären Handel,
im Onlinebereich oder einer Kombination
aus beiden handeln. Ziel ist die Entwicklung
eines Konzepts, das neu, anders und
profitabel ist.
Danach schließt sich die Expansionsphase
an: Im Fokus steht dabei ein möglichst
rasches Wachstum. Offline- wie
Onlineanbieter steigern ihren Wert durch
eine schnelle Zunahme des Absatzes und
nicht durch eine stetige Verfeinerung
ihres Geschäftsmodells. Es geht um eine
effiziente und schnelle Expansion.
Entwicklung
Sättigung
MARKTANTEILSGEWINNE
ZEIT
UM
SATZ
9
Im nächsten Schritt folgt die Reifephase:
Die fundamentale Herausforderung liegt
hier in der Generierung von Wachstum auf
konstanter Fläche. Die besten Einzelhändler
perfektionieren nun ihre Geschäftsmodelle
und erzielen daraus eine maximale
Wertschöpfung.
Am Ende erreichen Einzelhändler
eine Phase, in der eine Neuerfindung
erforderlich ist. Diese Phase ähnelt in
vielerlei Hinsicht den Anfangsjahren: Neue
Formate entstehen, neue Vertriebskanäle
werden eröffnet, neue Dienste angeboten,
neue Geschäftsmodelle erprobt, neue
Unternehmen akquiriert und neue Allianzen
geschlossen. Erfolg in dieser Phase setzt
eine höhere Risikotoleranz voraus als sie
der Kultur der meisten reifen Unternehmen
innewohnt.
Jede Phase im Lebenszyklus bedarf anderer organisatorischer Fähigkeiten. Dies macht jeden Übergang von einer
Phase in die nächste zu einer Herausforderung. Diese Untersuchung konzentriert sich auf zwei Themen:
1. Herausforderungen beim Übergang in die Reifephase
2. Herausforderungen, wenn eine Neuerfindung unumgänglich wird
B
C
A
UM
SATZ
ZEIT
10
1. HERAUSFORDERUNGEN BEIM ÜBERGANG IN DIE REIFEPHASE
In der Expansionsphase beruht der Erfolg innovativer Anbieter auf wachsenden Größenvorteilen.
Gefordert sind Schnelligkeit, Standardisierung und eine exzellente operative Umsetzung. Dagegen
beruht der Erfolg der etablierten Anbieter auf der Entwicklung überlegener organisatorischer
Fähigkeiten: Die Unternehmen verbessern ständig ihre Angebotsleistung, schneiden ihr Angebot
unter Nutzung der gewachsenen Kenntnisse auf jede Filiale oder jeden Kunden zu und gestalten
die operativen Abläufe Jahr für Jahr noch effizienter.
Für einen gelungenen Übergang müssen sich die Machtverhältnisse, die Fertigkeiten und die
Kultur im Unternehmen grundlegend verändern: Marketing und Merchandising gewinnen zu
Lasten von Betrieb und Standortmanagement an Bedeutung, analytisch denkende Mitarbeiter
erhalten mehr Gewicht als Macher und eine weitgehende Standardisierung weicht Flexibilität
und der Freiheit zu experimentieren. Die Umsetzung solcher Veränderungen ist für jeden
Einzelhändler ein Kraftakt.
Der bevorstehende Übergang in eine neue Phase kündigt sich durch sinkende Zusatzumsätze
bei der Eröffnung neuer Standorte an. In der Folge beginnen die Umsätze pro Filiale zu stag-
nieren oder zu sinken. Viele Einzelhändler zögern an diesem Punkt; einige aber vergrößern die
Zahl der Standorte weiter und überschreiten damit die Grenze der Tragfähigkeit des Marktes.
Die besten Chancen für einen erfolgreichen Übergang besitzen Unternehmen, die die neuen
Rahmenbedingungen frühzeitig erkennen und rasch handeln.
2. HERAUSFORDERUNGEN, WENN EINE NEUERFINDUNG UNUMGÄNGLICH WIRD
Irgendwann fällt es selbst mit dem effizientesten Geschäftsmodell schwer, kontinuierlich
weiter zu wachsen. Staples diente im Rahmen dieser Untersuchung bereits als Beispiel
eines etablierten Anbieters, der seine Wettbewerber schluckt. Wenn für Staples die
Übernahme von Office Depot eines Tages abgeschlossen ist, wird das Unternehmen andere
Möglichkeiten des Wachstums jenseits seines Kerngeschäfts finden müssen – seien es neue
Vertriebskanäle, Formate, Produktfamilien oder Dienste. Dies markiert den Übergang zur
Phase der Neuerfindung. Für etablierte Einzelhändler kann es sehr schwierig sein, diese neuen
Wachstumsmöglichkeiten ausfindig zu machen.
Die Neuerfindung erfordert von Einzelhändlern, ähnlich wie einst in der Phase der Entwicklung
und Konzeption, Risiken zu übernehmen und Innovationen voranzutreiben. Zugleich müssen
sie ihr Kerngeschäft mit unveränderter Disziplin und Fokussierung vorantreiben.
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FALLSTUDIE 2: STARBUCKS ÜBERGANG IN DIE REIFEPHASE
Die Expansionsphase von Starbucks endete 2008.
Die Umsätze in einigen Filialen sanken aufgrund
einer Überdehnung des Filialnetzes und der Folgen
der globalen Finanzkrise. Zudem hatte sich das
Unternehmen von einigen seiner wichtigsten
Werte entfernt und sich nicht mehr ausschließlich
auf die Themen Service, Qualität und Preis-
Leistungs-Verhältnis konzentriert. Stattdessen
stand bei vielen Initiativen das Thema Effizienz im
Mittelpunkt. Dies schmälerte das Kundenerlebnis
in einer Zeit, als niedrigpreisigere Wettbewerber
wie McDonald’s ihre Qualität steigerten.
Als CEO Howard Schultz wieder das Ruder
übernahm, wollte er Starbucks mit einem
mehrjährigen Plan zurück auf Wachstumskurs
bringen. Er erkannte, dass sein Unternehmen die
Reifephase erreicht hatte. Der Turnaround begann
mit der Rücknahme einiger Fehlentscheidungen
am Ende der Expansionsphase – 600 Filialen
wurden geschlossen und unpassende Speisen aus
dem Angebot gestrichen.
Danach entwickelte Schultz eine Reihe von
Maßnahmen, mit denen Starbucks auch
ohne die Eröffnung weiterer Filialen wachsen
konnte. Der Fokus lag auf den Themen Service,
Qualität, Kundenerlebnis und Kundenbindung.
Viele Maßnahmen verwerteten vorliegende
Daten besser und räumten Möglichkeiten
zum Ausprobieren und Lernen ein. Diese
zielten darauf, die Kreativität in der gesamten
Organisation zu wecken.
Im Ergebnis erzielte Starbucks, wie Abbildung 5
zeigt, wieder nachhaltige Umsatzzuwächse pro
Filiale. Zugleich entstand ein Innovationsmotor,
der Starbucks in Zukunft helfen könnte, sich beim
Übergang in die nächste Phase des Lebenszyklus
neu zu erfinden.
Abbildung 5: Von der Expansions- in die Reifephase
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
29%
ANZAHL DER FILIALEN
UMSATZ PRO FILIALE
Quelle: Jahresberichte
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FALLSTUDIE 3: STARBUCKS EXPERIMENT MIT ITALIENISCHEM MINERALWASSER UND DER MARKE “VIA”
Die Entwicklung eines gangbaren Wachstums-
pfades in der Phase der Neuerfindung benötigt
viel Zeit und Energie und häufig muss ein Unter-
nehmen eine Reihe von Fehlschlägen verkraften.
Daher ist es so wichtig, bereits mit Versuchen
einer Neuerfindung zu starten, wenn das Unter-
nehmen noch wächst. Wenn die Stagnation erst
einsetzt, ist es zu spät.
Starbucks machte dies richtig und ist daher ein
gutes Beispiel. Schon mit dem Übergang in die
Reifephase startete das Unternehmen seine
Neuerfindung. Starbucks begann nicht mit einem,
sondern einer ganzen Reihe von Versuchen
und beobachtete die Fortschritte jedes einzelnen
genau, um frühzeitig die Stoßrichtung ändern zu
können, wenn es erforderlich wird.
Zu den Lieblingsprojekten des CEO Schultz zählte
beispielsweise italienisches Mineralwasser. Doch
schon kurz nach Beginn des Rollout war klar,
dass das Projekt die Erwartungen nicht erfüllen
konnte. Obwohl der CEO selbst das Projekt
vorangetrieben hatte, traf Starbucks schnell die
schmerzliche Entscheidung, dieses Projekt zu
beenden.
Ein anderes Projekt betraf löslichen Kaffee: in
den USA ein unterversorgter Markt und weltweit
ein wichtiger Bestandteil des Kaffeegeschäfts.
Starbucks investierte zunächst in erheblichem
Maße in die Forschung und Entwicklung, um
sicherzustellen, dass das Produkt besser als
Alternativangebote am Markt ist und so die
tiefsitzende Skepsis von Verbrauchern gegenüber
löslichem Kaffee überwinden kann. Als das
Produkt ausgereift war, begleitete Starbucks die
Einführung mit einer aufwändigen Kampagne
in den Filialen. Im Ergebnis entstanden ein
extrem erfolgreiches Produkt und eine neue
Wachstumschance, die das Kerngeschäft nicht
kannibalisierte. Mit „Via“ verfügte Starbucks
zudem über ein Produkt, das es auch außerhalb
der Filialen in anderen Kanälen verkaufen konnte.
So stieg die Reichweite ohne einen Ausbau des
eigenen Netzwerkes.
1312
FALLSTUDIE 4: NESPRESSO
Lebensmittelhersteller sehen sich regelmäßig
derselben Herausforderung gegenüber:
Wie können Innovationen vorangetrieben
werden, während das bestehende Geschäft
ohne Abstriche weiterlaufen soll? Nestlé ist
ein gutes Beispiel für einen Hersteller, der
dieser Herausforderung auf interessante Weise
begegnete und Ende der 1980er Jahre so
Nespresso entwickelte.
Um ein Klima der Innovation bei Nespresso zu
schaffen, entstand eine eigene Zentrale außerhalb
der Nestlé-Werke, deren Leitung ein Manager
von außen übernahm. Nestlé zeigte danach viel
Geduld mit seiner neuen Idee und tolerierte zehn
Jahre lang wenig spektakuläre Umsätze, bevor
sich der Erfolg einstellte (vgl. Abbildung 6).
Eine experimentelle Kultur prägte die frühen
Jahre. Das Unternehmen probierte ständig
neue Ideen aus, bis ein funktionierender Ansatz
gefunden wurde: Um die Skepsis der Verbraucher
gegenüber Wegwerfkapseln zu überwinden,
war es entscheidend, dass diese das Produkt
ausprobierten. Eine Partnerschaft mit Swissair,
die Nespresso-Kaffee in der First Class servierte,
war ein Anfang. Es folgten Vorführungen in
Warenhäusern, bevor schließlich die eigenen
Boutiquen entstanden. Seit mehr als zehn Jahren
wächst Nespresso nun mit Raten von mehr als
30 Prozent pro Jahr.
Abbildung 6: Der Wachstumskurs von Nespresso von 1988 bis 2013
UMSATZ (IN CHF)1
1990
1991
1992
1988
1989
1993
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
Nespresso Club
Partnerschaft mit Swissair
Neugestaltung von Produkt
und Logo
Tests in Warenhäusern
Erste Boutique
85 MM
1. Bei konstanten Umrechnungskursen
Quelle: Nestlé Investorenseminar 2014
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TEIL 3: SO GEWINNEN EINZELHÄNDLER IM EXISTENZKAMPFMit vier Schritten können etablierte Einzelhändler ihr Überleben sichern und weiter wachsen: Antizipation
der nächsten Bedrohungen im Wettbewerb, Analyse der Ist-Situation in allen Filialen, gezielte Investitionen in
Erfolgsfaktoren sowie frühzeitiger Beginn der eigenen Neuerfindung.
SCHRITT 1: ANTIZIPATION DER NÄCHSTEN BEDROHUNGEN IM WETTBEWERB
Kleine wie große Innovatoren bedrohen das Geschäft
der etablierten Anbieter. Abhängig vom EBIT-Niveau in
einer Branche braucht es nicht viel, um die Profitabilität
zu schmälern. Ein typischer Lebensmittelhändler
beispielsweise beginnt Geld zu verlieren, wenn er nur
zehn Prozent seines Marktanteils verliert.
Derzeit gibt es drei Typen innovativer Herausforderer:
1. Onlineformate. Falls nicht schon geschehen,
ist es nur eine Frage der Zeit, bis Onlineformate
beginnen, Anteile in einem bestimmten Markt
beziehungsweise einer bestimmten Branche
zu erobern. In einigen Bereichen sind diese
Angreifer mit ihrem Onlinegeschäftsmodell von
Beginn an günstiger. Sie verfügen über weitere
Vorteile, dazu zählen ihre Kundendaten, andere
Erwartungen ihrer Anteilseigner sowie eine zum Teil
höhere Verbraucherfreundlichkeit.
2. Marktführer in Sachen Kundenerlebnis
und Leistungsangebot. Marktführer beim
Kundenerlebnis und Leistungsangebot, wie Apple,
Kiehl’s und Wegmans, treiben in einer ganzen Reihe
von Branchen das Wachstum an. In vielen Fällen
handelt es sich zwar eher um Geschäftsmodelle
für einen Nischen- und nicht den Massenmarkt.
Die etablierten Anbieter leiden dennoch, da die
Marktanteilsgewinne der Angreifer ausreichen, um
sie in die Verlustzone zu bringen.
3. Kostenführer. Nach wie vor gewinnen hocheffiziente
Discounter mit niedrigen Kosten und einem
guten Preis-Leistungs-Verhältnis Marktanteile.
Das gilt insbesondere in Märkten, in denen die
wirtschaftliche Erholung schwach ausfällt oder
ausbleibt. Zu den Beispielen zählen die echten
Discounter im Lebensmittelhandel und hier
allen voran Aldi und Lidl sowie Textildiscounter
wie Primark, der nach wie vor auch in Europa
expandiert. Deren grundlegenden Kostenvorteil
können etablierte Anbieter nicht ausgleichen.
Abbildung 7 zeigt dies an einem Beispiel aus
dem Lebensmittelhandel.
Abbildung 7: Kostenvorteile von echten Lebensmitteldiscountern1
TRADITIONELLE
SUPERMÄRKTE
TRADITIONELLE
HYPERMÄRKTE
PREISWERTE
HYPERMÄRKTE DISCOUNTER
Umsatz 100,0% 100,0% 100,0% 100,0%
Kosten für verkaufte Produkte und Abschreibungen
-69,0% -73,5% -76,0% -81,0%
Bruttomarge 31,0% 26,5% 24,0% 19,0%
Arbeitskosten in der Filiale -13,5% -12,5% -8,0% -4,0%
Zentrale Kosten -14,0% -12,5% -10,0% -8,0%
EBITA¹ 3,5% 1,5% 6,0% 7,0%
1. EBITA: Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen
1514
SCHRITT 2: ANALYSE DER IST-SITUATION IN ALLEN FILIALEN
Wenn ein Geschäftsmodell unter Druck gerät, gilt es
realistisch einzuschätzen, was sich verteidigen lässt.
An einigen Standorten kann ein Einzelhändler kaum
gewinnen – egal was er investieren würde. Für diese
Filialen bedarf es Ausstiegsoptionen zu möglichst
begrenzten Kosten. An anderen Standorten ist das
Unternehmen möglicherweise bereits im Vorteil.
Anstatt hier weiter zu investieren, sollte es nur so
viel ausgeben, wie zur Verteidigung des Vorsprungs
notwendig ist. Den Investitionsschwerpunkt sollten
hingegen die übrigen Standorte bilden, die Chancen
und Risiken zugleich bergen. Hier können Investitionen
den Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg
ausmachen. Mit einer Unterteilung des Filialnetzes nach
diesen Gesichtspunkten können sich Einzelhändler
einen Vorsprung gegenüber der etablierten
Konkurrenz erarbeiten.
SCHRITT 3: GEZIELTE INVESTITIONEN IN ERFOLGSFAKTOREN
Der grundlegende Unterschied zwischen etablierten
Champions und künftigen Verlierern liegt darin, dass
die etablierten Anbieter über stärker ausgefeilte
Fertigkeiten im Management verfügen. So können
sie bessere Ergebnisse in jeder Filiale und in jedem
Geschäftsbereich erzielen. Die Verbesserung der
Effizienz von Entscheidungen in der Zentrale ist
in diesem Zusammenhang von entscheidender
Bedeutung. Wo früher eine einfache Preisstrategie
ausreichte, bedarf es nun einer eigenen Strategie für
jede Filiale. Wo bislang ein einheitliches Sortiment
genügte, ist nun für jedes Kundensegment und jede
Region ein eigenes notwendig. Wo früher höhere
Absatzzahlen zu besseren Lieferantenkonditionen
führten, müssen Verantwortliche nun genau verstehen,
wie sich Geld mit großen Lieferanten verdienen lässt,
während mit einer größeren Zahl kleinerer Lieferanten
zusammengearbeitet wird.
Im Betrieb vor Ort sieht es ähnlich aus. Es reicht nicht
mehr, bei der Leitung von Filialen auf Instinkte und das
Bauchgefühl zu vertrauen. Vielmehr benötigen die
Mitarbeiter neue Tools für eine Verbesserung ihrer Prog-
nosen und Bestellungen, zur Gewährleistung einer
hohen Verfügbarkeit und zur Reduzierung von Abschrei-
bungen. Der Arbeitseinsatz in den Filialen muss genauer
geplant werden, sodass der Service den jeweiligen
Kundenbedürfnissen entspricht. Verkäufer in Branchen,
in denen im Beratungsgespräch ein Mehrwert entsteht,
benötigen einen jederzeitig verfügbaren Zugriff
auf Kundendaten.
SCHRITT 4: FRÜHZEITIGER BEGINN DER EIGENEN NEUERFINDUNG
Nur mit Innovationen können Einzelhändler auf lange
Sicht wachsen. Sie müssen dazu entweder selbst aktiv
werden oder in die nächsten innovativen Herausforderer
investieren. Da die Erfolgsquote bei neuen
Entwicklungen gering ist, müssen sie in jedem Fall
mehr als einen Versuch für eine Innovation und deren
rasche Umsetzung starten. Dies kann in einer eigens zu
diesem Zweck aufgebauten separaten Geschäftseinheit
geschehen, in der ein innovationsfreundliches
Klima herrscht. Wer sich für ein solches „Start-up“
entscheidet, muss auf ständige Fortschritte drängen,
damit wenig aussichtsreiche Konzepte rasch scheitern
und vielversprechende Innovationen frühzeitig
erkannt werden. Alternativ können Einzelhändler in
Innovationen Dritter investieren. Durch eine genaue
Beobachtung der Wettbewerbslandschaft können sie
so aus angehenden Konkurrenten eine Quelle künftiger
Gewinne machen.
16
TEIL 4: DER STARTSCHUSS
Einzelhändler sollten sich mit den folgenden Fragen beschäftigen, um ihre eigene
Ausgangslage zu überprüfen und daraus Pläne für den künftigen Wandel zu entwickeln.
Wie lässt sich das Wachstum im bestehenden Geschäftsmodell maximieren?
• Ist es besser, in einen anderen Markt zu expandieren oder die Position im bestehenden Markt auszubauen?
• Sind dafür neue Fertigkeiten notwendig?
• Ist die Organisation auf Erfolg ausgerichtet?
• Sind die richtigen Talente vorhanden?
Versteht ein Unternehmen den Wettbewerb?
• Wer sind die starken,
etablierten Anbieter?
• Wer sind die Innovatoren
neuer Formate?
• Wo ist das eigene Geschäft
am stärksten gefährdet?
Wie lang bleibt das aktuelle Geschäftsmodell erfolgreich?
• Gibt es genügend
traditionelle Anbieter im
Markt, sodass sich mit dem
bestehenden Geschäfts-
modell disruptive Ver-
änderungen im Markt
überleben lassen? • Nähern sich die eigenen
Wachstumstreiber dem Punkt
rückläufiger Zuwächse?
Wie steht es um künftige Innovationen?
• Gibt es wachstums-
trächtige und innovative
Geschäftsmodelle,
Vertriebskanäle und
Leistungsangebote?
Wie lässt sich der Übergang in die nächste Lebensphase erfolgreich gestalten?
• Welche Fertigkeiten müssen
aufgebaut werden?
• In welchen Bereichen bedarf
es neuer Entwicklungen?
• Welche Mitarbeiter
werden benötigt?
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FAZIT Unabhängig davon, ob Einzelhändler als Innovatoren oder etablierte Anbieter zu verstehen
sind, kann es für den Erfolg im Einzelhandel notwendig sein, zwischen diesen Rollen hin
und her zu wechseln – zum Teil über Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Für das Überleben
ist es entscheidend zu wissen, wo das eigene Unternehmen und der Wettbewerb im
Lebenszyklus stehen und wo die jeweiligen Schwächen und Chancen liegen. Wer sich nicht
verändert, wird im Wettbewerb mit erfolgreicheren und agilen Anbietern in Zukunft das
Nachsehen haben.
Oliver Wyman ist eine international führende Managementberatung mit weltweit 4.000 Mitarbeitern in mehr als 50 Büros in 26 Ländern. Das Unternehmen verbindet ausgeprägte Branchenspezialisierung mit hoher Methodenkompetenz bei Strategieentwicklung, Prozessdesign, Risikomanagement und Organisationsberatung.
Gemeinsam mit Kunden entwirft und realisiert Oliver Wyman nachhaltige Wachstumsstrategien. Wir unterstützen Unternehmen dabei, ihre Geschäftsmodelle, Prozesse, IT, Risikostrukturen und Organisationen zu verbessern, Abläufe zu beschleunigen und Marktchancen optimal zu nutzen. Oliver Wyman ist eine hundertprozentige Tochter von Marsh & McLennan Companies (NYSE: MMC). Folgen Sie Oliver Wyman auf Twitter @OliverWyman.
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