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DAS MAGAZIN FÜR SCHULE IN SACHSEN KLASSE 1/2016 Diskutieren Sie mit! Der Entwurf zum neuen Schulgesetz

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Das Gesetzgebungsverfahren für das neue sächsische Schulgesetz hat begonnen und damit die Gelegenheit für jeden, sich einzubringen und selbst am Gesetz mitzuarbeiten. Deshalb beschäftigt sich diese Ausgabe der KLASSE allein mit der Schulgesetznovelle. Zu finden sind neben den wesentlichen Änderungen auch Meinungen und Hintergründe zum Gesetzentwurf. Die Kultusministerin kommt dabei genauso zu Wort wie Schulpraktiker und Elternvertreter. Die KLASSE zeigt außerdem, wie sich jeder aktiv einbringen kann, sei es vor Ort oder online unter www.schulgesetz.sachsen.de.

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Page 1: Zeitschrift Klasse 2016/1

DAS M AGA ZI N FÜR SCH U LE I N SACHSEN

KLASSE

1/2016

Diskutieren Sie mit!Der Entwurf zum neuen Schulgesetz

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1 / 20162 KLASSE

IMPRESSUM Herausgeber: Sächsisches Staatsministerium für Kultus (SMK), Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Carolaplatz 1, 01097 Dresden | Redaktion: Manja Kelch (V. i. S. d. P. ), Telefon: (0351)564 25 16, E-Mail: [email protected], Twitter: www.twitter.com/bildung_sachsen; Nicole Kirchner, Peter Stawowy, stawowy media | Mitarbeit in dieser Ausgabe: Enrico Bach, Beate Diederichs, Sebastian Martin, Anja Niemke, Anikó Popella | Fotos: André Forner | Grafi kelemente: macrovector, Sentavio, Levente Janos (Fotolia) | Gestaltung: stawowy media | Aufl age: 40.000 Exemplare | Druck: SDV Direct World GmbH | Verteilerhinweis: Die Informationsschrift wird von der Sächsischen Staatsregierung im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlhelfern zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden.

I N F O G R A F I K

SÄCHSISCHES SCHULGESETZFASSUNG 2004

VERFASSEN EINES REFERENTENENTWURF

Das Sächsische Staatsministe-rium für Kultus (SMK) erarbeitet

einen Referentenentwurf, in dem die neuen gesetzlichen Bedingungen

berücksichtigt sind. Dazu fi nden im Vorfeld viele Gespräche und Diskussionen mit verschiede-nen Interessengruppen statt, die an die Novellierung des Sächsischen Schulgesetzes eine bestimmte Erwartung haben.

ERSTES ABSTIMMUNGS-VERFAHREN

Über ein mehrstufi ges Abstimmungs-verfahren wird der Referentenentwurfmit allen inhaltlich betroffenen Ministerienbearbeitet.

SÄCHSISCHES SCHULGESETZ, FASSUNG 2004

Die letzte Fassung des Sächsischen Schul-gesetzes ist zwölf Jahre alt. Seitdem haben sich einige rechtliche Rahmenbedingungen geändert. Zum Beispiel entspricht das aktuelle Sächsische Schulgesetz nicht der UN-Behindertenrechtskonvention, die Inklusion vorschreibt. Außerdem machen verschiedene Gerichtsurteile wie beispiels-weise die Lernmittelfreiheit eine Gesetzes-änderung notwendig. Die Novellierung ist zudem ein guter Grund, das Sächsische Schulgesetz auch inhaltlich weiter-zuentwickeln.

ÖFFENTLICHE ANHÖRUNG

Jetzt liegt der Gesetzentwurf öffentlich aus und wird bestimmten Gremien und Entschei-

dungsträgern (z. B. Landesbildungsrat, LandesElternRat, LandesSchülerRat,

Landkreistag, Sächsischer Städte- und Gemeindetag) zugesandt. Bis

zum 7. März 2016 besteht die Möglichkeit, in der Anhörungs-

phase zum Gesetzentwurf Stellung zu nehmen.

AUSWERTUNG DER ANHÖRUNG

Nach der Anhörungsphase werden alle Stellungnahmen vom SMK ausgewertet.Daraus resultierende Änderungenkönnen im Gesetzentwurf auf-genommen werden.

ZWEITES ABSTIMMUNGS-VERFAHREN

Der geänderte Gesetzentwurf wird erneut in einem mehrstufi gen Verfahren regierungsintern mit allen inhaltlich betroffenen Ministerien abgestimmt.

ÜBERGABE ANDEN LANDTAGS-PRÄSIDENTEN

ARBEIT IN AUSSCHÜSSEN UND ARBEITSKREISEN

ENTSCHEIDUNG DESGESETZES IM PLENUM1

Vom ersten Referentenentwurf bis zum neuen Sächsischen Schulgesetz ist es ein langer Weg. Es wirken nicht nur das Sächsische Kultusministerium, die Regierung und Politiker mit, sondern auch viele Verbände und Vereine, die im Bildungsbereich in Sachsen arbeiten.

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ERSTE KABINETTSBEFASSUNG

Der fertige Referentenentwurf wird dem Kabinett zu einer 1. Kabinettsbefassung vorgelegt. Das Kabinett besteht aus dem Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich und seinen zehn Staatsministern, darunter auch Brunhild Kurth, Staatsministerin für Kultus. Dort wird der Entwurf besprochen und diskutiert. Besteht Einigkeit über den Ent-wurf, wird er zur Anhörung freigegeben.

ZWEITE KABI-NETTSBEFASSUNG

Der Gesetzentwurf wird dem Kabinett zu einer 2. Befassung

vorgelegt. Bei Einigkeit wird die Übergabe an den Sächsi-

schen Landtag beschlossen.

Unter anderem werden Schulträger, LandesElternRat, LandesSchülerRat, der Sächsische Städte- und Gemein-detag und verschiedene Verbände aus der Wirtschaft beim Referenten-entwurf einbezogen.

Gremien wie beispielswei-se der Landesbildungsrat, der LandesSchülerRat und der Sächsische Städte- und Gemeindetag nehmen zum Gesetzentwurf Stellung. Außerdem gibt es Bürger-werkstätten und ein Online-Beteiligungsverfahren.

ARBEIT IN 10

IN 14 SCHRITTEN ZUM NEUEN SCHULGESETZ

Der beschlossene Gesetzentwurf wird nun beim Sächsischen Land-tagspräsidenten Dr. Matthias Rößler eingereicht und somit dem Landtag als Gesetzgeber übergeben. Der

befasst sich nun mitdem Entwurf, was auch bedeutet, dass dieser im Gesetz-gebungsverfahren noch einmal geän-dert werden kann.

Nach der abschließenden Diskussion im Landtag wird über den Gesetzentwurf abge-stimmt, ggf. auch über jeden einzelnen Änderungsantrag der verschiedenen Parteien.Findet ein solcher eine ein-fache Mehrheit, wird diese Änderung im Gesetz aufge-nommen.Nach der Schlussabstimmung wird das Gesetz vom Landtag

beschlossen.

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Liebe Leserinnen und Leser,

der Entwurf für das neue Schulgesetz steht. Nach über zehn Jahren war es an der Zeit, dass Sachsen das Gesetz an aktuelle Anforderun-gen anpasst. Eine der größten Veränderungen wird dabei wohl die Abschaffung der Förderschulpfl icht sein. Insgesamt sollen die Schu-len mehr personelle und fi nanzielle Freiräume erhalten. Bisher ist das aber alles nur ein Entwurf. Das Gesetzgebungsverfahren hat eben erst begonnen. Genau das ist die Chance für jeden Einzelnen, sich einzubringen und selbst am Gesetz mitzuarbeiten. Deshalb beschäf-tigt sich diese Ausgabe der KLASSE allein mit der Schulgesetznovelle. Wir wollen das Entstehen des neuen Schulgesetzes intensiv begleiten und in der KLASSE schon jetzt Meinungen und Hintergründe dazu bringen. Wir lassen die Kultusministerin genauso zu Wort kommen wie Schulpraktiker und Elternvertreter.

Sich über den Gesetzentwurf zu informieren, ist das eine. Wir wol-len aber mehr: Wir wollen, dass sich jeder wirklich aktiv einbringen kann. Dafür laufen momentan überall in Sachsen die Bürgerforen mit Kultusministerin Brunhild Kurth und Bildungsexperten aus dem Kultusministerium. Wer dafür keine Zeit hat, kann sich online auf dem Bildungsserver unter www.schulgesetz.sachsen.de zu Wort mel-den. Auch hier gibt es die Möglichkeit für Kritik, Meinungen und Vorschläge. Wir werden genau zuhören, die Hinweise auswerten und den Gesetzentwurf ändern, wenn die Stellungnahmen überzeu-gen. Diese Chance, am Schulgesetz mitzuwirken, ist einzigartig. Wir hoffen, dass viele sie nutzen werden.

Viel Spaß beim Lesen wünscht die KLASSE-Redaktion

Inhalt Interview – Seite 4/5Keine Schulschließungen mehr – im Gespräch mit Brunhild Kurth zum Schulgesetzentwurf

Inklusion – Seite 6/7Der Traum von der Oberschule: Eltern von Kindern mit Handi-cap kämpfen für eine inklusive Beschulung

Schule im ländlichen Raum – Seite 8/9Burkhard Müller, Präsident des Statistischen Landesamtes, kennt die Zukunftsprognosen für den ländlichen Raum

Eigenverantwortung für Schulen – Seite 10/11Zwei Schulleiter erzählen über Freiräume und Grenzen des Sächsischen Schulgesetzes

Werkstattgespräch – Seite 12-15Im Gespräch mit LandesElternRat, LandesSchülerRat, Schule und Gewerkschaft zum neuen Schulgesetz

Beteiligung – Seite 16Infografi k: Hier kann man Schule in Sachsen mitgestalten

I N F O G R A F I K /E D I T O R I A L / I N H A LT

Sie können KLASSE kostenlos abonnieren. Dazu genügt eine E-Mail mit Angabe Ihrer Adresse an [email protected]. Ansprechpartner für Ihre Hinweise, Meinungen und Themenvorschläge für die kommenden Ausgaben der KLASSE ist das Referat Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Carolaplatz 1, 01097 Dresden; Telefon: (0351) 564 25 16; E-Mail: [email protected] (kein Zugang für elektronisch signierte sowie für verschlüsselte Dokumente).

ÜBERGABE ANDEN LANDTAGS-PRÄSIDENTEN

ARBEIT IN AUSSCHÜSSEN UND ARBEITSKREISEN

ENTSCHEIDUNG DESGESETZES IM PLENUM

UNTER-SCHRIFT

Das Sächsische Schulgesetz wird vom Sächsischen Ministerpräsidenten und der Kultusministeringegengezeichnet.

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SÄCHSISCHES SCHULGESETZFASSUNG 201614

SÄCHSISCHES SCHULGESETZ, FASSUNG 2016

Das neue Sächsische Schulgesetz wird verkündet und ist damit gültig.

Erneut kommen externe Mei-nungen zu Wort: So werden Wissenschaftler und Vertreter verschiedener Verbände (z.B. LandesElternRat, Vereine) als Experten eingeladen und be-fragt.

AUSFERTIGUNG

Das Gesetz wird durch den Land-

tagspräsidenten ausgefertigt.

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ARBEIT IN 109

DauerVom ersten Referentenentwurf bis zum fertigen Schulgesetz vergehen mehr als eineinhalb Jahre. Voraussichtlich im Dezember 2016 wird das neue Schulgesetz beschlossen.

IN 14 SCHRITTEN ZUM NEUEN SCHULGESETZ

Der beschlossene Gesetzentwurf wird nun beim Sächsischen Land-tagspräsidenten Dr. Matthias Rößler eingereicht und somit dem Landtag als Gesetzgeber übergeben. Der

befasst sich nun mitdem Entwurf, was auch bedeutet, dass dieser im Gesetz-gebungsverfahren noch einmal geän-dert werden kann.

Um sich eine umfas-sende Meinung zum Gesetzentwurf bilden zu können, laden die Abgeordneten externe Berater (z. B. Landes-ElternRat, Landes-SchülerRat, Schul-träger, Verbände) zu Ausschuss- und Arbeitskreis-Sitzungen ein, hören deren Ein-schätzungen und stel-len dazu Rückfragen.

Nach der abschließenden Diskussion im Landtag wird über den Gesetzentwurf abge-stimmt, ggf. auch über jeden einzelnen Änderungsantrag der verschiedenen Parteien.Findet ein solcher eine ein-fache Mehrheit, wird diese Änderung im Gesetz aufge-nommen.Nach der Schlussabstimmung wird das Gesetz vom Landtag

beschlossen.

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I N T E R V I E W

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»Es soll keine Schulschließungen mehr geben«Brunhild Kurth, Sachsens Kultusministerin, stärkt im Gesetzentwurf Schulen im ländlichen Raum, das inklusive

Schulsystem und die Eigenverantwortung für Schulen in Sachsen.

INTERVIEW: NICOLE KIRCHNER & ANIKÓ POPELLA, KLASSE-REDAKTION • FOTO: ANDRÉ FORNER

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1 / 2016 5KLASSE

AU S L E H R E R S I C H TI N T E R V I E W

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E Warum braucht Sachsen ein neues Schulgesetz?

Unser Schulgesetz ist zuletzt im Jahr 2004 geändert worden. Es gilt also ungewöhnlich lang, wenn man in andere Bundesländer schaut. In der Zwischenzeit haben wir aber ein paar Hausauf-gaben auferlegt bekommen: Es gibt zum Beispiel Gerichtsurteile, die umzusetzen sind. Gleichzeitig müssen wir unser Schulsystem weiterentwickeln, um es für die Zukunft zu rüsten. Wir haben das Gesetz aber nicht grundlegend überarbeitet, weil die Grundposi-tion – unser gegliedertes Schulsystem im Freistaat Sachsen – ein Erfolgsmodell ist.

E Was sind die wichtigsten Änderungen, die Sie vorgenommen haben?

Wenn wir uns die Bevölkerungszahlen in Sachsen anschauen, so werden wir in den nächsten Jahren einen Schülerzahlzuwachs haben, der sich aber vordergründig auf die großen Städte konzen-trieren wird. Im ländlichen Raum hingegen gehen die Schülerzah-len um bis zu zehn Prozent zurück. Trotzdem möchten wir un-ser Schulnetz stabil halten. Es soll keine Schulschließungen mehr geben.

Deshalb haben wir für die Grundschulen im ländlichen Raum noch einmal Ausnahmen formuliert: Zum Beispiel kann eine Klassevorübergehend auch mal weniger als 15 Schüler stark sein, wenn eine Grundschule insgesamt 60 Schüler aufweist. Wir wollenden Grundschulen sagen, dass auch jahrgangsübergreifender Unterricht zum Erhalt des Standortes beiträgt. Unsere Oberschu-len im ländlichen Raum können auch einzügig geführt werden. Das war bisher nicht möglich. Die Klasse braucht dazu eine Schü-lerzahl von 25 Schülern.

Das Thema Inklusion ist ebenfalls sehr wichtig. Es gilt, die UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 24 umzusetzen. Mit dem Gesetzentwurf ist nun auch die lernzieldifferente Unterrichtung an Oberschulen möglich.

E Welche Konzepte gibt es, um den Übergang gut zu regeln?

Wir werden in den nächsten Jahren schrittweise dafür sorgen, dass es für diese Schülerinnen und Schüler eine Oberschule in zumutbarer Entfernung geben wird, die lernzieldifferent beschu-len kann. Wir möchten dabei die Lehrerkollegen, die Schulträ-ger und natürlich auch die Eltern und alle Personen, die an der Schulgemeinschaft beteiligt sind, mitnehmen. Das Ganze ist natür-lich nicht zum Nulltarif zu haben. Wir haben dafür 300 Lehrer-stellen in der Endausbauphase unserer »Inklusion im Freistaat Sachsen«zusätzlich vorgenommen. Diese 300 Lehrerstellen haben wir auch bereits mit dem Finanzministerium intensiv besprochen und in der mittelfristigen Planung verankert.

E In der Vergangenheit gab es Kritik am Schulgesetz, dass es so

starr ist, was Handlungsfreiheit betrifft. Verbessert sich durch die Novellierung auch die Mitgestaltung am Schulalltag?

Wir haben sogar einen eigenen Paragrafen zur Eigenverantwor-tung der Schulen im Schulgesetzentwurf verankert. Das liegt mir persönlich besonders am Herzen. Schulen haben jetzt die Chan-ce, sich auf den Weg zu machen, sich ein individuelles Gesicht zu geben, einen bestimmten Charakter nach außen zu tragen und Schwerpunkte zu setzen.

Schulen, die das wünschen, können auch eine budgetierte Leh-rerzuweisung bekommen. Das heißt, dass die Klassenbildung, die Gruppenbildung und die Kursbildung, die bisher maßgeblich durch die Bildungsagentur vorgenommen wurden, künftig von den Schulleitungen eigenverantwortlich mit einem Lehrerbudget gestaltet werden können. Auch kann der Schulleiter vom Schul-träger dazu ermächtigt werden, eigenständig Rechtsgeschäfte abzuschließen.

E Bisher liegt in allen Bereichen ein großer Teil der Verantwortung und Belastung bei den Lehrern. Wie wird in Zukunft gewährleistet, dass die Lehrer eine reale Unterstützung erfahren?

Wir haben in der Schulgesetznovellierung großen Wert darauf gelegt, dass wir unsere sächsischen Schulen zukunftsfest machen. Die Gesellschaft ist immer von Veränderungsprozessen geprägt. Auch Schulen müssen sich verändern. Wir haben uns auch des-halb auferlegt, im Zuge der Umsetzung des Schulgesetzes 2017/18 den Lehrern begleitende Fortbildungen anzubieten. Die Bildungs-agentur und das Bildungsinstitut sollen dabei mit Rat und Tat zur Verfügung stehen, um schulinhaltliche Prozesse zu begleiten.

E Sie laden zu neun Bürgerforen in den Regionen, um den Gesetz-entwurf zu diskutieren. Was erhoffen Sie sich davon?

Ich wünsche mir eine breite Beteiligung. Der Gesetzentwurf liegt vor, und jetzt geht es darum, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihre Meinung dazu äußern. Dass sie auch, wenn ein Änderungsbedarf gesehen wird, ihre Wünsche vortragen. Ich werde sehr genau zuhö-ren und die Änderungsvorschläge werden in unserem Haus auch analysiert. Dort, wo überzeugender Änderungsbedarf vorgebracht wird, wird es auch Änderungen geben.

Einen besonderen Wunsch habe ich im Zuge dieser Diskussions-phase: Ich sehe in dem vorliegenden Prozess eine hervorragen-de Gelegenheit für unsere Lehrerinnen und Lehrer, mit unseren Schülerinnen und Schülern das Schulgesetz zu diskutieren und ein Gesetzgebungsverfahren einmal aus der Lebenswirklichkeit des Freistaats Sachsen in die Klassenzimmer zu bringen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es da verschiedene Ansichten gibt und dass auch das Thema Politikverdrossenheit einmal angesprochen werden kann. Ich bin auch gern bereit, solange es mein Terminka-lender hergibt, da in intensive Gespräche an die Schulen zu gehen.

»WIR MÜSSEN UNSER SCHULSYSTEM WEITERENTWICKELN,

UM ES FÜR DIE ZUKUNFT ZU RÜSTEN.« BRUNHILD KURTH, SÄCHSISCHE KULTUSMINISTERIN

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Georg Schmalfuß-Weber musste erst einmal schlucken, als ihm bewusst wurde, was Förderschule für seinen Sohn bedeu-tet. Dass Felix in der vierten Klasse keine Bildungsempfehlung erhalten wird. Dass ihm vielleicht einige Chancen im Leben ver-sperrt bleiben werden. »Ein Kind in diesem Alter darf doch noch nicht abgeschrieben sein«, sagt der Vater aus Radebeul. Felix ist elf Jahre alt. Er interessiert sich für Computer, Naturwissenschaf-ten und Dinos. Aber bei Felix wurde frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Dabei handelt es sich um eine tief greifende Ent-wicklungsstörung, die sich vor allem im Sozialverhalten, in der Wahrnehmung und der Kommunikation äußert.

Mit elf Jahren ist Felix quasi noch Analphabet, sagt sein Vater. Ihm wurde sonderpädagogischer Förderbedarf im Lernen be-scheinigt. Der Junge besucht daher verpflichtend eine Schule zur

Lernförderung. »Er ist dort in vielen Bereichen unterfordert, weil die geistigen Voraussetzungen ja da sind«, sagt Georg Schmalfuß-Weber. Georg Schmalfuß-Weber engagiert sich deswegen auch im Verein Autkids, der Eltern von Kindern mit Entwicklungsstörun-gen vernetzen will. »An einer Förderschule würde er gar nicht die Bildung erhalten, zu der er fähig ist.«

An der Oberschule in Kötzschenbroda wäre das anders. Dort wür-de man seinen Sohn durch lernzieldifferente Angebote integrieren, bis es eines Tages vielleicht gar keine Unterschiede zwischen ihm und seinen Klassenkameraden gibt. Die Oberschule nimmt am Schulversuch ERINA teil. Das Projekt des Kultusministeriums (SMK) soll helfen, die von der Bundesregierung unterschriebene UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Denn mit der Ra-tifizierung muss auch Sachsen ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen gewährleisten. Das heißt: Schüler mit sonderpäda-gogischem Förderbedarf sollen von der Kindertagesstätte bis zum Beruf einen gleichberechtigten Zugang zu Schulen haben. Genau das ist bislang aber nicht immer der Fall.

Zwar können schon bisher Kinder mit Handicaps im Lernen pro-blemlos an Grundschulen integriert werden sowie Mädchen und Jungen mit den Förderschwerpunkten Sehen, Hören, körperliche und motorische bzw. emotionale und soziale Entwicklung oder Sprache auch an einer Oberschule bzw. an einem Gymnasium ler-nen. Doch spätestens ab der fünften Klasse müssen Schüler mit Förderschwerpunkt Lernen oder geistige Entwicklung eine auf sie spezialisierte Bildungseinrichtung besuchen.

Mit dem neuen Schulgesetz soll diese Förderschulpflicht nun abge-schafft werden. An den Regelschulen müssten dafür Voraussetzun-gen geschaffen werden, damit sie dem individuellen Förderbedarf gerecht werden können, heißt es aus dem Kultusministerium. Dies werde nicht von heute auf morgen gehen und auch nicht überall möglich sein. »Unser Auftrag ist in den nächsten Jahren, schritt-weise dafür zu sorgen, dass es in zumutbarer Entfernung eine Re-gelschule geben wird, die die Voraussetzungen zur lernzieldifferen-ten Unterrichtung erfüllt«, sagt Dr. Antje Thiersch, verantwortliche Referatsleiterin für Inklusion im SMK. Voraussetzung sei zudem, dass eine angemessene Förderung aller Kinder in der Regelschule gewährleistet werde. »Wir schaffen die Förderschulen nicht ab, sondern wir erhöhen die Zahl und die Wahl der Förderorte, indem wir den lernzieldifferenten Unterricht an Oberschulen ermögli-chen.«

Derzeit wartet Felix‘ Vater auf den Bescheid, ob der beantragte Wechsel genehmigt wird. »Die ganzen Anträge und das Prozedere sind eine Tortur«, sagt Schmalfuß-Weber. Er wünscht sich von den Behörden mehr Flexibilität. Neben den geistigen Voraussetzungen kann er auch andere Argumente nennen, warum die Oberschule Kötzschenbroda ideal für seinen Sohn wäre. 800 Meter liegt sie von der elterlichen Wohnung entfernt. Bei einem positiven Be-scheid wäre Felix nicht mehr auf die Schülerbeförderung angewie-sen und das soziale Umfeld würde sich verbessern.

Der Sohn von Rica und Mike Funke lernt bereits an der Ober-schule Kötzschenbroda. Auch bei ihm wurde der Förderschwer-punkt Lernen vermerkt. Und wie Felix war Vincent-Louis an der Förderschule unterfordert. Er langweilte sich und begann zu ma-len. Es folgte Desinteresse am Unterricht – und eine Hauruckakti-on der Eltern. Als sie vom Schulversuch ERINA hörten, setzten sie sich für einen Wechsel ein. Mit Erfolg. »Heute ist er motivierter und hat mehr Spaß am Unterricht«, sagt Rica Funke über ihren Sohn. Nach den ersten sechs Monaten ist der Zwölfjährige etwa in Mathe fast auf dem gleichen Level wie seine Mitschüler in der fünften Klasse.

Vincent-Louis träumt davon, eines Tages Musik zu studieren. Sei-ne Eltern, Rica und Mike Funke, freuen sich über die Motivation. Sie wirken unterstützend, jedoch ohne Druck. Eins ist ihnen aber bewusst: Für ihren Sohn erhöht die inklusive Unterrichtung die Chance auf einen akademischen Bildungsweg.

Gleiche Chancen für alleMit dem neuen Schulgesetz wird die Förderschulpflicht für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem För-

derbedarf abgeschafft. Damit setzt die Landesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention nun auch rechtlich um.

TEXT: SEBASTIAN MARTIN, KLASSE-REDAKTION • FOTO: ANDRÉ FORNER

I N K L U S I O N

»FELIX WÜRDE AN EINER FÖRDERSCHULE GAR NICHT DIE

BILDUNG ERHALTEN, ZU DER ER FÄHIG IST.« GEORG SCHMALFUSS-WEBER

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AU S L E H R E R S I C H TI N K L U S I O N

Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf mussten bislang überwiegend die Förder-schule besuchen. Diese Förderschulpfl icht wird mit der Gesetzesnovelle abgeschafft. Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf erhalten fortan das Recht, gemeinsam mit ihren Eltern zu entscheiden, ob sie an einer Regelschule oder an einer Förderschule lernen. Damit

wird auch das Recht der Eltern bei der Wahl des Bildungsortes ihres Kindes gestärkt. Voraussetzung für eine gelingende Inklusion bleibt jedoch, dass die Schulen die räumlichen, sächlichen und personellen Rah-menbedingungen zur sonderpädagogischen Förderung dieser Schüler erfüllen.

Zudem sieht der Gesetzentwurf die Option eines lernzieldifferenten Unterrichts an Oberschulen vor. Damit soll es an ausgewählten Oberschulen möglich werden, Schüler mit sonderpädagogischem Förder-bedarf in den Schwerpunkten Lernen und geistige Entwicklung nach besonderen Lehrplänen zu unterrich-ten – gemeinsam mit Schülern ohne Behinderung, die nach den Lehrplänen der Oberschule lernen.

Das steht im Gesetzentwurf zum Thema Inklusion§

Rica und Mike Funke haben dafür gekämpft, dass ihr Sohn Vincent-Louis trotz seines Handi-caps die Oberschule besuchen kann. Georg Schmalfuß-Weber (links) wartet noch auf den positi-ven Bescheid: Sein Sohn Felix möchte ab der 5. Klasse an einer Oberschule lernen.

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Die Stätten der eigenen Kindheit hat die Ab-rissbirne zerschlagen. Ganze Straßenzüge mussten ihr in Weißwasser-Süd weichen. Mehr als die Hälfte der einst 37.000 Einwohner hat die Stadt in den vergangenen 25 Jahren verloren. Und der Tiefpunkt ist wie anderswo in Sachsen längst nicht erreicht.

Weißwasser sei ein Paradebeispiel für den demogra-fischen Wandel, sagt Burkhard Müller. Der Präsident des Statistischen Landesamtes sitzt in seinem Kamenzer Büro. Auf seinem Schreibtisch stapelt sich die Arbeit. Demnächst wird er die sechste regionalisierte Bevölke-rungsprognose für Sachsen vorlegen. In die fließt neben den kommunalen Meldedaten erstmals auch der Zensus von 2011 ein. Die wichtigste Erkenntnis: »Der Bevölke-rungsrückgang wird weitergehen, allerdings etwas lang-samer als bisher. Und er wird vor allem den ländlichen Raum treffen.«

Dass das Statistische Landesamt in seinem jüngsten Jahrbuch erstmals seit der Wiedervereinigung eine stei-gende Einwohnerzahl verkünden konnte, ändert nichts an der Prognose. Exakt 4.055.274 Menschen lebten Ende 2014 zwischen Görlitz und Plauen – 0,2 Prozent

mehr als im Vorjahr. Für den Anstieg habe vor allem ge-sorgt, dass zuletzt über 23.000 Menschen mehr in den Freistaat zogen als ihn verlassen haben, erklärt Sachsens oberster Datensammler. Ein weiterer Grund: das aktuel-le Geburtenhoch. Mit durchschnittlich 1,57 Kindern pro Mutter sei Sachsen zwar bundesweit spitze. Statistisch seien aber 2,1 nötig, um alle Sterbefälle auszugleichen, sagt Burkhard Müller. Außerdem werde es in den nächs-ten Jahren weniger potenzielle Mütter geben. Denn dann machen sich die geburtenschwachen Jahrgänge aus der Nachwendezeit bemerkbar.

Der Chef des Statistischen Landesamtes verweist zu-dem auf die regionalen Unterschiede. Denn vom Bevöl-kerungswachstum profitieren nur die Ballungszentren. Der ländliche Raum verliert dagegen weiter an Einwoh-nern. Vor allem junge Frauen ziehe es in die sächsischen Metropolen, sagt Müller. Die Folge: In mehr als der

Hälfte der Städte und Gemeinden herrscht ein deutlicher Männerüberschuss in der Altersgruppe zwischen 18 und 30 Jahren. Das wird die Geburtenzahlen dort künftig weiter sinken und die Bevölkerung zusätzlich altern las-sen. Schon heute liegen Welten zwischen dem ländlichen Raum und den Ballungszentren.

Die sechste regionalisierte Bevölkerungsprognose für Sachsen wird zwar die Entwicklung nicht verändern, aber viele wieder aufhorchen lassen. Auch die Bildungs-politiker. Denn der demografische Wandel führt in schrumpfenden Regionen nicht nur zu leer stehenden Wohnungen, er gefährdet auch viele Schulstandorte. Das Kultusministerium schätzt ihre Zahl vorsichtig auf etwa 100. Demnach werden die Schülerzahlen im länd-lichen Raum bis zum Jahr 2030 teilweise um 10 Prozent sinken, während sie in den boomenden Ballungsräumen weiterhin ansteigen werden. Inwiefern der Zuzug von Schutzsuchenden die Prognosen für schrumpfende Regi-onen beeinflussen wird, bleibt abzuwarten.

Die sächsische Landesregierung will jedoch verhindern, dass weitere Schulstandorte geschlossen werden. Des-halb hat sie vor mehr als zwei Jahren einen Bestands-

schutz für gefährdete Grund- und Oberschulen verkün-det. Um Schulschließungen zu vermeiden, sieht nun auch der Gesetzentwurf neue Ausnahmen für Grund- und Oberschulen vor.

Burkhard Müller, Sachsens oberster Datensammler, will die geplante Änderung des Schulgesetzes nicht kom-mentieren. Das Statistische Landesamt verstehe sich als unabhängige Einrichtung, deren Aufgabe nur das Zählen sei, sagt er. Dabei fiel den Datensammlern auf, dass sich die Schullandschaft in den vergangenen 20 Jahren we-sentlich verändert hat. Lernten 1993/94 in Sachsen noch 628.000 Schüler, waren es 2014/15 nur noch 344.000. Gleichzeitig sank die Zahl der allgemeinbildenden Schu-len von 2.304 auf 1.477. Besonders stark fiel der Rück-gang bei den heutigen Oberschulen aus. Das spürt man auch in Weißwasser. Nur eine Oberschule gibt es heute noch in der Stadt. An den anderen ehemaligen Standor-ten wachsen heute Wiesen und Bäume.

Die Schule im Dorf lassenDie schrumpfende Bevölkerung im ländlichen Raum fordert die Politik heraus. Mit einer

Gesetzesänderung soll die Existenz von rund 100 Schulstandorten gesichert werden.

TEXT: SEBASTIAN MARTIN, KLASSE-REDAKTION • FOTO: ANDRÉ FORNER

S C H U L E I M L Ä N D L I C H E N R AU M

»DER BEVÖLKERUNGSRÜCKGANG WIRD WEITER-

GEHEN, ALLERDINGS ETWAS LANGSAMER ALS

BISHER.« BURKHARD MÜLLER, PRÄSIDENT DES STATISTISCHEN LANDESAMTES

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AU S L E H R E R S I C H TS C H U L E I M L Ä N D L I C H E N R AU M

Kleine Grundschulen im ländlichen Raum außerhalb von Mittel- und Oberzentren werden nicht geschlossen, wenn sie jahrgangsübergreifend unterrichten. Dann wird die Mindest-schülerzahl von 15 Schülern über zwei Klassenstufen gerechnet. Der Gesetzentwurf sieht

noch eine weitere Ausnahme vor: Grundschulen, die vorübergehend die gesetzlich vorgeschriebene Min-destschülerzahl von 15 Schülern pro Klasse unterschreiten, können dennoch eine Klasse einrichten, wenn die Gesamtschülerzahl für die Grundschule mindestens 60 beträgt. Einzelne Klassenstufen müssen dann mindestens 12 Schüler haben.

Neu ist zudem, dass Oberschulen im ländlichen Raum außerhalb von Mittel- und Oberzentren künftig auch einzügig mit einer Mindestschülerzahl von 25 Schülern pro Klasse zugelassen werden. Innerhalb der Mittel- und Oberzentren sowie im Verdichtungsraum nach Landesentwicklungsplan müssen Oberschulen wie gehabt zweizügig sein, also mindestens 40 Schüler pro Klassenstufe haben.

Das steht im Gesetzentwurf zum Thema Schulen im ländlichen Raum§

Burkhard Müller, Präsident des Statistischen Landesamtes Sachsen, kennt die Zahlen und die daraus resultierenden Zukunftsprognosen für den ländlichen Raum: Trotz steigender Geburtenzahl verlieren die ländlichen Gegenden in Sachsen weiter an Einwohnern.

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»Klein und persönlich«, sagt Alexandra Baumgärtel über ihre Grundschule Liegau-Augustusbad mit 84 Schülern und fünf Lehrerinnen. »Groß, von Teamarbeit geprägt, mit heterogener Schü-lerschaft«, so charakterisiert Thomas Grahle seine Grundschule Radeberg-Süd mit 220 Schülern und 16 Lehrern, außer ihm selbst alles Lehrerinnen. Zwei völlig unterschiedliche Einrichtungen also in Sachen Größe, Einzugsgebiet und Heterogenität der Schüler-schaft – dennoch müssen sich Alexandra Baumgärtel (35) und Thomas Grahle (38) als Schulleiter derselben Aufgabe stellen: Ihre Arbeit muss sich in den Grenzen des Sächsischen Schulgesetzes bewegen, kann aber auch die Freiräume nutzen, die dieses lässt.

»Bevor ich einen der Spielräume nutze, stelle ich mir als Erstes die Frage: Bringt es meinen Schülern und meinen Kollegen etwas?«, sagt Thomas Grahle. Er weiß, dass ein individuelles Profil einer Schule etwas Besonderes gibt, rät aber auch zum Augenmaß: »Die Grenze der Individualität ist für mich dort erreicht, wo Schüler, die an eine andere Einrichtung wechseln, Probleme bekommen.« Das kann zum Beispiel passieren, wenn eine Schule viel Zeit und Mühe in Projekte abseits des Pflichtstoffs investiert, dafür aber Grundlagen vernachlässigt, die an anderen Schulen vorausgesetzt werden.

Beim Thema Personal sind die Vorgaben strikt: Thomas Grahle und andere Schulleiter dürfen selbst keine neuen Lehrer einstellen, nur Einstellungen vorschlagen, wenn sie jemanden für geeignet halten. Deshalb konzentriert sich Grahle auf die Förderung des Personals, das er hat. Er hat mit dem Kollegium ein Fortbildungs-programm erarbeitet und führt regelmäßig Mitarbeitergespräche. Verbesserungspotenzial sieht er beim Vertretungslehrer-Pool: »Dieses Prozedere ist langwierig. Es wäre wünschenswert, dass

jeder Schulleiter ein Budget bekommt, um Vertretungslehrer flexi-bel selbst einsetzen zu können.«

Der Ausfall von Kolleginnen ist auch an Alexandra Baumgärtels kleiner Schule ein großes Thema. »Wenn auch nur eine Kollegin fehlt, muss meine Schulleitertätigkeit zurückstehen und ich muss mehr unterrichten«, sagt die Mathe- und Kunstlehrerin. »Fehlen mehr, muss eine Lehrkraft zwei Klassen gleichzeitig betreuen. Den

Lehrplan müssen wir trotzdem einhalten.« Deshalb hätte sie gerne einen Zweitlehrer oder Sozialbegleiter zur Verfügung.

Allerdings stößt die Gesetzgebung beim Thema Personalmangel an ihre Grenzen. Denn auch das neue Schulgesetz kann nur gesetz-liche Rahmenbedingungen schaffen, das Personalproblem lösen kann es nicht. Immerhin: Laut Gesetzentwurf darf künftig jeder Schulleiter selbst darüber entscheiden, wie er die Lehrer, die von der Sächsischen Bildungsagentur zur Verfügung gestellt werden, für die Klassen und Kurse einsetzt.

Alexandra Baumgärtel arrangiert sich mit den formellen Beschrän-kungen und schätzt gleichzeitig die Freiräume, die das Schulge-setz ihr lässt: Die Klassenleiterinnen der ersten Klassen können die Leselernmethode selbst wählen. Welche Lehrbücher die Schule einsetzen will, entscheidet ebenfalls das Kollegium – anhand eines Kriterienkatalogs, den alle Radeberger Grundschulen gemeinsam entwickelt haben. So ist das Schulgesetz für Alexandra Baumgär-tel bisweilen sogar eine Argumentationshilfe: »Damit kann ich El-tern darauf hinweisen, dass die Lehrer Methodenfreiheit haben.«

Auch gegenüber dem Kollegium sorgt die schulische Eigenver-antwortung für Gestaltungsfreiheit: »Ich würde ihre Kreativität einschränken und das gegenseitige Vertrauen zerstören, wenn ich den Lehrerinnen zu enge Grenzen setzen würde«, meint Alexan-dra Baumgärtel. Ihre Kolleginnen entscheiden selbst, ob sie per Wochenplan, Freiarbeit oder Frontalunterricht unterrichten, und wie sie das Klassenzimmer gestalten. »Das Kollegium kennt die Grundregeln und ich führe, ohne unnötig zu kontrollieren. Das macht für mich Flexibilität aus«, ergänzt Thomas Grahle. Den Stundenplan stellt an der Grundschule Radeberg-Süd eigenver-

antwortlich seine Stellvertreterin Bärbel Müller zusammen. Sie bespricht auch mit den Kollegen, welche Stunden sie vertreten müssen. Das ist nicht selbstverständlich, werden doch an den meisten Schulen Vertretungsstunden einfach angewiesen. Gegen-seitiges Vertrauen als Grundlage für Kreativität im Klassenzim-mer – dieser Maxime scheint Thomas Grahle bei seiner Arbeit als Schulleiter zu folgen: »Ein Lehrer, dem ich alles vorschreibe, macht irgendwann nur noch Dienst nach Vorschrift. Lehrer brau-chen Freiheit.«

Freiheit mit AugenmaßSchulleiter sind verantwortlich für das Profil ihrer Schule und deren geregelten Betrieb. Den Rahmen für ihre Arbeit

steckt das Sächsische Schulgesetz ab: Es setzt Grenzen, schafft aber auch Spielräume. Zwei Schulleiter gewährten

KLASSE Einblicke, wie sich der Schulalltag entlang dieser Vorgaben gestalten lässt.

PROTOKOLL: BEATE DIEDERICHS, KLASSE-REDAKTION • FOTO: ANDRÉ FORNER

E I G E N V E R A N T W O R T U N G

»EIN LEHRER, DEM ICH ALLES VORSCHREIBE, MACHT

IRGENDWANN NUR NOCH DIENST NACH VORSCHRIFT.

LEHRER BRAUCHEN FREIHEIT.« THOMAS GRAHLE, GRUNDSCHULE RADEBERG-SÜD

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AU S L E H R E R S I C H TE I G E N V E R A N T W O R T U N G

Als Schulleiter nutzen Alexandra Baumgärtel und Thomas Grahle die Freiräume, die das Schulgesetz ihnen gibt.

Im neuen Schulgesetz bekommt das Thema »Eigenverantwortung für Schulen« einen eige-nen Paragrafen. Das bisherige Schulgesetz enthielt bereits die Möglichkeit, dass Schulträger Schulleitern fi nanzielle Mittel für den laufenden Lehr- und Lernmittelbedarf zur eigenen Bewirtschaftung überlassen. Neu ist nun die ausdrückliche Regelung, dass der Schulträger

den Schulleiter ermächtigen kann, Rechtsgeschäfte für ihn abzuschließen. Zudem wird die gesetzliche Option geschaffen, den Schulen auch Mittel des Freistaates zur eigenverantwortlichen Bewirtschaftung zu übertragen. Der Gesetzentwurf unterstreicht zugleich, dass Schulen zur Erleichterung der Mittelbewirt-schaftung auch über eigene Schulkonten verfügen sollten. Auch der personelle Spielraum wird erweitert. Neu ist, dass die Schulaufsichtsbehörde den Schulen ein Budget an Lehrerarbeitsvermögen zur Verfügung stellen kann. Schulen können damit nun eigenverantwortlich Klassen, Gruppen und Kurse bilden. Bislang war das im Wesentlichen Aufgabe der Schulaufsichtsbehörde, sprich: der Sächsischen Bildungsagentur.

Das steht im Gesetzentwurf zum Thema Eigenverantwortung für Schulen§

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KLASSE: Das Thema »Eigenverantwortung für Schulen« hat im Gesetzentwurf erstmals einen eigenen Paragrafen bekommen. Wie wichtig ist das für Sie?

Peter Lorenz: Die Eigenverantwortung der Schule war einer der Schwerpunkte der Eltern – also mehr Mitspracherecht, mehr Ge-staltungsrecht. Darum empfehlen wir, auch den Schulträger mit ins Boot zu holen. Wir wollen das nicht grundsätzlich als Pflicht, sondern die Möglichkeit eröffnen, dass Schulträger, Schulen, Eltern – also alle an der Schule Beteiligten – viel gestalten können.

Friedrich Roderfeld: Uns geht bei der Eigenverantwortung der neue Schulgesetzentwurf nicht weit genug. Etwa beim Thema Schulkonten: Das neue Schulgesetz sieht vor, dass der Schulträger einzelne unternehmerische Kompetenzen an den Schulleiter abge-ben kann. Diese »Kann«-Formulierung sagt, dass es keine Pflicht ist. Das sehen wir nicht als großen Fortschritt. Dennoch, es freut uns, dass das Thema Eigenverantwortung eine große Rolle spielt. Wie das umgesetzt werden kann, wird sich dann zeigen.

Uschi Kruse: Dass im Gesetz überhaupt ein Satz zum Schulkonto steht, finde ich positiv. Das Wort »sollte« ist an dieser Stelle aller-dings falsch. Schulkonten sind schon notwendig, um bestimmte Haftungsfragen, auch für Lehrerinnen und Lehrer, zu klären. Mir wäre mehr Eigenverantwortung, insbesondere bei pädagogischen Fragen, wesentlich wichtiger gewesen. Oft wird allerdings nur so getan, als gäbe es mehr Eigenverantwortung für die Schule. In Wirklichkeit geht es um mehr Verpflichtungen für, so steht es

dann im Gesetz, »den Schulleiter« – meistens sind es in Sachsen übrigens Schulleiterinnen. Und da kommt für mich die Frage auf: Wenn zusätzliche Aufgaben übertragen werden, gibt es dafür ir-gendwelche Ressourcen? Ich weiß: Das wird im Schulgesetz nicht geregelt. Aber angesichts der Personalsituation bin ich bei neuen Aufgaben für die Schulen derzeit besorgt und skeptisch.

Anne-Kathrin Kreis: Wenn die Spielräume für Schulen immer grö-ßer werden, dann bedeutet das auch, dass viele zusätzliche Res-sourcen da sein müssen, um mit der Eigenverantwortung bewusst umgehen zu können. Aber ich finde es gut, dass der Begriff so weit gefächert ist. Denn ich denke, dass so auch die Möglichkeiten für Schulen besser werden, eigenverantwortlich viele Dinge umzuset-zen. Man kann auch nicht alles so detailgetreu aufschreiben. Bei den Schulkonten gebe ich recht. Aber das ist so ein kleiner Teil der ganzen Geschichte. Und wenn ich über personelle und finanzielle Ressourcen mitentscheiden kann, dann finde ich das gut.

Kruse: Aber das, was im neuen Gesetz steht, bedeutet ja noch lan-ge nicht, dass Sie dann da mitentscheiden können.

Kreis: Das stimmt.

Lorenz: Was uns fehlt, ist der tatsächliche Rahmen. Das ist die große Unbekannte: Wie viele Möglichkeiten ein Schulleiter hat, zum Beispiel sein Personal selbst zu bestimmen. Da fehlen uns die Ausgestaltungsmöglichkeiten, die auch ressourcenabhängig sind. Aber es ist ein guter Anfang.

»Ein guter Anfang«Der Entwurf zum neuen Schulgesetz in der Diskussion: KLASSE traf sich mit Lehrer-, Schüler-,

Eltern- und Gewerkschaftsvertretern zum Werkstattgespräch.

MODERATION: NICOLE KIRCHNER UND PETER STAWOWY, KLASSE-REDAKTION • FOTOS: ANDRÉ FORNER

Nicht immer einer Meinung: Schülervertreter Friedrich Roderfeld und Schulleiterin Anne-Kathrin Kreis beim KLASSE-Werkstattgespräch.

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Kruse: Aber genau das wäre doch ausgeschlossen, wenn der Entwurf Wirklichkeit wird.

KLASSE: Wie viel Eigenverantwortung tut Schulen denn gut? Kann das jede Schule so umsetzen?

Kreis: Wenn eine Schule ein Schulprogramm und ein Schulkon-zept hat, dann hat man auch gewisse Vorstellungen, in welche Richtung sich eine Schule entwickeln sollte. Diese Eigenver-antwortung heißt, dass ich über finanzielle Dinge entscheiden kann. Aber ich denke auch, dass wir einen Ansprechpartner für uns brauchen, weil wir nicht alles alleine regeln können.

Kruse: Ich sage Ihnen, wo ich die Grenzen bei Eigenverant-wortung sehe. Es gab immer wieder große Diskussionen da-rüber, ob die Schulen, wie in anderen Ländern auch, selber einstellen sollen. Ich verstehe, dass Schulleiter und Schulleiter-innen das gerne wollen. In der gegenwärtigen Situation muss man damit allerdings vorsichtig sein. Sonst gibt es Schulen, da stehen die Bewerberinnen und Bewerber die Treppe hoch. Und dann gibt es Schulen, da bewirbt sich überhaupt keiner. Das heißt, an dieser Stelle brauchen wir, angesichts der schwierigen Situation in Sachsen, ein Mindestmaß an zentraler Steuerung.

Roderfeld: Wir stellen uns das auch nicht so vor, dass die Schule selber ausschreiben darf. Aber die Schulkonferenz soll-te über Personalangelegenheiten mitbestimmen dürfen, zum Beispiel, dass sich Lehreranwärter dort vorstellen.

Kruse: Da bin ich ganz anderer Auffassung. Denn die Schul-konferenz ist nicht der Arbeitgeber.

Roderfeld: Wir fänden es gut, wenn Schüler gemeinsam mit Eltern, Kollegium und Schulleitung sagen dürften, ob der Leh-rer zu der Schule passt oder nicht.

Kruse: Das würde ich ganz schrecklich finden und ich kann es mir auch rechtlich nur schwierig vorstellen. Lehrer werden nach Eignung, Leistungen und Fähigkeiten eingestellt und nicht danach, wie sie in der Schulkonferenz vortanzen. Aber ein stärkeres Votum der Schulleitung – das würde ich mir wün-schen.

Kreis: Das sehe ich auch so – ein Votum der Schulleitung. Dass man dann schaut: Ist es ein Kollege, der zu uns passt? Oder hat er ganz andere Vorstellungen von Schule?

KLASSE: Stichwort »Inklusion«. Wie offen stehen Sie diesem Thema gegenüber?

Kreis: Die Lehrer wollen, dass die Förderschule als zentrale Institution bestehen bleibt. Das ist auch wichtig. Ohne ab-sprechen zu wollen, dass in dem einen oder anderen Fall die Kinder an einer Regelschule, wenn die Bedingungen da sind,

unterrichtet werden können. Dem stehen wir auch offen ge-genüber. Aber es ist wieder eine neue Herausforderung für uns, wo Kollegen geschult werden müssen, wenn Förderkinder oder Kinder mit Behinderungen an der Schule sind.

Kruse: Ich hätte mir gewünscht, man hätte klar und deutlich gesagt: Wir wollen Inklusion und dafür stellen wir die not-wendigen Ressourcen zur Verfügung. Jetzt ist es umgekehrt: Wenn die Ressourcen da sind, bei denen unklar ist, ob sie ge-schaffen werden, dann kann Inklusion stattfinden. So wird es nicht funktionieren. An dieser Stelle finde ich das Schulgesetz besonders ärgerlich und besonders unehrlich.

KLASSE: Aber die Ressourcen-Frage wird doch im Gesetz gar nicht geregelt, sondern ist eine politische Frage.

Kruse: Das stimmt. Aber die Ressourcen-Frage wird ja an ge-nau dieser Stelle im Gesetz formuliert. Da steht: »Wenn die Ressourcen vorhanden sind, dann kann man …« Wenn man diesen Satz ausgespart hätte, dann wäre eine Verpflichtung für die Haushaltsgesetzgebung entstanden.

KLASSE: Wie sieht denn die Schülerschaft das Thema »Ge-meinsam lernen«?

Roderfeld: Wir befürworten die Inklusion von Behinderten. Wir sprechen uns zwar auch für den Erhalt von Förderschulen aus, aber sagen auch, dass bestimmte Leute mit bestimmten Bedürfnissen integriert werden sollten. Insbesondere bei Lern- und Körperbehinderten macht das auch Sinn. Wir sagen auch, dass es Kooperationsklassen geben muss. Da werden bestimm-te Unterrichtsinhalte gemeinsam mit Förder- und Regelschü-lern gelehrt.

Kruse: Die Mehrheit der Schüler mit Förderbedarf, die wir in Sachsen haben, ist gar nicht an Schulen, wie beispielsweise ei-ner Blindenschule. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, gerade in diesem ersten Schritt, nun blinde Körperbehinder-te zu integrieren. Die Mehrheit, das sind Schüler, die jetzt in Lernförderschulen oder Schulen für Erziehungshilfe sind. Da-mit müssen wir uns doch auseinandersetzen: Wie es sein kann, dass in den östlichen Bundesländern, insbesondere Sachsen, ein so exorbitant hoher Förderbedarf festgestellt wird. Gerade da ist Integration eigentlich dringend notwendig. Das erfordert aber Ressourcen, Fingerspitzengefühl und geschultes Personal.

Lorenz: Wir halten das Thema Inklusion für nicht ausge-reift formuliert, weil es darin keine Rechtssicherheit für die Eltern gibt. Momentan ist die Lage so: Man kann sa-gen: »Ja, ich möchte mein Kind an dieser Schule haben.« Der Schulträger sagt: »Okay, wir bauen es um.« Das Kul-tus sagt: »Wir haben aber kein Personal.« Dann ist da wie-der eine Bremse drin. Das muss besser ausformuliert sein. Wir hatten außerdem externe Beratungsstellen angeregt, so-

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»DIE LEHRER WOLLEN, DASS DIE FÖRDERSCHULE ALS

ZENTRALE INSTITUTION BESTEHEN BLEIBT.«

ANNE-KATHRIN KREIS, OBERSCHULE »CLARA ZETKIN« IN FREIBERG

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dass Eltern erst einmal beraten werden – von einer unabhängigen Stelle. Die wird dann von Fall zu Fall entscheiden, ob eine Regel-schule sinnvoll ist oder eine andere Einrichtung besser wäre. Das würde helfen, die Eltern vernünftig zu beraten. Die Beratung muss vom Kinde ausgehen und nicht von Ressourcen oder persönlichen Befindlichkeiten abhängen.

KLASSE: Das Thema »Gemeinschaftsschule« wurde nicht im neuen Gesetz verankert, die Zweigliedrigkeit bleibt bestehen. Sehen Sie das auch als den richtigen Weg?

Kreis: Für mich ist der Weg der Mittelschule bzw. jetzt Oberschule ein gangbarer Weg. Wir haben über viele Jahre ein System entwi-ckelt, das gut funktioniert. Natürlich ist es eine große Aufgabe, zu gucken, welcher Bildungsabschluss für das Kind der richtige ist. Gerade für lernschwache Kinder ist die Förderung an den Schulen eine ganz große Herausforderung.

Lorenz: Wir hätten es gern noch einen Schritt weiter: dass die Schule, die die Möglichkeiten hat, es bis zum Abitur bringen kann. Das wäre eine Art Campus, der so flexibel ist, dass er sich den

regionalen Bedürfnissen anpassen kann. Das ist attraktiv und spart weite Wege.

Kruse: Ich will jetzt nicht wieder die alten Diskussionen führen. Und natürlich kenne ich den Koalitionsvertrag. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum man Gemeinschaftsschulen in Sachsen ver-bietet. Warum untersagt man Eltern und Schulträgern eine solche Schulkonstruktion? Warum können sich nicht Grund- und Mittel-schulen zusammenschließen oder mehrere Mittelschulen, die eine gymnasiale Oberstufe draufsetzen? Es wäre ja nicht zwingend, alle Schulen zu Gemeinschaftsschulen zu machen. Das würde auch gar nicht passieren.

KLASSE: Für »Schulen im ländlichen Raum« gibt es jetzt im Gesetzentwurf aber andere Alternativen, den Schulstandort langfristig zu sichern. Wie sehen Sie das?

Roderfeld: Das Schulschließungsmoratori-um von der CDU/FDP Staatsregierung ging eigentlich weiter. Stattdessen werden die Min-destschülerzahlen für Oberschulen angehoben und die Einzügigkeit wird in sogenannten Mittelzentren wie Freiberg nicht mehr zuge-lassen? Der Schülerrat ist dafür, dass wir gar keine Mindestschülerzahlen mehr haben.

Kruse: Was ich an dieser Stelle bedauere, ist, dass man den jahr-gangsübergreifenden Unterricht – den ich für vernünftig halte – so wie es jetzt geregelt ist, nur für kleine Standorte zulässt. Er könnte ja auch ein Konzept für eine große Schule im Zentrum von Leip-zig, Dresden oder Chemnitz sein. Warum nicht? Ansonsten finde ich alle Anstrengungen gut, mit denen versucht wird, Schulstand-orte so weit wie möglich zu erhalten. Schon jetzt fahren Kinder viel zu lange, um eine Schule zu erreichen.

Kreis: Prinzipiell ist es gut, Schulstandorte zu erhalten. Was ich für kleine Oberschulen problematisch sehe, das sind die Wahlmög-lichkeiten. Da sehe ich für Neigungskurse und Fremdsprachen schon ein Problem, sich da vielseitig zu orientieren.

Kruse: Eine Erhöhung der Mindestschülerzahl bei Oberschulen finde ich sehr schwierig. Wenn die Oberschule wirklich aufgewer-tet werden soll, dann müssen die Herausforderungen ernst genom-men werden, vor denen genau diese Schulart steht.

Roderfeld: Aus meiner Sicht sollte die Oberschule ein ganz ande-

res Profil haben: das praktische Profil. Und das sollte man auch mehr hervorheben, eine verstärkte Durchlässigkeit zum Gymnasi-um ist dafür nicht unbedingt entscheidend. Ich muss auch sagen, dass die Oberschule nicht den Ruf hat, den sie eigentlich haben sollte. Schließlich meinen die meisten Eltern, sie müssten ihr Kind aufs Gymnasium schicken. Ich finde, das ist ein echtes gesell-schaftliches Problem.

Kruse: Ich möchte aber mal das Bemühen, gymnasiale Inhalte in den Unterricht holen zu können, positiv anerkennen. Es war der Versuch zu sagen: Die Oberschule ist keine Einbahnstraße. Ich hätte mir aber gewünscht, dass man im Schulgesetz irgend-wie zum Ausdruck bringt: Schulen mit besonderen Herausfor-

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Diskutierten über zweieinhalb Stunden (v.r.): Anne-Kathrin Kreis, Friedrich Roderfeld, Peter

Stawowy (KLASSE), Uschi Kruse und Peter Lorenz.

»ICH FINDE ALLE ANSTRENGUNGEN GUT, SCHULSTAND-

ORTE SO WEIT WIE MÖGLICH ZU ERHALTEN.«

USCHI KRUSE, GEWERKSCHAFT ERZIEHUNG UND WISSENSCHAFT

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Peter Lorenz ist Vater von fünf Töchtern. Er enga- giert sich als Vorsitzender des LandesElternRates in Sachsen und KreisElternRats- vorsitzender von Mittelsach- sen. Er vertritt außerdem die Interessen der sächsischen El-tern im Bundeselternrat.

Friedrich Roderfeld ist Schüler eines Beruflichen Gym-nasiums mit dem Schwerpunkt Wirtschaftswissenschaften in Dresden. Als Vorsitzender des LandesSchülerRates Sachsen vertritt er die Interessen der Schülerinnen und Schüler im Freistaat.

Uschi Kruse ist Lehrerin. Als Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Sach-sen engagiert sie sich für die Interessen der Lehrerinnen und Lehrer. Außerdem sitzt sie seit 2004 im Medienrat der SLM.

Anne-Kathrin Kreis ist Schulleiterin der Oberschu-le Clara Zetkin in Freiberg. Neben ihrer Schulleitertätig-keit unterrichtet sie das Fach Englisch.

derungen, die statten wir auch besonders aus. Das sind bestimm-te Schularten, das sind bestimmte Regionen, das sind bestimmte Schulstandorte. Und dass man klar und deutlich sagt: Wir wissen, dass Schulen unterschiedliche Herausforderungen zu bewältigen haben und da, wo es unterschiedlich ist, da werden wir auch ent-sprechend reagieren. Das wäre ein wirklicher Fortschritt gewesen. Wir müssen aus der Oberschule eine attraktive Schulart machen. Diese Schulart macht mir auch angesichts der personellen Situa-tion, der Altersstruktur der Lehrkräfte und angesichts der Aufga-ben, die da zu bewältigen sind, die meisten Sorgen. Und da helfen die Formulierungen im Gesetz wirklich nicht weiter.

Lorenz: Der Großteil der Eltern sagt: »Wenn die Voraussetzun-gen dafür geschaffen werden und die Schulleitung und das Leh-rerkollektiv hinter dem jahrgangsübergreifenden Unterricht stehen, haben wir kein Problem damit.« Wir sehen in dem Ent-wurf der Oberschulen allerdings ein Problem, zum Beispiel bei einer Oberschule ab 28 bis 40 Kindern. Dazwischen ist ein lee-rer Raum, wo man nicht weiß, wie ihn die Schule gestalten kann. Also nehmen wir mal an, 36 wollen sich anmelden: Die kann nicht zweizügig fahren und einzügig nur bis zu 28, wenn sie in-klusiv ist bis 25 Schüler aufnehmen. Jetzt müsste man acht oder sogar 11 Schüler im Losverfahren woanders hinstecken. Das ist problematisch und wird bestimmt häufig vorkommen. Dann müs-sen wir daran denken, dass wir Rückführungen aus dem Gymna-sium in die Oberschule haben. Das wollen wir auch. Die Kinder sollen nicht bis zum Ende des Gymnasiums durchgeprügelt werden, um dann als gescheiterte Abiturienten nicht mehr aufnah-mefähig zu sein.

KLASSE: Gibt es Punkte in dem neuen Schulgesetz, die Sie beson-ders begrüßen?

Kruse: Wir loben die breite Beteiligung, wenn die ernst gemeint ist.

Roderfeld: Wir begrüßen, dass im neuen Schulgesetz etwas zu Schülervertretern steht und nun auch in Grundschulen Schüler-vertreter, also Schulsprecher, gewählt werden können.

Kreis: Ich finde es auch gut, dass man den Gesetzentwurf breit diskutieren kann. Mein Punkt ist immer wieder, dass wir zwar jetzt gute Dinge im Schulgesetz haben, aber dass wir ringsherum die Bedingungen schaffen müssen, damit viele Dinge umgesetzt werden können. Dass man Ressourcen hat, um gerade auch für die Oberschule als zentrale Schule eine Entwicklung voranzubringen.

Kruse: Es ist wichtig, dass das Schulgesetz einige neue The-men aufnimmt. Etwa Medienbildung. Die kam bisher gar nicht vor. Damit dürfte Sachsen auch relativ innovativ sein. In ande-ren Schulgesetzen steht nur etwas von informationeller Bildung. Auch dass das Thema politische und demokratische Bildung einen besonderen Stellenwert findet, ist gut. Auch hier stellt sich natür-lich die Ressourcen-Frage. Gerade was das Thema Mediengestal-tung betrifft, fehlt es an Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte.

Lorenz: Insgesamt sind positive Ansätze drin. Ein paar Eckpunk-te fehlen uns als Eltern noch. Beispielsweise wollen wir in den Elterngremien die Eltern von Kindern der Kindertagesstätten mit dabeihaben, um die Übergänge zu gestalten. Und wir möchten die Eltern im Kreis- und LandesElternRat so lange vertreten können, wie unsere Kinder an den Bildungseinrichtungen sind.

KLASSE: Vielen Dank für das Gespräch.

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Alle interessierten Bürger lädt das Sächsische Staatsministerium für Kultus zu insgesamt neun Dialogforen ein. Außerdem gibt es ein

Online-Beteiligungsverfahren. Infos: www.schule.sachsen.de/20820.htm

Hier können Sie mitreden

Sächsischer Lehrerverband (SLV)Der SLV ist mit circa 10.000 Mitgliedern der größte Lehrerverband in Sachsen. Er vertritt die Interessen der Lehrer gegenüber der Schulaufsicht, dem Land-

tag und der Staatsregierung, in den Lehrerpersonalräten, im Sächsischen Beamtenbund und in den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst. www.slv-online.de

Lehrerverband Berufliche Schulen Sachsen e. V.Der Lehrerverband Berufliche Schulen setzt sich ausschließlich für die Interessen von Lehrer und Lehrerinnen aller beruflichen Schularten ein. www.lvbs-sachsen.de

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Landesverband Sachsen (GEW)Die GEW setzt sich für die Interessen von Frauen und Männern ein, die in pädagogischen und wissenschaftlichen Berufen arbeiten. www.gew-sachsen.de

Beamtenbund und Tarifunion Sachsen (SBB)Der SBB vertritt die Interessen der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der privatisierten Bereiche des öffentlichen Dienstes in Sachsen. Der SBB zählt circa 60.000 Mitglieder. www.sbb.de

Philologenverband SachsenDer Berufsverband der Gymnasiallehrer setzt sich für die Weiterentwick-lung der Schulform Gymnasium in Sachsen ein. www.phv-sachsen.de

LandesElternRat (LER)Der LandesElternRat setzt sich für die schulischen Interes-sen der Eltern in Sachsen ein und ist das höchste Eltern-gremium im Freistaat. Der LandesElternRat wird demokra-tisch gewählt. Dem LER gehören 27 Mitglieder an, jede Schulart ist durch ein Mitglied vertreten. Der LER arbeitet im Landesbildungsrat mit. www.landeselternrat-sachsen.de

Übersicht der Kreiselternräte: www.landeselternrat-sachsen.de/kreiselternrat.0.html

Landesarbeitsgemeinschaft Inklusion in Sachsen (LAGIS)/Gemeinsam leben – gemeinsam lernen e. V.Die Landesarbeitsgemeinschaft Inklusion in Sachsen ist ein Zusammen-schluss von Eltern und Pädagogen, die sich für das Thema Integration und Inklusion einsetzen. Die LAGIS möchte vor allem das Thema Inklusion in Sachsen weiter vorantreiben und setzt sich dafür ein, dass behinderte und nichtbehinderte Kinder und Jugendliche gemeinsam lernen können.www.glgl-sachsen.de

KreisSchülerRat und LandesSchülerRat Sachsen

Der LandesSchülerRat ist die höchste Interessensver-tretung für Schüler in Sachsen. Er setzt sich für die Schülermeinung gegenüber der Landespolitik ein.

Das Schülergremium wird demokratisch gewählt. In Sachsen gibt es 13 Kreisschülerräte. Diese vertreten vor allem die Interessen der Schüler aus den jeweiligen Regionen. Die Kreisschülerräte entsenden Delegierte in den Landesdelegiertenkonferenz, die den Vorstand des LandesSchüler-Rates Sachsen wählen.www.lsr-sachsen.de

Übersicht der Kreisschülerräte: www.lsr-sachsen.de/kreisschulerrate

Landesbildungsrat (LBR)Das oberste Beratungsgremium des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus setzt sich aus Vertre-tern von Lehrern, Schülern und Eltern von Grund-, Ober-, Berufs- und Förderschulen sowie Gymnasi-en sowie aus Vertretern von Kirchen, Kommunen, Schulen in freier Trägerschaft, Hochschulen und Vertretern des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales zusammen. Die Vertreter werden auf Vorschlag des Kultusministeriums berufen, die Tätigkeit ist ehrenamtlich. www.smk.sachsen.de/7565.htm

Landesarbeitsstelle Schule Jugendhilfe Sachsen e. V.Neben der Berufsorientierung und Gesundheitsförderung macht sich die Landesarbeitsstelle Schule Jugendhilfe Sachsen e. V. für die Schulentwick-lung in Sachsen stark. Über verschiedene Projekte und Modellversuche (z. B. Schulversuch ERINA) will der Verein das Thema Schule in Sachsen weiterentwickeln. www.lsj-sachsen.de

Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS)Die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung engagiert sich für gute Bildungs-chancen für Kinder und Jugendliche. Dafür entwickelt sie verschiedene Programme, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. www.dkjs.de

ALS LEHRER ALS ELTERN

ALS SCHÜLER IN INSTITUTIONEN

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