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Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem EU-Richtlinienumset- zungsgesetz vom 19.8.2007 unter anderem die EU-Qualifika- tionsrichtlinie umgesetzt. Der nachfolgende Beitrag geht der Frage nach, inwieweit diese Umsetzung den Vorgaben der Richt- linie vollständig gerecht wird und geht auf einzelne aktuelle Streitfragen in diesem Zusammenhang ein. 1. Die Geltung der Qualifikationsrichtlinie im deutschen Aus- länderrecht Auch nach Inkrafttreten des EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes vom 19.8.2007 (BGBl. 2007, I-1970) werden gegen die Verein- barkeit der deutschen Umsetzungsvorschriften, die z.T. schon vor dem Richtlinienumsetzungsgesetz mit dem Zuwanderungsgesetz vom Juli 2004 in Kraft getreten sind, Einwände wegen mangeln- der Vereinbarkeit mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht er- hoben. Zu einem wesentlichen Teil richtet sich diese Kritik ge- gen die Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie durch § 60 AufenthG und einzelne Vorschriften des AsylVfG. In der Recht- sprechung des Europäischen Gerichtshofes ist hinreichend ge- klärt, dass Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft unmittel- barer Anwendung im innerstaatlichen Recht fähig sind, wenn die einzelne Bestimmung der Richtlinie hinreichend genau und unbedingt ist, so dass sie ohne weitere Umsetzungsmaßnahmen angewendet werden kann. Einzelne können sich daher auf eine durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung des Mitgliedstaa- tes gegenüber allen innerstaatlichen nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen, um ihre aus der Richtlinie entstehenden Rechtspositionen gegenüber den Mitgliedstaaten durchzusetzen. 1 Nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Qualifikationsrichtli- nie am 10.10.2006 kommt daher prinzipiell eine unmittelbare An- wendung der »Qualifikationsrichtlinie« 2 in Betracht. ABHANDLUNGEN Prof. Dr. Dr. h.c. Kay Hailbronner, Konstanz* Die Qualifikationsrichtlinie und ihre Umsetzung im deutschen Ausländerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZAR ZAR 7/2008 | 209 * Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Eu- roparecht der Universität Konstanz und Leiter des dort ansässigen For- schungszentrums »Europäisches und internationales Ausländer- und Asyl- recht«. 1 Vgl. EuGH v. 19.1.1982, Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53; st. Rspr. vgl. Jochum, in: Hailbronner/Wilms/Jochum, Recht der Europä- ischen Union, Lfg. 8/2007, Art. 249, Rn. 58 ff. 2 Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2003 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlo- sen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; vgl. auch Hail- bronner, Kommentar zum Ausländerrecht, D 12.7. Herausgeber Jürgen Haberland, Ministerialrat a.D., Berlin Prof. Dr. Kay Hailbronner, Universität Konstanz Prof. Barbara John, Ausländerbeauftragte a.D., Berlin Prof. Dr. Winfried Kluth, Universität Halle Dr. Otto Mallmann, Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, Leipzig Victor Pfaff, Rechtsanwalt, Frankfurt a.M. Cornelia Rogall-Grothe, Ministerialdirektorin, Bundesminis- terium des Innern, Berlin Wissenschaftlicher Beirat Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungs- gerichts, Karlsruhe Nele Allenberg, Evangelische Kirche in Deutschland Prof. Dr. Klaus J. Bade, Universität Osnabrück Klaus Barwig, Akademie der Diözese Rottenburg- Stuttgart Dr. Roland Bell, Regierungsdirektor, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg Dr. Wolfgang Breidenbach, Rechtsanwalt, Halle Prof. Dr. Hans-Joachim Cremer, Universität Mannheim Dr. Claus Dienelt Richter am Verwaltungsgericht, Darmstadt Dagmar Feldgen, Ministerialrätin, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Berlin Katrin Gerdsmeier, Kommissariat der Deutschen Bischöfe, Berlin Prof. Dr. Thomas Groß, Universität Gießen Christoph Kannengießer, Rechtsanwalt, Berlin Prof. Dr. Peter Knösel, Fachhochschule Potsdam Prof. Dr. Christine Langenfeld, Universität Göttingen Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff, Richterin des Bundesverfassungs- gerichts, Karlsruhe Dr. Hans-Georg Maaßen, Ministerialrat, Bundesministerium des Innern, Berlin Dr. Ursula Mehrländer, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Dr. Hans-Ingo von Pollern, Regierungsdirektor, Regierungs- präsidium Tübingen Volker Roßocha, DGB-Bundesvorstand, Berlin Dr. Albert Schmid, Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg Prof. Dr. Albrecht Weber, Universität Osnabrück Prof. Dr. Michael Wollenschläger, Universität Würzburg Prof. Dr. Andreas Zimmermann, Universität Kiel 7/2008 28. Jahrgang Seiten 209–248

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Page 1: ZARund Ausländerpolitik Zeitschrift für Ausländerrecht / · PDF fileDer deutsche Gesetzgeber hat mit dem EU-Richtlinienumset-zungsgesetz vom 19.8.2007 unter anderem die EU-Qualifika-tionsrichtlinie

Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem EU-Richtlinienumset-zungsgesetz vom 19.8.2007 unter anderem die EU-Qualifika-tionsrichtlinie umgesetzt. Der nachfolgende Beitrag geht derFrage nach, inwieweit diese Umsetzung den Vorgaben der Richt-linie vollständig gerecht wird und geht auf einzelne aktuelleStreitfragen in diesem Zusammenhang ein.

1. Die Geltung der Qualifikationsrichtlinie im deutschen Aus-länderrecht

Auch nach Inkrafttreten des EU-Richtlinienumsetzungsgesetzesvom 19.8.2007 (BGBl. 2007, I-1970) werden gegen die Verein-barkeit der deutschen Umsetzungsvorschriften, die z.T. schon vordem Richtlinienumsetzungsgesetz mit dem Zuwanderungsgesetzvom Juli 2004 in Kraft getreten sind, Einwände wegen mangeln-der Vereinbarkeit mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht er-hoben. Zu einem wesentlichen Teil richtet sich diese Kritik ge-gen die Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie durch § 60AufenthG und einzelne Vorschriften des AsylVfG. In der Recht-sprechung des Europäischen Gerichtshofes ist hinreichend ge-klärt, dass Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft unmittel-

barer Anwendung im innerstaatlichen Recht fähig sind, wenndie einzelne Bestimmung der Richtlinie hinreichend genau undunbedingt ist, so dass sie ohne weitere Umsetzungsmaßnahmenangewendet werden kann. Einzelne können sich daher auf einedurch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung des Mitgliedstaa-tes gegenüber allen innerstaatlichen nicht richtlinienkonformenVorschriften berufen, um ihre aus der Richtlinie entstehendenRechtspositionen gegenüber den Mitgliedstaaten durchzusetzen.1

Nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Qualifikationsrichtli-nie am 10.10.2006 kommt daher prinzipiell eine unmittelbare An-wendung der »Qualifikationsrichtlinie«2 in Betracht.

A B H A N D L U N G E N

Prof. Dr. Dr. h.c. Kay Hailbronner, Konstanz*

Die Qualifikationsrichtlinie und ihre Umsetzung im deutschen Ausländerrecht

Zeitschrift für Ausländerrecht

und AusländerpolitikZAR

ZAR 7/2008 | 209

* Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Eu-roparecht der Universität Konstanz und Leiter des dort ansässigen For-schungszentrums »Europäisches und internationales Ausländer- und Asyl-recht«.

1 Vgl. EuGH v. 19.1.1982, Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982,53; st. Rspr. vgl. Jochum, in: Hailbronner/Wilms/Jochum, Recht der Europä-ischen Union, Lfg. 8/2007, Art. 249, Rn. 58 ff.

2 Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2003 über Mindestnormen fürdie Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlo-sen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutzbenötigen und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes; vgl. auch Hail-bronner, Kommentar zum Ausländerrecht, D 12.7.

Herausgeber

Jürgen Haberland, Ministerialrat a.D., Berlin

Prof. Dr. Kay Hailbronner,Universität Konstanz

Prof. Barbara John,Ausländerbeauftragte a.D., Berlin

Prof. Dr. Winfried Kluth, Universität Halle

Dr. Otto Mallmann, Vorsitzender Richter amBundesverwaltungsgericht, Leipzig

Victor Pfaff, Rechtsanwalt, Frankfurt a.M.

Cornelia Rogall-Grothe,Ministerialdirektorin, Bundesminis-terium des Innern, Berlin

Wissenschaftlicher Beirat

Vorsitzender: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungs-gerichts, KarlsruheNele Allenberg,Evangelische Kirche in DeutschlandProf. Dr. Klaus J. Bade, Universität OsnabrückKlaus Barwig, Akademie der Diözese Rottenburg-StuttgartDr. Roland Bell, Regierungsdirektor, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, NürnbergDr. Wolfgang Breidenbach, Rechtsanwalt, HalleProf. Dr. Hans-Joachim Cremer,Universität Mannheim

Dr. Claus DieneltRichter am Verwaltungsgericht,Darmstadt

Dagmar Feldgen, Ministerialrätin, Bundesministeriumfür Arbeit und Soziales, Berlin

Katrin Gerdsmeier, Kommissariat der DeutschenBischöfe, Berlin

Prof. Dr. Thomas Groß,Universität Gießen

Christoph Kannengießer, Rechtsanwalt, Berlin

Prof. Dr. Peter Knösel, Fachhochschule Potsdam

Prof. Dr. Christine Langenfeld,Universität Göttingen

Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff,Richterin des Bundesverfassungs-gerichts, Karlsruhe

Dr. Hans-Georg Maaßen,Ministerialrat, Bundesministeriumdes Innern, Berlin

Dr. Ursula Mehrländer, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Dr. Hans-Ingo von Pollern,Regierungsdirektor, Regierungs-präsidium Tübingen

Volker Roßocha, DGB-Bundesvorstand, Berlin

Dr. Albert Schmid, Präsident des Bundesamtes fürMigration und Flüchtlinge, Nürnberg

Prof. Dr. Albrecht Weber, Universität Osnabrück

Prof. Dr. Michael Wollenschläger,Universität Würzburg

Prof. Dr. Andreas Zimmermann,Universität Kiel

7/200828. Jahrgang • Seiten 209–248

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3 Vgl. Jochum, (o. Fn. 1), Rn. 53; EuGH, RS 14/83, von Colson u. Kamann,Nordrhein-Westfalen, Slg. 1984, 1891.

4 Nach Auffassung des EuGH soll dies unter bestimmten Voraussetzungen so-gar vor Fristablauf gelten, vgl. EuGH v. 22.11.2005, Rs. C-144/04, Mangold,NJW 2005, 3695; kritische Anmerkung Hailbronner, NZA 2006, 811; Reich,EuZW 2006, 17 (21); vgl. auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3.Aufl. 2006, Art. 249, Rn. 119 f.

5 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 2 Richtlinie 2004/83.6 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 2 der Richtlinie 2005/85.7 Vgl. Hailbronner, Die Wirkung ausländer- und asylrechtlicher EG-Richtlinien

vor der Umsetzung ins deutsche Ausländerrecht, ZAR 2007, 6 (12).8 Vgl. Marx, Die Verdeutschung der EU-Richtlinie zum Aufenthalts- und

Asylrecht, InfAuslR 2007, 413 (421).9 EuGH v. 30.5.1991, Rs. C-361/88, TA-Luft, Slg. 1991, I-2567.

10 Siehe o. Fn. 9, Rn. 24.11 Vgl. BT-Drs. 16/5065, 46.

Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Rechtsprechung desEuGH über die unmittelbare Anwendbarkeit von EG-Richtliniennichts daran ändert, dass Mitgliedstaaten Richtlinienbestimmun-gen prinzipiell in das innerstaatliche Recht umsetzen müssen. Be-hörden und Gerichte haben das innerstaatliche Recht anzuwen-den. Ein Rückgriff auf das Richtlinienrecht kommt nur entwederunter dem Gesichtspunkt der unmittelbaren Anwendbarkeit beifehlender oder fehlerhafter Umsetzung der Richtlinie in Betrachtoder im Falle der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung na-tionalen Rechts3, wobei auch im letzteren Fall die unmittelbareRechtsquelle das innerstaatliche Recht bleibt, allerdings in derdurch die Richtlinie geprägten Auslegung.

Für unseren Problemkreis ist insbesondere die gemeinschafts-rechtskonforme Auslegung von praktischer Bedeutung. Danachsind die Gerichte verpflichtet, das nationale Recht gemein-schaftsrechtskonform und damit auch richtlinienkonform anzu-wenden. Die Gerichte haben unter Berücksichtigung des gesam-ten nationalen Rechts und unter Anwendung ihrer Auslegungs-möglichkeiten alles Erforderliche zu tun, um die volleWirksamkeit der fraglichen Richtlinie zu gewährleisten. DieGrenze der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ist – ana-log den Grundsätzen, die für die verfassungskonforme Ausle-gung gelten – erreicht, wenn das innerstaatliche Recht keinerleiSpielraum bietet, die Bestimmungen in Übereinstimmung mitdem Gemeinschaftsrecht auszulegen. In diesem Fall ist der Rich-ter nach der EuGH-Rechtsprechung verpflichtet, innerstaatlichesRecht unangewendet zu lassen, wenn es dem Richtlinienrechtwiderspricht.4

Bei der Qualifikationsrichtlinie stellt sich darüber hinaus dieFrage, ob die Kompatibilitätsprüfung, die der nationale Richterim Hinblick auf die Vereinbarkeit des deutschen Ausländerrechtsmit dem Gemeinschaftsrecht durchzuführen hat, sich auch auf dieGenfer Flüchtlingskonvention und/oder die Europäische Men-schenrechtskonvention bezieht. Beide Verträge sind völkerrecht-liche Verträge, die kraft der Ratifikation ein Bestandteil des deut-schen Rechts im Rang eines Bundesgesetzes geworden sind. Zubeachten ist aber, dass ungeachtet des Grundsatzes der völker-rechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Unterschiedegegenüber der Vorrangigkeit und unmittelbaren Geltung vonentgegenstehendem Gemeinschaftsrecht bestehen. Fragen derAuslegung der Qualifikationsrichtlinie sind daher nicht per seidentisch mit Fragen der Auslegung der Genfer Konvention. Auchder Verweis in der Präambel der Qualifikationsrichtlinie auf dieGenfer Konvention sowie auf die Grundrechte der EMRK und dieGrundsätze, die insbesondere mit der Charta der Grundrechteder Europäischen Union anerkannt wurden,5 sind nicht ausrei-chend, um geltendes Gemeinschaftsrecht zu begründen, das alsPrüfungsmaßstab unabhängig von Richtlinienrecht herangezogenwerden könnte, um die Unanwendbarkeit innerstaatlichen Rechtszu begründen. Dass Richtlinien im Einklang mit völkerrecht-lichen Verträgen der Mitgliedstaaten stehen müssen oder dass sichdas gemeinsame europäische Asylsystem auf die »uneinge-schränkte und allumfassende Anwendung des Genfer Abkom-mens vom 28.7.1951 stützt«6, führt noch nicht eo ipso dazu, dassden Bestimmungen dieser Verträge bzw. völkerrechtlichenRechtsinstrumente unmittelbar gemeinschaftsrechtliche Geltungzukommt.7

Eine weitere Vorbemerkung bezieht sich auf die verschiedent-lich gegen das EU-Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.8.2007erhobene Kritik an der Umsetzungstechnik. § 60 I 5 AufenthGverweist hinsichtlich der Feststellung, ob eine Verfolgung nachSatz 1 vorliegt, auf einige Vorschriften der Qualifikationsricht-

linie, indem vorgeschrieben wird, diese Vorschriften »ergänzend«anzuwenden. In § 60 I AufenthG sollen dagegen für die Feststel-lung von Abschiebungsverboten einige Artikel der Qualifika-tionsrichtlinie »gelten«. Die bloß ergänzende Anwendung wirdz.T. für gemeinschaftsrechtswidrig gehalten, mit dem Argument,dem Rechtsanwender werde bedeutet, er solle zunächst deutscheRechtsvorschriften anwenden und lediglich bei Zweifeln ergän-zend einen Blick auf die Qualifikationsrichtlinie werfen.8

Das Argument beruht auf einer unzutreffenden Auffassung vonder Rechtsnatur von Richtlinien. Richtlinien sind als solche nichtunmittelbar anwendbar im innerstaatlichen Recht. Umgekehrtkönnte man daher Einwendungen gegen eine Umsetzungstechnikeinwenden, die lediglich die Geltung von Richtlinien anordnet.Dies gilt jedenfalls dann, wenn durch die Anordnung der Gel-tung keine hinreichende Klarheit und Transparenz bezüglich desGemeinschaftsrechts erzielt wird. Der EuGH hat die Mitglied-staaten für verpflichtet erklärt, Bestimmungen zu erlassen, die be-stimmt, klar und transparent sind, so dass der Einzelne aus demnationalen Recht entnehmen kann, welche Rechte und Pflichtener in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht hat.9 Die Mitgliedstaa-ten müssen, um die volle Anwendung der Richtlinie in rechtlicherund nicht nur in tatsächlicher Hinsicht zu gewährleisten, einen»eindeutigen gesetzlichen Rahmen auf dem betreffenden Gebietbereitstellen«.10 Ob dem der deutsche Gesetzgeber in allen Fäl-len nachgekommen ist, wird voraussichtlich den EuGH in Ver-tragsverletzungsklagen gegen die Bundesrepublik Deutschlandbeschäftigen. Für die verwaltungsrichterliche Praxis stellt sichaber diese Frage nur insofern, als angesichts des häufig sehr vielhöheren Detaillierungsgrades der Richtlinien, insbesondere beiden Richtlinien über die Aufnahme von Asylsuchenden, der Asyl-verfahrensrichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie, der ergän-zende Blick in das Richtlinienrecht immer öfter erforderlich wird,um das deutsche Recht gemeinschaftsrechtskonform auslegenzu können.

Eine praktische Bedeutung kommt der Frage, was denn mit »er-gänzender Anwendung« (§ 60 I 5 AufenthG) gemeint ist, aller-dings für die Anwendung des »Günstigkeitsprinzips« zu. DieBestimmung ist neu durch das EU-Richtlinienumsetzungsgesetzeingefügt worden11. Damit stellt sich die Frage, ob unter Be-rücksichtigung der Bestimmungen der Qualifikationsrichtlinieein in § 60 I AufenthG durch das Zuwanderungsgesetz 2004 ein-geführter weiterer Verfolgungsbegriff nach dem Günstigkeits-prinzip noch weiter angewendet werden kann. Dies betrifft diegeschlechtsbezogene Verfolgung, die in Art. 10 I d der Richtli-nie restriktiver behandelt wird als in § 60 I AufenthG, wonacheine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmtensozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn die Bedro-hung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Frei-heit allein an das Geschlecht anknüpft. Demgegenüber wird inArt. 10 I d formuliert:

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A B H A N D L U N G E N | Hai lbronner , D ie Qual i f i kat ionsr icht l in ie und ihre Umsetzung

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»… geschlechtsbezogene Aspekte können berücksichtigt werden, recht-fertigen aber für sich allein genommen noch nicht die Annahme, dass die-ser Artikel anwendbar ist.«

Bedeutet die neue Formulierung über die »ergänzende Anwen-dung«, dass die von einigen Verwaltungsgerichten gezogeneFolgerung, dass – zulässigerweise – das deutsche Asylrecht einenweitergehenden Schutz geschlechtsbezogener Verfolgung ge-währleistet als die Richtlinie (Art. 3 RL 2004/83), aufrechtzuer-halten ist, oder in Zukunft gemeinschaftsrechtlich die zumindesttendenziell eher restriktive Formulierung zu berücksichtigenist? Die Begründung des Gesetzentwurfs geht allerdings davonaus, dass eine Divergenz zwischen Gemeinschaftsrecht und § 60I AufenthG auch schon vor Einfügung des Hinweises auf die er-gänzende Anwendung der Richtlinie nicht bestand. Ausdrück-lich hingewiesen wird auf die Formulierung der Richtlinie, wo-nach geschlechterspezifische Aspekte zu berücksichtigen seien.Die Regelungen entsprächen überwiegend der geltenden Rechts-lage.12 Der Gesetzgeber geht also offenkundig davon aus, keineüber den Standard der Richtlinie hinausgehende Rechtspositionbegründen zu wollen. Eine einschränkende Auslegung des § 60I AufenthG unter Hinweis darauf, dass die Qualifikationsrichtli-nie die bloße Berücksichtigung geschlechtsbezogener Aspektevorsieht, nicht aber die Anerkennung der geschlechtsbezogenenVerfolgung als eigenständigen Verfolgungsgrund, wird man damit aber wohl nicht rechtfertigen können. Der gesetzlicheWortlaut ist insoweit eindeutig; aus Satz 5 kann daher keine ge-setzliche Rechtfertigung dafür abgeleitet werden, die »ge-schlechtsspezifische Verfolgung«, wie sie bereits mit dem Zu-wanderungsgesetz eingeführt worden ist, wieder einschränken zuwollen.13

2. Kumulierung der Verfolgungshandlungen

Ein erster Punkt betrifft die Verfolgungshandlung nach Art. 9 I b.Eine Verfolgung kann im Sinne des Art. 1 A GK auch »in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich ei-ner Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist,dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Buchst. a be-schriebenen Weise betroffen ist.« Demgegenüber wird daraufhingewiesen, dass die deutsche richterliche Praxis bei der Aus-legung des Flüchtlingsbegriffs davon ausgehe, dass die Kumu-lierung von Maßnahmen, die als Einzelmaßnahmen keine Verfolgung darstellten, nach ständiger Rechtsprechung keineVerfolgungshandlung begründeten.14 Der deutsche Gesetzgebersei verpflichtet gewesen, eine ausdrückliche Umsetzung im Hin-blick auf diese richterliche Praxis vorzunehmen.15

Meines Erachtens liegt dem eine Fehlinterpretation der Recht-sprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Grunde. In dermaßgeblichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtsvom 27.6.1989 stellt das Bundesverwaltungsgericht lediglichfest, dass aus einer »Gesamtschau« mehrerer Gründe, die je fürsich eine Verfolgung nur möglicherweise auslösen, sich nicht her-leiten lasse, dass einer oder mehrere der Verfolgungsgründe mitbeachtlicher Wahrscheinlichkeit zu politischer Verfolgung füh-re. Es ging dabei um einen Iraner, der wegen verschiedener Grün-de, Republikflucht, Wehrdienstentziehung, Asylantragstellungund exilpolitischer Betätigung, Asyl begehrt hat. Alles, was dasBundesverwaltungsgericht festgestellt hat, war, dass es nicht aus-reicht, dass hier offen bleibt, aus welchen Gründen möglicher-weise eine Verfolgung stattfindet. Dies hat meines Erachtensnichts mit der Frage zu tun, ob eine Kumulierung unterschied-licher Maßnahmen, wie sie in Art. 9 II als Verfolgungshandlun-

gen definiert sind, insgesamt zu einer Verfolgung im Sinne derKonvention führen kann.

3. Religiöse Verfolgung

Wesentlich problematischer ist die herkömmliche Praxis bei derAnerkennung religiöser Verfolgung. Die deutsche Recht-sprechung hat bekanntlich bei der Verfolgung aus religiösenGründen als maßgebliches Kriterium darauf abgestellt, ob die Re-ligionsausübung im privaten Bereich (forum internum) als reli-giöses Existenzminimum gewährleistet ist16, während eine Ein-schränkung der Religionsausübung im öffentlichen Bereich,z.B. in Form von öffentlichen Gottesdiensten oder der Missio-nierung, als solche noch keine Verfolgung aus religiösen Grün-den darstellt. Die Richtlinie formuliert in Art. 10 I b:

»Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nicht theis-tische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw.Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Be-reich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betä-tigungen oder Meinungsäußerungen und Verhalten Einzelner oder derGemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen odernach dieser vorgeschrieben sind.«

Eine Reihe von Verwaltungsgerichten ist daher zum Schluss ge-kommen, dass die bisherige Rechtsprechung, die maßgeblichauf die Beeinträchtigung des »religiösen Existenzminimums« ab-gestellt hat, nicht mehr haltbar sei.17 Auch das Bundesinnenmi-nisterium konzediert in seinen Hinweisen vom 13.10.2006 einegewisse Änderung; jedoch sei die bloße Unterbindung von Glau-bensmanifestationen, dazu zähle auch die religiöse Betätigung imöffentlichen Bereich, regelmäßig nicht ausreichend, da die Richt-linie nicht jegliche Handlungen mit Religionsbezug schütze, son-dern nur die mit der Menschenwürde untrennbar verknüpftenGlaubensüberzeugungen.18

Nun ist unbestreitbar, dass die Richtlinie die öffentliche Reli-gionsausübung im Zusammenhang mit den Verfolgungsgründenin den Schutzbereich der Richtlinie einbezieht; religiöse Verfol-gung ist daher auch eine Verfolgung wegen öffentlicher Reli-gionsausübung einschließlich der Verfolgung wegen sonstigerVerhaltensweisen, die sich auf eine religiöse Überzeugung stüt-zen, also z.B. Missionierung, öffentliche Prozessionen usw. Folgtdaraus bereits die Unhaltbarkeit der bisherigen Rechtsprechungzum »forum internum«? Dieser Schluss wäre unabweisbar, wenndie deutsche Rechtsprechung sich tatsächlich auf den Stand-punkt gestellt hätte, eine Verfolgung aus Gründen der Religion seinur gegeben, wenn jemand in seinem religiösen Existenzmini-mum beeinträchtigt werde. Tatsächlich verhält es sich aber weit-aus komplizierter. In einem der letzten vom Bundesverwaltungs-gericht entschiedenen Fälle der Konversion vom Islam zumChristentum als Asylgrund19 führt das Bundesverwaltungsgerichtaus, dass sich eine die Asylanerkennung rechtfertigende Verfol-

12 BT-Drs. 15/5065, 335, 339.13 Vgl. dazu auch den Hinweis in der Regierungsbegründung zu Satz 5, dass

die »bereits in Abs. 1 enthaltenen Auslegungsbestimmungen zur nichtstaat-lichen und geschlechtsspezifischen Verfolgung unberührt bleiben.«, BT-Drs.16/5065, 335.

14 Vgl. BVerwGE 82, 171, 173; OVG SH v. 23.4.2005 – 1 LB 45/03.15 Die bisherige Rechtsprechung entspreche nicht den gemeinschaftsrecht-

lichen Anforderungen.16 Vgl. BVerfG v. 1.7.1987, BVerfGE 76, 143, 158 f.; v. 25.1.1995, NVwZ

1996, 82.17 Vgl. dazu Duchrow, Der Schutz vor religiöser Verfolgung im Lichte der

Qualifikationsrichtlinie, Asylmagazin 4/2007, 8 f. mit Hinweisen auf VGKarlsruhe v. 19.10.2006, A 6 K 10335/04; VG Düsseldorf v. 19.9.2006, 22 K350/05.A.

18 Hinweise des Bundesinnenministeriums des Innern zur Anwendung der Richt-linie 2004/83/EG v. 13.10.2006, 9.

19 BVerwG v. 20.1.2004, BVerwGE 120, 16, 20 f.

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Hai lbronner , D ie Qual i f i kat ionsr icht l in ie und ihre Umsetzung | A B H A N D L U N G E N

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20 Siehe o. Fn. 19, S. 20; vgl. auch BVerfGE 76, 143, 158; BVerwGE 74, 31, 38.21 Auch das BVerfG geht in seiner Entscheidung davon aus, dass die politische

Verfolgung gegeben ist, wenn vom Aufenthaltsstaat des Verfolgten Maßnah-men darauf gerichtet sind, Angehörige einer religiösen Gruppe physisch zuvernichten oder mit vergleichbaren schweren Sanktionen zu bedrohen, in-dem sie beispielsweise ihrer religiösen Identität durch Verhinderung öffent-licher Glaubensbetätigung oder häuslich-privater Religionsausübung be-raubt werden, vgl. BVerfGE 76, 143, 158.

22 VGH BW v. 20.11.2007, InfAuslR 2008, 97; VG Düsseldorf v. 20.11.2006,14 K 4553/06.

23 BMI Hinweise zur Anwendung der Qualifikationsrichtlinie v. 13.10.2006, 9.24 Z.B. BayVGH v. 23.10.2007, InfAuslR 2008/101; grundsätzlich in diesem

Sinne auch VGH BW v. 20.11.2007, InfAuslR 2008/97 – vgl. aber die nach-folgenden Einschränkungen.

25 BVerfGE 76, 143.26 Vgl. BVerfGE 76, 143, 159.27 BVerwGE 120, 21.28 Allerdings weist der VGH darauf hin, dass die Konversion des Klägers Aus-

druck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Ausrich-tung sei »ohne dass dies von entscheidungserheblicher Bedeutung wäre«,BayVGH v. 23.10.2007, InfAuslR 2008, 101.

gung nicht nur aus staatlichen Eingriffen in Leib, Leben oderpersönliche Freiheit des Betroffenen ergeben könne, sondernauch aus Eingriffen in andere Rechtsgüter wie die Religionsfrei-heit, sofern sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschen-würde verletzten. Das Bundesverwaltungsgericht fährt fort:

»Bezogen auf die Religionsfreiheit ist dies …. nicht schon dann derFall, wenn die Religionsfreiheit, gemessen an der umfassenden Ge-währleistung, wie sie etwa Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG enthält, Eingrif-fen und Beeinträchtigungen ausgesetzt ist. Diese müssen vielmehr einsolches Gewicht erhalten, dass sie in den elementaren Bereich eingreifen,den der Einzelne unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde wienach internationalen Standards als sogenanntes religiöses Existenzmini-mum zu seinem Leben und Bestehenkönnen als sittliche Person benö-tigt.«20

Bei genauer Betrachtung geht es also bei dieser Rechtsprechungnicht um den Verfolgungsgrund21, sondern um die Verfolgungs-handlung, mit anderen Worten um die Frage, welche Art vonMaßnahmen vorliegen muss, damit man von einer Verfolgungs-handlung im Sinne der Genfer Konvention sprechen kann. Hier-für enthält aber Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie eine eigeneBestimmung. Als Verfolgung gelten nämlich nur Handlungen, dieentweder

– »auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind,dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegendenMenschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von de-nen gemäß Art. 15 Abs. 2 der EMRK keine Abweichung zu-lässig ist oder

– in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, ein-schließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, dieso gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie derunter Buchstabe a beschriebenen Weise betroffen ist.«

Zu unterscheiden sind daher Verfolgungsgrund und Verfolgungs-handlung. Nach der Qualifikationsrichtlinie ist daher prinzipiellzwar auch das forum externum als Religionsausübung geschützt,da religiöse Verfolgung auch dann vorliegen kann, wenn sich je-mand in der Öffentlichkeit in Gemeinschaft mit anderen religiösbetätigt oder missioniert. Daraus folgt aber noch nicht zwin-gend, dass jede Einschränkung einer unter den Begriff der Reli-gion im Sinne des Art. 10 I b fallenden Handlung schon Verfol-gung für alle Angehörigen der Glaubensgemeinschaft begründet.Vielmehr sieht die Richtlinie nur vor, dass schwerwiegende Ver-letzungen der Menschenrechte in den Schutzbereich der Qualifi-kationsrichtlinie fallen. Es reicht daher die einfache Behinde-rung der Religionsausübung nicht aus. Vielmehr muss, wenn dieVerfolgung im Verbot oder der Beeinträchtigung bestimmterFormen religiöser Betätigung zu sehen ist, ein qualifizierendesElement hinzukommen. Der VGH Baden-Württemberg und an-dere Verwaltungsgerichte haben daher zutreffend verlangt, dasszusätzlich zum religiösen Verfolgungsgrund eine Verfolgungs-handlung nachgewiesen werden muss, die im Sinne von Art. 9 derQualifikationsrichtlinie eine schwerwiegende Verletzung dergrundlegenden Menschenrechte darstellt.22 Auch das BMI weistinsoweit zutreffend darauf hin, dass Einschränkungen der religi-ösen Betätigung als solche nur dann asylrelevante Eingriffe i.S.von Art. 9 darstellen, wenn die Religionsausübung gänzlich unter-bunden wird oder wenn sie zu einer Beeinträchtigung des unab-dingbaren Kernbereichs einer Religion führen, auf den zu ver-zichten dem Gläubigen nicht zugemutet werden kann23. DieseArgumentation liegt ganz auf der Linie der Kernbereichstheoriedes BVerfG.

Freilich sind damit potentielle Divergenzen der herkömmlichen»forum internum-Rechtsprechung« und der Qualifikationsricht-

linie noch nicht ausgeräumt. Geht die bisherige Rechtsprechungdavon aus, es sei dem Ausländer grundsätzlich zuzumuten, sichauf den Kernbereich der religiösen Betätigung (religiöses Exis-tenzminimum) zu beschränken, soll nunmehr grundsätzlich jedeöffentlichkeitswirksame religiöse Betätigung, die nach demSelbstverständnis der betreffenden Religion glaubensbestimmtist, einschließlich missionierender Tätigkeit, in den Bereich derasylrechtlich geschützten religiösen Betätigung fallen und da-mit, falls Zuwiderhandlungen die Gefahr von Verfolgungshand-lungen i.S. von Art. 9 auslösen, einen Schutzanspruch begrün-den.24

Der kritische Punkt liegt bei der Zumutbarkeit, öffentliche reli-giöse Betätigung zu unterlassen. Zwar ist in der grundlegendenEntscheidung des BVerfG vom 1.7.198725 von Zumutbarkeitnicht die Rede. Das BVerfG und ihm folgend das BVerwG ge-hen aber implizit davon aus, dass von einer politischen Verfol-gung dann nicht gesprochen werden kann, wenn die staatlichenMaßnahmen, die in die Religionsfreiheit eingreifen, den Kern-bereich der Religionsfreiheit nicht tangieren, ungeachtet derFrage, mit welchen Maßnahmen ein Staat die Nichteinhaltungvon Verboten oder Beschränkungen öffentlicher Religionsausü-bung sanktioniert26. Entsprechend stellt das BVerwG fest, dieMaßnahmen, die ein Staat, der seine Existenz auf eine Staatsre-ligion stütze, zu deren Schutz ergreife, seien ungeachtet des Ein-griffs in die Religionsfreiheit so lange nicht als Verfolgung an-zusehen, als sie das von der Menschenwürde gebotene religiöseExistenzminimum unangetastet ließen27.

Ist diese Beschränkung des flüchtlingsrechtlichen Verfolgungs-begriffs – wie die Kritiker meinen – schon deshalb mit der Qua-lifikationsrichtlinie unvereinbar, weil auch bei entsprechendsanktionierter Zuwiderhandlung gegen eine bestimmte Form öf-fentlicher religiöser Betätigung Verfolgungsgrund und Verfol-gungshandlung vorliegen, auch wenn der Antragsteller ansonstensich weitgehend ungehindert religiös im Falle der Rückkehr be-tätigen könnte? Hiervon scheint der Bayrische VGH auszuge-hen, wenn er einen behaupteten Glaubenswechsel vom Islam zumChristentum als ausreichend ansieht28. Auch der VGH Baden-Württemberg argumentiert zunächst in diese Richtung, wenn erauf den weiten Schutzbereich des Art. 10 I b der Qualifikations-richtlinie hinweist und betont, jede sich auf eine religiöse Über-zeugung stützende Handlung und gerade auch die öffentlicheGlaubensbetätigung falle in den Schutzbereich der Richtlinie.Freilich wird diese Feststellung alsbald dadurch einschränkt, dassargumentiert wird, es müssten religiöse Handlungen oder Betä-tigungen »von grundlegender Bedeutung« sein. Dies habe sei-

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nen Grund darin, dass nicht jede Beeinträchtigung der Men-schenrechte die Qualität einer flüchtlingsrelevanten Verfol-gungshandlung habe, sondern nur eine solche schwerwiegenderArt. Damit greift der Senat überraschend auf die Rechtsprechungdes BVerfG zur Kernbereichstheorie29 zurück, um zu begrün-den, dass dem bisher nicht verfolgten Asylsuchenden für denFall der Rückkehr zugemutet werden könne, eine nicht grundle-gend bedeutsame öffentliche Betätigung zu unterlassen. Damitwerden lediglich die Kriterien für die Abgrenzung des Kernbe-reichs verschoben. An der grundsätzlichen Methode, den Verfol-gungsbegriff mit Hilfe der Zumutbarkeit zu reduzieren, ändertsich dadurch nichts.

Der Senat hat deutlich gemacht, worin er den entscheidendenGrund für diese etwas überraschende Kehrtwende in seiner Ur-teilsbegründung sieht. Würde man tatsächlich jegliche Form öf-fentlichern Glaubensbetätigung, die private oder staatliche Ver-folgung heraufbeschwören könnte, ausreichen lassen, so müsstedies zu dem Effekt einer weitgehend pauschalen Anerkennungder Angehörigen einer Religionsgemeinschaft führen und dies sei– so der VGH – auszuschließen.

Um die Frage der gemeinschaftsrechtlichen Vereinbarkeit derKernbereichstheorie oder ähnlicher Abgrenzungskriterien be-antworten zu können, ist zunächst daran zu erinnern, dass auchdas Gemeinschaftsrecht sich nicht auf die Feststellung von Ver-folgungsgrund und Verfolgungshandlung beschränkt, sondern ei-ne konkrete individuelle Gefahr für die befürchtete Verfolgungs-handlung verlangt. Die Furcht des Antragstellers vor Verfolgungmuss begründet sein bzw. der Antragsteller muss tatsächliche Ge-fahr laufen, ernsthaften Schaden zu erleiden.30 In diesem Sinneformuliert auch das UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kri-terien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft:

»Die Angehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft reichtin der Regel allein noch nicht aus, um die Forderung nach Anerkennungder Flüchtlingseigenschaft zu begründen. Es sind jedoch besondereUmstände denkbar, unter denen solche Zugehörigkeit allein schon einausreichender Grund darstellt.«31

Liegt die Verfolgungshandlung nicht schon in der Beschränkungder religiösen Betätigung im Kernbereich, ist eine begründeteVerfolgungsgefahr jedenfalls erst dann glaubhaft gemacht, wennzur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass spezifisch aus ei-ner öffentlichen Betätigung resultierende Verfolgungshandlun-gen im Falle einer Rückkehr des Antragstellers mit beachtlicherWahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Dafür reicht nicht aus,dass ein unverfolgt ausgereister Antragsteller sich im Zufluchts-staat öffentlich religiös betätigt. Vielmehr wird eine drohende Ge-fahr nur dann angenommen werden, wenn die zur potentiellenVerfolgung Anlass gebende Handlung einen essentiellen Be-standteil der religiösen Überzeugung des Antragstellers dar-stellt, derart, dass sich der Betreffende aus religiösen Gründenverpflichtet sieht, derartige Handlungen auszuführen32. Insofernist die Ausgangslage nicht prinzipiell anders, als bei sonstigenFormen politisch motivierter Verfolgung. Lässt ein Staat zwarweitgehend abweichende politische Meinungsäußerungen zu,knüpft aber an bestimmte öffentlich verbreitete Kritik in Mas-senmedien Sanktionen, die Verfolgungsqualität erreichen, sowird eine Verfolgungsgefahr für jeden politischen Dissidentennoch nicht mit dem Hinweis darauf begründet, dass auch be-sonders exponierte Formen der politischen Meinungsäußerungdem Schutz der Flüchtlingskonvention unterliegen.

Damit werden sich jedenfalls diejenigen Fallgruppen lösen las-sen, in denen keine ganz besonderen Anhaltspunkte dafür beste-hen, dass ein Antragsteller sich nicht wie seine Glaubensgenos-

sen mit der verfolgungsfreien und im Kernbereich der Reli-gionsausübung wahrenden Glaubensbetätigung begnügt. Nichtgelöst ist der Fall des Antragstellers, der ernsthaft und glaubhaftdarlegen kann, dass wesentlicher Bestandteil seines (möglicher-weise gewandelten) religiösen Selbstverständnisses gerade auchin Formen öffentlicher religiöser Betätigung einschließlich einerMissionierung liegt, die herkömmlich nicht zum Kernbereichreligiöser Freiheit gerechnet werden. In diesen Fällen kann mander Entscheidung darüber nicht aus dem Weg gehen, ob demAntragsteller zuzumuten ist, solche nicht grundlegend bedeutsa-men Handlungen oder wie immer die Abgrenzung auch sonstvorgenommen werden mag, zu unterlassen.33

Hierfür sprechen jedenfalls pragmatische Erwägungen, wie siedas BVerfG in seiner grundlegenden Entscheidung vom1.7.198734 zu Staaten, die ihre Existenz auf eine Staatsreligionstützen, angestellt hat. Der flüchtlingsrechtliche Kern des Argu-ments ist, dass Asylrecht und Flüchtlingsstatus Schutz nur dem-jenigen bieten, der sich in einer für ihn ausweglosen Lage befin-det.35 Ist das Kriterium der Ausweglosigkeit als Ausgangspunkteiner teleologischen Reduktion der Verfolgung auf eine Unter-drückung eines wie auch immer definierten »Kernbereichs« ge-schützter menschenrechtlicher Betätigung tragfähig? Immerhinimpliziert die Beschränkung des Begriffs der Verfolgungshand-lung auf gravierende Menschenrechtsverletzungen, dass unterdieser Schwelle liegende Einschränkungen der Religionsausü-bungen keinen Flüchtlingsstatus begründen. Kann man darausableiten, dass dem Betroffenen zuzumuten ist, sich solcher Betä-tigungen erst recht dann zu enthalten, wenn sie nicht nur verbo-ten, sondern ihre Überschreitung mit privaten oder staatlichenVerfolgungshandlungen verbunden sein kann?

Der Begriff der Religion in der Qualifikationsrichtlinie ist für die-se Frage letztlich unerheblich, da er nichts darüber aussagt, un-ter welchen Voraussetzungen eine Beschränkung öffentlicher Re-ligionsausübung als Verfolgung zu qualifizieren ist. Allerdings istes mit Art. 10 I b der Richtlinie wohl nicht vereinbar, öffentlicheReligionsausübung vom flüchtlingsrechtlichen Schutz grund-sätzlich auch dann auszunehmen, wenn sie Verfolgungshandlun-gen der in Art. 10 genannten Art auslöst. Hieraus folgt, dass dieZumutbarkeitstheorie letztlich vor dem Gemeinschaftsrecht wohlkeinen Bestand haben wird. Dem steht aber nicht entgegen, dassim Rahmen der Prüfung der Verfolgungsgefahr sorgfältig zuprüfen ist, ob angesichts eines verfolgungsfreien Raums religiö-ser Betätigung im Falle der Rückkehr eine konkrete Gefahr vonVerfolgung wegen solcher religiöser Betätigungen zu erwartenist, die für die religiöse Identität nicht von zentraler Bedeutungsind.

4. Subsidiärer Schutz

Ein weiterer potentieller Konfliktpunkt ist die Definition des sub-sidiären Schutzes. § 60 VII AufenthG sieht in seiner Neufassungvor, dass von der Abschiebung eines Ausländers in einen ande-ren Staat abgesehen werden soll, wenn dort für diesen Ausländereine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit be-steht. Ein obligatorisches Abschiebungsverbot besteht nach

29 BVerfGE 76, 143, 163.30 Vgl. Art. 4 Abs. 4, Art. 5 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie.31 UNHCR-Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flücht-

lingseigenschaft, 1979, 20.32 Vgl. auch Bank, in: Zwaan/Bank, The Qualification Directive, Central The-

mes, Problem Issues and Implementation in Selected Member States 2007,115.

33 Vgl. VGH BW v. 20.11.2007, o. Fn. 22.34 BVerfGE 76, 143, 159.35 Vgl. BVerfGE 76, 143, 158; 74, 51, 64.

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36 BT-Drs. 16/5065, 341; vgl. andererseits Marx, Stellungnahme zum Entwurfeines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien derEuropäischen Union, Bundestagsinnenausschuss A Drs. 16 (4209) D, 33 f.,Hruschka/Lindner, Der internationale Schutz nach Art. 15 b und c Qualifika-tionsrichtlinie im Lichte der Maßstäbe von Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7AufenthG, NVwZ 2007, 645 (649).

37 Vgl. BVerwG v. 17.10.1995, InfAuslR 1996, 149.38 Hruschka/Lindner, o. Fn. 36, S. 649.39 Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90 (93).40 Ausführlich dazu Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90 (91 ff.).41 Vgl. Funke-Kaiser, InfAuslR 2008, 90 (91).42 UNHCR, Asylum in the European Union, December 2007, 72 ff.43 Vgl. dazu: Die Praxis des Swedish Migration Board zur Situation in Bagdad

in: UNHCR, Asylum in the European Union, 72; in diesem Sinne auchHessVGH v. 23.11.2006, 1 E 1213/05; VGH BW v. 8.8.2007, 2 S 229/07.

Satz 2, »wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung ei-ner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rah-men eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Kon-flikts ausgesetzt ist.« Wie bisher hat der Gesetzgeber in Absatz 7Satz 3 daran festgehalten, dass Gefahren nach Satz 1 oder Satz 2, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe,der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anord-nungen nach § 60a I 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.

Von den Flüchtlingshilfsorganisationen und UNHCR wird gel-tend gemacht, diese Formulierung verstoße gegen die Qualifika-tionsrichtlinie, da Art. 15 der Richtlinie als Voraussetzung fürden Anspruch auf subsidiären Schutz definiert habe, was als ernst-hafter Schaden zu berücksichtigen sei. Als ernsthafter Schadengilt danach unter anderem

– »eine ernsthafte, individuelle Bedrohung des Lebens oder derUnversehrtheit einer Zivilperson in Folge willkürlicher Gewaltim Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen be-waffneten Konflikts«.

Gegen die deutsche Umsetzung wird eingewandt, dass zum Ei-nen die Sperrwirkung gerade in denjenigen Fällen, die Art. 15lit. c in den Schutzbereich einbezogen habe, nämlich willkür-liche Gewalt im Rahmen von Kriegen oder Bürgerkriegen, aus-geschlossen sei. Die Begründung des Gesetzentwurfs verweistdemgegenüber im Wesentlichen darauf, dass auch die Qualifika-tionsrichtlinie im Erwägungsgrund Nr. 26 für allgemeine Gefah-ren im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten Ausnahme-regelungen vorsehe. Im Erwägungsgrund Nr. 26 heißt es:

»Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe einesLandes allgemein ausgesetzt sind, stellen für sich genommen normaler-weise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zubeurteilen wäre.«

Daraus folge, dass unverändert Gefahren, von denen die Bevöl-kerung eines Landes oder Teile der Bevölkerung allgemein be-troffen seien, nicht einbezogen seien. Subsidiärer Schutz, derauf der Basis einer Einzelfallprüfung gewährt werde, sei nicht dasgeeignete Instrument zur Bewältigung eines Massenzustroms.Vielmehr seien hier nur gruppenspezifische Regelungen sinn-voll.36

Damit bestätigt auch die Neuregelung des § 60 die bisherigeRechtsprechung des BVerwG, wonach eine Berufung auf dasAbschiebungshindernis des § 60 VII AufenthG ausgeschlossenist, wenn es sich um eine solche Gefahrenlage handelt, der dieBevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländerallgemein ausgesetzt ist, und die Gegenstand einer Anordnungnach § 60 a I 1 AufenthG sein kann.37

Unverkennbar weicht der Wortlaut des § 60 VII AufenthG vondemjenigen der Qualifikationsrichtlinie ab. Der Begriff der »will-kürlichen Gewalt« taucht in Absatz 7 Satz 2 nicht auf. Ob darausaber geschlossen werden kann, dass willkürliche Gewalt, d.h.Gewalt, die im Prinzip jedermann treffen kann, ausreicht, ist frag-lich angesichts dessen, dass auch die Richtlinie eine »ernsthafteindividuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einerZivilperson« verlangt. Als ernsthafte individuelle Bedrohungkann aber eine Gefährdung, die im Rahmen von Kriegen oderBürgerkriegen im Prinzip jedermann droht, nicht qualifiziert wer-den. Hiergegen wird wiederum eingewendet, dass an den Indivi-dualisierungsgrad der Gefahr gerade wegen des Begriffs derwillkürlichen Gewalt geringere Anforderungen gestellt werdenmüssten. Willkür in der Gewaltanwendung mache eben einekonkrete Zielgerichtetheit schon definitionsgemäß unwahr-scheinlich, wenn nicht unmöglich.38 Typisch für die willkürliche

Gewalt sei, dass sie »jeden zu jeder Zeit und an jedem Ort« tref-fen könne, so dass die Bedrohung nicht oder kaum vorhersehbarsei. Das Gewaltszenario sei daher typischerweise allgemein undbetreffe die gesamte Zivilbevölkerung oder jedenfalls in be-stimmten Regionen alle dort lebenden Personen.39

Für eine solche Definition können zwar beachtliche Erwägun-gen im Hinblick auf die humanitäre Zielsetzung der Richtlinie,die vergleichende Wortlautinterpretation bei Zugrundelegungverschiedener Vertragssprachen und Parallelen mit den jeweili-gen Artikeln 3 der Genfer Rot-Kreuz-Konventionen von 1949 an-geführt werden, sofern man das Schwergewicht der Interpretationauf das Element der »Willkür« legt.40 Ob diese Erwägungen aller-dings hinreichen, dem spezifischen Kompromisscharakter derRegelung angemessen Rechnung zu tragen, ist zweifelhaft. Vielspricht dafür, dass mit Art. 15 I c bewusst eine offene Formulie-rung gewählt wurde, damit den Belangen aller MitgliedstaatenRechnung getragen werden kann, insbesondere aber auch derje-nigen Staaten, die sich klar dagegen ausgesprochen haben, inKriegs- und Bürgerkriegssituationen generell Anspruch auf sub-sidiären Schutz zu gewähren.

Richtig ist allerdings, dass der Erwägungsgrund Nr. 26 selbst kei-nen Eingang in die Formulierung von Art. 15 lit. c gefunden hatund dass er zwar zur Auslegung herangezogen werden kann, damit aber nicht der Inhalt der Richtlinienbestimmung selbst ausgehebelt werden darf.41 Da aber Art. 15 lit. c ebenfalls eineernsthafte individuelle Bedrohung verlangt, hat Erwägungsgrund Nr. 26 mindestens insoweit im Inhalt der RichtlinienbestimmungAusdruck gefunden, als Gefahren, die nicht die Schwelle derernsthaften individuellen Bedrohung überschreiten, keinen An-spruch auf Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels eröff-nen. Dementsprechend haben mehrere EU-Mitgliedstaaten dieRichtlinie dahingehend umgesetzt, dass eine qualifizierte Artder Gefährdung für einen Antragsteller verlangt wird und dass dieallgemeine Gefahr der Bevölkerung, Opfer von Gewalthandlun-gen zu werden, nicht ausreicht.42

Die Auslegung der Klausel muss daher dem offenen kompro-missartigen Charakter der Formulierung insgesamt, auch unterEinbeziehung des Erwägungsgrundes Rechnung tragen. Es reichtdaher nicht aus, wenn in einer Situation des bewaffneten Kon-flikts potentiell jeder Zivilist Opfer von Gewalthandlungen wer-den kann. Verlangt werden kann, dass besondere Merkmale ge-geben sind, die den Einzelnen als potentielles Opfer einer(willkürlichen) Gewalt kennzeichnen.43 Willkürlich ist die Ge-waltanwendung, wenn sie nicht in dem Sinne zielgerichtet ist,dass sie sich gegen eine individuell bestimmte Person aus einembestimmten Grund richtet, sondern in unvorhersehbarer und un-

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kontrollierbarer Weise Personen treffen kann, die aufgrund be-sonderer Merkmale einem erhöhten Gewaltrisiko ausgesetztsind.44

§ 60 VII 2 AufenthG ist ferner nur dann anwendbar, wenn derBetreffende als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer Gefahr»im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaff-neten Konflikts« ausgesetzt ist. Während die Frage, wer Ange-höriger der Zivilbevölkerung ist, bisher keinen Anlass für Kon-troversen gegeben hat,45 ist die Frage der Definition desbewaffneten Konflikts umstritten. Dabei ist zunächst klarzustel-len, dass im Gegensatz zu dem eher offenen Wortlaut von § 60VII AufenthG (»im Rahmen eines … Konflikts«) Art. 15 I cdeutlich macht, dass ein unmittelbarer Zusammenhang der Ge-fahr mit willkürlicher Gewaltanwendung vorliegen muss. Esreicht daher nicht aus, wenn Gefahren aus dem Zusammenbruchder Infrastruktur entstehen.46

Strittig ist, wann eine Situation politischer Instabilität, andau-ernder Unruhen mit ethnischen Konflikten und gewaltsamer Aus-einandersetzungen zum innerstaatlichen »bewaffneten Konflikt«wird. Der Hessische VGH ist der Auffassung, dass begrenzteBandenkriege nicht unter Art. 15 I c fallen, sondern dass nur Kon-flikte und kriegsgleiche Zustände ab einer bestimmten Größen-ordnung hinsichtlich Intensität und Dauer, wie etwa landesweiteBürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe in denAnwendungsbereich des subsidiären Schutzes fallen. Eine der-artige Bürgerkriegssituation ist sowohl für den Kongo47, wie auchfür den Irak abgelehnt worden.48 Entsprechend könne auch fürAfghanistan nicht von einer derzeitigen landesweiten Bedro-hung infolge willkürlicher Gewalt ausgegangen werden.49

Auch zwischen den EU-Mitgliedstaaten scheint keine Einigungüber die Kriterien eines bewaffneten Konflikts zu bestehen, wieam Fall des Irak gezeigt werden kann. Während in Frankreichdie Auffassung vorherrscht, im Irak herrsche eine Situation dau-ernder Gewaltanwendung als Folge eines Konflikts zwischen denirakischen Sicherheitskräften und den Koalitionsstreitkräfteneinerseits und bewaffneten Gruppen andererseits, die den Krite-rien des Art. 15 I c genügen, lehnen die schwedischen Gerichtedie Anwendung des Art. 15 I c ab, weil der Konflikt noch nichtüber einzelne gewaltsame Anschläge und Angriffe hinausgehe,ohne dass die Gewaltanwendung bisher den Charakter einer per-manenten Auseinandersetzung bürgerkriegsähnlicher Art erreichthabe.50 Der UNHCR schlägt aufgrund der Abwesenheit einerallgemein akzeptierten Definition des Begriffs bewaffneter Kon-flikt vor, darauf abzustellen, ob Personen ein ernsthaftes Risikoaufgrund von willkürlicher Gewalt tragen, da es letztlich ent-scheidend auf das Schutzbedürfnis ankomme und in diesem Kon-text auch der Begriff des internationalen oder innerstaatlichenbewaffneten Konflikts definiert werden müsse.51

Für die Auslegung des Begriffs innerstaatlicher bewaffneter Kon-flikt ist von wesentlicher Bedeutung die humanitäre Zielsetzungder Vorschrift, Schutz gegen willkürliche Gewaltanwendung zugeben. Man wird daher wohl nicht verlangen können, dass alleKriterien, die nach humanitärem Kriegsrecht für die Annahme ei-nes bewaffneten Konflikts gegeben sein müssen, erfüllt sind.Andererseits geht aber Art. 15 I c auch durch die Verwendungdes Begriffs »Angehöriger der Zivilbevölkerung« (»civilian«)davon aus, dass eine Situation der bewaffneten Konfrontation besteht, bei der Angehörige von Streitkräften gegeneinanderkriegsähnliche Handlungen vornehmen, bei deren Verlauf es zuwillkürlicher Gewaltanwendung gegen Unbeteiligte (Zivilbe-völkerung) kommt. Deshalb wird man verlangen müssen, dass

nicht nur Anschläge oder Gewaltakte drohen, sondern dass dieAuseinandersetzungen zumindest ein solches Stadium errei-chen, dass zwischen bewaffneten organisierten Einheiten be-waffnete Auseinandersetzungen in einer gewissen Intensität undDauerhaftigkeit stattfinden.

Was bleibt als Fazit für die Kompatibilität von § 60 VII 3 Auf-enthG mit Art. 15 I 1 c? Das Gemeinschaftsrecht kennt die in Satz 3 niedergelegte Sperrwirkung nicht. Reicht die schon bis-her aus verfassungsrechtlichen Erwägungen entwickelte Durch-brechung der Sperrwirkung im Fall der extremen Gefahr52 aus,um der Richtlinie nach Art. 15 I c Rechnung zu tragen? Hiervongeht das OVG Saarland im Fall Irak aus, mit der Argumentation,dass der Maßstab von Art. 15 systemgleich sei mit der bisheri-gen Rechtsprechung, indem die Gefahr jedes Rückkehrers, selbstvon einem Anschlag getroffen zu werden, mit einer Wahrschein-lichkeit von nur 0,37 Prozent gering sei.53 Die Unklarheiten re-sultieren aus dem Verweis in Satz 3 auf die Gefahren nach Satz2. Der Verweis kann nicht bedeuten, dass damit die allgemeinenGefahrenlagen gemeint sind, die unter Satz 2 fallen. Gemein-schaftsrechtskonform muss daher Satz 3 so ausgelegt werden,dass hier Gefahren gemeint sind, die im Rahmen eines interna-tionalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts entstehen,aber die Schwelle der ernsthaften und individuellen Gefahr nichterreichen. Ist die Bedrohung ernsthaft und individuell, so greiftdie Sperrwirkung des Satz 3 nicht ein. Von der Sperrwirkung er-fasst sind daher nur die Gefahren, denen die Bevölkerung »all-gemein ausgesetzt ist«.

Ausgeschlossen ist daher die Berufung auf das generelle Risikoder Zivilbevölkerung, in Konflikten wie sie im Irak oder Afgha-nistan bestehen, Opfer eines Anschlags zu werden. Andererseitskann meines Erachtens nicht verlangt werden, dass die Abschie-bung eine Person quasi sehenden Auges dem Tod oder schwer-sten Verletzungen der körperlichen Integrität preisgeben würde.Als Abgrenzungskriterium könnte danach einerseits herangezo-gen werden, ob die betroffene Zivilperson sich auf Grund vonAlter, Geschlecht, Beruf usw. in einer besonders exponiertenGefahrensituation befindet, quasi jederzeit Opfer willkürlicherGewalt zu werden, andererseits das Ausmaß des generellen Ver-lustes an Schutz für Zivilpersonen und insbesondere für diejeni-ge Gruppe von Zivilpersonen, welcher der/die Betroffene ange-hört. Eine Unausweichlichkeit der Gefahr für Leib oder Leben54

wird man danach nicht mehr verlangen können.55

(Der Beitrag wird in Heft 8/2008 fortgesetzt.)

44 Nach Auffassung von UNHCR widerspricht das Erfordernis der Zugehörig-keit zu einer besonderen Risikogruppe der Rechtsprechung des EGMR im FallSALAH Skeekh ./. Niederlande, Urteil v. 11.1.2007 Nr. 1948/04.

45 Vgl. auch UNHCR, Asylum in the European Union, 75.46 HessVGH v. 26.6.2007, 8 UZ 492/06; ebenso: Funke-Kaiser, o. Fn. 90 (94).47 Vgl. HessVGH v. 9.11.2006, 3 UE 3238/03.48 BayVGH v. 26.2.2007, 13 aB 06.31169.49 HessVGH v. 26.6.2007, NVwZ – RR 2008, 58; v. 7.2.2008, 2 E 2157/05.a.50 Vgl. UNHCR, Asylum in the European Union, 76.51 UNHCR, Asylum in the European Union, 78.52 Vgl. BVerwG 99, 324.53 So OVG Saarland v. 12.3.2007, 3 Q 114/06.54 Vgl. Anwendungshinweise BMI v. 13.10.2006, IV 2.5, 16.55 Vgl. VG Schleswig v. 30.11.2006, 6 A 372/05, AuAS 2007, 9; a.M. HessVGH

v. 9.11.2006, 3 UE 3238/03.A.

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