zum 100 geburtstag von ernst bloch
DESCRIPTION
TÜTE, 1985TRANSCRIPT
INHALT
Vorwort . -............................................... S. 4
p IE AKTUALTITÄT BLOCHS Oskar Negt: Philosophie des Widerstands Ernst Bloch zum hunderts en Geburtstag ... . . ... . .. ... . -· . . . . . . . . . . . . . S. 6
PHILOSOPHIE DER PRAXIS Gajo Petrovic: Ein gewisser Ernst Bloch Erste Kontakte zwischen Bloch und der PRAXIS-Gruppe ................. . ... S. 8
UTOPIE UND BEWUSSTSEIN Helmut Fahrenbach: Ein Krisenpunkt marxistischer Theorie Utopisches Bewußtsein und gesellschaftliches Sein. Blochs Transformation einer Marxschen Formel . . . ... ....... .. ... ..... .. . .. . ......... .. S.11
ONTOLOGIE ~ Eberhard Braun : Freiheit und Natur
Ontologie des Noch-Nicht-Seins oder Ontologie des gesellschaftlichen Seins? .. ....... S.15
VERNUNFTKRITIK Winfried Thaa: Ungleichzeitigkeit und linke Rationalitätskritik Blochs Kategorie der "Ungleichzeitigkeit" und die Aufgaben linker Rationalitätskritik heute .................................... S.18
RI OCH lJND POSTMODERNE - IGerard Raulet: Bloch und die Postmoderne
Zur Rezeption Blochs in Frankreich. Ein Interview . .. ..... ......... . ... .. . S.22
THEOLOGIE DER HOFFNUNG Jürgen Moltmann : Herr Bloch, Sie sind doch Atheist? - Bin Atheist um Gottes Willen. Ein Interview .. . .. . ......... .... . .. .... .. . ...... . ...... . . .. S.29
FALSCHE ERFÜLLUNG Jürgen Fuchs: .Gegen die falsche Erfüllung . ......................... S.34
METAPHYSIK Heidrun Hesse: "Aufbrausen zum Sein" Bedenken gegen Blochs metaphysischen Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S.37
LATEINAMERIKA Laennec Hurbon: Gegen den banalen Materialismus . . .... ... .. ... .. .. . S.40
CHINA Bloch in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S.41
ERNST BLOCH UND DIE NEUE LINKE Ali Schmeissner, Bernd-IBrich Jung, Gundi Reck, Welf Schröter Hoffnung ...... .... ..... .. ... ....... .. .. . . .............. s. 43 Ernst Bloch: Ersatzgeldkampf .......... ... ........ .. .. . ...... .. s. 44 Ernst Bloch: Holger Meins . . .. .... .. ....... ... ..... . . . ....... . s. 46 Interview mit Ernst Bloch: Andere Horizonte ........ . .... . ...... ... S. 47 Gundi Reck, ASTA Tübingen: Bloch mit geballter Faust .... .......... . S. 50
Ausrufung der ERNST-BLOCH-UNIVERSITÄT ...................... s. 51 Gespräch mit Karola Bloch: Aus meinem Leben ............... _ . . ..... s. 53 BUDAPESTER SCHULE MihaJ.y Vajda : Georg Lukacs und die Budapester Schule . . . . . . . . . . . . . . s. 55
GEORG LUKAcs Rainer Kohler : Zur Aktualität von 'Geschichte und Klassenbewußtsein' ... .. .. s. 58
VERANSTALTUNG 3. Tübinger Bloch-Tage "Gesellschaft und Vernunft". 8.-9. Nov. 1985 ...................... ... .. S. 61 Objektive Phantasie Symposium aus Anlass von Ernst Blochs 100. Geburtstag 7. - 11. Okt. 1985 .......... S. 62 Verdinglichung und Utopie Bloch-Lukacs-Kolloquium 26.-29. März '85, Paris ............ . ......... .. . S. 62 Marxismus und Philosophie Fachseminar Inter-University~enter Dub~ovnik, 1. - 12. April '85 .... .. ..... . ... S. 64
KOCHREZEPT: Fromage Intellectuel ............................ s. 39
REZENSIONEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .S. 66
Impressum ............... . ................... ... . ...... .. S. 67
Inhalt
BEILAGE • Welf Schröter
"Rotfront, Gen. Bloch" Aus Briefen Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch
TÜTE 3
Vorwort
Am 8. Juli wäre der in Tübingen am 4. August 1977 verstorbene Marxist und Philosoph Ernst Bloch hundert Jahre alt geworden. Sein Tod im Alter von 92 Jahren hat nicht nur im Kreise der Philosophen sondern vor allem auch unter den Anhängern eines radikalen humanistischen Sozialismus eine große Lücke hinterlassen.
"Es gibt keinen Philosophen der Gegenwart, der in vergleichbarer Weise ein kollektives Gedächtnis der unabgegoltenen Emanzipationsansprüche der Menschen repräsentierte, aber auch der zerstörten, vertagten und verschobenen" (Negt).
Aus Anlaß des hundertsten Geburtstages von Bloch publiziert ein kleiner Kreis von Personen, die sich der Erbschaft des Blochschen Werkes verpflichtet wissen, diese Sonderausgabe, in der durchaus kontrovers über das Blochsche Wirken argumentiert werden soll.
Eigens für diese Ausgabe fanden sich Oskar Negt, Gajo Petrovic, Gerard Raulet, Jürgen Moltmann und Jürgen Fuchs bereit, aktuelle Beiträge zu schreiben. Helmut Fahrenbach und Eberhard Braun ermöglichten den Abdruck jüngster Vortragsmanuskripte. Besonderer Dank gilt der Unterstützung durch Frau Karola Bloch, die uns zur Seite stand und Einblick in die Briefe Rudi Dutschkes an sie und Ernst Bloch gewährte.
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1 l:QrKen H~bei:_I!l_C!~E~!.J:l!!.~!l!}_!!~!~z- ~-~-~-:'!1-l~l-i!_~_l!_(~~-~~Ho_chzeiten tanzen möchte''. ~_o _!:-ö~_en!_}ial __ ?~ sic!_i '.?'._l!~ine:rrlint~~~-~ Ü~_! BlQchni~I:it in cier L_?:g~. Agnes Heller blieb unerreichbar.
Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen, Interviews und Texten erlaubt unseres Erachtens eine offene und vorbehaltslose Annäherung an Werk und Wirken Ernst Blochs - nicht nur in Tübingen.
4 TÜTE
Die Redaktion Juni/ Juli 1985
Karola Bloch 74 Tübingen Im Schwanzer 35
Tübingen, 18.8.1977
An den ASTA der Universität Tübingen
Liebe Freunde,
von ganzem Herzen danke ich Euch, dass Ihr Eure Verbundenheit mit Ernst Bloch, Eure Liebe für ihn so leidenschaftlich zum Ausdruck bringt.
Da ist kein Hauch zu spüren von der Apathie, die den Studenten neuerdings in die Schuhe gelegt wird. Da ist im besten Sinne Radikalität da, das heisst der Wille die Dinge an der Wurzel zu fassen, wie E.B. immer sagte. Und jene Solidarität ist da, die notwendig ist um die Welt zu verändern, sie zu einer besseren, humaneren werden zu lassen.
Ihr betont immer wieder: Ernst Bloch lebt! Und das ist mir ein grosser Trost. In Euch sehe ich meinen geliebten Lebensgefährten wieder, meinen Genossen. Ihr helft mir meinen Schmerz zu überwinden. Ich bin nicht allein. Bin mit Euch verbunden, so wie Ernst Bloch mit der Jugend sich verbunden fühlte.
Karola Bloch
Vorwort
''Es gibt heute Dinge, über die man als redlicher Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann, und denen muß in einfachen Worten, sehr komprimierten und
nicht unperspektivreichen, sondern im Gegenteil, reich und mit Perspektiven sich verbindenden, entgegengetreten werden und ins Bewußtsein gebracht und
in die Hand und in die geballte Faust, die das hier zuständige Instrument ist, außer dem Begriff, der bei der Sache sein muß, wie es sich selbst versteht. "
Ernst Bloch, im Alter von 91 Jahren
TÜTE 5
Oskar Negt
OskarNegt
PHILOSOPHl'E DES WIDERSTANDS ERNST BLOCH ZUM HUNDERTSTEN GEBURTSTAG
Festaufmärsche zum hundertsten Geburtstag dieses im besten Sinne moder- · nen materialistischen Philosophen kündigen sich an, bei denen sich Epigonen
· und Kritiker, Verehrer und Heuchler ein Stelldichein geben. Der Reichtum der Blochschen Philosophie gibt allen etwas, und viele werden Seiten bei ihm entdekken, von denen man bisher nur wenig wußte. Es ist schade, daß der Tübinger Weltweise, der mit seinem absolut gesunden Kopf diesen Geburtstag gut hätte miterleben können, schließlich doch der plumpen Materie erlag und jetzt nicht selber zu diesen Festaufmärschen Stellung nehmen kann. Ich vermute, hier und da hätte er andere Akzente in den Gewichten seines philosophischen Denkens gesetzt als die, die wir, seine wesentlich ärmeren Nachfahren, mit unseren kurzatmigen Orientierungsbedürfnissen heute zu setzen wünschen.
Es ist mir unmöglich, Bloch und sein Gesamtwerk zu würdigen - und das wäre auch gar nicht sinnvoll. Kritisches Studium seiner Schriften, die beharrliche und ernsthafte Aneignung dessen, was geschrieben steht, ist ohnehin die einzige Form der Würdigung, die diesem materialistischen Aufklärer angemessen ist. Wenn jetzt selbst das Land, das seine politische Wahlheimat gewesen war und auf dem nach wie vor die Schmach einer zweiten Vertreibung liegt, mit Klopfzeichen Verständnis signalisiert, daß Bloch, wie es heißt, "einen gehörigen Fundus an Volksphilosophie einbringt, oft freilich in religiöser Gewandung, aber stets von Zuversicht und aufrechtem Gang zeigend" (so der Leipziger Professor Günter K. Lehmann), dann wird man dieses späten Lobes nicht ganz froh, obwohl Bloch selber diese Teilrehabilitie-
6 TÜTE
rung sicherlich freudig entgegengenommen hätte. Als Bloch starb, habe ich in einer kurzen Totenrede Bloch "den produktivsten Ketzer im Marxismus" genannt. Jürgen Habermas hatte bereits Anfang der sechziger Jahre Bloch als "Ketzer in allen Richtungen" bezeichnet. Kündigt sich da eine Zeit an, in der auch die Totenruhe der Ketzer nicht mehr respektiert wird, ihr Naturrecht auf fortwirkenden, Unruhe und Verwirrung stiftenden Eigensinn? Wenn weniger als zehn Jahre nach seinem Tode selbst die früheren Kritiker als Lobende
!auftreten, so ist höchste Vorsicht geboten, und ich fühle mich veranlaßt, Widerspruch einzulegen gegen diese subtile Entwertung des Blochschen Werkes zum philosophischen Klassiker. Gegen den Strom des Feierns zu schwimmen, wür-de unter heuti en gesellschaftlichen Bindungen bedeuten, die politische Substanz des Blochschen Denkens ins rechte Licht zu rücken.
Bloch ist durch und durch ein politischer Philosoph des Widerstandes. Den Hegelschen Satz: "Um so schlimmer für die Tatsachen" auf die Füße stellend, hat er, wie kein anderer Philosoph der Gegenwart, die Dialektik von Parteilichkeit und Wahrheit zum treibenden Motiv des überschreitenden Denkens gemacht. Nur wer Partei er reift für das, was in den Träumen und den unverstellten, d.h. auf Befreiung gehenden Wünschen der Menschen nach Realität drängt, aber Realität noch nicht geworden ist, hat die Chance, den geschichtlichen Wiederholungszwang von bloßen Tatbeständen zu brechen. Es ist der Mythos des Fertigen, Abgeschlossenen, der gewaltsam angehaltenen und stillgestellten Prozesse, gegen den dieses ganze Denken protestiert, und dieser Protest gegen die Suggestion
der Tatsachenwelt bildet das Nervenzentrum aller Kategorien, mit denen der Blochsche Materialismus arbeitet.
Viele Leute ,die sich (häufig in durchaus ehrenwerter Zuneigung) auf Bloch beziehen, machen ihn zu einem platten "Hoffnungs"-Philosophen; allem, was sie in die Hand nehmen, kleben sie die ontologische Kennmarke des Noch-Nicht an. Sie übersetzen das, was die Bodennähe und Schwerkraft seines Materialismus ausmacht, wiederum in den idealistischen und theologischen Faden der Rettung und des Heils. Sie mi~~verstehen
Bloch gründlich. Nichts, was in Natur und Gesellschaft auftritt, ist gesichert und verbürgt, schon gar nicht Fortschritt und Humanität. Die Trompetensignale , X die Befreiung und Glück ankündigen, sind selten genug. Geschichte gleicht eher einem Trümmerhaufen zerstörter, abgelenkter und gebrochener Hoffnungen, als einer nach Stufen der Aufhebung organisierten Fortschrittslogik. Nicht die Sieger sind Blochs Thema, sondern die Geschlagenen, die Unterdrückten, die Entwürdigten und Entrechteten, die allerdings Zeichen in die Welt setzen, die aus der kollektiven Erinnerung der Menschen in der Regel nicht mehr zu tilgen sind.
Als ich Bloch kurz vor seinem Tode besuchte, drehte sich das mehrstündige Gespräch mit ihm immer wieder um die ro e -auernrevo:utiün. Mehrfach er- f
wähnte er das Lied jenes mutigen, lediglich mit Mistgabeln, Sensen und Stöcken bewaffneten Bauernheeres, das sich in Frankenhausen auf eine Schlacht eingelassen hatte und jetzt geschlagen abzog : "Geschlagen ziehen wir nach Haus', unsere Enkel fechten's besser aus."
Das ist es, was er mit der docta spes l meinte, einer wissenden Hoffnung, wel-che die Niederlage überleben läßt, sich aber im Schmerz und in der Trauer nicht einrichtet, sondern den Auftrag für einen neuen Sieg weitertreibt. Es ist eben nicht, die Blindheit mit der sich der Spießer auf dem geschichtlichen Boden bewegt, der die Niederlage als Schicksal hinnimmt und im Sieg übermütig und rachsüchtig wird, sondern der todernste, existentielle Mut desjenigen, der sich für eine menschenwürdige und gerechte Sache eingesetzt hat und der erfahren mußte, daß Macht und Gewalt selbst die menschlichsten Ziele durchkreuzen. Der aber gleichzeitig nicht bereit ist, die Wut nach innen zu drücken und im übrigen die Welt so zu lassen, wie sie ist.
'"Der Lernende ist wichtiger als die Lehre". hat Brecht gesagt . Diesen Satz hätte Bloch auch für sei_ne eigene Philosophie anerkannt . Was können wir heute also aus ihr lernen? Wenn ich wir sage. dann will ich nicht für alle sprechen, die sich in der einen oder der anderen Hinsicht auf Bloch beziehen, sondern nur für die die sich den Ehrentitel der Linken geben d.h. radikale Politik im Wortsinne betreiben: das Übel an der Wurzel zu fassen suchen.
Bedrohlichstes Merkmal des gegenwärtigen Zustandes der Linken ist, daß sie sich in einen schwindelerregenden Wechsel von theoretischen Moden und politischen Organisationsansätzen verloren hat. Was nicht durch einen einzigen, demonstrativen Kraftaufwand den ganzen, in diese Hebelwirkung gesetzten Emanzipationhoffnungen Realität verleiht, wird nach und nach verabschiedet. Die Geduld der Maulwurfsarbeit, der Tätigkeit jenes Wühlers, von dem Marx als einem alten Freund liebevoll sprach, ist einem Denken fremd, das nichts wirklich austrägt, das vielmehr von einer Position zur anderen springt und Theorien wie politische Organisationsansätze ablegt, als wären es abgetragene Schuhe.
Es gibt keinen Philosophen der Gegenwart , der in vergleichbarer Weise ein kollektives Gedächtnis der unabgegoltenen Emanzipationsansprüche der Menschen repräsentierte, aber auch der zerstörten, vertagten und verschobenen. Diese Kollektivleistung der Aufbewahrung hatte man bisher nur geschichtlichen Organisationen und lebensfähigen Bewegungen zugetraut. Darin sehe ich eine Herausforderun für die Linke dieen:dlich begreifen muß, aß Herrschaftsverhältnisse ohne die Arbeit des Begriffs und ohne die Zeiterfahrung der Erinnerung auskommen mögen, nicht aber wirkliche Emanzipationsbewegungen. Bloch gibt uns ein Lehrbeispiel dafür, wie wir uns dem Vergangenen gegenüber zu verhalten haben, wenn wir die . Zukunft nicht verspielen wollen; daß es keineswegs immer nur darum geht, das Vergangene an ,Kriterien der Gegenwart zu messen. Wirkliche Verantwortung ist vielmehr eine Frage, ob wir denn des geschichtlichen Erbes auch nur würdig sind. Ob wir, wenn wir z.B. die von Bloch in Erinnerung gebrachten Naturrechtstheorien der bürgerlichen Aufschwungsperiode den gegenwärtigen Maßstäben von Überholtem und Gültigem unterwerfen, den Bewußtseinsstand dieser Theorien über-
haupt schon erreicht haben. Ob wir, wenn wir mit hohlem Objektblick der Natur gegenübertreten und uns die Arroganz erlauben, abschätzig von den alchimistischen Goldsuchern zu reden, auch nur begriffen haben, was diese ''vorwissenschaftlichen" Experimen tatoren mit der "Qual der Materie", mit Natur als einem offenen und geheimnisvollen subjekthaften Prozess des Produzierens meinten, also mit natura naturans. Ob wir schließlich, wenn wir uns so stolz geben , die ökologiefrage neu entdeckt zu haben, schon einmal darüber nachgedacht haben, auf welche riesigen NaturLaboratorien wir uns stützen könnten, um das, was unmittelbar aktuell ist, als etwas Uraltes zu erkennen, was wir nur aus der Erinnerung getilgt haben.
* Alles das gehört zum unabgegoltenen Inhaltsreichtum der docta spes, der mit Wissen angefüllten und praktisch klug gewordenen Hoffnung. of nun in dieser Breite und Tiefe gefaßt,~ politische Kategorie und keine der tradifunellen, mit eschatologischen Geheimartikeln versetzten Philosophie. Eine politische Kategorie ist sie insoweit, als sie für handelnde Subjekte eine Herausfor-
1 derung darstellt, Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen als verpflichtende Aufgabe zu begreifen. Zweifellos, den meisten der heutigen, durch viele Eiswüsten der Abstraktion gegangenen Menschen fällt es schwer, sich ein Natursubjekt vorzustellen, nachdem der ganzen europäischen Kulturgeschichte des Denkens der Stempel der Polarisierung von identitätsstifteDdem Ich und subjektverlassenem, chaotischem Naturmaterial aufgedrückt worden ist. Wird diese Geschichte als Resul-tat anerkannt, ist bereits ein Verhalten des Wissenschaftlers und Technikers gesetzt, denen jede Verantwortungsbeziehung zur Natur fehlt. Natura naturata kennt kein Leben und kann deshalb lebendige Menschen auch nicht verpflichten. Bloch dagegen sagt: "An der Stelle des bloßen Überlisters oder Ausbeuters steht konkret das gesellschaftlich mit sich selbst vermittelte Subjekt, das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsend vermittelt."
Die Linke hat kein proportionales, das heißt: angemessenes, aufkonkrete Erfahrungen gegründetes Verhältnis zur Technik. Sie schwankt in ihrer Geschichte zwischen der Angstlust einer apokalyptischen Katastrophe und dem Fortschritts-
I mythos. Was Bloch als das Programmei-
Die Aktualität Blochs
ner Allianztechnik bezeichnet, welche Mitproduktivität der Natur in allen Prozessen von menschenwürdiger Gesellschaftsveränderung voraussetzt, gibt uns einen Hinweis darüber, daß wir aus der Welt der Technik und der Wissenschaft nicht einfach herausspringen können und daß wir doch die Möglichkeit haben, Allianzen mit der Natur herzustellen, die auch gewaltige Befreiungsmittel sein können.
Was wir dazu benötigen, ist freilich mehr, als ein bloßes geschwisterliches Eintauchen in die Natur. Wir brauchen ihr gegenüber und im Verhältnis zu den Wissenschaften insgesamt eine neue, auf das Noch-Nicht, auf die wissbaren Zukunftsfolgen unseres gegenwärtigen Handelns gerichtete Verantwortungsethik . Diese werden wir nicht gewinnen, wenn wir uns zurückziehen und Kritik an der Übermacht der Technik und an den lebensfeindlichen Prinzipien der wissenschaftlichen Zivilisation lediglich als magische Wortpraxis der Beschwörung verstehen, sondern nur, wenn wir in deren Mikrostrukturen eindringen, deren innere Widersprüche bewußt zuspitzen, um Tendenzen und Latenzen politischem Handeln greifbar und nützlich zu machen. Bloch gibt genügend Fingerzeige, wie ein solcher Standpunkt der politischen Moral zu erreichen ist, daß wir uns in einer geschichtlichen Situation befinden, in der der hippokratische Eid nicht nur Geltung hat für die Medizin, sondern, müßte auf den jeweiligen Erkenntnisbereich umformuliert von jedem Wissenschaftler geleistet werden, der über Wissen von der Natur und der Gesellschaft verfügt und dessen Handlungsfolgen wissen könnte, sie von seiner Verantwortung jedoch abkoppelt und die Erkenntnis der Verwendungsmacht des Stärkeren überläßt.
Heimat ist Zielinhalt und prozessierender Widerspruch, der nie zur Ruhe kommt, in einem. Wenn Bloch am Ende des "Prinzips Hoffnung" die Kategorie Heimat setzt, dann sicherlich nicht im Sinne der spießerhaften Einrichtung in der Privatsphäre, der Stadt oder dem Dorf. ezmat ist eine Prozeßkate orie Sie ist in jedem Augenblick bedroht und muß in jedem Augenblick, weil Menschen anders keine Glückserfahrungen machen können, wieder hergestellt werden können. Politischer Kampf ist der einzi e Weg zur erste ung ~ elt, in der sich die Menschen in ihren Träu.m.en und Hoffnungen wiedererkennen.•
TÜTE 1
Gajo PetroviC
BLOCH UND DIE JUGOSLAWISCHE PRAXIS-GRUPPE
Als im Frühjahr dieses Jahres Gajo Petrovic, führender Vertreter der Zagreber Gruppe der jugoslawischen PRAXIS-Philosophie in die Bundesrepublik kam, um über das Verhältnis der PRAXIS-Gruppe zur 'Frankfurter Schule' zu sprechen, wandelte sich sein Vortrag von der massiven Kritik an Habermas spontan zu einer das Blochsche
i Gesamtwerk würdigenden Rede. Die enge freundschaftliche und philosophische Beziehung Bloch-Petrovic trat als sich bedingende humanitäre 'Philosophie der Praxis' in Erschein~ng. Gajo Petrovic hatte wie der PRAXIS-Philosoph Svetozar Stojanovic großen Anteil an Aufbau und Entwicklung der Arbeitsbeziehungen zu dem "Wahl"tübinger- Bloch.
Ähnlich wie Petrovic ist auch Stojanovic stark vom Blochschen 'Blitz' getroffen: "Nach dem Bruch mit Stalin 1948 kam die Zeit der großen Hoffnungen und der Liberalisierung. Wir begannen mit der Losung 'Zurück zu Marx, zum echten Marx'. Man konnte natürlich den Weg nicht direkt gehen, man brauchte Bloch die Frankfurt:r Schule, Korsch, Lukacs, Rosa Luxemburg - alle die großen Namen'. Bloch spielte eme sehr große Rolle für uns bei der Reinterpretation des Marxismus als radikalen Humanismus.:' Stoja?ovic, der ~ehr von Blochs Konzept des "aufrechten Ganges" angetan war, ermnert sich noch eme Kontroverse auf Koreula 1968: "Zwischen Bloch und Marcuse entwickelte sich ein direkter Meinungsaustausch über den Humanismus. ~arcuse tendie~te damals dazu, Humanismus in allen Formen als bürgerliche Ideologie zu fassen, die es zu enthüllen galt. Bloch antwortete scharf. Man solle den Humanismus nicht verlassen, sondern die bürgerliche Ideologie im Namen des Realen, des konkreten Humanismus immanent kritisieren." Heute sieht Sveta Stojanovic die Gedanken Blochs kritischer. Es gebe keine Demokratie ohne Humanismus, aber das sei nicht konkret genug. Sveta: "Mit anderen Worten geh~ es ~icht oh~e Bloch ~nd schon ~ar n~cht gegen ihn. Aber Bloch ist nicht genug." StoJanovic ~e~~1st _auf di~ .Notwendigkeit k~nkreter politische~ Analyse und politisch~~ Theone:. M~me Kntik an Bloch habe ich nie publiziert. Ich gehe in Richtung politische Soziologie, konkrete Ethik. Für mich waren die Fragen, mit denen sich Bloch b~schäftigte, weil ich mich mit konkreter Politik besc~äftigte, immer ein wenig zu utopISch. Ich habe das Bedürfnis im Marxismus nach Utopiekonstruktionen immer verstanden. Ohne das geht es nicht. Aber ich sage für meinen Geschmack für mich persönlich, ist das ein wenig zu utopisch." Diese Auszüge entstammen eine~ längeren Gespräch im Herbst 1984.
Doch trotz aller Kritik an Bloch sieht auch Stojanovic wie Petrovic in Bloch einen der wichtigsten marxistischen Philosophen. I? der nachfolgenden Episode beschreibt Gajo Petrovic wie in den fünfziger und sechziger Jahren das Blochsche Schaffen in Jugoslawien rezipiert wurde. Er schrieb diese persönlichen und politischen Zeilen auf besondere Bitte gerade für diese Ausgabe. Hierfür sei ihm besonders gedankt.
Welf Schröter
s TÜTE
Der Einfluß Blochs auf die jugoslawische Philosophie begann in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Die jugoslawischen Philosophen, die nach dem Bruch mit Stalin im Jahre 1948 die stalinistische Version der marxistischen Philosophie (den sogenannten "Dialektischen und Historischen Materialismus") allseitig und radikal kritisiert haben und an Hand der Marxschen Texte (einschließlich seiner Jugendschriften, die im Stalinismus proskrib_iert waren) eine humanistische Ver-"~ s1on der marxistischen Philosophie zu / ' entwickeln bestrebt waren, haben sich im Laufe der fünfziger Jahre im internationalen Maßstab ziemlich einsam gefühlt. Es schien so, als ob alle Marxisten in der Welt die stalinistische Interpretation der marxistischen Philosophie billigten, den jugoslawischen "Revisionismus" verurteilten und zu keiner Zusammenarbeit am Projekt der Wiederbelebung und der Weiterentwicklung des ursprünglichen Denkens von Marx bereit waren. Man erwartete etwas zunächst von G. Lukäcs und H. Lefäbvre, die schon früher den Ruf der Nicht- (oder wenigstens nicht ganz-) dogmatischen marxistischen Philosophen erworben hatten. Am Anfang der fünfziger Jahre schienen sich aber die beiden grundsätzlich im Rahmen des offiziellen "Marxismu~" zu bewegen.
',/-"'\ Nun kam im Jahre 1957/klie Nachricht, \ · daß ein ostdeutschhPfiilosoph, ein ge- /\ wisser Ernst Bloch, von der offiziellen/ Seite heftig angegriffen und verurteilt wurde. Die Hoffnung meldete sich sofort: vielleicht ist der Angegriffene nicht ein zufälliger Sündenbock, sondern ein "Revisionist" im ähnlichen Sinne wie wir? Man griff nach den zu-
gänglichen Schriften von Bloch und der Befund überstieg alle Erwartungen. Man hatte nicht nur einen undogmatischen marxistischen Philosophen entdeckt, sondern einen Denker von Großfonnat und überraschender Tiefe. Man schrieb über ihn und suchte nach einem zur Übersetzung geeigneten Buch von ihm. So fand man SubjektObjekt. Stanko Bosnjak und Milan Kangrga besorgten die Übersetzung und Danko Grlie ein Nachwort dafür. Im Jahre 1959 ist das Buch erschienen im Verlag ''Naprijed" in Zagreb.
Nachdem Bloch Anfang der sechziger Jahre nach Tübingen übergesiedelt war und speziell nachdem die Zeitschrift "Praxis" 1964 zu erscheinen begonnen hatte, suchte man auch persönliche Kontakte zu Bloch aufzunehmen. Man schickte ihm die Zeitschrift, man lud ihn zur Mitarbeit ein und bat ihn ( 1966), in den eben zu gründenden Redaktionsrat der Zeitschrift einzutreten. Diesen Vorschlag nahm er gerne an. Er wurde auch zur Sommerschule von Koreula eingeladen, kam aber nicht.
Ende 1967 reisten mein im vorigen Jahre verstorbener Freund Danko Grlic und ich in die Bundesrepublik. Wir schrieben an Bloch und baten ihn um Empfang. In seinem Antwortschreiben freute er sich im voraus auf diesen Besuch, der, wie er sich äußerte, schon längst "fälli( .. \.\'a~: So gingen wir zu ihm nach <T11121.ngen und führten lange Gespräche über alle möglichen Themen mit Karola und mit ihm. Wir sprachen in seinem Hause, begleiteten ihn zum Seminar und sassen mit seinen Studenten und ihm in einer Kneipe bis spät in in die Nacht.
Unter anderem wollten wir ihn überzeugen3 ~r n:i~e im nächsten Sommer nach ~o~s!Jla? kommen. Darauf antwortete ·er zunächst ziemlich ausweichend. Er sagte, er möchte kommen, im Moment ginge es aber nicht. Wir insistierten auf unserem Vorschlag und endlich sagte er zu, fürchtete aber, daß er von den jugoslawischen Behörden den DDR-Behörden ausgeliefert werden könnte. Darauf konnten wir nur lachen und sagen, so eine Gefahr bestehe überhaupt nicht, wir könnten ihm garantieren, daß so etwas nicht geschehe.
Seine Reaktion war erregt, fast verärgert: "Meine Freunde, Sie werden in der Welt als eine Gruppe dargestellt,
die die ganze Zeit in Jugoslawien in Schwierigkeiten ist. Auf meine Frage, ob Sie auch verhaftet werden können, haben Sie geantwortet, das sei nicht ausgeschlossen. Und nun geben Sie mir die Garantie, daß ich nicht ausgeliefert werden kann. Wie können Sie so etwas garantieren? Sind Sie vielleicht doch an der Macht da?"
Darauf lachten wir wieder und sagten: "Sicherlich können wir Ihnen die Garantie geben, und zwar nicht weil wir an der Macht sind, sondern weil wir unsere Macht sehr gut kennen. Es kann in der Tat geschehen (was wir im Moment nicht erwarten), daß einige von uns (oder auch wir alle) verhaftet werden. Aber sogar in so einem Fall wird Ihnen, unserem Freund, der kein Jugoslawe, sondern ein Ausländer ist, nichts schlechtes passieren. Sogar dann werden Sie in allen Ehren behandelt werden, und vielleicht wird es Ihnen erlaubt sein, uns Kuchen ins Gefängnis zu bringen."
Da lachte auch Bloch und sagte: "Nun gut. Im nächsten Sommer komme ich nach Koreula, und wenn ich doch an die DDR-Polizei ausgeliefert werden, dann nehme ich Sie beide mit."
Im Jahre (f~_a:>war die Tagung der Sommerschule von Koreula dem Thema "Marx und Revolution" gewidmet. Die Schule tagte vom 14. bis zum 24.
1968. Der Pariser Mai und der '""""''n"' Juni waren schon vorbei.
der erlittenen Niederlagen war die Studentenbewegung noch nicht tot. Die Studenten aus der ganzen Welt (speziell auch aus der Bundesrepublik) waren in großer Zahl angereist .. Die ju-
Philosophie der Praxis
goslawischen Studenten hatten im Zentrum von Koreula einige Häuser und ein großes Treppenhaus mit ihren Losungen in Rot bemalt. Wie versprochen war Bloch rechtzeitig an der Stelle. Unter den Teilnehmern waren auch Herbert Marcuse, Lucien Goldmann, Serge Mallet, Alfred Sohn-Rethel, Eugen Fink, Jürgen Hab_~II!?:~~' Kostas Axelos, Norman Birnbaum, Tom Bott~~ore, Kurt Wolff, Ossip Flechtheim, Michael Landmann, !ring Fetscher, Arnold Künzli, Günther Nenning,
7UiiUsStrinka, Agnes Heller, Zador Tordai und viele andere. Erich Fromm und Ernst Fischer, die vor dem Beginn der Tagung absagten, haben ihre Texte zugeschickt. Die jugoslawischen PraxisPhilosophen waren fast alle da (Branko Bofojak, Danko Grlic, Milan Kangrga, Ivan Kuvacic, Veljko Cvjetieanin, Mladen Caldarovic, Mihailo Duric, Zaga Golubovic, Veljko Korac, Andrija Kresic, Mihailo Markovic, Dragoljub Mieunovic, Vojin MiliC, Zarko Puhovsh, Svetozar Stojanovic, I.Jubornir Tadic, Miladin Zivotic und die anderen). Nur Rudi Supek, der Präsident der Schule, der ein paar Monate vor dem Beginn der Tagung einen schweren Beinbruch erlitten hatte fehlte bei der Eröffnung. Noch immer hinkend und blass, sich auf einen Stock stützend, erschien er aber im Laufe der Tagung.
In der Abwesenheit von Supek wurde ich beauftragt, die Tagung der Schule zu eröffnen. In der kurzen Eröffnungsrede habe ich speziell Bloch gegrüßt und, wie im voraus vereinbart, ihn gebeten, ein paar Worte zu sagen. Im ersten Satz seiner Rede bedankte sich Bloch für die freundliche Begrüßung "in einem Land, zu dem ich mich durch die "Praxis" und den Zagreber Kreis schon lange verbunden fühle". Die nächsten Sätze waren schon nicht mehr zu hören. Plötzlich begann ein Gewitter mit starkem Donnern, Regen und Wind. Die Sonne, die durch die Fenster und die Türe den Saal im 'Haus der Kultur' beleuchete, verschwand, aus Tag wurde Nacht. Das elektrische Licht ging aus. Es grollte wie bei dem Weltuntergang. Bloch wollte seine Rede nicht unterbrechen. Er schrie in die Finsternis, kämpfte mit dem Donner bis er es endlich überschrie. Nach ein paar Minuten kam das Licht wieder, der Donner wurde schwächer, und die Stimme von Bloch, immer stärker, war gut zu hören.
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Gajo PetroviC
An der Tagung 1968 waren mehr als 400 Teilnehmer anwesend. Zwei Wochen lang diskutierte man leidenschaftlich im Saal und im Vorhof des 'Hauses der Kultur', in Restaurants und Cafes von Koreula, am Strand und auf der Straße. Zusätzlich zu seiner Eröffnungsrede hielt Bloch ein Referat, nahm teil in der Diskussion und hielt viele individuelle Gespräche . In der entformalisierten Atmosphäre von Koreula, wo die Teilung in Professoren, Assistenten und Studenten keine Rolle spielte und alle zusammen auf dem gleichen Fuß über die brennenden Probleme der Gegenwart diskutiert haben, hat sich Bloch gut gefügt. Er fühlte
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sich wie zuhause, und die Teilnehmer haben das Gefühl gehabt, als ob er da nicht zum ersten Mal erschienen ist, sondern schon länger dabei war und dazu naturgemäß, und zwar als das Zentrum, gehörte. Herbert · Marcuse, der schon im Jahre -r964 m Koreula war und der im Jahre 1968 überall als der Hauptheld galt, mußte sich in Koreula mit der Rolle der "zweiten Violine" begnügen. Das ist ihm nicht schwer gefallen. "I am ... happy and honored to talk to you in the presence of Ernst Bloch today ... " sagte er in der Einleitung zu seinem Vortrag.
Am 21. August, früh am Vormittag, kam die Nachricht , daß die Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschiert waren. Die normale Arbeit der Schule wurde auf einen Tag unterbrochen und durch eine Protestversammlung ersetzt. Während der Unterbrechung bereitete eine kleinere Arbeitsgruppe den Text des Aufrufs an die Weltöffentlichkeit vor. Wir anderen gingen in den Vorhof, um dort Transistorradios zu hören, oder in kleinen Grüppchen weiter zu diskutieren (oder eher zu schweigen). So kann ich mich gut erinnern, wie ich mit Bloch, Marcuse und den anderen im Kreise stand. Bloch war schweigend, finsterer als die Nacht. Die ganze Zeit drehte er seine Pfeife im Mund. Nachdem der Text des Aufrufes vorbereitet und kurz durchdiskutiert war, unterzeichnete ihn Bloch als erster, dann folgten die anderen. Vermutlich war es die erste repräsentative internationale Reaktion auf die Okkupation der Tschechoslowakei.
~ Im Jahr ~70 am Bloch wieder nach '}\'\Korfola und<prach über die "Geschicht
liche Vermittlung und das Novum bei
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Hegel". Er wollte auch im Jahre 1973 dabei sein, aus gesundheitlichen Gründen mußte er aber absagen. So schickte er ein Tonband mit seinem Beitrag. Das Tonband wurde bei der Eröffnung der Tagung gespielt und der entsprechende Text ("Die bürgerliche Welt und der Sozialismus") in der Zeitschrift
"Praxis" gedruckt. Im Jahre 1969 wurde Bloch zum Ehrendoktor der Universität Zagreb ernannt. Das war die erste Ehrendoktorwürde, die ihm überhaupt erteilt worden war. Zusammen mit Karola flog er zur feierlichen Promotion aus Zürich, doch konnte das Flugzeug wegen des plötzlich eingetretenen Nebels nicht landen und mußte nach vergeblichem Kreisen über Zagreb nach Zürich zurückkehren. So wurde er in Abwesenheit am 18. Dezember '69 promoviert und hat seine für die Promotion . vorbereiteten "Worte des Danks ... " dem Rektor der Universität Zagreb zugeschickt.
In diesem Dankwort äußerte er sich
speziell über die Zeitschrift "Praxis": "Im besonderen ist Zagreb sozusagen die Heimatuniversität von tonangebenden Philosophen der Zeitschrift "Praxis'', diesem so wichtigen gegenwärtig fast einzigen Organ eines lebendigen innegehaltenen Marxismus. Die "Praxis" hat dadurch nicht nur internationale Bedeutung, sie trägt auch zum geistigen Ruhm Jugoslawiens bei, .... Hohes Niveau ist in dieser Zeitschrift so selbstverständlich, wie es in bedeutend offizielleren außerhalb Jugoslawiens eine Ausnahme wurde."
Inzwischen wurden fast alle wichtigen Werke von Bloch in Jugoslawien veröffentlicht ("Geist der Utopie", "Das Prinzip Hoffnung", "Naturrecht und menschliche Würde", "Tübinger Einleitung in die Philosphie", "Experimentum mundi", "Philosophische Grundfragen", "Universität, Marxismus, Philosophie", "Politische Messungen" usw.). Einige von den noch nicht veröffentlichten sind schon übersetzt und sollten auch bald erscheinen ("Atheismus im Christentum", "Das Materialismusproblem"). Die Bibliographie der jugoslawischen Arbeiten über Bloch beträgt schon mehr als 200 Einheiten. Eine Reihe jugoslawischer Zeitschriften widmeten Bloch ihre spezielle Nummer, und nebst einer Reihe jugoslawischer Symposien über Bloch wurden in Dubrovnik auch zwei internationale Symposia über Bloch gehalten (1980 und 1985).
Vermutlich war Bloch in keinem andere Land so intensiv "rezipiert" wie in Jugoslawien . Eine Reihe jugoslawischer Philosphen haben behauptet, Bloch sei der größte marxistische Philosoph des 20. Jahrhunderts, eine Bewertung, die einige auch in Frage gestellt haben . Bloch hat seinerseits behauptet, die Zeitschrift "Praxis" sei "wohl die beste philosophische Zeitschrift unserer Zeit", eine Behauptung, die sicherlich nicht allgemein anerkannt war.
Über alle diese Sachen kann ich bei \ dieser Gelegenheit abernicht schreiben. 1 Das Thema "Bloch und die jugoslawische Philsoophie" ist allzubreit für ein kurzes Interview. Deshalb habe ich mich diesmal hauptsächlich auf die ersten Kontakte zwischen Bloch und den jugoslawischen Philosophen beschränkt.
Gajo Petrovic
HelmutF hre eh
UTOPISCHES BEWUSSTSEIN UND GESELLSCHAFTLICHES SEIN. BLOCHS TRANSFORMATION EINER MARXSCHEN FORMEL.
1. Seit einiger Zeit ist (wieder einmal), insbesondere natürlich von den Gegnern, aber doch auch von den Anhängern bzw. Sympathisanten marxistischer Theorie von deren Krise die Rede. Und wer wollte und könnte dem einfach und leichthin widersprechen? Wichtig, ja entscheidend ist dabei jedoch die Differenzierung der pauschalen FormeLd.h. der Versuch, sich klar zu machen, worin die Krise heute besteht und was und wen sie im Feld marxistischer Theorie vor allem betrifft.
In gewisser Weise ist der Marxismus (Sozialismus) als historische und praxisbezogene Theorie innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsformation immer in einer kritischen Situation, sofern das für eine praktisch-kritische Theorie zentrale Problem der Theorie-Praxisvermittlung für die jeweilige Gegenwart und ihren Zukunftshorizont stets neu in Frage steht und situationsbezogen beurteilt werden muß. In diesem Rahmen bestimmen sich auch die besonderen Krisenpunkte marxistischer Theorien in der Gegenwart. Sie leiten sich einmal von einem schon etwas älteren Problem dieses Jahrhunderts her, nämlich der zunehmend ratloser gewordenen Frage und Suche nach dem oder einem '·revolutionären Subjekt" systemverändernder Praxis, angesichts der offenbar stabilisierungs- und reproduktionsfähigen objektiven Produktions-Verhältnisse (Lefäbvre) und des in irgendeiner Form unvermeidbaren "Abschieds" von den klassischen Theorien des Proletariats und der Revolution (Marcuse, Gorz, Lefäbvre, Habermas, Bahro u.a.). Dazu kommt, daß die neu aufgekommenen gesellschaftskritischen Al ternativbe-
-wegungen (Ökologie, Friedens-, Frauenbewegung) in ihren unterschiedlichen Orientierungen zwar manchen Bezugs-
punkt zur marxistisch-sozialistischen Kritik kapitalistischer Gesellschaften aufweisen, aber doch auch wesentliche theoretisdi-praktische Differenzen, die sich jedenfalls nicht bruchlos mit einem (gar noch "orthodoxen")marxistischen Theorie-Praxis-Konzept vermitteln lassen.
Es ist klar, daß einer solchen Lage, in der (kritisches) Bewußtsein und gesellschaftliches Sein in vielfältiger Weise auseinandertreten, das theoretisch und praktisch relevante Problem ihrer Verhältnisbestimmung neu auf geworfen wird und in den Mittelpunkt rückt; und auch, daß nicht-objektivistische Positionen (wie die von Bloch, Marcuse, Sartre, Lefäbvre, Habermas), in deren Ansatz die offene Dialektik von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein gewahrt wird, am ehesten in der Lage sind, die gegenwärtige Problemsituation marxistischer Theorie zu erhellen und zu lösen. Zu einer solchen Erhellung gehört unabdingbar auch die Erörterung der Bezüge und Differenzen zur Marxschen Problemkonstellation und d.h. der gegenidealistischen Formel von Marx und Engels "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt".
2. Im Umkreis der marxistischen Theoretiker und Philosophen, die der von Marx unterschiedenen gegenwärtigen Problemlage u.a. durch eine Neufassung des Bewußtseinsthemas im dialektischen Verhältnis von Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein zu entsprechen suchten, ist Ernst Bloch gewiß nicht derjenige, der die gegenwärtige Lage am gründlichsten analysiert hat, wohl aber hat er die veränderte Beurteilung des Bewußtseinsfaktors sowohl in historisch-gesellschaftlicher als in philosophisch-struktu-
Utopie und Bewußtsein
reller Hinsicht auf eine grundlegend-umfassende und produktive Weise thematisiert, die zudem durch ihre immanent kritischen Bezüge zu Marx und ihre Parallelen zu Sartre, Lefäbvre, Marcuse u.a. für die weitere Diskussion von besonderer Bedeutung ist.
a) Eine für die historisch-gesellschaftliche Analyse fruchtbare Differenzierung der Bewußtseinsdimension und der Dialektik von Bewußtsein und gesellschaft" lichem Sein hat Bloch vor allem in seinen Diagnosen der -gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse, Entwicklungen und Tendenzen der Wei,marer Zeit (die 1935 in "Erbschaft dieser Zeit" gesammelt erschienen) vorgenommen. Darin wird das Konzept einer "mehrschichtigen" (bzw. "m'ehrrä umigen ") Dialektik "gleichzeitiger" und "ungleichzeitiger" Widersprüche im und zum kapitalistischen System entwickelt und an den Zeitanalysen (zumal angesichts der Verführbarkeit bestimmter Schichten durch den Nationalsozialismus/Faschismus und die Versäumnisse der marxistischen Gegenbewegung) konkret bewährt. Dieses Konzept sollte zwar keine Ersetzung, sondern eine theoretisch und praktisch notwendige Horizonterweiterung und Differen-. zierung der dialektischen Methode marxistischer (ideologiekritischer ), Bewußtseins- und Gesellschaftsanalyse sein, zumal gegenüber ihrer zeitgenössischen Verkümmerung zu einem erfahrungsund phantasielosen Schema. (Eine Kritik, die Sartre später ganz ähnlich am offiziellen Marxismus geübt hat.) Der gleichzeitige und dem kapitalistischen System immanente Grundwiderspruch - zwischen Lohnarbeit und Kapital, gesellschaftlicher Produktion und privater An-
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Helmut Fahrenbach
~ignung - und der Klassengegensatz bleiben objektiv und subjektiv entscheidend für eine revolutionäre Umwälzung durch das klassenbewufüe Proletariat. Aber für den revolutionären Prozef~ muf~ das Widerspruchspotential gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft einbezogen und aktiviert werden, das aus älteren "ungleichzeitigen" Phasen der gesellschaftlichen Entwick'lung und Schichten des Bewufüseins noch gegenwärtig ist und sich in kapitalismus-kritischen Bewußtseinslagen, Einstellungen und Verhaltensweisen auswirkt. b) Im Rahmen seiner Grundlegung der marxistischen Philosophie (Theorie-Praxis) der Weltveränderung gibt Bloch "alles Weitere fundierend und tragend" eine neue Auslegung des Bewußtseinsfaktors, d.h. der Bewußtseinsform, die dem praktisch-theoretischen Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst vorrangig zugehört: das "antizipierende Bewußtsein". (Unter diesem Titel steht der 2. Teil, die "Grundlegung" des Prinzip Hoffnung Zit. = PH). Mit dem 'antizipierenden Bewußtsein' kennzeichnet Bloch die für die menschliche Lebensform grundlegende Bewußtseinsdimension, in deren Richtungsbestimmung der für das "nach vorn" orientierte zeitliche Dasein und Werden wesentliche und vorrangige Möglichkeitsund Zukunftsbezug erhellt wird. Denn im antizipierenden Bewußtsein wird in verschiedenen Weisen des Vorgriffs auf Mögliches und Künftiges (in Tagtäumen, Wünschen, Hoffnungen, Prognosen, Entwürfen, Plänen) die Dimension der Zukunft, die an der Front allen Werdens und für das menschliche Leben auch im Bewußtseins- und Praxishorizont liegt, perspektiv eröffnet und das faktisch Gegebene (Gegenwärtige) auf vorgestelltes Mögliches, Anderes, Neues hin "überschritten", wenn es auch erst durch praktische Realisierung verändert zu werden vermag. Blochs Bestimmung des antizipierenden Bewußtseins schließt aber auch dessen anthropologische (trieb dynamische) Voraussetzungen ein (die mit der Bedürftigkeit und dem drängenden Begehren leibhaften Lebens gesetzt sind und als Triebfedern auch im protendierenden Bewußtsein wirksam bleiben) und die "ontologischen" Bezüge zu .dem durch das antizipierende Bewußtsein erschlossenen Korrelat d~r unfertigen, möglichkeitsoffenen Wirklichkeit (in Geschichte, Gesellschaft und Natur),
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innerhalb deren die geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen analytisch und praktisch das Feld konkreter Antizipation (Utopie) und real möglicher Praxis umreißen. Erst und nur in diesem Bezugsrahmen fungiert das antizipierende. Bewußtsein als grundlegende Kategorie und anthropologisch zentraler Ansatzpunkt für Blochs Auslegung des Verhältnisses von Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein. Im Kontext dieses Bezugsrahmens zeigen sich mannigfach Bezüge, aber auch Differenzen zur Marxschen Position. c) So sehr Bloch daran liegt, seine utopische Philosophie, zumal ihrer geschichtlich-praktischen Bestimmung nach, von Marx und der epochalen Bedeutung seiner Theorie-Praxis herzuleiten, so ist er sich doch auch bewußt, an bestimmten Punkten aus einem weitergespannten Horizont philosophischer Einsicht Konsequenzen aufweisen, Verengungen beseitigen und Weiterentwicklungen vornehmen zu müssen. Ein für die hier verfolgte Fragestellung zentraler Punkt, an dem Bloch die Reflexion objektiv und subjektiv relevanter Konsequenzen für nötig hält, ist gerade der für Bloch entscheidende neue Zug am Marxschen Denken und in marxistischer Philosophie gegenüber der Tradition, nämlich die Umwendung der Grundrichtung des Denker.s von der Vergangenheit zur Zukunft hin. Wenn im "Kommunistischen Manifest" gesagt wird. daß in der kommunistischen Gesellschaft, im Gegensatz zur bürgerlichen, "die Gegenwart über die Vergangenheit herrscht". so ergänzt Bloch, "und es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist..." (PH 329. vgl. 725). Und eben dieser Horizont der Zukunft. in dem "die beginnende Philosophie der Revolution eröffent wurde," ist "in und an Marx selber noch kaum völlig reflektiert worden" (a.a.O.). Die hier nötige und von Bloch durchgeführte philosophische Reflexion betrifft vor allem die anthropologischen und ontologischen Voraussetzungen und Perspektiven des Zukunftshorizontes alles prozeßhaft Wirklichen in Mensch und Welt, Natur und Geschichte, der im antizipierenden Bewußtsein als objektiv zum Realen gehörende und zu bestimmtende Möglichkeitsdimension erschlossen wird. Insbesondere die Auszeichung des antizipierenden Bewußtseins gibt dem Verhältnis von Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein bei Bloch gegenüber Marx
andere Konturen und Schwerpunkte. Denn das antizipierende Bewußtsein kann weder in der Möglichkeit und Funktion des Überschreitens der Realität noch in den Gehalten utopischer Phantasie als durch das faktische C) gesellschaftliche Sein direkt bestimmt oder präformiert bzw. als dessen bloßer Ausdruck gedacht werden. Dem transzendierenden Entwurf des Möglichen, d.h. Nicht-wirklichen bzw. im Hinblick auf Künftiges des Noch-nicht-Seins, muß vielmehr eine wesentliche Unabhängigkeit gegenüber dem faktisch Gegebenen zugestanden werden. Es kommt Bloch (wie Sartre) zunächst vor allem darauf an, diesen überschreitenden Zug im menschlichen Bewußtsein und Leben. den theoretisch-praktischen Ausgriff ins Offene der Zukunft und des Möglichen (inmitten und trotz aller realen Bedingtheit) als eine entscheidende Funktion und Bedingung des "Aktivitätsfaktors" im Subjekt kenntlich zu machen und offen zu halten, zumal sich darin die existentielle und metaphysische "Tiefendimension des subjektiven Faktors" (PH 168). wie auch des Geschichts- und Weltprozesses enthüllt, das "Eigentliche im ~1enschen wie in der Welt noch ausstehend ist" (PH 285) und als utopischer Ziel- und Sinngehalt eines gelungenen Lebens und erfüllter Gegenwart in der Welt gesucht wird. Diese Tiefendimension, die zugleich den weitesten "prospektiven Horizont" (PH 257) für Geschichte und Weltprozeß vorzeichnet. gilt es auch dem Marxismus. gegen alle Reduktionen als ''Reichtum'' und "Leben der Tiefe" seines humanen Gehalts zu erhalten bzw. wieder zuzueignen (PH 726, vgl. Kap. 55 ).
Das bis jetzt Gesagte könnte freilich den Eindruck erwecken. hier ginge es doch wieder nur um eine neue Variante des von Marx kritisierten verselbständigten Bewußtseins, von dem auch noch gut idealistisch angenommen wird. daß es das - künftige - gesellschaftliche Sein bestimme oder zumindest bestimmen könne. Zudem scheint das die Realität "überschreitende'' oder überfliegende antizipierende Bewußtsein allzu leicht eine idealistisch "ideologische" Funktion ausüben zu können. Dies wäre jedoch eine irrige Auffassung. Es kann natürlich keine Rede davon sein, daß das so bestimmte antizipierende Bewußtsein als solches das gesellschaftliche Sein bestimme, sofern es lediglich Möglichkeiten entwirft. Wirklichkeit bzw. gesellschaftliches Sein zu bestimmen, ist indessen
allein Sache erhaltender oder verändernder Praxis (PH 1618). Die dem antizipierenden Bewußtsein allerdings zugedachte Erschließung der Ziele und Möglichkeiten verändernder Praxis erfordert aber gerade seine Vermittlung mit der Realität zu "konkreter Antizipation'', in der sich auch der Schein ideologischer Funk-
• tion auflösen muß.
d) Durch die Forderung „konkreter Antizipation' bzw. 'konkreter Utopie'' wird das antizipierende Bewußtsein entgegen einem phantastischen überfliegen der Realität ("Utopismus") in die Wirklichkeit des gese llschaftlich-geschich tlichen Seins zurückbezogen. ohne den umfassenden utopisch-prospektiven Horizont preiszugeben oder ihn auf das jetzt real Mögliche bzw. möglich Scheinende zu verkürzen. Mit dieser konkretisierenden ('"verendlichenden") Bewegung wird erst das dialektische Verhältnis bzw. die Vermittlungzwischen utopischem ·Bewußtsein und gesellschaftli-
ehern Sein erreicht. Denn ein 'antizipierendes' - und nicht nur ins Phantastische ausschweifende - Bewußtsein muß sich im Wirklichkeits- und Möglichkeitsfeld des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins selbst 'situieren', gerade um die 'transzendierende' Dimension der realen Möglichkeit einer besseren Zukunft erschliessen zu können. Die Ansatzpunkte "konkreter" Antizipation (Utopie, Phantasie, Hoffnung) bestehen darin, " ... Vorhandenes in die zukünftigen Möglichkeiten seines Andersseins, Besserseins antizipierend fortzusetzen. Wonach sich die so bestimmte Phantasie der utopischen Funktion von bloßer Phantasterei eben dadurch unterscheidet, daß nur erstere ein Noch-Nicht-
Sein erwartbarer Art für sich hat, das heißt, nicht in einem Leer-Möglichen herumspielt und abirrt, sondern ein RealMögliches psychisch vorausnimmt" (PH 163, vgl. l 79f., 256, 723ff.).
So entschieden und überzeugend Bloch - gegen "Utopismus" und "Empirismus" / "Positivismus" - das Konzept ."konkreter Utopie" als die Vermittlung zwischen antizipierendem Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein (Utopie und Praxis) in den Mittelpunkt zumal der marxistischen Theorie-Praxis rückt und festhält, so ist damit zunächst lediglich eine notwendige Problemstellung begründet und eine Aufgabe formuliert. Die wesentlich situationsbezogene Einlösung der Aufgabe (der realitä tsvermittelten „Konkretisierung" von Utopie, Antizipation) ist dadurch keineswegs schon gesichert oder gar geleistet. Denn eine solche Einlösung muß unabdingbar, wenn auch nicht nur, in der Gegenwartsbzw. Situationsanalyse Fuß fassen, um
im Möglichkeitsfeld des gesellschaftlichen Seins die utopischen Entwürfe und Antizipationen als solche realer Möglichkeit zu konkretisieren. Hinsichtlich der Situations- und Gesellschaftsanalyse rekurriert Bloch oft allzu pauschal und ohne zureichende historisch-kritische Reflexion der weiteren geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklungen auf die Grundbestimmungen der Marxschen Kapitalismusanalyse. Bloch hat zwar - wie angedeutet - für die Weimarer Zeit eine sachlich und methodisch originäre Zeitanalyse ·entwickelt, die ihren "konkret-utopischen Hintergrund" an den Umbruchs- und übergangsphänomenen im Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der Zeit zu be-
Utopie und Bewußtsein
währen suchte und dafür mit der mehrschichtigen Dialektik der gleichzeitigen und ungleichzeitigen Widersprüche eine zweifellos fruchtbare Differenzierung und Erweiterung der marxistischen Methode gesellschafts- und ideologiekritischer Analyse vornahm (der gegenüber z.B. G. Lukics in einerunveröffentlichten Rezension der "Erbschaft" die ganze Verständnislosigkeit der Orthodoxie dokumentierte). Blochs Dialektik der ungleichzeitigen Widersprüche bleibt jedoch an den gleichzeitigen und theoretisch wie praktisch entscheidenden ökonomischen Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit 1 den Klassengegensatz und die revolutionäre Rolle des Proletariats gebunden. So begründet diese Konzeption für die Analyse der Weimarer Zeit auch noch gewesen sein mag, eine unkritische übertragun_g dieses klassischen Konzepts (auch in seiner diff erenzierteren Form) auf die neueren Entwicklungen und die Gegenwart wäre jedoch zweifellos problematisch ·(und sie ist von Bloch auch nicht direkt vollzogen worden). Von der heutigen Lage aus ist jedenfalls zu sagen, daß der für Blochs Konzeption tragende Pfeiler des gleichzeitigen Grundwiderspruchs brüchig geworden und selbst der mehrschichtigen Dialektik verfallen ist. Damit hat Blochs dialektisch-kritische Hermeneutik zwar ihr revolutionäres Zentrum, aber nicht ihre Bedeutung verloren. Blochs Konzeption einer mehrschichtigen Dialt(ktik könnte vielmehr gerade dadurch die Flexibilität und Offenheit gewinnen, die nötig ist, um die heute selbst als nicht zentralisiert und vielschichtig auftretenden gesellschaftlichen Bewegungen zu begreifen, zumal darin utopisch-kritische Intentionen und Gehalte veränderter Bedürfnisse, Einstellungen und Lebensformen eine wesentliche Rolle spielen. 3. Daß gegenwärtig konkret utopisches Denken für eine das Wirklichkeits- und Möglichkeitsfeld erhellende materiale Gesellschaftsanalyse von wesentlicher Bedeutung ist, läßt sich, deutlicher als an Bloch, selbst besonders an H. Marcuse und H. Lefäbvre (aber auch an Sartre, Bahro u.a.) erkennen, die ihre materiale Gesellschaftsanalyse und -kritik am Leitfaden der Dialektik von Wirklichkeit und Möglichkeit (Aktualität und Potentialität) und konkreter Utopie orientieren und dabei ebenfalls die· aktive Bedeutung des (in Phantasie und Wünschen) transzendierenden "überschüssigen" Bewußtseins (Bahro, Mar-
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Helmut Fahrenbach
cuse) im subjektiven Faktor für die Erschließung konkreter, realer Möglichkeiten verändernder gesellschaftlicher Praxis herausheben. Eben dafür hat Bloch den Blick in den weitesten Horizont der normativ-utopischen Sinngehalte und Ziele einer besseren Zukunft der Menschen geöffnet und ihn zugleich mit der F orderung konkreter Utopie auf die gesellschaftlich-geschichtliche Nähe gelenkt. Die überschreitende Bewegung des konkret utopisch "transzendierenden" Bewußtseins hält sich prinzipiell in der Dimension von Zeit und Geschichte und bleibt dadurch (im Unterschied zu einem gleichsam vertikalen (statischen) "metaphysischen" Transzendieren) zu einer anderen, eigentlichen Wirklichkeit in sich auf Zukunft als die Zeitdimension möglicher Praxis bezogen. Dem korrespondieren sowohl Marcuses Unterscheidung von "metaphysischem" und "geschichtlichem" Transzendieren (in "Der eindimensionale Mensch", 1967, S.13, 35) als auch die strukturellen Bestimmungen. der entwerfend "überschreitenden" Praxis bei Sartre und Lefäbvre; auch wenn in Blochs Verzeitlichung und Historisierung der Metaphysik mehr an traditionellen metaphysischen Problemen und Perspektiven, den Zusammenhang und Prozeßsinn des Seienden im ganzen betreffend, eingehen.
Konvergenzen und Parallelen zeigen sich weiter in der methodischen Bestimmung des Theorie-Praxis-Verhältnisses auf der generellen Basis der Wechselwirkung (Oszillation) von Theorie und Praxis. Wenn Bloch auf dieser Basis vom "Prius
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(Vorgängigkeit) der Theorie und Primat (Vorrang) der Praxis" spricht, dann ist die Vorgängigkeit der Theorie gerade auf ihre (situationsanalytisch und normatiy-utopisch) begründete antizipatorische Funktion bezogen, denn dadurch ist sie auf den Vorrang verändernder Praxis gericht~t. Genauso formuliert Marcuse das Verhältnis, indem er, gegen die Vorstellung einer unmittelbaren Einheit von Theorie und Praxis und für das Spannungsverhältnis aus der Struktur der Theorie plädierend, sagt: die Theorie "hat eine antizipierende, kritische Qualität. Auf Grund der Analyse der gegebenen Gesellschaft projiziert, entwirft die Theorie mögliche Praxis. Das ist das geschichtliche A priori der Theorie". (Zeit-Messungen, 1975, S. 21). Auf ähnliche Weise bestimmen Lefäbvre und Sartre die praxis- und möglichkeitsbezogene kritische und projektive Funktion der Theorie. Mit dem Konzept '"konkreter Utopie" hat Bloch seine Jnterpretation der offenen Dialektik von Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein, die durch eine korrektive Akzentuierung des antizipatorischen Bewußtseins- und Aktivitätsfaktors für das praktische Weltverständnis bestimmt ist, so auf den (programmatischen) Begriff gebracht, daß sie als Aktualisierung und Transformation der
Marx/Engelsehen Formel, bei Wahrung ihres kritischen Sinnes, verstanden werden kann. Denn das antizipierende Bewußtsein kann sich auf Grund seiner ihm immanenten Protention auf mögliche, künftige Praxis und Wirklichkeit
weit weniger leicht von der Realität ablösen bzw. abgelöst halten und sich ideologisch verselbständigen (als das vorstellend interpretierende Bewußts~in), ohne nicht alsbald an sich selbst den Status des Phantastischen, Illusionären zu erkennen zu geben und zu erfahren. Darum bleibt auch dem Denker des ''Prinzips Hoffnung" bewußt, daß '· ... Hoffnung den (jeweils vorgegebenen_ H.F.) HoriZont nur übersteigt, während erst Erkenntnis des Realen mittels der Praxis ihn auf solide Weise verschiebt ... " (PH 1618 ). Aus dem gleichen Grunde des virtuellen Praxisbezuges vermag andererseits das konkret-utopische Bewußtsein eine aktivere und bestimmendere Funktion an der "Front" des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins als Werden für die Orientierung und Motivation emanzipatorisch verändernder Praxis auszuüben:. Und es kann dafür auch die normativen und kritischen Gehalte, die das utopische Bewußtsein in geschichtlichen und oft abstrakten Formen hervorgebracht hat, durch eine die ideologische und utopische Funktion unterscheidende kritische Hermeneutik aktualisieren. Dieser in der Marxschen Kritik des religiösen Bewußtseins lediglich angedeutete Aspekt ist von Bloch zu einer umfassenden Interpretation der uneingelösten utopischen Ge.halte des geschichtlich-kulturellen Erbes von den unscheinbarsten alltäglichen Träumen und Wünschen bis zu den Entwürfen des höchsten Gutes in der Welt entwickelt und fruchtbar gemacht worden. Ernst Bloch hat seine Transformation der Marxschen Formel selbst auf eine Formel gebracht: "Das Sein, das das Bewußtsein bedingt, wie das Bewußtsein, das das Sein bearbeitet, versteht sich letzthin nur aus dem und in dem, woher und wonach es tendiert" (PH l 7f.). Die darin zusammengefaßte Transformation ist über ihre Relevanz für Philosophie und marxistische Theorie hinaus von besonderer Bedeutung in einer Zeit. in der die Zukunft primär die Züge des Bedrohlichen zeigt, bis hin zur Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit, und in der objektive Faktoren und Tendenzen einer Wendung zum Besseren kaum auszumachen sind. Dann hängt das Gewicht der möglichen und wirklich werdenden Zukunft verstärkt an der konkreten Phantasie des antizipierenden Bewußtseins und an der motivierenden Kraft der Hoffnung für das an einer besseren Zukunft arbeitende Handeln.
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ONTOLOGIE DES NOCH-NICHT-SEINS ODER ONTOLOGIE 'DES GESELLSCHAFTLICHEN SEINS?
·'Erinnerung: Als einer zu seinem weisen Freund sagte: unsere Gespräche mögen fein und tief sein, aber wie stumm sind die Steine und wie unbewegt bleiben sie von uns; wie groß ist das Weltall und wie armselig steht die 'Höhe' unserer Peterskirche davor; was müßte erst die Erde selber zu sagen haben, wenn sie einen Mund von Lissabon bis Moskau öffnete und nur wenige Worte donnerten, orphis~h; - da erwiderte der weise Freund, als Lokalpatriot der Kultur: eine Ohrfeige ist kein Argument und die Erde? sie würde vermutlich lauter Unsinn reden, denn sie hat weder Kant noch Platon gelesen."1
Das Gespräch mit dem weisen Freund -Georg Lukacs - kreist um ein Problem: das Verhältnis von Freiheit und Natur. Beide, Bloch und Lukacs, verfolgen in ihren Spätphilosophien ontologische Intentionen. Doch hat Bloch genau den Kernpunkt festgehalten, worin beide sich trennen.
Lukacs begreift das Verhältnis von Freiheit und Natur als Perfektion der Herrschaft, wodurch der Spielraum der Freiheit sich öffnet und erweitert. Ontologisch läßt er diese Herrschaft über die äußere, nichtmenschliche wie die innere, menschliche Natur der Arbeit entspringen. Die Analyse der Arbeit steht deshalb im Mittelpunkt der 'Ontologie des gesellschaftlichen Seins'. Lukacs meint, Marxens Kritik der politischen Ökonomie fortzuführen, in der Tat aber restauriert er den bürgerlichen Arbeitsbegriff. Bloch hingegen bestimmt das Verhältnis des Menschen zur Natur utopisch als V ersöhnung. Er beruft sich aufMarxens 'Pariser Manuskripte', worin die Naturalisierung des Menschen und die Humanisierung der
Natur eine zentrale Rolle spielt. Dabei modifiziert Bloch den ursprünglichen Sinn und reduziert Natur auf äußere Na. tur, während Marx Naturalisierung des Menschen und Humanisierung der Natur als Chiasmus meint: Natur bedeutet menschliche Natur, die äußere Natur hat bei ihm kein Wesen im emphatisch-normativem Sinn. 'ßloch kann dies, weil er das Sinnproblem nicht nur gesellschaftlich, sondern allumfassend kosmologisch denkt, als Problem des Endzwecks der Welt. Er faßt das Experiment Welt als Laboratorium möglicher Wendung zum Guten, aber dessen Zukunft noch nicht entschieden ist, freilich um den Preisei-. ner teleologischen Betrachtung der Materie. Im Zentrum der Ontologie des Noch-Nicht-Seins steht das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks, das Bloch als utopisch gefaßte Identität von Subjekt und Objekt in der Natur versteht.
1. Ontologie des Gesellschaftlichen Seins. Ihr Kernbegriff: Arbeit als teleologische Setzung
Gegenstand der Ontologie ist für Lukacs primär, wie der Titel des späten Werks anzeigt, das gesellschaftliche Sein.Dieses konstituiert sich in der Arbeit. Systematisch am Anfang der 'Ontologie des gesellschaftlichen Seins' steht deshalb die "Analyse der Arbeit" 2
: "In der Arbeit sind alle Bestimmungen, die .... das Wesen des Neuen am gesellschaftlichen Sein ausmachen, in nuce enthalten. Die Arbeit kann als Urphänomen, als Modell des gesellschaftlichen Seins betrachtet werden"3
. Arbeit ist für Lukäcs "die ontologische Zentralkategorie"4
•
Lukacs scheint vom Ersten Band des Ma~xschen 'Kapitals' auszugehen. Dort wird die Arbeit bestimmt als "ein Prozeß
Ontologie
zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt kontrolliert" 5
. Arbeit ist nach Marx "zweckmäßige Tätigkeit"6
,
denn "am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war."6 Luk:ics scheint nun lediglich diesen Arbeitsbegriff ontologisch auszulegen, wenn er Arbeit als "teleologische Setzung begreift. Doch eines ist ganz entscheidend: die Funktion dieser Definition im Ganzen der "Kritik der politischen Ökonomie": Lukics nimmt sie für das Ganze, während sie in Marxens Theorie nur einen untergeordneten Teil ausmacht: die Hauptsache, das spezifisch Historisch-Gesellschaftliche, welche die politische Ökonomie erst in .Kritik umschlagen läßt, ist bei Lukacs ausgelassen .
Lukacs konstruiert die Arbeit als "ontologische Genesis der Freiheit" 7
, de.nn Arbeit unterstellt autonome Zwecksetzung, welche der Ausführung vorhergeht: Freiheit als Wahl zwischen Möglichkeiten und als bewußtes Verändernwollen der Wirklichkeit 3
. Hieraus resultiert die Differenz von natürlichemund gesellschaftlichem Sein, sodann die Differenz von Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein, die Scheidung von Theorie und Praxis.
. Beide Differenzen fußen auf der Trennungvon Subjekt und Objekt. "Diese 9ewußt gewordene Trennung von Subjekt und Objekt ist ein notwendiges Produkt des Arbeitsprozesses und zugleich Grundlage für die spezifisch menschliche Existenzweise. "9
Arbeit, die nicht nur gesellschaftliches Sein vom natürlichen Sein scheidet, sondern auch das Bewußtsein vom gesellschaftlichen Sein, produziert auch die Sprache10. Subjekterfassung kommt ausschließlich dem arbeitenden Menschen zu, denn das "Phänomen der Freiheit" bleibt "derNaturvölligfremd ... " 11
• Arbeitend transzendiert der Mensch die Natur und errichtet die neue Sphäre spezifisch menschlichen Seins, das gesellschaftliche Sein. Er erwirbt die Fähigkeit, die Natur durch die bewußte Kontrolle zu beherrschen. Die Verwirklichung teleologischer Setzungen bedarf äußerer Mittel, welche der Mensch in der äußeren Natur vorfindet. Dazu aber muß er die äußere Natur in ihren Wirkungsweisen kennen. Bewußte Teleologie im gesellschaftlichen Sein der Arbeit und blinde, weil völlig zweckfremde Kausalität der Natur bedin-
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Eberhard Braun
gen sich wechselseitig, "wobei dem Sollen die Funktion des übergreifenden Moments zukommt." 12 Die Herrschaft über die äußere, nichtmenschliche Natur begleitet die Beherrschung der inneren menschlichen Natur . "Die Selbstbeherrschung des Menschen, die notwendigerweise zuerst als Wirkung des Sollens in der Arbeit auftaucht, die wachsende Herrschaft seiner Einsicht über die eigenen spontan biologischen Neigungen, Gewohnheiten etc. wird durch die Objektivität dieses Prozesses geregelt und gelenkt"13. Lukacs beschreibt den Fortschritt, der sein Fundament im ökonomischen hat, denn auch konsequent als "Prozeß des Zurückweichens der Naturschranke"14, der äußeren wie der inneren, und er schränkt ein: "die Naturschranke kann nur zurückweichen, aber niemals völlig verschwinden" 15 . Lukics zieht hieraus die Konsequenz: "Man kann sogar sagen: der kampfvolle Weg der Selbstüberwindung von der naturh4ften Instinktdeterminiertheit bis zur bewußten Selbstbeherrschung ist der einzig reale Weg zur wirklichen menschlichen Freiheit."16
In seiner Konstruktion des Arbeitsbegriffs beruft sich Lukacs auf Hegels 'Jenaer Realphilosophie' und das Kapitel über Teleologie aus der 'Großen Logik'. Zustimmend zitiert er Hegels Konzeption der Arbeit als Überlisten der äußeren Natur. Diese Natur ist rein kausal, den Zwecken des Menschen völlig äußerlich. Die enge Verwandtschaft von Lukacs' Analyse der Arbeit mit Hegel kann ein Blick auf die 'Phänomenologie des Geistes' bezeugen. Hegel konstruiert Arbeit als Gestalt des Selbstbewußtseins, als Übergang vom natürlichen Sein der Begierde zum geistigen Sein der Freiheit des Denkens. Durch Arbeit, welche die natürliche Begierde hemmt, löst sich das Bewußtsein von den Fesseln der Natur und befreit sich arbeitend, zum Denken. Trotz großer kritischer Vorbehalte gegenüber Hegel 17 konserviert Lµkacs wesentliche Elemente Hegels, insbesondere den supranaturalen Charakter der Freiheit. Er bekundet sich vor allem in der Perfektion der Herrschaft über eine Natur, welche dem Menschen fremd bleibt und als äußerliche nur durch überlistung in den Dienst menschlicher Zwecke gestellt werden kann. Auch bei Hegel er·gänzen sich Kausalität und Teleologie, äußere Zweckmäßigkeit wechselseitig. Lukacs' äußerst repressives Verhältnis zur Natur, zur menschlichen wie zur aussermenschlichen, sperrt sich von vorµhe-
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rein gegen jegliche Form einer Emanzipation der Sinnlichkeit.
Mit dieser Konstruktion der Arbeit begibt sich Lukacs in Widerspruch zu Marxens Arbeitsbegriff im 'Kapital'. Arbeit, als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur genommen bleibt im Bereich des Natürlichen. Der Mensch tritt im Stoffwechsel mit der Natur dieser als eine "Naturmacht" gegenüber; Gesellschaftliches Sein wird Arbeit erst, wenn man die spezifischen gesellschaftlichen Formbestimmu ngen in die Analyse einbezieht. übersinnlichen Charakter aber nimmt sie erst in der bürgerlichen Gesellschaft an, als Waren produzierende Arbeit, worin sie sich verdoppelt in konkrete, Gebrauchswerte herstellende und abstrakte, Wert produzierende Arbeit. Ein supranaturales gesellschaftliches Sein zu konstituieren, kommt allein einer bestimmten ~.
historischen Form der Arbeit zu, und · diese Form bestimmt Marx nicht ontologisch, sie wird bei ihm Gegenstand historischer Kritik. Weil aber Lukacs diese Kritik wieder in ontologische Affirma-
tion zurücknimmt, muß er in seinem Freiheitsbegriff typisch idealistische, in diesem Fall Kantische Züge konservieren und an der typisch bürgerlichen Idee der Perfektion der Naturbeherrschung festhalten.
2. Ontologie des Noch-Nicht-Seins. Ihr Kernbegriff: Dunkel des gelebten Augenblicks
In allen seinen Werken setzt Bloch ein mit der Frage nach uns selbst. "Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?" So hebt das Hauptwerk 'Das Prinzip Hoffnung' an. Bloch antwortet, der Mensch in der Unmittelbarkeit und Nähe seiner Existenz sei sich seiner selbst lediglich fragmentarisch bewußt, er wisse nicht wirklich, wer er sei. Doch beruht dieses sehr unzulängliche Wissen nicht bloß auf der Kürze menschlicher Erkenntnis, es hat vielmehr einen objektiven Grund: die in Frage stehende Sache ist selber noch durch und durch unfertig. Der Mensch ist drängendes Triebwesen,
das sich selbst noch nicht hat und deshalb nach Erfüllung hungert, und zwar zunächst wünschend in Gestalt von Tagträumen eines besseren Lebens. Solche Wünsche drängen nach Erfüllung, sie können aber nur wirklich werden, wenn die Welt so beschaffen ist, daß die utopisch nach vorwärts träumende Phantasie• ein Korrelat in ihr findet. Die Welt selber muß die Verfassung der Unfertigkeit haben, Prozeß sein, der für Neues, echte Zukunft offen steht. Das objektive Korrelat in der Welt ist ein NochNicht-Sein, ein Seiendes, das sich im schlecht Vorhandenen nicht vorfindet, dessen Dasein aber in der bestehenden Welt als objektive-reale Möglichkeit angelegt ist, als Möglichkeit, die wirklich werden, aber auch scheitern kann. Das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks, das zunächst subjektiv erfahren wird, stellt sich dar als ein objektives Dunkel der prozeßhaft-unfertigen Welt, als teleologischer Prozeß der Materie mit der objektiv-realen Möglichkeit des Heils der Welt im ganzen. Das heißt für Bloch: das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks ist philosophisch kein bloß anthropologisches, sondern vor allem ein kosmologisches Problem, das Kernthema seiner Ontologie des Noch-Nicht-Seins.
Welt und Mensch als Teil dieser Welt sind primär Natur, Materie, woraus Gesellschaft als spezifisch menschliche Materie erst hervorgeht. Materialismus heißt für Bloch wie für Engels: Erklärung der Welt aus sich selbst.
Der Mensch kann sich über die Welt nicht erheben, er kann sie nur, soweit es in seiner Möglichkeit steht, verändern; er kann nur den gegenwärtigen Weltzustand, nicht aber die Welt schlechthin überschreiten, wie dies die traditionelle idealistische Philosophie von Platon zu Hegel unterstellte. Diese Bewegung nennt Bloch Tranzendieren ohne Tranzendenz. Deshalb kann der Mensch auch nur in der Totalität seines Weltverhältnisses verstanden werden: der Mensch als Frage - die Welt als Antwort, die Welt als Frage -der Mensch als Antwort. Deshalb bedarf die Frage nach dem Menschen, nach dem gesellschaftlichen Sein der ontologischen Erweiterung seiner Theorie des Endzwecks der Welt, der teleologischen Werdemöglichkeit der Materie.
Dennoch wahrt Bloch das Primat gesellschaftlicher Praxis, die gesellschaftliche Utopie bleibt für ihn die praktisch wichtigste, weil aktuellste - in Sachen Praxis sei er nach wie vor Ptolemäer, versichert
Bloch. Selbstverständlich ist für ihn das vorrangige Subjekt, sowohl theoretisch wie praktisch, der Mensch, der arbeitend seine Geschichte erzeugt. Doch, wendet Bloch ein, darf Natur nicht auf bloßes beherrschbares Arbeitsmaterial reduziert werden. Als das überwölbenden, Allumfassende ist sie mehr als das, Wohnstätte des Menschen, die Heimat werden kann. Hier greift Bloch Marxens Formel von der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur auf und gibt ihr eine Bedeutung, die weit über Marx hinausgeht. Nach Blochs Auslegung bedeutet diese Formel: der Mensch befreie sich aus aller Fremdheit der äußeren Natur, und die Natur selber könne von sich aus sich menschgemäßen Formen nähern, so das die Natur in ihren produktiven Möglichkeiten entbunden wird. Der bürgerlichen List - und Herrschaftstechnik, die auch Lukacs verficht, stellt Bloch die Utopie einer Allianztechnik entgegen, die nicht auf Entfesselung der Produktivkräfte um jeden Preis setzt, sondern diese in den Dienst der Lebensbedürfnisse der '"Menschen stellen will. Dies veranlaßt Bloch, eine teleologische Mitproduktivität der Natur anzunehmen, ein mögliches Subjekt der Natur zu vermuten, eine natura supernaturans. Diese Hypothese öffnet Bloch den Blick für Naturbilder nicht-technischer Art, mythische und ästhetische. Bloch weiß sich mit Lukacs einig, daß Dialektik im Subjekt- · Objekt-Verhältnis zu verankern ist, er akzeptiert" indes die Reduktion des Subjekts auf den Menschen nicht. Die Annahme eines hypothetischen Natursubjekts gestattet ihm auch von einer Dialektik der Natur zu sprechen, die Lu~acs gerade leugnet, auch im Spätwerk. Sie fußt auf der utopischen Öffnung des Verhältnisses des Menschen zur Natur: Freiheit basiert nicht auf der Beherrschung einer fremden Natur, sondern auf der Versöhnung mit einer total vermenschlichten, heimisch gewordenen.
Mit der Errichtung der klassenlosen Gesellschaft ist für Bloch die letzte utopische Zielintention noch nicht erfüllt. Die stärkste Nicht-Utopie, woran menschliches Wünschen letztlich abprallen muß, ist der Tod, der auch in der klassenlosen Gesellschaft noch ein Rätsel bleibt, und zwar Tod nicht nur als ein individuelles Problem des Lebensendes, vielmehr ebenso als kosmisches Problem des Wärmetods des Weltalls. Das Dunkel des gelebten Augenblicks zeigt an, daß die Existenz, das Daß, utopische Wesen, das Was, noch nicht gefunden hat. In äußer-
Ontologie
ster spekulativer Konstruktion deutet Bloch den Tod ontologisch als Signum der unzulänglichen Vermittlung von Erscheinung und utopischem Wesen, so daß die vollkommene Lichtung des dunklen Augenblicks zusammenfällt mit dem Sieg über den Tod. Erst dann würde wirklich Quid pro Quod existieren, das Daß hätte dann erst sein adäquates Was gefunden. Diesen absolut erfüllten Augenblick beschreibt Bloch als absolute Identität, worin der Prozeß vollendet und stillgelegt, als Substanz, die ganz und gar Subjekt geworden ist. Bloch versucht hier, die Hegelsche spekulative Identität in den utopischen ·Materialismus hinüberzuretten. Genau hier transzendiert Bloch seine materialistische Losung des Transzendierens ohne Transzendenz: Utopie wird abstrakt, und zwar derart, daß sie sich nicht mehr verweltlichen läßt. Blochs Materialismus überschlägt sich, formal schließt er kurz zum Zirkel, und material stellt die Utopie der Unsterblichkeit keine Möglichkeit dar im Sinn partialen Bedingtseins, das Unbedingte kann per Definitionem gar nicht -partial- bedingt sein. Die erste Fassung der eingangs zitierten "Erinnerung", die sich in der ersten Auflage der Essaysamrnlung 'Durch die Wüste' findet, schließt mit dem Satz: "Die Welt ist eine pu,re Nachtwolke, die sich sogleich in Tau auflöste, wäre nur erst die rechte Sonne gekommen" 15 Er freilich ist in den 'Spuren' verschwunden.
Anmerkungen
1 Ernst Bloch, Spuren, Gesamtausgabe Suhrkamp, S. 190
2 Georg Lukäcs, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Die Arbeit, Sammlung Luchterhand 92, Neuwied und Darmstadt 1973, S. 5
3 a.a.0., S. 9 4 a.a.0., S. 13 5 Marx, Das Kapital I, MEW 23, S. 192 6 a.a.0., S. 193 7 Lukäcs, Die Arbeit, S. 134 8 vgl. a.a.O., S. 135 9 a.a.0., S. 36
10 a.a.0., S. 120 ff. 11 a.a.0., S. 135 12 a.a.0., S. 84 13 a.a.O., S. 90 14 a.a.0., S. 29 15 a.a.0., S. 47 16 a.a.0., S. 158 17 vgl. Georg Lukäcs, Zur Ontologie des ge
sellschaftlichen Seins. Hegel, Sammlung · Luchterhand 49
18 Ernst Bloch, Durch die Wüste. Kritische Essays, Berlin 1923, S. 159
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Winfried Thaa
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BLOCHS KATEGORIE DER "UNGLEICHZEITIGKEIT" UND DIE AUFGABEN UNKER RATIONALITÄTSKRITIK HEUTE.
Blochs Denken im allgemeinen und seine politischen Schriften, soweit sie unter der zentralen Kategorie der "Ungleichzeitigkeit" stehen im besonderen, galten der westdeutschen Linken immer als Gegenpol zur ökonomistischen und objektivistischen Traditionslinie des Marxismus. Mit dem bis zur Bedeutungslosigkeit gesunkenen politischen und theoretischen Gewicht dieser Tradition in den gesellschaftlichen Konflikten der letzten Jahre stieg aber keineswegs, wie zu erwarten gewesen wäre, die Attraktivität Blochs. Statt dessen war eine breite Abkehr vom Marxismus und vom gesellschaftstheoretischen Denken überhaupt zu beobachten. Es fragt sich deshalb, ob Blochs Schriften, die als Durchbrechen der marxistischen Orthodoxie aufgenommen wurden, nicht gerade darin auf sie bezogen blieben. Die Gegenthese lautet, daß sie Impulse enthalten, die erst nach Überwindung der auch bei Bloch reichlich vorhandenen Orthodoxie zu entfalten sind. Der vorliegende Artikel versucht, die, angesichts der Irrationalismen von Baghwan bis Bahro, zumindest vordergründig hochaktuelle Kategorie der Ungleichzeitigkeit daraufhin abzuklopfen. Kleinere Ausflüge zu Weber und Lukacs, und damit zur Rolle der Vernunft in der marxistischen Theorie, schienen mir unvermeidlich.
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Reichtum der Vernunft statt dürrer Abstraktion
Tatsächlich sieht Bloch während der 20er und 3 Oer Jahre in seinen Schriften keineswegs einen Gegenentwurf zum orthodoxen Marxismus seiner Zeit, und das ist: zum ·Stalinismus der KPD. Vielmehr spricht er seinem Denken selbst den Status einer Ergänzung oder Erweiterung der in den Grundzügen geteilten Gesellschaftsanalyse und Geschichtsphilosophie des Marxismus-Leninismus zu. Pointiert formuliert er dieses Verhältnis noch Jahre nach der katastrophalen Niederlage der Arbeiterbewegung mit dem berühmt gewordenen Satz: " ... Was die Partei vor dem Hitlersieg getan hat, war vollkommen richtig, nur was sie nicht getan hat, das war falsch." 1
Bloch stellt sich dem Nichtverfangen linker Aufklärung in einer gesellschaftlichen und ökonomischen Krise, die, marxistischen Lehrbüchern zufolge, doch alle Voraussetzungen mitbrachte, um zurrevolutionären Situation zu werden. Bereits 1930 wendet er sich gegen den Optimismus der KPD-Zentrale, die noch zuversichtlich hofft; die von SA und NSDAP faszinierten Massen gewinnen zu können, sobald die Gewalt der wirtschaft-
liehen Fakten die Phraseologie Hitlers vertrieben haben würde. Bloch erkennt. daß neben dem ökonomischen Widerspruch, in dem auch Arbeitslose und verelendender Mittelstand zum Kapital stehen, noch ein zweiter, nicht weniger wirksamer die Menschen treibt, der Widerspruch zur Abstraktion und Sachlichkeit, zur Mechanisierung und Seelenlosigkeit des Kapitalismus. Diesen Widerspruch nicht aufgegriffen und den Nazis überlassen zu haben, darin sieht Bloch die verhängnisvolle Unterlassung der Linken während der Weimarer Republik. Eine Unterlassung, die dazu führte, " ... , daß auch der Kommunismus noch als Mechanei dargestellt werden kann; als Fortsatz der Entpersönlichung und Rationalisierung, ja, als bloße Kehrseite der Kapitalismen. "2
Gerade in Deutschland, das später als England oder Frankreich kapitalistisch industriaJisiert wurde, existieren Reste früherer Lebensformen -etwa imHandwerk,in der bäuerlichen Produktion oder der Kultur provinzieller Kleinstädte - ebenso weiter, wie Bewußtseinsinhalte einer tatsächlich, oder auch nur in ihren Versprechungen, besseren Vergangenheit. "Leben", "Seele", "Ganzheit", ·"Natur". aber auch "Volk" und "Reich" sind die -höchst aktuell klingenden - "Anti-Mechanismen, die die Nazi-Propaganda aufgreifen konnte, weil sie von der aufklärerischen Linken liegengelassen wurden. "Man hat das Verhältnis der "Irratio" innerhalb der unzulänglichen kapitalistischen "Ratio" allzu abstrakt ausgegrenzt. als daß es von Fall zu Fall untersucht worden wäre und der eigene Widerspruch dieses Verhältnisses gegebenenfalls konkret besetzt."3
Bloch fordert gegenüber der Ausgrenzung des Irrationalen, wofür er das Schimpfwort "Aufkläricht" benutzt, den gleichzeitigen Widerspruch zwischen Kapital und Proletariat, um den ungleichzeitigen aus "unabgegoltener Vergangenheit" zu erweitern und so eine "mehrschichtige revolutionäre Dialektik" zu entwickeln, die es vermag, die Totalität einer Gesellschaft zu erfassen, die über das Kapitalverhältnis hinaus auch Reste und Vorwegnahmen, Erinnertes und Utopisches enthält. Diese Absicht der Erweiterung kennzeichnet nicht nur Blochs Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sein Denken insgesamt bemüht sich um einen "Verstand, der kein abstrakt auslassender ist"4
, sondern
die subversiven und utopischen Momente in Vergangenem, in Träumen und Wünschen, in Kunst und auch in der Religion hereinnimmt. Unausgesprochene Voraussetzung der Blochschen Erweiterung des Widerspruchspotentials der kapitalistischen Gesellschaft bildet die Erkenntnis des Auseinanderfällens der Einheit von technokratisch-modernisierendem und humanisierend-emanizipativem Fortschritt. Nur weil er sieht, daß sie, die bürgerlichen Fortschrittglauben und objektivistischen Marxismus für 2 Seiten derselben Medaille halten, zumindest partiell auseinandertreten, kann Bloch sich positiv auf vorkapitalistische Lebensformen beziehen.
Die Richtschnur bleibt
In dieser Erweiterungsintention nahm die undogmatische Linke Blochs Schriften während der 60er und 70er Jahre auf, und sie verdankt ihnen keineswegs nur Faschismusanalysen, die begreifbar machen, wie der Nationalsozialismus nicht nur Millionen der Großindustrie, sondern, viel wichtiger, die Köpfe und Herzen der Menschen gewann. Ohne die Anstöße Blochs wäre darüberhinaus die öff-
ihrer privaten Aneignung bestimmt. Auf die oben technokratisch-modernisierend und humanisierend-emanzipativ genannten Seiten des Fortschritts bezogen, heißt das, daß Bloch, jedenfalls dort, wo er sich explizit zum Grundwiderspruch äußert, in der Produktivkraftentwicklung und der gesellschaftlichen Arbeit immer noch beide Seiten synthetisiert sieht und lediglich fordert, zur Verbreiterung auch Widerspruchspotential aus anderen (v.a. zeitlichen) Sph.ären daran zu binden. Wie wenig Bloch tatsächlich eine inhaltliche Priorität des Grundwiderspruches durchhält, werden wir noch sehen. Festzuhalten bleibt aber zunächst das Unterordnungsverhältnis, für das er unmißverständliche Ausdrücke findet, wie "militärisch besetzen", "ummontieren", und "funktionalisieren". Und Bloch hüllt das Proletariat im Vergleich zum Kleinbürgertum in eine Aura edelster Eigenschaften, als ginge es darum, ungeachtet der niederschmetternden Realität, durch Huldigungen ans überempirische Subjekt der ausgebliebenen Revolution die Hoffnung auf geschichtlichen Fortschritt zu retten.
Die Kategorien dieser Klassenanalyse mit ihren klappernden Schubladen übernahm
Bloch und Adorno während der Werkbund-Tagu.ng 1965
nung der marxistischen Diskussion zur Alltags- und Lebenswelt kaum möglich gewesen. Allerdings: Bloch erweitert am Rande eines für ihn unverrückbaren Zentrums. Die Ungleichzeitigkeiten haben sich an dje Richtschnur des gleichzeitigen Widerspruchs zu halten, den er ganz orthodox als Grundwiderspruch zwischen dem kollektiven Charakter der kapitalistisch entfalteten Produktivkräfte und
die undogmatische Linke nicht, sie spielten lediglich in den neugegründeten kommunistischen Parteien eine Rolle, die aber mit Bloch ohnehin nichts am Hut hatten. Dennoch behaupte ich, daß die Neue Linke der 70er Jahre mit der Fassung und systematischen Bedeutung des gleichzeitigen Widerspruchs bei Bloch mehr gemeinsam hatte, als. der erste Blick .offenbart. Das Einlassen auf alles,
Vernunftkritik
was in marxistischen Eindeutigkeiten nicht aufging, bedurfte der Vergewisserung im historischen Horizont des Widerspruchs zwischen Lohnarbeit und Kapital. Um es mit einem aus anderem Zusammenhang bekannten Bild zu veranschaulichen: Der Bezug aufs Proletariat und seine Mission bildete das Standbein, die Öffnung zu den darin nicht aufgehen-· den Inhalten das Spielbein der politischen Identität. Daß der Grund dieses Standbeins im Nebel zurechnender Abstraktionen verschwand, beeinträchtigte keineswegs sein Stabilisierungsvermögen, sondern ließ es im Gegenteil überhaupt erst zu, ungeachtet der bundesrepublikaschen Verhältnisse, den GlqÜben an Fortschritt, Revolution und· Sozialismus, kurz, an die marxistische Fortschreibung des Projekts Aufklärung zu e.rhalten. Damit aber ist es aus, seit die Kritik der Verstrickung neuzeitlicher Rationalität in Herrschaft und Destruktion nicht mehr nur in der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno, sondern von breiten sozialen Bewegungen praktisch vorgetragen wird. Die Anziehungskraft des Grundwiderspruchsmarxismus auf Intellektuelle verdankte sich nicht zuletzt der Utopie, das gegenüber der Natur erreichte Maß an Freiheit durch Beherrschung, sprich: Zweckrealisierung in bewußt arrangierten, plan-und berechenbaren Verhältnissen, ließe sich nach Überwindung des Kapitalismus auf die Gesellschaft übertragen. Der Widerstand gegen die Folgen der wissenschaftlichen und technischen Verfügung über Natur sollten diese Vorstellung endgültig desavouiert haben, der gesellschaftliche Herrschaftscharakter instrumenteller Vernunft hat sich auf dem Umweg über ihre zerstörerische Wirkung auf Natur erwiesen. Die beiden erwähnten Seiten des Fortschrittsbegriffs treten also nicht nur auseinander, sondern technokratisch-modernistischer Fortschritt, und das heißt Fort-
. schritt instrumenteller Vernunft, zerstört immer offensichtlicher erhaltenswerte und wird immer unvereinbarer mit wünschenswerten Lebensformen. Die seit Jahren zu beobachtende Blässe und Unsicherheit der politischen Linken liegt m.E. auch dann begründet, daß sie durch diese Entwicklung die Fluchtpunkte ihrer Fortschrittsperspektive verior, aus der sie, ganz nach dem Musterzweckrealisierender Arbeit, ihre Handlungskriterien und Handlungsmotive nahm. So nimmt es nicht wunder, wenn heute einerseits kritikloses Einlassen auf alles, wasirgeridwie "Leben", "Ganzheitliches"
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Winfried Thaa
und "Sinn" verspricht, angesagt ist, andererseitswieder selbsternannte Ritter gegen den drohenden Irrationalismus zum Angriff blasen, als gäbe es nach wie vor eine unversehrt auf dem Richterstuhl thronende geschichtliche Vernunft. Es dürfte sich deshalb lohnen, in einem kleinen Umweg darauf einzugehen, wo im westlichen Marxismus historische Vernunft, hinter allen Formen kapitalistischer Irrationalität, ihren Ort hat. Die Adresse hierfür heißt Lukics. Erst ein kurzes Rekapitulieren seines Rettungsversuchses macht deutlich, was der marxistisch geprägten Linken mit der Ersetzung des Widerspruchs zwischen Arbeit und Kapital durch scheinbar disparate Einzelbewegungen verloren ging. Danach ist auf Bloch zurückzukommen und zu fragen, ob sich bei ihm nicht Ansätze finden, die die bloße Zuordnung zum "Gleichzeitigen" sprengen und auf eine eigene, neuartige Konstitution gesellschaftlicher Gegenmacht verweisen.
Zerstörte Vernunft bei Weber und ihre marxistische Rettung durch Lukacs
Das Bild einer auseinanderfallenden, weder durch Ethik noch Wissenschaft zu vereinheitlichenden Welt beunruhigt heute nicht zum ersten Mal. Am folgenreichsten für die Diskussion in Marxismus und Kritischer Theorie zeichnete es Max Weber, der in der Entwicklung der Modeme die Selbstzerstörung der Vernunft diagnostizierte. Er behauptet, mit der ·Rationalisierung moderner Gesellschaften sei zwangsläufig verbunden die Aufspaltung universeller, wertrational verankerter Vernunft in lediglich formale Zweckrationalität innerhalb auseinandergefallener, disparater gesellschaftlicher Teilbereiche. An die Stelle einer einheitlichen gedachten Welt und der ethisch begründeten Handlungsorientierungen, die sie den Individuen bietet, tritt Entzauberung, Sinnverlust, Anpassung an Sachzwänge, kurz: "mechanisierte Versteinerung"4.
Vor diesem Hintergrund ist es der Gesichtspunkt der Totalität, der den Verfasser von "Geschichte und Klassenbewußtsein", wie er selber nicht müde wird zu betonen, am Marxismus begeistert. Für Luk3.cs eröffnet dieser Gesichtspunkt sowohl die Perspektive einer theoretischen Vereinheitlichung der scheinbar disparaten gesellschaftlichen Verhältnisse wie auch zugleich die ihrer praktischen, revolutionären Veränderung. Da-
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mit vollb°ringt er nichts Geringeres als die Rettung der Vernunft in der Geschichte. Dies wird möglich, indem Lukacs, gegen den Objektivismus der II. Internationale, die "Kritik der Politischen Ökonomie" wieder durch Hegels Entäußerungsmodell des Handelns interpretiert. Kurz: Zu der von Weber beschriebenen Rationalisierung fügt Lukacs das Konzept der Verdinglichung: Die die Menschen durch ihre Objektivität beherrschende und aus allen übergreifenden Sinnbezügen freigesetzte Welt der kapitfllistischen Industriegesellschaften ist in ihrer Totalität Resultat einer subjektiven, aber durch die Warenform verkehrten Entäußerung. Subjekt ist das Proletariat, dessen gesellschaftliche Arbeit sich durch ihren Warencharakter verselbstständigt und zu etwas Objektivem, von ihm gänzlich Unabhängigen wird. Indem das Proletariat aber im Klassenbewußtsein die Warenform am eigenen Leib erkennt, durchbricht es seinen Objektstatus, kann das gesellschaftsbildene Vermögen seiner Tätigkeit wahrnehmen und ermöglicht so die Auflösung der verdinglichten Verhältnisse. Es rettet die Vernunft im Sinn einer rationalen, Zwecke bewußt setzenden und realisierenden Beherrschung_von Natur und Gesellschaft.
Zentra1kategorie Arbeit
Der Preis für die Hegelsche Figur des sich selbst als Ware erkennenden Proletariats (die Bloch übrigens übernimmt 5
) liegt bekanntermaßen hoch: Die Arbeiterklasse gerät zu einem transzendentalen Kollektivsubjekt, dessen Bewußtsein ihm nur noch logisch zugeordnet, nicht aber mehr ffiit der Wirklichkeit seiner Arbeits- und Lebensverhältnisse vermittelt werden kann. Diese häufig geäußerte Kritik berührt jedoch nicht eine Grundstruktur, die Lukacs mit dem westlichen Marxismus insgesamt teilt. Ob Korsch, Sartre 'oder auch Bloch - etwa in seiner Interpretation der Feuerbachthesen im 'Prinzip. Hoffmfng" - sie alle unterscheiden sich vom ökonomistischen Determinismus durch ihre Subjekt-Objekt-Dialektik, die die Herrschaftsformen kapitalistischer Industriegesellschaften als verselbständigte Handlungsergebnisse eines kollektiven Subjekts - sei es des Proletariats oder weitgefaßt der Gattung - begreift.6 Dadurch gewinnen sie nicht nur die Perspektive theoretischer Totalisierung, sondern mit dem Subjekt der Veräußerung auch zugleich das der als Wiederaneignung gedachten revolutionären
Transformation. Der immanente Zusammenhang von gesellschaftlicher Arbeit und sozialer Befreiung läßt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn Arbeit in zweifacher Hinsicht als Bildungsprozeß vorausgesetzt wird. Es genügt nicht, daß in der Sphäre gesellschaftlicher Arbeit die Produktivkräfte entstehen, die, im Sinn · einer äußeren Bedingung, erst die Ab- „
schaffung von Ausbeutung und Herrschaft ermöglichen sollen. Zum einen impliziert die im Subjekt-Objekt-Schema: gedachte Figur der Wiederaneignung die Vorstellung, Fortschritt sei in der von· ihrer kapitalistischen Form befreiten Ge-· brauchswertproduktivität gesellschaftlicher Arbeit begründet. In der Naturaneignung, und nicht etwa in den Bereichen der politischen Öffentlichkeit oder der Ästhetik, entfaltet sich demnach, in wie verkehrter Form auch immer, die freizusetzende geschichtliche Vernunft. In einem zweiten Sinn Bildungsprozeß ist gesellschaftliche Arbeit, indem sie ein Kollektivsubjekt hervorbringt und es, jedenfalls grundsätzlich, zur sozialen Emanzipation befähigt. Der Prozeß der Bewußtwerdung dieses revolutionären Subjekts kann gegenüber dem idealisierenden Klassenbegriff von Lukacs dann durchaus offen gelassen werden, gesellschaftliche Arbeit bleibt dennoch der gesellschaftsanalytische und emanzipationstheoretische Schlüsselbegriff. Nun wüßte ich allerdings nicht, wie für kapitalistische Gesellschaften die konstitutive Rolle versachlichter Arbeit plausibel zu bestreiten wäre. Ob sie ausgehend von der Wertabstraktion, dem Begriff "instrumenteller Vernunft" oder "technologischen apriori" am präzisesten zu fassen ist, sei dahingestellt. Man braucht aber nicht, wie Horkheimer und Adorno in der "Dialektik der Aufklärung'',in Arbeit nur noch verfügende Objektivierung und deshalb die seit den historischen Anfängen sich durchziehende Urform von Herrschaft zu sehen, um erkennen zu können, daß die gesellschaftliche Arbeit entwickelter Industriegesellschaften nicht der Ort sein kann, an dem sich geschichtliche Vernunft und ihr Träger. das Subjekt sozialer Befreiung, herausbilden. Und zwar nicht so sehr, weil eine revolutionäre Arbeiterklasse nirgendwo in Erscheinung tritt. Dies könnte schließlich anallerleihistorischen Besonderheiten liegen. Vielmehr wurde Arbeit, auch wenn sie es nicht immer war, im Laufe der kapitalistischen Entwicklung soweit zum bs bloßen Vollzug von Sachzwängen formiert, daß in ihr tatsächlich die Herr-
schaftslogik instrumenteller Vernunft das vergesellschaftende Prinzip darstellt. Es entsteht deshalb ein funktionaler gesellschaftlicher Arbeitskörper, keineswegs ein kollektives Subjekt, das in der Lage wäre, sich selbst herrschaftsfrei zu organisieren und in der weiteren geschichttlichen Entwicklung praktische Vernunft zu verwirklichen.
Blochs offene Vielfalt im Positiven
Die Reflexion auf den Zusammenhang von Arbeit und Vernunft im westlichen Marxismus macht deutlich, daß es nach
ungleichzeitiger Art rebelliert. „ ( Hvbg. v. Bloch)7
Richtig verstanden verläßt Bloch hier den Boden einer durch die Kategorie gesellschaftlicher Arbeit bestimmten Revolutionstheorie. Denn die Aussage, derzufolge die Negativität des entäußerten Menschen, der entäußerten Arbeit ihr dialektisch Positives nur als Vermissung in sich trägt, enthält ja zugleich die Aussage, daß es von anderswoher, hier aus Utopie und Erinnerung, überhaupt erst zu entwickeln ist. Und zwar inhaltlich.
Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Lustand ist elend oder niederträchtig. Der Weg heraus krumm. Kein Zweifel. Aber. Sein Ende wird nicht bürgerlich sein.
dem leicht auszUsprechenden Abschied Das geht nicht zusammen mit den ·For- · vom Proletariat nicht etwa damit geta:n mulierungen vom Besetzen und Nutzbar-sein kann, einen neuen sozialen Träger machen, lind auch von Erweiterung kann des Fortschritts zu finden sondern viel nicht die Rede sein, wenn das zu Erwei-grundsätzlicher, Vernunft 'selbst ne~ ge-· ternde nur als Vermissung existiert. Ver-·dacht werden muß. Und hierbei lohnt es nunft, der revolutionär zum Durch-· sich, .auf Bloch zurückzukommen. bruch zu verhelfen wäre, liegt also nicht Zwischen all den Vergewisserungen · d-es mehr fertig vor, weder in der Vergesell-revolu tionären Fixsterns Proletariat fin- schaftung der Fabrik, noch in der Ge-det sich in Blochs "Erbschaft dieser Zeit" brauchswertproduktivität der Arbeit. ein Abschnitt, der direkt hierauf bezo- Das Zitat läßt sich als Aufforderung le-gen se.in könnte, und es deshalb verdient, sen, auf Entdeckungsreise zu gehen, um ausführlich zitiert zu werden. "Die Ma- mit offenem Blick die ganze Breite der terie der gleichzeitigen Widersprüche ist gegen den Mechanismus kapitalistischer ja nicht nur die der sehr vorhandenen, Rationalität gewandten Kräfte wahrzu-nämlich entfesselten Produktivkräfte, nehmen. Und es läßt sich, gegen Bloch sondern ebenso nur die äußerste, 'daher' selbst, schließen, daß den verschieden-zum Umschlag treibende Negativität des sten Ansprüchen, wie sie aus Erfahrungen heutigen Zustands: der entäußerte oder auch nur dem Vorschein von pfleg-Mensch oder Proletarier, die entäußerte licher Naturaneignung, gelungener Kom-Arbeit oder der Fetisch der Ware, die munikation, sinnvoller Arbeit, befriedi-Haltlosigkeit des Nichts. Diese Negatlvi- gender Tätigkeit oder ästhetischer Ex-täten haben zwar ihr dialektisch Positi- pression stammen, keineswegs mehr ein ves in sich, sogar das höchste, jedoch zweitrangiger Statu·s zukommt. Es fehlt freilich innerhalb des gleichzeitigen Wi- nämlich die richtende Autorität, vor der derspruchs und seiner Materie nur als re- sie sich zu verantworten hätten, sie sind bellische Vermissung: nämlich des gan- sozusagen mündig geworden. Von heute zen Menschen, der entäußerten Arbeit, aus läßt sich hinzufügen, daß die Produk-des Paradieses auf Erden. Kurz, im Auf- tionssphäre nicht nur ihren Maßstabs-ruhr der proletarisch-en und verdinglich- charakter verloren hat, sondern mit der ten Negaiivität ist letztlich zugleich die in ihr vorherrschenden instrumentellen Materie eines Widerspruchs, der aus ganz Vernunft geradezu den Gegenpol abgibt und gar nicht entfesselten 'Produktiv- für die verschiedenen sozialen Bewegun-kräften', Intentionsinhalten immer noch gen. Vernunft hat also nicht meh~ ihren
Vernunftkritik
sicheren Ort in der vergesellschafteten Produktion. Sie muß vielmehr gegen deren Imperative überhaupt erst entwickelt werden, und zwar.von gesellschaftlichen Bereichen aus, deren Ratio nicht ebenso heillos in Instrumentalität verstrickt. ist.
Eine derartige Entwicklung fand in den Bewegungen der letzten Jahre tatsächlich statt. Die offene Frage ist nun die nach dem Verhältnis dieser Ansprüche, ihrer Bewußtseins- und Organisationsformen untereinander und damit auch die nach der Möglichkeit ihrer Kritik. Die Angst vorm Irrationalismus ist nicht unbegründet, rechtfertigt aber nicht, auf das Konstrukt einer historischen Vernunft zurückzugreifen, das sich längst als Herrschaft gezeigt hat. Warum nicht, statt auf sie zu pochen, Kritik als Dialog entwikkeln? Gerade ohne einen sicheren Maßstab in der Geschichte kann Vernunft doch als Selbstreflexion und als Möglichkeit argumentierender Verständigung entfaltet werden. Die politische Praxis ist davon allerdings weit entfernt. Seit die gesellschaftliche Opposition in der Bundesrepublik nicht mehr von zentralisierenden Bewegungen - wie der AntiAKW- oder Friedensbewegung - und ihren vereinheitlichenden Zielen zusammengehalten wird, fällt sie zunehmend in verschiedene politische Lager auseinander, ohne daß bislang Verkehrsformen entstanden wären, die inhaltliche Auseinandersetzungen ermöglichen, ohne das Spektrum der gesellschaftlichen Gegenkräfte abzuschneiden und zu zersplittern. Daß ein "wilder Tanz" des "Alles geht", von dem mancher poststrukturalistische Vernunftkritiker träumt, keinen Ausweg bietet, dafür sorgt schon das Kapital, dessen Akkumulationsprozeß ein gesellschaftliches Allgemeines setzt, dem so nicht zu entrinnen ist. Gegen die Imperative seines industrialistischen Zivilisationsmodells gilt es einen Diskurs zu entfalten, der eigene Ziel- und Wertvorstellungen, damit auch eine neue gesellschaftliche Vernunft hervorbringt.
Anmerkungen:
1 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, (Vorwort zur Ausgabe 1935), Ffm 1962, S. 19
2 Ebd., s. 67f. 3 Ebd., S. 16 4 Vgl.: Max Weber, Die protestantische
Ethik 1, Tübingen 1972, S. 189 5 Vgl. etwa: Erbschaft, a.a.0., S. 119 6 Vgl. dazu auch: A. Honneth, Arbeit und
instrumentales Handeln, in: Honneth/ Jaeggi (Hg), Arbeit, Handlung, Normativität, Ffm 1980
7 Erbschaft, a.a.0., S. 120f.
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Gerard Raulet
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1 Gerard Raulet lehrt Philosphiegeschichte an der Universität Paris - Sorbonne. Er hat sich um die Rezeption des literarisch-philosophischen Werks von Bloch in Frankreich bemüht und gilt dort als einer der bedeutenden Wegbereiter für die Auseinandersetzung mit Bloch. Wir befragten G. Raulet über die Wirkungsgeschichte der Bloch'schen Philosophie in.Frankreich. In jüngster Zeit hat er sich kritisch mit den Theoretikern der "Postmoderne" (Lyotard, Bell, Baudrillard) befasst. Wie auch sein Tübinger Vortrag "Postmoderne und konkrete Utopie" zeigt, hält er eine "postmoderne" Lektüre von Bloch - durchaus aber in einem anderen Sinne - für notwendig. Auch dazu stellten wir ihm einige Fragen.
FRAGE: Herr Raulet, Sie waren einer derjenigen, der sich um die Rezeption Blochs in Frankreich bemüht hat. Kann man angesichts der Tatsache, daß Bloch's Werke lange Zeit in Frankreich nicht zugänglich waren und erst relativ spät übersetzt wurden, davon sprechen, daß es Wirkungen und Einflüsse des Blochschen Denkens auf die Diskussion innerhalb der französischen Linken zu der Zeit gab?
RAULET: Wenn man von "Thomas Münzer" absieht, das schon 1964 von
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Maurice de Gandillac übersetzt wurde, oder von den "Spuren", die 1968(!) in französischer Übersetzung erschienen, begann man erst um die Mitte der 70er Jahre Bloch dem französischen Leser zu-
gänglich zu machen; der Verlag Gallimard hätte, so viel ich weiß, viel früher dazu beitragen können, aber der Impuls kam von der neuen Reihe "Critique de la politique" des Payot-Verlags: die erste Veröffentlichung in dieser Reihe ist Habermas' "Theorie und Praxis" gewesen, das ich damals übersetzt ui:id eingeleitet
habe. Die Lage schien mir dann günstig, um 1974-75 - zum 90. Geburtstag von Ernst Bloch - aus der Nicht-Rezeption herauszukommen und französische Philosophen aus verschiedenen Horizonten zu einem Gespräch mit Bloch zu bewegen; ich würde mich freuen, wenn wir im Laufe unserer Unterhaltung die Gelegenheit hätten, an die Bedingungen der Entstehurig dieses e!sten größeren Bei-i[Mi_~r -~!p}illl!}!Bgi~J~Ii~~~h-~ffii~ l()SOph!e in Frank.reich kurz zu erinnern. Eines möchte ich doch gleich andeuten: Parteimarxisten für dieses Unternehmen zu gewinnen, schien damals so gut wie
· unmöglich; in akademischen Kreisen war die Neo-Orthodoxie des Al thusserismus noch mächtig - unter Althussers Epigonen habenja nach Mai 1968 einige seine Arbeit in den Dienst einer akademischen Restauration des Marxismus gestellt -, obwohl gerade die neugegründete Reihe auf der anderen Seite ein geistiges Bedürfnis zum Ausdruck brachte. Was ich damals nicht eingesehen habe, ist der Umstand, daß diese E,rweiterung der intellektuellen-Interessen· bereits eir}er- "J51~"(luaüfi.Zforung des historischen Materiallsmus" entsprach, die sich in den nächsten Jahren auch als Resistenz gegenüber dem Blochschen Denken äußerte (1982 galt mein Bloch-Buch über "Humanisation de la nature, naturalisation de l'homme '' als Rückzugsgefecht
des Marxismus und mußte deshalb in einem anderen Verlag erscheinen). Zurück zur Frage: daß die ''Spuren" 1968 erschienen, ist reiner Zufall; man hätte gleichsam die Geschichte bereits „benjaminisch" auffassen sollen, um die Erbschaft der 20er Jahre antreten zu können; dies ist, meines Erachtens, erst heute der Fall - und darauf beruht meine gar nicht so "alt-marxistische" Lektüre des Blochschen Denkens. Daß „Thomas Münzer" hingegen schon 1964 erschien, ist weniger Zufall; ein Interesse für die marxistische Deutung des Bauernkriegs war zweifelsohne bei Spezialisten vorhanden, ist aber nicht entscheidend. Rückblickend kann man hingegen annehmen, daß diese erste Übersetzung in den linken christlichen Kreisen nicht übersehen wurde. Auflhre Frage wollte ich spontan antworten: vor 1975 hat es weder eine politische noch eine philosophische Rezeption Blochs gegeben. Damit hä te ich aber die einzige, äußerst wichtige Wirkung Blochs vergessen, die es damals unterirdisch gab: die theologische!
1971 erschien in der christlichen Zeitung "Lettre" die erste eingehende BlochDarstellung. Der Kreis dieser Zeitschrift stellte in der christlichen Bewegung die radikale Linke dar; seine Interessen waren zunächst eher praktisch als theoretisch; aber sowohl Metz wie auch Moltmann, die Theologien der Weltlichkeit und Hoffnung, wurden neben den Überlegungen zur "Säkularisierung" (Gogarten , Tillich, Cox, Robinson ... ) rezipiert und diskutiert - und zwar immer von einem praktischen Standpunkt aus, der jeweils die Mängel anzettelte. Laennec Hurbons Bloch-Interpretation zeigt 1971, daß auch Bloch auf die Praxis hin befragt wird. Schon 1966-6 7 hat es allerdings, wenn ich mich auf die Erinnerungen von involvierten Freunden stützte, ökumenische Arbeitskreise gegeben, die sich um die ACU (Association Catholique Universitaire) mit Bloch beschäftigt haben; in ihnen wurde die Theologie der Befreiung, bzw. der Politik, oder gar der Revolution zum Ausdruck eines christlichen politischen Engagements.
FRAGE: Sie haben 1977 in einem Artikel in dem Buch "Denken heißt Über- . schreiten" einmal die Vermutung geäußert, daß es im geistigen Leben Frankreichs gegenüber dem Versuch, Marxismus und Philosophie zu vermitteln, so etwas wie ein "absichtsvolles Schweigen"
oder eine "selbstgefällige Blindheit" gab. Sie haben dabei von der Beharrlichkeit alter aporetischer Auseinandersetzungen - Existentialismus, Dominanz der MarxInterpretation von Althusser - gesprochen. Ist es denkbar, hier einen Zusammenhang herzustellen - also zwischen der späten Bloch-Rezeption und dieser spezifischen Konstellation des geistigen Lebens in Frankreich?
RA ULET: Man soll sich da die großen Tendenzen der französischen Philosophie der Nachkriegszeit vergegenwärti-
{
gen. Ich habe tatsächlich von der selbstgefälligen Blindheit eines geistigen Lebens, das sich von seiner eigenen Logik einsperren ließ, gesprochen. Das absicht-liche Schweigen war auf die Kommunistische Partei gemünzt. Aber das Problem soll weniger polemisch formuliert werden: wenn man nach den Gründen einer Nicht-Reze tion sucht, soll man sich fragen, was eine bestimmte Zeit mit bestimmten ideologischen Interessen gegen ein bestimmtes Denken resistent gemacht hat - "sich der kritischen Konstellation bewußt werden, in der gerade dieses Werk mit gerade dieser Gegenwart sich befindet" (Benjamin). Politisch gesehen kann der französische Ma-rxismus ohne Rücksicht auf die historische Rolle einer starken kommunistischen Partei nicht verstanden werden. Ideologisch ge-. sehen verhinderte dies keineswegs eine lebhafte Debatte zwischen Existenzialismus und Marxismus, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit bereits in vollem Gange war und, wie ich es noch kurz zeigen will, das Phänomen der Partei in den Vordergrund stellte. Wenn man mit Ländern des Ostblocks vergleicht - etwa . Jugosl1wien, wo die Beschäftigung mit dem Existentialismus um 1960 als eine Überwindung des dogmatischen Parteimarxismus empfunden wurde -, so geschah hier dann genau das Gegenteil: Althussers methodische Marx-Lektüre setzte ab 1965 einer Debatte, die sich in Aporien erschöpfte, ein Ende und begründete eine neue "Bibelfestigkeit", die die Intellektuellen· befriedigte. Daß die Al thussersche theoretische Linie, deren Kohärenz uns alle ein paar Jahre lang überwältigt hat, der Rezeption der Blochschen Philosophie oder der Kritischen Theorie im Wege stand, unterliegt keinem Zweifel, zumal da nach 1968 diese Erneuerung der marxistischen Philologie einer intellektuellen und vor allem akademischen "Restauration" gedient hat. Zu der· ersten Phase, den Jahren 1945-
Bloch und Postmoderne
A~-~tr 65, läßt sich in groben Umrissen folgendes sagen: Merleau-Ponty fragte unverwandt nach dem Sinn der Geschichte - ) erst heute wird uns klar, wie weit er dabei ging; seine Fragen sind diejenigen, die ich in meinen letzten Texten an Bloch selber richte. Es besteht, sagt Merleau-Ponty, die Möglichkeit, daß sjch die
Geschichte in eine kontingente Abfolge von "Akzidenzien" auflösen könnte; es gibt in ihr keine Notwendigkeit, sondern vielmehr eine grundsätzliche Äquivozität II des menschlichen Handelns; in diesem Licht untersucht Merleau-Ponty in "Hu·rnanismus und Terror" die Verantwor-tung der Opfer Stalins und Stalins selber. Die Handlungen am Maßstab des Proletariats zu messen, lasse nur um so krasser den Umstand hervortreten, daß die proletarische Klasse heutzutage nicht mehr imstande zu sein scheint, jegliche Entscheidung zu treffen. Dies ist im großen und ganzen auch Sartres Ausgangspunkt - ich muß hier Gedankengänge, die ich in meiner Habilitationsschrift und anderen Publikationen aus- ' führlich darstellte, karikieren: während bei Merleau-Ponty die Partei selber der 'f...
Äquivozität unterliegt, wird sie bei Sar- J<..
~dadurch legitimiert: -ihre Aufgabebe- ' steht darin, das Unentscheidbare zu entscheiden; in den "Abenteuern der Dialektik" wird Merleau-Ponty deshalb Sartres Parteiauffassung als "reine Tat" und "liberte engagee" (engagierte Fr~iheit) kritisieren. Sie erinnert an Sartres frühe Abhandlung aus dem Jahre 1946: "Der Existentialismus ist ein Humanismus". Damit wollte ich nur andeuten, -~ wie vordergründig das Phänomen der Par-tei in der französischen Diskussion gewesen ist. Entscheidender ist freilich der Umstand, daß gleichzeitig die Notwendigkeit des "proletarischen Humanismus" (Merleau-Ponty) und des Existentialismus (vgl. die "Kritik der dialektischen Vernunft" von Sartre) auf die Mängel des Marxismus zurückgeführt wird. Um diesen Mängeln abzuhelfen, ~ ' endet1Merleau-Pontys Versuch, die Geschichte als eine verite a faire zu begreifen, in einer an Husserl geschyJ.ten Transzendentalontologie, während1!iartre eine existentialistische Philosophie der Praxis entwickelt, in der das Transzendieren zum Grundzug des menschlichen Existierens wird. Um solchen "Lösungen" zu entgehen, soll man methodisch nachkonstruieren, wie Ioc einen "konkreten Humanismus" eben methodisch begründet. In "Humanisation de la nature, naturalisation de l'homme" (1982) habe
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Gerard Raulet
42"!-Z~dmß<f ich nachzuweisen versucht, daß es dabei
II um das Erbe an der Feuerbachsehen Religionskritik geht, also um Marx' doppelte Überwindung von Feuerbach und Hegel, die erst vom "Spätwerk" zu Ende ge-führt wird: im Nachwort zur zweiten deutschen Auflage des "Kapital" verweist Marx 1873 auf die "Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphiloso-phie". Deshalb kann die Inte~ration c!_es Humanismus erst durch die "Umstülpung" vollzogen werden; dadurch wird er selber "umgestülpt": es gibt kein menschliches "Wesen" mehr, dieses konstituiert sich erst in der Praxis, was eine existentialistische Anthropologie aus-schließt (und hier möchte ich gegen Deutungen protestieren, die immer wieder versuchen, Bloch dem Existentialismus anzunäheren.) Dieser Gedankengang läßt sich auf die Religion ausdehnen; Humanismus und Religionskritik hängen nicht nur bei Feuerbach, sondern eben deshalb auch in Marx' Überwindung von Feuerbach aufs engste zusammen. Der Status des Humanismus nach der "Umstülpung" gilt deshalb auch für religiöse Ideologien, die nicht nur als "Opium des Volkes" entlarvt, sondern auch als historisch wirksam (so Marx 1843) erkannt werden. Wenn man nun in diesem Sinn Blochs "Humanismus" und "Religiosität" methodisch im Lichte von Marx' Überwindung der--peuerbacilSchenReliglonskfi-
, tik und des sich aus ihr ergebenden ab- · strakten Humanismus behandelt, leuch-
. tet sofort ein, daß Garaudys Beitrag zur französischen Debatte, nämlich im Namen eines marxistischen Humanismus zwischen Marxismus und Christentum iu vermitteln, insofern fehlgriff, als der gewünschte "Dialog" auf der falschen Annahme beruhte, daß die Protagonisten "gleichberechtigt" waren . Wenn man sich damals mit Bloch beschäftigt hätte, hätte er im Zentrum dieser Debatte zwischen Existentialismus, Christentum und Marxismus gestanden. Vielleicht wäre man aber nicht imstande gewesen, die Methode zu erfassen, die diese Aporien überwindet. Ich bin als Franzose flieht sicher, daß ich sie ohne Althusser erfaßt hätte, und ganz unbescheiden möchte ich die Meinung äussern, daß die deutschen Bloch-Interpre-
t tationen meistens unmethodisch verfah-1 '
ren, wo es doch um nichts anderes geht, als um unsere Fähigkeit, die dialektische Methode auf konkret-praktische, nicht nur philosophische Probleme anzuwen-
. den.
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Was Bloch (und mich) von Althusser grundsätzlich trennt, läßt sich nun auch in wenigen Worten zum Ausdruck bringen: die scharfe Trennung zwischen ! d ~e Ji nd ~issenschaft ist weder theoret1sc n p h haltbar. Wenn es in der allmählichen Konstituie rung von Marx' dialektischer Methode von Anfang an um das Schicksal der Religion und des Humanismus geht , wenn das "Kommunistische Manifest" sich derart auf die damaligen Ideologien als die "Wirklichkeit" einläßt, greifen die "epistemologischen" Unterscheidungen zwischen theoretischer Ideologie, praktischer Ideologie, Wissenschaft und Philo-
0 sophie fehl. Blochs "Methode" - und
)
gerade das soll man zeigen -konsütuiert sich, wie Marx' Methode selber, indem sie sich mit theoretischen und praktischen Ideologien auseinandersetzt: der 'Inhalt' ist von der 'Form' nicht zu trennen .
FRAGE: Gab es in den 70er Jahren in Frankreich - während der verstärkt einsetzenden Blochrezeption - Impulse aus der Bloch'schen Philosophie, die die Diskussionen (politisch, kulturell, philosophisch . .. ) bereichert haben?
RA ULET: Die 70er Jahre als die Zeit eines bedeutenden Anwachsens der französischen Bloch-Rezeption zu bezeichnen, wäre wiederum falsch. Als er 1969 von Maurice de Gandillac, Lucien Goldmann und Jean Piaget zu einer Tagung in Cerisy eingeladen wurde, war Bloch in Frankreich völlig unbekannt; dasselbe gilt, glaube ich, noch vom Jahre 1968,
als er im Pariser Goethe-Institut über seinen "Atheismus im Christentum" vortrug - es war am 19. April, also wenige Tage vor dem Ausbruch der Mai-Revolte -, wobei wie gesagt die Christen, von denen wir gesprochen haben , eine Ausnahme gebildet haben. Nur wenige Philosophen hatten überhaupt von ihm gehört, als im März 1975 die Universität Paris I ihm die Ehrendoktorwürde verlieh. Die Übersetzung wichtiger Werke ("Das Prinzip Hoffnung", I. Teil, "Naturrecht und menschliche Würde", "Geist der Utopie", "Subjekt-Objekt'', "Erbschaft dieser Zeit", "Atheismus im Christentum", "Experimentum mundi") hat diese Lage nur in sehr bescheidenem Maße geändert. Daß Impulse aus der Blochschen Philosophie die philosophischen und kulturellen Debatten bereichert hätten, davon kann überhaupt keine Rede sein - von den politischen Debatten gar nicht zu sprechen, obwohl gerade auf diesem Gebiet, im Zusammenhang der ökologischen Kritik des Wachstums, ein Echo denkbar gewesen wäre . Nur in engen Kreisen wurde Bloch ab und zu diskutiert (ein paar Mal z.B. in Arbeitsgruppen der Zeitschrift "Esprit"). 1973 hatte ich begonnen , Beiträge zur Festschrift "Utopie-Marxisme selon Ernst Bloch" anzuregen; ich hatte das Unternehmen nicht bloß als Festschrift konzipiert, sondern vielmehr als Auslöser einer Auseinandersetzung mit Blochs Philosphie, die sich in den folgenden Jahren dank den Übersetzungen hätte entfalten sollen. Da es bei uns keine "Bloch-Spezialisten" gab, habe ich fran~ösische Philosophen
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überzeugt, von ihrer Denkposition aus Stellung ZU verschiedenen Aspekten des Blochschen Denkens zu nehmen: Emmanuel Levinas behandelte das Problem des Todes, Jean-Francois Lyotard skizzierte eine "polytheistische" Interpretation der Spuren, die er später in seinen "Instructions paiennes" wiederaufnahm und die (wie Louis Marin in seinem Beitrag es z.T. auch tat) den Akzent auf den Augenblick, den ''Kairos", setzte. Wenn ich Lyotards und Marins Aufsätze erwähne, dann weil sie bereits Zeichen dafür waren, daß die Verabschiedung der Geschichtsphilosophie das französische Denken eher schon von Bloch entfernte - es sei denn, daß man heute, wie ich es versuche, angesichts einer historischen Tendenz, die tatsächlich unauffindbar geworden ist, Bloch "anders" liest, ich meine mit neuen Akzenten, oh-
X ne dabei die Blochsche Methode preiszugeben. Blochs Methode herauszuarbeiten, ist · a seit 10 Jahren, in meiner Habilitationsschrift wie in verschiedenen Publikationen, mein Ziel gewesen, und schon die-Festschrift war gleichsam "methodisch" konstruiert, insofern als deren Struktur den verschiedenen Diskussions-
! beiträgen ihr~n systematischen Ort in • der Gesamtheit des Blochschen Denkens
wies. Will man nun die geistige Entwicklung der 70er und 80er Jahre überblicken, so muß man, glaube ich, auf zwei ideologische Tendenzen hinweisen . Auf der einen Seite ist diese Zeit - bei allem gleichzeitigen Heranreifen einer regierungsfähigen politischen Linken - die der Abkehr vom Historischen Materialismus gewesen; mein Buch "Humanisie-
C> rung der Natur, Naturalisierung des Menschen" (1982) schwamm gegen den Strom, obwohl es•zum einen Blochs Philosophie als methodische Erneuerung des Historischen Materialismus darstellte und 'zum anderen die bedenklichen Folgen des Vergessens des Dialektischen Materialismus, der Natur, in der linken Theorie und Praxis monierte. Auf ·der _ anderen Seite gab es theoretisch und praktisch ein anhaltendes Interesse -für Utopie, das sich von der Blochsch~n Philosophie hätte nähren können, aber sie auch - wie ich kurz zeigen möchte - infragestellen mußte, wenn man sie aktiv zu rezipieren versuchte. Ich gehe zunächst auf die erste Tendenz ein. Jetle Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht - also auch Blochs "konkrete Utopie" - erschien sehr früh in den 70er Jahren als die Selbsttäu-
schung einer überholten Aufklärung. Der Strukturalismus hatte den Weg vorbereitet. Bei einem Foucault verschwindet zwar nicht die kritische Praxis, deren "Mikrologie" bricht aber mit dem Raum einer langfristig aufgefaßten prak-
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tischen Geschichte. Noch entscheidender ist die kritische Auflösung des Vernunftsbegrif~s. - also ~uch die Absage an. dessen Realisierung m der Geschichte. Man darf diese Tendenz pauschal als den gemeinsamen Nenner verschiedenster theoretischer Ansätze betrachten: der
.Michel Foucault und Peter Brückner
Ausdruck "Auflösung des Vernunftsbe griffs" läßt sich sowohl auf Derrida als auch auf Lacan oder Foucault anwenden. Parallel dazu wird die Vernunft von der ' ~Begierde" ersetzt (Deleuze/Guattari, Lyotard, aber auch "Neue Philosophen" wie Glucksmann in "La cuisiniere et la mangeur d'hommes"), zirkulierende "Intensitäten" ersetzen u .a. in Lyotards "Economie libidinale" die ökonomisch bestimmten Gesellschaftsformationen des Historischen Materialismus. Was man Vernunft genannt hatte, sei im . Grunde pur die idealisierte Zwangsvorstellung eines Willens zum Wissen, richti_ger noch: einer bloßen Begierde, "Wahrjleitsbegierde". Die vernünftige Weltdeutung und die Rede von einer Verwirklichung der Vernunft in der Weltgeschichte sei nur eine Fabel gewesen - der Logos nur Mythos; davon ausgehend entwickeln sich die Rehabilitierung des Polytheismus, das Bekenntnis zum "Polytheismus der Werte" und zum "Kairos" - zur Beliebigkeit der jeweiligen "Gele-
Bloch und Postmoderne
genheit" -, aber auch (bei den "Neuen Philosophen" wie in der Theologie) eine "Neo-Metaphysik" (Bernard-Henri Levy), in der Gott wieder der Ganz-Andere wird (Maurice Clavel: "Dieu est Dieu, nom de Dieu!, 1976, Rene Girard, "Des choses cachees depuis la fondation du monde", 1978, Bernard-Heri Uvy, "Le Testament de Dieu", 1979 . . . ) -bis zur Anerkennung einer Radikalität · des Bösen, an der die Ansprüche der säkularisierten Theodizee der Vernunft in der Geschichte scheitern. Ein Leitmotiv zieht sich durch die geistige E~t~lung 'der 70er un Ö Oer Jä re inaurcfi: die .- ~~ . -Gleichsetzung von Vernunft und Herr-schaft"; für iuf~lge tritt an~ dle Stelle der Ökonomischen Kritik an der kapitalistischen Irrationalität eine "Kritik der · Herrschaft". Und gerade da, wo man sich etwas um Bloch gekümmert hatte (in der Zeitschrift "Esprit" und in der Reihe .. . "Critique de la politique" (!) des Payot-Verlags), wird diese Linie vertreten. Die gleichzeitige Bemühung um eine neue politische Ku.ltur, die Bemühung "neue Projekte geschichtlich zu aktivieren" ("Esprit", Mai 1978), mußte deshalb den Anschluß ah Blochs Anregungen verpassen; das Interesse für utopische Ansätze ließ sich nicht mehr ohne weiteres mit der Problematik der historischen Emanzipation verbinden. Nicht nur Bloch, sondern auch Marcuse waren ZU Antediluvianern geworden. Daß allerdings die "konkrete Utopie" mit der konkreten gesellschaftlichen Situation konfrontiert werden mußte, läßt sich nicht leugnen: dies ist der Anlaß der "Convocation en utopie" - einer interdisziplinären Tagung, die ich 1978 mit Pierre Furter veranstaltet habe und die 1979 unter dem Titel "Strategies de l'utopie" erschien. Der Plural "Strategien" weist unzweideutig darauf hin, daß die praktische Geschichtsphilosphie es mit einer, wenn man will, "polytheistischen" Vervielfältigung der Erfahrungen und Widersprüche aufzunehmen hatte. Die utopischen Praktiken reflektierend und den Diskurs der "konkreten Utopie" an ihnen messend, haben wir sozusagen damals festgestellt, daß wir in die Postmoderne eingetreten waren -noch bevor das Wort bei uns modisch wurde (Lyotards Buch "La condition post-moderne" erschien erst ein paar
· Wochen später). FRAGE: Mit der Entscheidu-ng, die gegenwärtige Situation als "Postmoderne" zu diagnostizieren, entsteht gleichzeitig
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Gerard Raulet
das Problem, wie dabei die Postmoderne nicht mit legitimiert wird - also wie kann der Haltung entgangen werden, sich im Zerfall des gesellschaftlichen/kulturellen Zusammenhanges, dem Verlust eines einheitlichen Sinns einzurichten und nicht mehr nach einer Veränderung zu suchen? ·
RA ULET: Die gegenwärtige Lage als "postmodern" zu bezeichnen, ist sicher keine "Entscheidung", sondern höchstens ein "Vorurteil", aber im hermeneutischen, heuristischen Sinne des Wortes; was wir allerdings zu "entscheiden" haben, ist, ob wir mit der Geschichte Blindekuh spielen wollen, anders gesagt: konkrete Utopie ist mit Vogelstraußpolitik unvereinbar. Utopie hat sicher "einen Fahrplan": der ist aber nicht schwarz auf weiß an allen Wänden zu lesen; ist vielleicht "um die Ecke", um ein anderes Blochsches Bild anzuführen, aber eine Gesellschaft hat viele Ecken, wie das Haus der Geschichte viele Treppen und Räume - Sphären wie Schichten haben alle ihre Zeitlichkeit und verhalten sich "ungleichzeitig" zueinander und zur "Invariante der Richtung'', die sie bis zur Unkenntlichkeit variieren, bzw. "allegorisieren" (dies ist für mich ein Schlüsselbegriff, auf den ich noch zurückkommen werde). Daß das "stärkste Glied", um welches sich dynamische Widersprüche einer Veränderung zentriert hätten, nicht mehr lokalisierbar ist, hat u .a. Marcuses hartnäckiges Suchen - und Scheitern - gezeigt; daß der Widerspruch das ganze "Volk" umfaßt, ist zwar eine Verallgemeinerung, aber sie bedeutet nicht mehr, wie bei Marx, eine (praktisch notwendige) Polarisierung - sondern deshalb eher eine "Delokalisierung". Darum sind die postmodernen Stichworte der "Deterritorialisierung" oder "Dekodierung" durchaus ernstzunehmen. Übrigens kann ich als Marxist (selbst wenn ich natürlich kein lineares Kauslverhältnis und keine naive Abbildtheorie unterstelle, sondern eben - heute mehr denn je - eine unendlich verzweigte und vermittelte Mehrschichtigkeit von Subsystemen voraussetze) den Gedanken nicht gelten lassen, daß Ideologien, auch postmoderne, völlig aus der Luft gegriffen sind. Gerade dann würde man dem "totalen Verblendungszusammenhang" erliegen und das "Spiel" der Postmoderne mitmachen; ich habe sie in einem Aufsatz als ein "animistisches Denken" beschrieben, insofern als sie die Möglichkeit einer rationalisierenden Legitimation der Wissenschaftlichkeit verwirft und
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sich davon dispensiert, über ihren eigenen Gültigkeitsanspruch Rechenschaft abzulegen; sie entschlägt sich dadurch, zum Teil voll bewußt, der Mittel einer Unte~scheidung zwischen dem Realen und dem Fiktiven: ihr Diskurs will eben nur Mythos sein - eine Erzählung unter anderen mögli(;hen Erzählungen. Und doch ist Lyotards "Condition post-moderne" durchaus der "Versuch einer Geschichtsschreibung der neostrukturalistischen Dekonstruktion" (Manfred Frank) - was noch einen verkappten-ideologiekritischen Anspruch impliziert. Darüberhinaus verschwindet die Sehnsucht nach so etwas wie einem Konsens nicht: das multiple coding der postmodernen Architektur hat keine andere Funktion; aber auch in Lyotards letztem Werk, "Le diffärend" (1984)," soll im Rahmen der Auffassung eines "atomisierten" Sozialgebildes, in dem nur Verträge auf Zeit denkbar sind, ein unvorhergesehenes "Sich-Ereignen", ein "Kairos", dafür, daß das Buch nicht nur zeugt, sondern auch "einen Leser überzeugt"! Aber ich soll mich kurzfassen; ich wollte nur andeuten, um es ein bißchen gemein zu formulieren, wie man leicht in die Falle der Postmoderne geht,.indem man sich auf "Nicht mitmachen" versteift. Selbst wenn die Postmoderne keinen konkreten gesellschaftlichen Gehalt hätte, gäbe es für mich noch einen guten Grund, sie ernstzunehmen: Ideologien bekämpft man nicht, indem man sie ignoriert. Aber ein solcher Aufruf zum ideologischen Kampf müßte . sich selber auf eine Legitimität berufen können -entweder Althussers "Philosophie" als das Wissen um die Identität des wissenschaftlichen Historischen Materialismus, oder schlimmer noch die "Weltanschauung" des Proletariats, von dem keiner mehr weiß, in welcher Sprache es spricht. Das ist deshalb nicht der Schwerpunkt meiner Position.
Ihr Schwerpunkt besteht vielmehr darin, daß man seit Marcuse, Touraine, Bell und anderen sich nicht mehr darüber hinwegtäuschen kann, daß es qualitativ neue Folgewirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts gibt. Daß - wie Marc Guillaume es in "Le Capital et son double" 1973 überzeugend gezeigt hat - die Warenwirtschaft sich heute zu einer derartigen Verflüssigung des Aus·tauschs gesteigert hat, daß die Rede von "Delokalisierung" wenigstens der Tendenz nach nicht fehlgreift; fügt man hinzu, daß das Bedürfnis zugunsten der "Begierde" oder einer "politischen ökono-
mie des Zeichens" (Baudrillard) ausgeblendet wurde, dann ist angesichts der zur "Semiokratie" (Guillaume) gesteigerten "Mythologie" (Benjamin, Barthes) die Rede von einer "Dekodierung" mindestens heuristisch brauchbar.
Ebensowenig_ darf man verkennen, daß die neuen Technologien, die allmählich die alten ablösen - und davon hängt übrigens das überleben unserer Gesellschaften ab -, Identitäten auflösen: ich meine nicht nur den Identitätsverlust des Industrieproletariats und ganzer Sektoren und Gegenden, sondern die fragwürdig gewordene Identifizierung mit der Arbeitsgesellschaft und dem Sozial staat, wo gerade der "Fortschritt" einen früh (1973) von Daniel Bell diagnostizierten Rückfall in den Kampf aller gegen alle bewirkt. Ich meine auch die wuchernde Vermehrung von. Informationen, die industrielle Überproduktion von Bildern und Fiktionen, die nicht nur den Übergang von der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks (Benjamin) zur Massenkunst und Massenkultur anzeigen, sondern in den neuen Technologien, von denen das überleben unserer Industriegesellschaft abhängt, den Kern der Produktivkräfte ausmachen.
Dies ist gerade die Tendenz der Veränderung, und wenn ich marxistisch nach einer Veränderung der Tendenz frage, also nach der Negation der Negation, kann ich davon nicht absehen.
FRAGE: In .~inem Artikel in den "Spuren" (3/83) haben Sie den Postmodernismus an verschiedenen Punkten kritisiert. Könnten Sie diese Kritik zu den unten angegebenen Stichpunkten kurz erläutern? (Postmodernismus als eine Form des Positivismus - gesellschaftliche Synthesis lediglich als undialektische Form des Nebeneinanders: wenn zwischen Alternativen nicht mehr zu entscheiden ist. alles gleichwertig bzw. gleich-gültig ist, geht die Wertschätzung des Besonderen verloren (Anything goes) - Postmodernismus und der Glaube an die Selbststabilisierung des Systems.)
RA ULET: Meine Kritik an der postmodernen Ideologie geht von den Beobachtungen aus, die ich soeben zusammengefaßt habe . Sie ist für mich, wie gesagt, ein ß._.ückfall in den Animismus - damit will " iCh~ hinweisen, der Versuchung, die sie sicher ausstrahlt, zu . wi~erstehen und trotz der
Wirklichkeit der ~ur Produktivkraft gewordenen Fiktion die Fiktionen der ··postmodernen" Produktionsweise auf ihre innere Widersprüchlichkeit hin zu hinterfragen. Dies setzt theoretische Mittel voraus, die das Phänomen der Fiktion erfassen können. Man braucht nicht einmal Blochs Philosophie gegen den Strich zu lesen, um sie bei ihm zu finden - ich weise damit auf die Philosophie der Allegorie und des Symbols hin; insofern fallen sie nicht aus der Blochschen Kohärenz heraus.
. Aber Ihre Frage betrifft meine Kritik am Postmodernismus als einer Ideologie, die sich undialektisch mit der neuen Produktionsweise abfindet; darunter verstehe ich allerdings nicht, daß sie resigniert - ganz im Gegenteil: Lyotards Ästhetik des Erhabenen verklärt eine undialektisch akzeptierte Lage zu einer "positi- . ven Barbarei", deren Flucht nach vorne nicht mehr wie bei Benjamin nach einem qualitativen Sprung strebt. Dadurch will sie gegen die "traurige Wissenschaft" eines Benjamin oder eines Adorno die fröhliche Wissenschaft der Nietzscheschen Bejahung ausspielen. Da möchte ich nun Einwände wiederaufnehmen und zuspitzen, auf die Lyotard inzwischen geantwortet hat (seine Erwide~ rung wird in unserem Sammelband "Verabschiedung der (Post-)Moderne?" im Gunter Narr Verlag erscheinen). Zum Einen vermag keiner zu entscheiden, was diese Bejahung vom I-A eines Esels Nietzsches, also des "modernen Menschen", unterscheidet; zum anderen halte ich an dem doppelten Vorwurf fest, daß die erhabene Flucht nach vorne ein terroristischer Ästhetizismus ist und daß dieser Terror dem strategischen Sprachspiel und totalitären Streben der technisch-technokratischen Rationalität unmöglich ein Ende setzen kann, solange er sich nicht auf eine Dialektik mit der instrumentellen oder funktionellen Vernunft einläßt. Bei allen Schwächen ist in dieser Hinsicht Habermas' Position doch stärker. Wer den "Polytheismus der Werte" nicht nur gelten läßt, sondern auch bejaht, setzt sich allzuleicht über eine Auseinandersetzung mit der Systemtheorie hinweg und akzeptiert eine nicht-reduzierbare Komplexität, der man ihr Spiel belassen soll; man soll sich, sagt Lyotard, darüber freuen, daß "die Entwicklung zum Vertrag auf Zeit [zur Atomisierung des Konsensus] zweideutig ist: sie wird vom . System toleriert und sie weist im System selber auf einen möglichen an-
deren Zweck hin" ("La condition postmoderne"). Damit wird aber auch das System schlechthin akzeptiert, unter dem Vorwand, daß es "zweideutig" ist!
Was soll nun "Zweideutigkeit" bedeuten, wenn man nicht versucht, ihr die tragenden Widersprüche einer Entwicklung abzulesen? Eben eine (erhabene) Resignation, die ihr I-A in Bejahung drapiert, Merleau-Pontys "marxistisches Abwarten" angesichts der "Vielseitigkeit" des Realen wa.r alles in allem politisch weniger gefährlich. Die Selbststabilisierung des Systems ist sicher nicht das Ideal der Postmoderne. Sie begnügt sich aber damit, die Unüberwindbarkeit von Alternativen zu konstatieren: Im "Anti-Ödipus" von Deleuze und Guattari resultiert die praktische Ohnmacht aus dem eigenartigen Reproduktionsprozess des hochentwickelten Kapitalismus, der sich unaufhörlich seiner äußersten Grenze nä- · hert und gerade dadurch die Basis seiner Reproduktion erweitert; am Ende der "Condition post-moderne" von Lyotard besteht die unentscheidbare Alternative in einer Informatisierung der Gesellschaft, welche die Performativität auf alle Ge biete des Wissens erweitert und daher zu potentiellem Totalitarismus tendiert, obwohl auf der anderen Seite ein demokratischer Gebrauch dieser neuen technologischen Möglichkeiten "im Prinzip" denkbar ist. Man kann es der Postmoderne nicht übelnehmen, daß sie auf diese Weise die wissenschaftlich-technische Entwicklung unserer Gesellschaften wahrnimmt und berücksichtigt, anstatt ·abstrakt damit zu brechen und zu einer -regressiven, bzw. konservativen Kulturkritik zu werden. Nur vermag sie nicht das Entweder-Oder von Totalitarismus und Demokratie zu überwinden, und wo sie nicht resigniert, mündet ihr Verzicht auf die mühsame Suche
Bloch und Postmoderne
nach den Vermittlungen einer Veränderung in jener bejahenden Flucht nach vorne, die in Lyotards Ästhetik des Erhabenen ihr Organon findet. Mit dieser radikalisiert sich noch die Alternative zu der zwischen Totalitarismus und Terror - der terroristischen Geste expressiver Subjektivität. Daß das gemeinte Erhabene auch das Schreckliche und Widerliche einschließt, halte ich für politisch bedenklich; Gott sei Dank, wenn es auf dem Gebiet der Ästhetik bleibt und keine "Ästhetisierung" der Politik bewirkt! In dieser Hinsicht teile ich Habermas' negative Wertung des "Expressiven"; der "subjektive Faktor" ist nicht nur ohnmächtig, sondern potentiell gefährlich, wenn er eine abstrakte Revolte darstellt - so sehr er gleichzeitig auch vom Unversöhnten zeugt. Denn das unversöhnte Besondere ist selber - und dies war, glaube ich, die Pointe Ihrer Frage - nichts mehr wert, wenn man nicht mehr bestimmen kann, was "versöhnt" und was "unversöhnt" ist, wenn alles gleichwertig, bzw. gleichgültig wird. Das habe ich mit dem Vorwurf des Positivismus gemeint: die Nacht des Positivismus, in der alle Kühe schwarz sind. Genauer: indem ma.n die Problematik der Legitimation des Wissens verabschiedet und darauf verzichtet, die Kriterien· und Metakriterien zu reflektieren, wird man zum "Positivisten". Erfahrung und Erkenntnis werden wörtliqh ent-wertet. Durch das historisch-relativistische Zitieren aller möglichen Fragmente aus der Vergangenheit in der postmodernen Architektur, oder durch Lyotards "Atomisierung des Sozialen in geschmeidige Netze von Sprachspielen" wird das Besondere gar nicht gerettet, sondern bei allem scheinbaren Erfahrungsreichtum der totalen Verdinglichung preisgegeben. Die angemessene Antwort auf dieses Paradoxon ist dessen Umkehrung - die Rettung des Besonderen setzt voraus, daß man seine Abhängigkeit und Unfreiheit bedenkt, um es als ein immer schon Vermitteltes zu erfassen. Benjamins "Denkbild'', Adornos "Konstellation" und Blochs "Auszugsgestalt" verfolgen alle drei dieses Ziel. FRAGE: Bei der im Augenblick· herrschenden politischen Ratlosigkeit und Resignation, hat da Bloch Ihrer Meinung nach noch etwas zu sagen für eine "Linke", die die Vorstellung von Emanzipation, einer "besseren" Zukunft und humaneren Welt nicht aufgegeben hat? Wie kann, wenn man an der Beschrei-
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Gerard Raulet
bung "Postmoderne" festhält, die gegenwärtige Frage nach der Emanzipation aussehen?
RA ULET: Angesichts der Situation, auf die ich gerade hingewiesen habe, läßt sich die Blochsche Philosophie durchaus "aktualisieren" - aber nicht so, daß man beliebig einzelne Aspekte aufgreift, die der heutigen Verlegenheit besser widerstehen als andere, denn man würde dann selber dem postmodernen "any -thiog goes" verfallen. Was ich übrigens an den meisten Bloch-Interpretationen
• auszusetzen habe, ist, daß sie sich zu wenig für die Methode interessiert haben, die einem so breiten und mannigfaltigen Werk seine Einheit verleiht. Am schlimmsten sind selbstverständlich die kompilatorischen Nachplappereien, die dem "Bann der Anamnese" erliegen; schlimm auch die Pseudo-Deutungen, die bestimmte Themen absondern - etwa jüdische - und weder ihren Stellenwert in dem betreffenden Werk ("Geist der Utopie") noch ihre methodische Integration bis hin zu "Experimentum mundi" immanent rekonstruieren; aber Bloch im Dienste aller möglichen "Emanzipationsbewegungen" zu instrumentalisieren, von der "Friedens" - bis zur "Frauenbewegung", läßt sich meines Eiachtens auch der Kritik unterziehen, die Horkheimer, Adorno und Habermas an die Studentenbewegung gerichtet haben
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- ich zitiere Horkheimer: "Unbedachte und dogmatische Anwendung kritischer Theorie auf die Praxis in der veränderten historischen Realität vermöchte den
• Prozess, den sie zu denunzieren hätte, nur zu beschleunigen" . Es mag hart klingen, aber trotz divergierender Intentionen und bei allem guten Willen gehen ·solche "Aktualisierungen" an der wirklichen Lage vorbei und lassen sich eben im schlechten Sinne des Wortes als "postmodern" bezeichnen. Daß ich nun - in einem anderen Sinne - eine "postmoderne" Lektüre von Bloch für fällig und dringend notwendig halte, will ich auf der anderen Hand nicht verhehlen; auf Ihre Frage, ob ich nicht dadurch die "Postmoderne" für bare Münze nehme und "mit legitimie-
\
re", habe ich schon geantwortet. Wie man also der Blochschen Philosophie treu bleiben kann und gleichsam an die wirklichen Bedingungen einer vielleicht noch möglichen Emanzipation "postmodern" herangehen muß, möchte ich deshalb wenigstens ansatzweise (es sind keine Rezepte, ·sondern Versuche einer Refonnulierung der praktischen Ge-
2s . TÜTE
schichtsphilosophie) skizzieren. D~r Sammelband "Strategies de l'utopie" stellte sich die Frage, inwiefern Marx' theoretisches und praktisches Prinzip <le"r Totalisierung und Polarisierung · einer neuen politischen Kultur gerechtwerden konnte, die offensichtlich aus örtlich und zeitlich beschränkten, fragmentarischen Konsensen bestand und für die Linke, die damals noch nicht an der Macht war, eine zu bewältigende Gärung und Herausforderung darstellte; 1981 hat sich Mitterand damit begnügt, alles und sein Gegenteil zu versprechen. Die sog. "Postmoderne" ist nichts anderes als dieses unbewältigte Problem, das die Postmodernen nicht einmal mehr zu bewältigen suchen. Damit will ich allerdings auch nicht die Lage der siebziger Jahre, in denen eine politische Aktivie rung zersplitterter Widersprüche noch denkbar war, mit der Tendenz zu einer totalen "Delokalisierung", also Verräumlichung, die sich potentiell aus der Entfaltung der neuen Technologien ergibt, gleichsetzen; in gewissem Maße waren damals die Widersprüche nur allzu lokalisiert, obwohl gerade das Übermaß an Lokalisierung die Möglichkeit einer Zentrierung problematisch machte und faktisch eine wörtliche U-topisierung bewirkte. Wer aber Marx' Äußerungen zur dialektischen Methode liest, etwa die Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (1857), wo er vom "Gedankenganzen" spricht, mit dessen Hilfe man die "Totalität" einer Produktionsweise erfaßt, oder das Nachwort zur zweiten deutschen Auflage des "Kapital" (18 73), stellt fest, daß die gedanklich konstruierte Totalität dem Widerspmch zwischen Denken und Sein nicht entgeht und deshalb nur ein provisorisches, rein henneneu tisches Hilfsmittel ist . Gibt es in der Wirklichkeit selber so etwas wie eine "Totalität", dann ist diese selbst im Pro-
r zess begriffen - Marx' Totalisierung
l' dient nur dem Aufdecken der Widersprüche, die sie innerlich auflösen. Das ist eine Auffassung, an der Bloch festhält, etwa gegen Lukacs, weil es "um den Realismus geht". Das Wichtige an einer Totalität - handele es sich um die schöne Totalität des klassischen Kunstwerks oder um die Totalität einer Produktionsweise - ist der Prozess ihres inneren Zerfalls. Eine solche Totalität ist eine "Auszugsgestalt", und, wie "Experirhentum mundi" sagt: "Die Unruhe ist dialektisch, läßt das, worin sie sich gestaltet, immer
wieder umschlagen, kann nicht umhin, dem Gewordenen zu widersprechen, weil es doch nicht angelangt ist, als angelangtes gelungen ist" . So verstanden ist die Auszugsgestalt eine symbolische Konfiguration. Aber man würde m.E. zu Unrecht eine teleologische Garantie der Vorsehung unterstellen, wenn man dieser vorläufigen Symbolisierung eine "Invariante der Richtung" abgewinnen wollte . Der Sinn der Geschichte ist mit ihr nicht gemacht. Blochs Auszugsgestalt hat den großen Vorteil, daß sie den Akzent auf die jeweilige historische Kristal lisation setzt und Lukacs' "Standpunkt des Produzenten", der allzu leicht zur "Weltanschauung des Proletariats" entarten kann, mit dem "Blick aufs Produkt" substituiert. Gleichzeitig rettet die Auszugsgestalt das Besondere; sie nähert sich der Konstellation Adornos . Sie schließt dabei nicht die Möglichkeit ei· ner Allegorisierung aus - und als eine um· sich greifende Allegorisierung der Welt können wir gerade die Postmoderne bezeichnen, in der keine Kriterien und Metakriterien in die Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit der Erfahrung Ordnung zu bringen vermögen - in der also das Selbe von dem Anderen nicht mehr unterschieden werden kann .
Aber Blochs großartige, weit ausholende Hermeneutik aller möglichen Gestalten der Utopie hätte keinen aktualisierbaren Sinn , wenn es ihr bloß darum ginge. vergangene Äußerungen des utopischen Willens an einem unveränderlichen Kriterium zu messen; auf die Gegenwart be -
.. zogen, bedeutet sie vielmehr eine Her} meneutik der Motivationen und Werte.
Dasselbe gilt von der sog. "objektiv-realen Hermeneutik", die sich mit den Auszugsgestalten befaßt. In meiner Interpretation - und ich glaube Bloch richtig zu verstehen - ist jede Totalität, also auch eine Produktionsweise, eine Auszugsgestalt; umgekehrt wäre bei aller Gefahr der Allegorisieru:1g -die übrigens nur so gebannt werden kann - jede vorläufige und fragmentarische Konstellation heuristisch als Totalität zu behandeln, damit man so einerseits den symbolischen Wert ihres relativen_ Ausgestaltetseins und andererseits ihre inneren Widersprüche wie den Grundwiderspruch zwischen ihr und der Wirklichkeit erfasse . Und so wie Bloch keinen Unterschied zwischen der politischen und der künstlerischen Totalität macht, ließe sich das, glaube ich, sowohl auf soziale Gebilde als auf Kunstwerke anwenden.
II
TÜTE: 1965 fand in Salzburg ein Kongreß der Paulus-Gesellschaft statt, bei dem bekannte Theologen und Marxisten, u.a. Metz, Garaudy, auch Havemann über Gemeinsamkeiten und Differenzen von Christentum und Marxismus gesprochen haben. In einem seiner Beiträge argumentiert Metz für eine "Theologie der Hoffnung" als eines neuen theologischen Ansatzes angesichts einer Wende vom "Jenseits" ins "Später" im öffentlichen Bewußtsein, wie er sagt. Auf welches gesellschaftliche Umfeld haben wir die von Ihnen ausgearbeitete "Theologie der Hoffung" zu beziehen, welches waren für Sie die Antriebe in jener Zeit, dies zu schreiben?
Moltmann: Das ist eine große Frage. Es gibt positive und negative Antriebe. Die positiven Antriebe waren sicher die Begegnungen mit Ernst Bloch seit 1961, und die Möglichkeit, die seine Philosophie der Hoffnung mir bot, um die jüdisch-christliche Hoffnung gegenwärtig zu formulieren. Diese Tradition war schon vorbereitet, etwa durch von Rad in der alttestamentlichen und durch Käsemann in der neutestamentlichen Theologie, aber man hatte eigentlich keine Begrifflichkeit, um diesen jüdischen Messianismus und die christliche
eschatologische Hoffnung darzustellen. Dazu wurde ich von· Bloch angeregt. Der 2. Punkt war, daß ich bei ihm, namentlich in "Naturrecht und menschliche Würde", aber auch im "Prinzip Hoffnung" die Sozialutapien und die Rechtsutopien als konkrete Utopie einer weiterreichenden messianischen Hoffnung sah, so daß man die immanente Seite der christlichen Transzendenz formulieren könnte, oder von der Hoffnung des Glaubens zur Hoffnung in Aktion übergehen konnte. Als Inbegriff der Sozialutopien der Mühseligen und Beladenen, wie er sich sehr biblisch ausdrückt, war das Sozialismus und der Rechtsutopien und für die Erniedrigten und Beleidigten, wie er sich ausdrückt, Demokratie so daß eine neue Verbindung von Demokratie und Sozialismus uns damals, und nicht nur uns, sondern vielen zu Beginn der 60er Jahre, als Hoffnung in Aktion oder als konkrete Utopie erschien. Und nun komme ich zu den negativen Antrieben. Das war damals das Ende der Ära Restauration, die in der Politik mit Adenauers Namen, in der Kirche mit dem Namen von Bischof Dibelius verbunden war. Man wollte die Wiederherstellung der Verhältnisse vor 33, die zu 33 geführt hatten, aber man wollte keine Lehren aus der Geschichte des Faschismus und des Kirchenkamp-
Theologie
fes ziehen. Dagegen hatte ich mich d~mals engagiert, im Kampf gegen den Militärseelsorgevertrag, gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands, gegen die Aufrüstung mit Nuclearwaffen wir hatten damals die Bewegung "Kampf dem Atomtod" -, die Friedensthesen, die Karl Barth für die kirchlichen Bruderschaften 1958 geschrieben hatte. Das waren Ansätze in jener Zeit der Restauration und des Neokonservatismus, die dann in den 60er Jahren durchbrachen, und dazu hat Bloch uns geholfen. In diesen sozialen und politischen Kontext gehören auch meine Versuche mit der "Theologie der Hoffnung" und mit einer "politischen Theologie", die ich zusammen mit Johann B. Metz entwickelte.
TÜTE: Würden Sie sagen, daß es eine parallele Entwicklung gab, einerseits eine Entwicklung auf die Studentenbewegung hin - auch aus diesem negativen Antrieb, wie Sie sagen - und für Sie eine Entwicklung im wissenschaftlich theologischen Bereich. Sind da keine Zusammenhänge?
M: Vielleicht muß man nicht gleich auf die Studentenbewegung von 1967 /68 blicken, obwohl das in der zweiten Hälfte der 60er Jahre für uns sehr wichtig wurde. Da· war zunächst die Parallele in
TÜTE 29
Kursbuch 78:
Lust an der Theorie
Günter Niklewski, Theorie als Inneneinrichtung
Tilman Spengler, Stirnwolkenbildung. Ein Plädoyer
für theoretische Neugier Stephen W. Hawking, Grenzen von Raum und Zeit. Versuche, das Universum zu verstehen
Valentin Braitenberg, Tentakeln des Geistes. Vom Nutzen des
Denkens in der Forschung Erwin Chargaff, Die verfolgte
Wahrheit. Der Begriff der Methode in den Wissenschaften
Peter Weingatt, Anything goes -rien ne va plus. Der Bankrott der
Wissenschaftstheorie Sylvia Kade, Der Krieg der
Experten gegen die Laien Barbara Weinmayer / Herbert Will/ Andreas Hamburger,
Vom Ich zum Selbst. Der Triebverlust der psychoanalytischen
Theorie Peter Weigelt,
Konzentrationsstörungen. Kopfstände und Bauchtänze auf
dem Campus Jörg Bopp, Geliebt und doch gehaßt. Uber den Umgang der
Studentenbewegung mit Theorie Eckhard N ordhofen, Botschafter des Bauchs. Die neuesten Angriffe
auf die Vernunft Hans Günter Holl, Theorie des
Spiels der Theorie Matthis Dienstag, Das kommt
von dem. Oder der schöne Durst nach Erklärung
Exkurs: Lukian, Verkauf von Philosophentypen
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Amerika in der "civil rights movement". Martin Luther King's "I have a dream", 1963 am Lincoln Memorial in Washington, war für mich· eigentlich die Realisierung von Bloch's konkreter Utopie. Es war die Erinnerung an die amerikanische Verfassung und an das, was nicht realisiert war an Menschenrechten, an Menschenwürde bezogen auf die konkrete Unterdrückung der Schwarzen in der amerikanischen Situation. Dieses "I have a dream" ist der Inbegriff einer konkreten Utopie, mit dem Ausblick auf die Totalutopie des Propheten Jesaja (Jesaja 40), daß eines Tages "alle Berge erniedrigt und alle Täler erhöht werden, so daß alle Menschen gemeinsam die Herrlichkeit Gottes sehen werden." So viel zur Parallele in Amerika. Es kam damals die Große Koalition, der Stern von Willy Brandt stieg auf -"Mehr Demokratie wagen", und die Zukunft darf nicht die Fortschreibung der Gegenwart sein, sondern muß eine Alternative, etwas Neues sein. Die Studentenbewegung knüpfte eigentlich an die "civil right movement" und an die amerikanische Anti-Vietnam-Bewegung an, das war ja sehr wichtig, und dann an
den Aufschrei der unterdrückten Völker. Das auslösende Ereignis war der Besuch des Schah von Persien und die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg in Berlin. Diese verschiedenen Bewegungen flossen zusammen und kamen dann in der "Studentenrevolte", wie man sagt, 1967 /68 zum Ausbruch - und vielleicht wieder auch zu einer gewissen Selbstzerstörung. Die Hoffnungen der sechziger Jahre fanden 1968 ihre Höhepunkte und auch ihre Enttäuschungen. Mit der Enzyklika humanae vitae begann das Ende der Katholischen Reform von Vaticanum II. Der Einmarsch der Warschauer Truppen in der CSSR beendete Dubcecks Versuch eines "Marxismus mit menschlichem Gesicht'', und auch den christlichen marxistischen Dialog. Viele Jugendträume kamen 1968 zum Höhepunkt und brachen dann auch zusammen. Auch ich hatte eigentlich mehr erwartet, namentlich von einer Verbindung von Demokratie und Sozialismus in Osteuropa, weil wir etwas Entsprechendes zu der sozialdemokratischen Bewegung im Westen hofften. Eine Konvergenz hätte im geteilten Europa entstehen können.
TÜTE: Sie hatten zu Anfang gesagt, daf~ es für Sie interessant war, daß der christlich-marxistische Dialog Defizite innerhalb der Kirche, der Theologie füllen konnte, also mit Begrifflichkeiten etwa von Bloch her, was Messianismus, Freiheitsbewegungen, Demokratie und Sozialismus angeht. Ist dies ausreichend eingelöst worden?
M: Das für uns überraschende in den 60er Jahren war die Begegnung von Christen und Marxisten. Sie haben mit Salzburg angefangen, dann kamen die Konferenzen in Chiemsee und Marienbad. Das waren die 3 großen Möglichkeiten für den offiziellen Dialog, es gab daneben viele andere, und für das gegenseitige Erkennen und Verstehen von Marxisten und Christen. Es war in Marienbad so, daß revolutionär gesonnene Christen sich mit religiös interessierten Marxisten trafen. Das klingt ein bißchen paradox, so war es aber. Der christlich marxistische Dialog in der CSSR entstand damit, daß marxistische Philosophen und andere Hromadka, den Theologen einluden, er solle ihnen einen Vortrag halten und als Thema wollten sie
"Ich habe einen Traum, den Traum, daß eines Tages die Söhne der früheren Sklaven und die Söhne der Sklavenhalter zusammen am Tisch der Brüderlichkeit sitzen werden." (Martin Luther King)
nicht. "Was bringt das Christentum für Frieden auf Erden und Gerechtigkeit unter den Völkern'', sondern sie sagten, er solle über den Sinn des Gebets sprechen. Das klingt so merkwürdig, aber sie wollten wissen, was haben die Christen über
.., Transzendenz zu sagen, was wir nicht „ wissen. In Marienbad 1968 waren die
Christen an der Immanenz interessiert und die Marxisten an der Transzendenz. Ich könnte das noch mit vielen anderen erstaunlichen Ereignissen in dieser Zeit belegen. 1967 erschien in der CSSR das Buch von Gardavsky "Gott ist nicht ganz tot", während zur gleichen Zeit von den Theologen in Amerika Gott für tot erklärt wurde. Das waren Begegnungen voller Überraschungen. Und für diese offene Bewegung und Verbindung von Christen und Marxisten, ohne daß eine Seite sich selbst dabei opfern muß, steht der Name von Bloch. Er hat das dann in dem Buch "Atheismus und Christentum" 1968 beschrieben und wo immer solche Verbindungen von Christentum und Marxismus in einer Befreiungsfront auftauchen, ist der Name von Bloch gegenwärtig, z.B. in Nicaragua. Daß Christen und Sandinisten
in dieser Befreiungsbewegung gegen Somoza zusammenarbeiten konnten, das kommt auch aus dieser Tradition, die Bloch damals formuliert hat.
TÜTE:· Wenn man das jetzt auf die bundesdeutsche oder westeuropäische, aber auch osteuropäische Situation bezieht, heißt das doch wohl daß im eigenen Land Bloch eigentlich ziemlich stark ohne Bedeutung geblieben ist. Es gibt ja heute keine der Theologie der Befreiung vergleichbare Praxis in Westeuropa.
M.. Doch, es gibt sie - in der Friedenbewegung. Das würde ich für eine vergleichbare Praxis halten, die jedenfalls in der DDR und der Bundesrepublik parallel läuft. Und dann die ökologiebewegung, die wiederum von Bloch die Sache mit dem Natursubjekt gelernt hat und mit der Allianztechnik zwischen Mensch und Natur. Wegen dieser Naturphilosophie wurde er damals 1957 in der DDR verbannt. Sie wurde als Revision des Marxismus verworfen. Man sagte, unsere Studenten sollen Mathematik und Physik studieren und nicht lernen, wie man mit Äpfeln spricht. Eine Heirat mit der Natur findet nicht statt. Doch heute kommen diese Gedanken im Marxismus selbst wieder auf, z.B. in Jugoslaiwen, aber auch bei anderen und man entdeckt die Weisheit von Bloch an dieser ökologischen Frage wieder. Die Friedensbewegung stellt etwas vergleichbares zur Theologie der Befreiung in Lateinamerika dar. Wir sitzen in beiden deutschen Staaten auf einem-.nuklearen Pulverfaß, das ist unser Hauptproblem, während die Befreiung von ungerechten kapitalistischen Strukturen deren Problem ist. Beide Probleme hängen zusammen und sind auf einander bezogen. Wir müssen uns also gegenseitig stärken.
TÜTE: Ist die theologische Reflexion bezogen auf die Friedens- und ökologiebewegung entsprechend tiefgehend wie die Reflexion der Theologen in Lateinamerika?
M.: Ja, das ist richtig. Wenn sie fragen, wer in der Bundesrepublik unter den professionellen Theologen sich für Befreiungstheologie interessiert, dann kannich Ihnen knapp 5 evangelische Professoren und etwas mehr katholische nennen. Aber der Rest ist daran nicht interessiert und nimmt es nicht einmal zur Kenntnis.
TÜTE: Würde das auch zutreffen für die Auseinandersetzung mit Bloch zur damaligen Zeit? Würden Sie auch sagen, das war eine begrenzte Auseinandersetzung
Theologie der Hoffnung
von em1gen Theologen oder war dann dieser Dialog damals breiter, was hat sich, wenn die Basis heute so schmal ist, auseinanderentwickelt und warum hat es diese KontinuitäLin der Auseinandersetzung nicht gegeben? M.: Die Basis war damals bereiter. Bloch wurde ja auch damals der geheime Kirchenvater genannt. Das Interesse war Ja am Marxismus, an der Religionskritik von Feuerbach, an Thomas Münzer. Heute lockt Thomas Münzer kaum noch jemanden. An Religionskritik ist niemand mehr interessiert. Diese Themen sind verschwunden. Probleme oft nicht gelöst, aber sie verschwinden, z.B. das Problem Entmythologisierung - Bultmanns Programm - ist verschwunden. Religionskritik von Feuerbach - verschwunden - Religionskritik von Freud verschwunden usw. Man kann sich fragen, was an die Stelle getreten ist, aber sie können heute niemanden mehr ärgern, wenn sie sagen, daß. Gott eine Projektion des Menschen sei. Darüber wurde damals noch heif~ diskutiert.
TÜTE: Es ist schon so, daß das. was damals diskutiert wurde, nicht mehr die Voraussetzung heutigen Weiterdenkens ist. Andererseits kann man beobachten. daß an die Stelle bspw. von Religionskritik u.a. ein Phänomen getreten ist. ich will dies mal "'neue Religiösität'' nennen. Ich meine damit eine Motivation, Antriebskraft zu politischem Handeln. die sich auf letzte Werte beruft. sich orientiert an religiösen Weltbildern. Das zeigt auch die Bedeutung von Franz Alt und Dorothee Sölle in der Friedensbewegung. Fällt da nicht der gesellschaftskritische Teil weg, also das. was man das marxistische Korrektiv innerhalb des christl.marxist. Dialogs nennen könnte?
M.: Nehmen Sie das Stichwort von Franz Alt "Frieden ist möglich" - das ist noch einmal die konkrete Utopie ...
TÜTE: Ich glaube, da würde sich Bloch doch dagegen gewehrt haben, Franz Alt in eine Reihe mit der konkreten Utopie zu stellen. - In dieser Tradition des christlich-Marxistischen Dialogs waren doch die Christen und Marxisten der Paulus-Gesellschaft Pioniere. Heute ist die Bereitschaft, sich auf diesen Dialog einzulassen, sehr viel geringer und wenn man sich anschaut, welch historischer Sprengsatz dieser Dialog gewesen ist, die Möglichkeit wahrgenommen zu haben, sich gegenseitig Fragen zu stellen, dann muß man doch sagen, daß heute davon kaum mehr etwas zu finden ist.
TÜTE 31
Jürgen Moltmann
M: Ja. Sie haben wohl für die beiden Teile Deutschlands recht. Der christlichmarxistische Dialog ist damals weitergegangen in Italien. aus verständlichen Gründen. in Spanien. wo der Eurokommunismus begann. d.h. er begann in dem Augenblick. als marxistische Parteien die These von der notwendigen Diktatur des Proletariats haben fallen ließen. Damit war der Dialog möglich von marxistischer Seite her und natürlich auch für die Christen. Das war ja auch für Rudi Dutschke der Punkt. an dem sich diktatorischer und demokratischer SoziaÜsmus schieden. Marxismus ja - aber Diktatur des Proletariats durch eine Parteidiktatur nein. Und Bloch hat sich. glaube ich. in der Sache. obwohl er früher leider viel Lobenswertes über Stalin gesagt hatte am Schluß auf den demokratischen Sozialismus festgelegt. d.h. auf einen Sozia-
lismus ohne Diktatur des Proletariats. Ja, warum ist der Dialog nicht bei uns lebendig? Die faktische Teilung Deutschlands in einen sozialistischen, von einer marxistischen Partei beherrschten Teil hat es möglich gemacht, die jeweilige Opposition im eigenen Lande ständig als 5. Kolonne des anderen Teils zu diffamieren. So wurde die SPD früher oft diffamiert und auch heute noch versucht Geißler, es so zu machen. So wurden auch diese christlich marxistischen Verbindungen, die bestanden hatten, zerstört und zwar von beiden Seiten. Für die Marxisten war es auch gefährlich, sich in diese Dialoge hineinzubegeben, denn sie hatten ja alle gesehen, was den marxistischen Philosophen in ,der CSSR passierte. Der Druck der Institutionen, der Apparatschicks auf der einen und der Bischöfe auf der anderen Seite war so stark gewesen, daß die.se Begegnung von Marxisten und Christen
32 TÜTE
daran gescheitert ist. Wir hatten ja damals eine Dialog-Zeitschrift gegründet in Freiburg, die bis Mitte der 70er Jahre existierte. Doch dann schrieb von marxistischer Seite nur noch Herr Steigerwald und der schrieb immer dasselbe und ließ sich auf nichts ein. Es war kein Gespräch mehr. Es wird jetzt an neuen gemeinsamen Problemen wie der Umweltzerstörung -ob die Natur kapitalistisch oder sozialistisch ruiniert wird, ist der Natur jedenfalls egal, sie verstummt auf beiden Seiten - möglicherweise wieder Anknüpfungspunkte für gemeinsame Diskussionen geben. Und natürlich beim Friedensthema. Wir haben neue Angebote für den christlich-marxistischen Dialog auf dieser Ebene u.a. von der ungarischen Akademie der Wissenschaft in Budapest.
TÜTE: Noch einmal zurück zur Offenheit von beiden Seiten, dazu, daß keine Seite sich aufgeben mußte und daß tatsächlich ein Prozeß am laufen war, bei dem beide Seiten möglicherweise etwas gelernt haben. Die Frage ist, was mußten die Theologen lernen, wozu -waren sie bereit zu lernen und was blieb ihr eigenes, was sie nicht aufgeben mußten? Um es mit Begriffen von Bloch zu verdeutlichen: Hoffnung - als enttäuschbare Hoffnung, dem Begriff Novum, die Gesellschaft bzw. Gemeinschaft von Menschen, die das Neue ins Werk setzt. Konnten das die Theologen einbauen in ihre Theologie, die doch sehr stark von der Transzendenz her argumentiert, also stärker das Objekt-Verhältnis von GottMensch betont, während Bloch ja gerade in Bezug auf die Zukunft den Mensch als Subjekt herausstellt? Wo sind da die Reibungspunkte?
M: Wenn ich mich an die christlich-marxistischen Dialoge richtig zurückerinnere dann haben uns die Marxisten dazu provoziert, radikal christlich zu denken und die bürgerlichen Religionsanstalten, aus denen wir kamen, kritisch anzusehen. Sie wollten von uns kritisch wissen, was authentisch christlich ist, und sie zeigten uns, daß es diese messianisch urchristliche Tradition gibt gegenüber dem späteren konstantinischen Christentum. Sie brachten uns dazu, uns selber kri- · tisch zu prüfen, ob wir eine Ideologie vertraten für diese etablierten Volkskirchen zur Legitimierung des ·gesellschaftlichen Systems, in dem wir lebten oder aber ob wir wirklich in der Nachfolge Christi leben. Wir fragten natürlich auch zurück, ob sie wirklich radikal Marxisten oder ob sie Apologeten einer.etablierten Partei sind. Wir kritisierten uns gegenseitig, aber nicht, um den anderen fertigzumachen, sondern um sein Eigenstes aus ihm hervorzulocken. Speziell zu Bloch fand ich damals ganz einleuchtend, daß er nicht nur eine Entmythologisierung der Religion, sondern ihre Enttheokratisierung vorgenommen hat. Da war wieder der-biblische Grundgedanke: Es gibt die Herrenkriche und es gibt auch das arme, leidende unterdrückte Volk, dessen sich der wahre Gott', der Gott Israels erbarmt. Er hat versucht, mit interessantem detektivischem Blick die biblischen Stellen gegen den Strich zu bürsten, sie von unten zu lesen. Ich kann ihm nicht in allem folgen, bestimmte Stellen sind von ihm historisch und exegetisch nicht richtig gesehen. Aber er hat etwas ganz richtig gesehen, daß nämlich Gott und die Niedrigkeit des Menschen zusammengehören und nicht Gott und die Herrschaft, der Glanz und die Krone.
TÜTE: Ich frage mich dann, was ist mit dem theologischen Wort vom "Anbruch der Herrschaft Gottes". Sie sagten, der übereinstimmende Punkt zwischen Christen und Marxisten war eigentlich gerade der Aufbruch aus der Herrschaft. Ist da nicht die Autoritätsstruktur noch vorfindbar und ist das nicht der Punkt, an dem Marxisten möglicherweise nicht mehr mitgegangen sind? Wenn man die Terminologie beibehält, dann ist das ja vom Wort und von der Vorstellung her auf eine Macht gemünzt, der alles untergeordnet wird, während die Marxisten letztendlich insofern ja auch Anarchisten sind, als der Endzustand gerade die Aufhebung von Herrschaft ist.
M.: Es ist die Pointe des Evangeliums, das Reich Gottes bricht bei den armen, niedrigen und kleinen Leuten an und nicht bei denen, die herrschen. Damit ist die göttliche Legitimation den Herrschenden weggenommen und denen zugesprochen, die unterdrückt, erniedrigt und ausgebeutet sind. Das hat einen ungeheuren humanen Impuls. Die Armen werden sich ihrer Würde bei Gott bewußt und stehen auf. Ich glaube, daß Marx mit seinem kategorischen revolu-
"Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist." (K. Marx)
tionären Imperativ das ganz richtig gesehen hat und auch Bloch. Die christliche Hoffnung zielt darauf ab, wie Paulus sagt, daß alle Obrigkeit, alles Fürstentum, Gewalten und der Tod - als letzter Feind - vernichtet werden. Sie können sagen, daß dies auch Anarchie ist. Sicher ist dann Gott "alles in allem", aber nicht als der große Herr, sondern als der, der mit seiner Klarheit und seinem Glanz alles durchdringt, so daß dann alle in Gott sind, alle auf ihre Weise göttlich werden. Bloch hat am liebsten aus dem 1 . J ohannesbrief zitiert: "Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn es aber erscheinen wird, werden wir ihm, nämlich Gott, gleich sein." Das war seine liebste Stelle und wenn man über diese Stelle mehr nachdenkt, dann kommt man wohl auch zu ähnlichen Schlüssen wie er.
TÜTE: Während die christliche Hoffnung auf Glaube und Zuversicht baut, war für Bloch gerade die Kritik an einer festen Zuversicht, die das Scheitern nicht berücksichtigt, wichtig. Der Ausgang im Weltprozeß ist offen und eine mögliche "Erlösung" läßt sich bei Bloch doch nur als das Werk der Menschen denken. Insofern hat er seine Hoffnung auf die menschliche Praxis gesetzt. Das war das marxistische Motiv seiner Religionskritik.
M: Christliche Zuversicht in der Hoffnung kann natürlich eine Fluchtbewegung auslösen, indem man sagt, in diesem Jammertal kommt es nicht mehr so darauf an, was wir tun. Es kann aber auch umgekehrt sein. Gerade weil ich auf ein ewiges Leben hoffe, trete ich für
das Leben hier ein und diese große Hoffnung gibt mir den langen Atem dazu. Dann bedeutet christliche Hoffnung den ständigen Kampf gegen die Mächte des Todes, ·die ja mitten im Leben sind: die Anhäufung von militärischer Todesmacht, der soziale Tod, der eintritt, wenn Menschen Menschen im Stich lassen. Und dagegen zu kämpfen ist die Konsequenz aus der Hoffnung auf Auferweckung von den Toten. Resignieren kann man da nicht. Als der Papst in Nicaragua war, hat er zu den Priestern gesagt, sie sollen nicht am Kampfe des Volkes teilnehmen, sondern die Menschen auf das ewige Leben vorbereiten. Das halte ich für eine falsche Alternative, ebenso falsch wie die andere Alternative, man solle nicht mehr auf Erlösung und ewiges Leben hoffen, sondern sich selbst helfen.
TÜTE: Meinen Sie, daß gerade Bloch in der heutigen Situation ein Argument sein kann in dieser Alternative, wenn doch aus der christlichen Hoffnung auch auf ein Sich-Nicht-Einsetzen geschlossen werden kann?
M.: Für uns war damals Bloch's Botschaft 'Heraus aus der Apathie'. Heute sind Apathie und Resignation deswegen so groß, weil die Todesbedrohung so nahe gekommen ist und jeden Augenblick das Ende eintreten kann. Das lähmt natürlich, weil wir in diesem Sinne, wie Günther Anders sagt, in der Endzeit leben, sofern das Ende jederzeit möglich ist. Dann sucht man sein kleines Glück, kümmert sich nicht mehr um diese weltpolitischen Fragen und stirbt eigentlich seelisch schon ab, bevor der nukleare Holocaust passiert ist. Blochs Ansätze müssen wir heute übertragen, um gegen diese vorweggenommene Zerstörung in Apathie und Resignation antreten zu können. Bloch war sehr optimistisch, wir müssen das übersetzen.
"Prinzip verzweiflung oder einmal anders: : ernst bloch spricht: "wir sind noch nicht" ernster als bloch wäre: "gerad' noch". anders wär: "nicht mehr!" (graffiti)
TÜTE: Günther Anders spielt aber doch in g~wisser Weise einen Widerpart zur Bloch'schen Hoffnungsphilosophie und vertritt ein entgegengesetztes Verständnis, wenn er fragt, wie man nach Auschwitz und Hiroshima noch auf dem Prinzip Hoffnung beharren kann. Während Bloch doch von den der Welt innewohnenden Möglichkeiten ausgeht, spricht
Theologie der Hoffnung
Anders von der "Apokalypse-Stumpfheit" der Menschen, davon daß die Menschheit sich nicht mehr im Zustand des "Noch-Nicht", sondern bereits im Zustand des "Gerade-Noch" befindet. M.: Bloch hatHoffnung inAktion dargestellt. Hoffnung in Aktion setzt Möglichkeiten voraus. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist das ontologische Korrelat zur Hoffnung in Aktion. Damals war dies auch überzeugend, es gab viele Möglichkeiten die nicht realisiert wurden. Dafür steht auch der große Traum - Martin Luther King: "I have a dream". Heute sieht die Lage, und Günther Anders beschreibt dies ganz richtig, apokalyptischer aus. Darum auch der kleine Alptraum von Präsident Reagan vor zwei Jahren, vom "Armageddon in unserer Generation". Und als er daraufhin gefragt wurde, ob er ein nukleares Armageddon meinte, sagte er zunächst ja und hat sich dann, nachdem Nancy ihn gezogen hatte in unverbindliche Reden gehüllt. Diese Vorstellung eines nuklearen Armageddon in unserer Generation ist ein Angsttraum. ein apokalyptischer Endtraum. Wir müssen jetzt die damalige Hoffnung in Aktion übersetzen in diese Situation der Endzeit, in Hoffnung im Widerstand. Denn was hat man zu tun, wenn man keine großen Möglichkeiten und nicht mehr viel Zeit hat? Da ist es sinnvoll. Hoffnung im Widerstand zu zeigen. Hoffnung in der Gefahr. Gefahr war damals für uns nicht im Blick. wir dachten nur an die Möglichkeiten.
TÜTE: Wenn man dem negativen Befund von Günther Anders folgt, ist das Träumen nach vorne, das Antizipieren eines besseren Lebens, die Erbschaft geschichtlich noch uneingelöster Gehalte in dieser apokalyptischen Endzeit wohl unmöglich geworden. Die Attraktivität der Analysen Günther Anders heute drückt diesen Verlust der Utopien aus.
M.: Ich stelle mir das eher so wie Luther vor: "Wenn morgen die Welt unterginge. ich würde heute noch einen Apfelbaum pflanzen." Wie sieht Hoffnung aus, wenn man keine Ontologie des Möglichen hat. sondern von einer Ontologie der Endzeit ausgehen muß? Dann muß die Hoffnung transzendent begründet werden und s.ich hier im Widerstand gegen die Vernich- · tung zeigen. Das ist nicht mehr dasselbe wie damals, doch als 'Hoffnung wider Hoffen'' könnte ich mir eine überarbeitete Neuauflage von Bloch 's Prinzip Hoffnung" heute vorstellen.
TÜTE 33
Jürgen Fuchs
1 --
Der ehemalige DDR-Schriftsteller Jürgen Fuchs, heute wohnhaft in Berlin-West, schrieb eigens für 4ieses TüTE-Sonderheft nachfolgenden Beitrag, in dem er erzählt, wie er noch in seiner Zeit in der DDR Zugang fand zu Schriften von Bloch.
Ich möchte von drei Begegnungen mit dem Werk Ernst Blochs berichten. Im Frühjahr 1969, kurz nach dem Abitur, vertraute mir ein befreundeter Lehrer den ersten Band von "Das Prinzip Hoffnung" an. Ein großes, dunkelblaues Buch, erschienen im DDR-Aufbau-Verlag. Er zog es aus der hintersten Reihe seines Bücherschrankes, denn der Philosoph war eine Unperson geworden, einer, der als "Revisionist" und "Abtrünniger" bezeichnet wurde. Man besaß keine Bücher von ihm, schon gar nicht verlieh man
34 TÜTE
sie ein Jahr nach dem Einmarsch der befreundeten Armeen in die Tschechoslowakei an einen lesehungrigen Schüler. Der Lehrer tat es, weil er gute Lektüre, weitergeben wollte und weil er selbst eine Unperson geworden war. 1956 mußte er sein Studium unterbrechen wegen "Unklarheiten in der Ungarnfrage". Er arbeitete als Rangierer bei der Eisenbahn und besuchte philosophische Seminare, die Ernst Bloch nach dem erzwungenen Abschied von der Leipziger Universität in seiner Wohnung veranstaltete. Später
konnte er sein Studium beenden. Als die Panzer 1968 nach Pr"ag rollten und kleine Häscher in Provinzstädten nach "Dubcek-Freunden" suchten, nach welchen, "die auch vom menschlichen Sozialismus faseln", war der Lehrer ein in Frage kommender Kandidat. Wieder landete· er als Hilfsarbeiter beim Güterwagendienst. Aber anstatt nun Angst zu bekommen oder "Einsicht" zu zeigen, daß eigenes Nachdenken vielleicht doch ein Fehler ist, diskutierte er weiter mit unruhigen, von verschiedenen Wahrheiten und Zweifeln hin und her gerissenen Schülern ... und lieh ihnen Bücher mit dem Wort "Hoffnung" im Titel...
"Wir fangen leer an. Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich, schreit. Hat nicht, was man will ... "
Schon die ersten Sätze gefielen mir sehr: "Leer" ... "sucht" ... "schreit".... Dieses knappe Herausstoßen von Gedanken voll fragender Gewißheit. Kindheit, Jugend, nicht verklärt oder belehrend behandelt, sondern scharf, aufreizend, selbstbewußt. Und schön, von den Worten her schön. Endlich kein Wiederkäuen, kein Gerede von "historisch-materialistischen Grundlagen". In "Staatsbürgerkunde" behandelten wir auch die "idealistischen Philosophen", Hegel, Kant, Feuerbach, in Kurzfassung mit Tafelbild. Einige waren "Vorläufer des Marxismus", der letzten und endgültigen Lehre. So wurde von oben herab- oder von unter herauf-entwertet in banausenhafter Art ... Und nun Ernst Bloch: "Denken heißt Überschreiten. Freilich, das Überschreiten fand bisher nicht allzu scharf sein Denken ... Fauler. Ersatz, gängig-kopierende Stellvertretung ... " Und es kommen auch Märchen
Rudi Dutschke beim Begräbnis Ernst Blochs
Fast wären sich die beiden deutsch-deutschen Leben nie begegnet. Als der aus Berlin-West anreisende Rudi Dutschke im Februar 1968 in Bad Boll zu einer Podiumsveranstaltung mit Ernst Bloch u.a. geladen war, hatte er den Beginn verschlafen. Verspätet doch rechtzeitig konnte er dem damals 83jährigen die Hand schütteln, der ihn seinerseits als "Fachmann" der Jugendrevolte begrüßte .1 Ihr Zusammentreffen wirkte als zündender Impuls und bereitete eine andauernde persönliche und politische Freundschaft vor. Ernst Bloch und Rudi Dutschke, zwei Exilanten .und Emigranten, die beide im August 1961 nach dem Bau der Mauer nicht wieder in die DDR zurückkehrten, mußten jedoch dreieinhalb Jahre auf ein vertiefendes Wiedersehen warten. Wenige Wochen nach der ersten Annäherung in Bad Boll (''Mit ihm und seiner Lebensgefährtin konnte ich leider nach der Veranstaltung nur wenige Worte wechseln. Die APO trieb mich (und umgekehrt?) weiter in eine andere Stadt. Seine Werke und die Lebensgeschichte der Blochs waren mir allerdings schon seit Jahren vertraut. " 2
) wurde Dutschke in Berlin niedergeschossen . Zusammen mit Frau Gretchen und den Kindern begann eine Odyssee im Ausland.
Nach langsamer körperlicher Erholung schickte er aus England seine ersten hand-
Rudi Dutschke
Welf Schröter
ROT FRONT, GEN.BLOCH AUS DEN BRIEFEN RUDI DUTSCHKES AN KAROLA UND ERNST BLOCH
Zwischen Rudi Dutschke und dem "verehrten Genossen Bloch" lag eine Alterszeitspanne von über einem halben Jahrhundert. Dennoch oder vielleicht deshalb fanden beide Deutsch-Deutsche zu einer besonders produktiven Freundschaft. Der Einblick in bisher unbekannte und hier erstmals veröffentlichte Briefe Rudi Dutschkes an Ernst und Karola Bloch erlaubt Annäherungen an einen zweiseitigen Denk- und Lernprozeß. Mein Dank gilt Karola Bloch und Gretchen Dutschke-Klotz, die mir Einsicht in die Briefe und deren Berarbeitung ermöglichten.
schriftlichen Zeilen an Bloch, verbunden mit dem Dank für die zwischenzeitlich er
'haltene 'rote Hilfe': "Hoffe sehr, Sie recht bald in der BRD treffen zu können, die 'kurzen' Gespräche des Jahres 1968 auf 'neuer Stufe' fortsetzen zu können! (. .. ) Der Prozeß der 'wirklichen deutschen Revolution', als Teil der internationalen Umwälzung, hat in der Tat begonnen - die Chancen von uns allen sind gestiegen." (9. Juni 1969)
Als Rudi Dutschke vor "Ausbruch" der Studenten- und Jugendrevolte· die Sondernummer der SDS-Korrespondenz 'Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart' als Lesehilfe Anfang 1966 herausgab, waren zwar Marcuse und Lukacs erwähnt, es fehlte allerdings noch der Name Bloch. Der drängte sich erst Monate danach im Kontext der Anti-Notstandskampagne · und des Vietnamprotestes in den politischen Alltag Dutschkes. Deutliche Anregungen durch die Blochsche Philosophie hatte er jedoch schon wesentlich früher erhalten. Im Hinblick auf seine später als Dissertation veröffentlichte Arbeit über Lukacs mit dem Titel 'Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen' schrieb er im September 1970 aus der englischen Universitätsstadt Cambridge: "Liebe Karola Bloch, wir wollen uns noch einmal fü.r die
vielen Hilfen bedanken, - wir werden uns hier in England nicht 'verrotten' lassen, Cambridge ist fü.r die Studien und fü.r die Wiederherstellung und Weiterentwicklung durchaus geeignet, ca 2-3 Jahre; würden wir länger bleiben, - die wirkliche Exil-Existenz begänne, daran sind wir nicht im geringsten interessiert. Die Vorbereitung auf die subversive Arbeit in der BRD wird lange dauern, was sind aber 'schon' 2/3 Jahre. Es fällt mir schwer, es gibt aber keinen anderen Weg. Möchte hier in dieser Zeit eine vor vielen Jahren begonnene Studie über Lukacs und seine Fraktion in der KPU im Exil zwischen 1920 und 1929 relevant aufheben. Dabei geht es um die Vorarbeiten, Auswirkungen und um den Weg von 'Geschichte und Klassenbewußtsein '. Ihre Analyse, Anerkennung und Kritik der damaligen theoretischen und politischen Haltung von L., ich 'entdeckte ' Ihren Beitrag 'Utopie und Aktualtität' 1965. MeinedenArtikelvon 1924. Dieser Beitrag, Gen. Bloch, gab mir die entscheidenden Anregungen für eine solche Studie. " Mit der Besserung seiner körperlichen Leistungsfähigkeit nahm Rudi Dutschke seine theoretische Arbeit wieder auf. Er begann einen intensiven Briefwechsel mit Karola und Ernst Bloch. Nebentagespolitischen Fragen wie etwa die Entwicklung der SPD, die AktiOnen der Roten Armee Fraktion, die Lage in der Dritten
TÜTE I
Rudi Dutschke
Welt, u.a. bewegten ihn die Nahziele sozialistischer Theorie und Politik. Unter. der selbstbewußt-kämpferischen Parole "Rotfront" schrieb er am 16 . Sept. 1970 an den 'Genossen Bloch': "Ein wesentliches Moment der Schwäche unserer ernsthaftesten Gruppen sehe zch meiner Fetischisierung von historischen Kategorien der revolutionären Theorie. So u.a. der von Ihnen, lieber Genosse Bloch schon vor Jahren in einem Interview-Gespräch mit F. Vilmar reflektierte Begriff der 'Diktatur des Proletariats'! - Dieser Begriff ist erneut zu einem Alltagswort der linken Agitation und Theorie geworden. Die theoretische Krise des revolutionären wissenschaftlichen Sozialismus läßt sich nicht durch die Wiederaufnahme historischer Begriffe_ jjberwj_nd~n, ganz im Gegenteil. Es gilt theoretisch und bald auch praktisch ''gegen den Strom" vorzugehen." Das Verhältnis zwischen Dutschkes und Blochs wurde zunehmend herzlicher. Rudi hatte einen 'Lehrer' gefunden, an dem ein Sich-Abarbeiten lohnte, von dem zu lernen war, den er verehrte. Karola und Ernst Bloch hatten einen 'Schüler' und Mitkämpfer kennengelernt , der die Notwendigkeit eines humanistischen Kerns im politischen Handeln bei aller radikalen Analyse nicht preisgeben wollte. Karola Bloch schrieb 1971: "Ihr lieben Dutschkisten, .. . (. . .). .. Alle freuen sich, daß esEuchgu.tgeht, daß Du, Rudi, wieder gesund bist. Du bist der positive Geist der Studentenrevolte, unvergessen und geliebt. Heute haben wir keinen, der sich an Dir messen kann. Leider. Sonst wäre es vielleicht doch anders in der BRD ... " 3
Im Sommer 1971 waren Ernst und Karola Bloch in Aarhus/Dänemark zu Besuch. 4
Wehmütig schrieb Rudi im nachhinein: ''Eure Köpfe sind voller Geschichte, die unsrigen sind zumeist leer. " 5
.
Der Besuch entkrampfte den Umgangsstil. Das "Sie, Genosse Bloch" wandelte sich in "Lieber Ernst" . Fragen wurden direkter und bohrender. Der nachfolgende Brief aus dem Jahre 1971 reflektiert den Besuch und schließt den Kreis zum Thema Lukacs. Rudi Dutschke zitierte darin ein bislang weitgehend unbekanntes autobiographisches Fragment l/On Georg Lukacs, in das Franz Jannossy6
ihm Einblick gewährte:
Liebe Carola, lieber Ernst! Karte und Brief aus Oslo voller Freude und echter Dankbarkeit erhalten. Von
II TÜTE
uns allen die besten Wünsche ftir Euch und großen roten Dank von uns. Eure Anwesenheit in Dänemark, die somit möglich gewordenen Diskussionen über Problemzusammenhänge, die uns nur zu oft nicht einmal als Problem erscheinen, hat einen marxistisch-philosophischen Sprung möglich gemacht. Da ist so viel geistiges Dynamit eingeftihrt worden, die Lebenslinie und die in die Hand zu nehmenden Aufgaben verlieren immer mehr an Unklarheit.
Es ging mir in diesen Wochen, - bei aller Diskussionsbeteiligu.ng -, so wie es Attila Jozef am Tage vor dem Besuch von Th. Mann in Budapest in Gedichtsform sagte: "Nimm Platz. Beginne das Märchen schön. Wir hören zu und es wird geben, der nur eben zuschaut, weil sich freut, daß hier heute unter Weissen einen Europäer sieht. " Die Umfu,nktionierung lag wohl allein im Plural. Nehmt Platz, bzw. aus dem ''Europäer" wurden der subversive Parteilichkeits-Philosoph ohne Parteimitgliedschaft und die Genossin und Architektin. Es wäre nicht aufzuhören wenn ich beginnen würde mit der Beschreibung der Diskussionen die besonders nach Eurer Abreise begannen. Wir werden uns bald wieder sehen, zum anderen werden wir mit Sicherheit Euch viel schreiben. (. . . ) Vor wenigen Tagen, um den Brief auf eine andere und dennoch nicht andere Sache zu lenken, besuchten uns die Jannosy 's und es wurde über die verschiedenstens Fragen ernsthaft diskutiert, im besonderen über den Genossen Lukacs. In d;n Dokumenten des Nachlasses fan den sie auch einen Skizzen-Entwurf über die Selbstbiographie, die J. s werden es Euch wahrscheinlich nach Tübingen mitbringen. Wenn sie bei Euch sind, so werdet Ihr über die "Bloch-Passage" nicht überrascht sein, ich aber bin es. Es bestätigt die in den Gesprächen hier so breit und tief beschriebenen Dialog- und Diskussionsthemata:
" . .. HierSackgasse deutlich sichtbar. III. Ausblick auf Philosophie So - nicht zufällig - solcher Abschluß der Essay-Periode. Darin . .. höchstwichtige Rolle von Ernst Bloch. Widerspruch:
. Entscheidend - und doch ohne konkretisierbaren Einfluß. Die Begegnung in Budapest. Korrektur des Mißerfolges im ersten· Gespräch. Gute Beziehung. Mein Erleb.nis: eine Philosophie im klassischen/und nicht heutigen epigonalen Universalitätsstil/durch Bloch 's Persönlichkeit für be_wiesen und damit auch jiir
mich als Lebensweg eröffnet . .. "
So nur ein Auszug aus einer Skizze, einer unvollendeten. Ihr werdet bald mehr haben ...
Zum Schluß die alten und neuen Fragen?! Schließen sich philosophische Parteilichkeit und Parteimitgliedschaft 'immer' aus, oder ist es die Frage des Parteity pus? 'Immer' ist historisch x-fach widerlegt. Oder? Ist die 'philosophische Parteilichkeit' das entscheidende Glied der Reflexionsebene, die die historisch uavermeidlichen (?) Schranken der direkten Parteiarbeit überschreiten kann und 'darf'? Repräsentiert die 'philosophische Parteilichkeit', da sie einen politischen 'Sympathisantenstatus' trägt, die eigentliche, voll durchgedachte - gerade weil kein Mitglied - Parteilichkeit? Eben weil diese Parteilichkeit ein Massen-Licht zeigt? Wir haben viel darüber gesprochen, dennoch wäre ich weiterhin daran interessiert. Wenn die Beschränkungen und Notwendigkeiten der Partei-Organisation (mit sich verändernder Typus-Bestimmung) gegeben sind, gilt es dann die Konkretisierung der Zwischenglieder innerhalb und außerhalb der Parteiorganisation immer mehr in den Mittelpunkt zu stellen? Im nächsten Gespräch frage ich Euch wieder! Hoffentlich seid Ihr gu.t 'zu Hause' gelandet, die wirkliche Heimkehr steht uns ja noch bevor. Wir umarmen Euch// Rudi
Die Vorbereitungen auf die 'subversive Arbeit' in der BRD sind für Dutschke Ende 1973/ Anfang 1974 abgeschlossen. Erstmals trat er wieder bei politischen Massenveranstaltungen in der Bundesrepublik auf und reiste umher, um die aktuelle Lage einzuschätzen. Dabei setzte er deutlich alte Akzente neu: "Ohne eine 'konkret-utopische ' Auseinandersetzung mit der DDR ist eine sozialistische Politik in der BRD zum Sektierertum verurteilt. " 7 Er begründete diese Position unter Rückgriff auf Blochsches Denken aus Anlaß von dessen 89 . Geburtstag . (Auszug):
''Mein Buch ist endlich beendet, das Verfahren an der Uni desgleichen. Eine neue Etappe wird nun beginnen, die WohinFrage wird nun immer konkreter. Die Frage der "konkreten Utopie" im Revolutionskonzept wird immer aktueller_. Für
unsere Sektierer ist das ein Räts~/ und desgleichen ein Greuel. Die Frage der Vermittlung von Fern-Ziel und Nah-Ziel. wie sie Ernst philosophisch definiert hat, scheint mir eine Grundproblematik sozialistisch-kommunistischer Politik zu sein. Allerdings nur dann, wenn der Freiheitsbegriff im Sozialismus-Verständnis veran-
soziale Daseinslage zu begreifen, die diesbezüglichen meta-ökonomischen Reflexionen von Ernst noch ernster und konkreter zu nehmen. Unsere Richtung bestimmte diese Periode, aber wir waren weder politisch noch organisatorisch in der Lage die sich andeutende neue Phase richtig einzuschätzen. Nun darüber zu
Sommer 19 71 in Aarhus : Rudi Dutschke und Ernst Bloch
kert ist, die Kategorie der Freiheit dem Sozialismus nicht feindlich gegenübersteht. Letzteres ist fiir uns, also fiir diejenigen die DDR-Geschichte mitgemacht haben, ein entscheidendes Moment der sozialistischen Perspektive. Es kam nicht von ungefähr dass Ihr mit uns, einer bestimmten SDS-Fraktion mit ehemaligen DDR-Bürgern an der Spitze, - dass wir mit Euch in ein politisch-persönliches Verhältnis gekommen sind. Nicht die Kinder der "Frankfurter Schule", sondern die Erwachsenen und erwachsen Werdenden mit Erfahrungen der staatssozialistischen Deformation bestimmten den Charakter und das Ziel der Neuen Linken. Herbert Marcuse drückte das Moment der internationalen Dimension der sozialen Befreiung aus, darum sein so scheinbar überraschender Einfluss. Die anti-stalinistische Tiefe der SDS-Richtung zwischen 1965 und 1968 traf aber einen fundamentalen Kern der neuen Sozialismusbestimmung, einer die tendenziell über die Frage des Anti-Imperialismus hinausging und die konkrete Negation der staats-sozialistischen Def ormation beinhaltete. Leider waren wir nicht in der Lage.; wohl allein über unsere
jammern würde andeuten weder die Bloch 'sehe Lebens-Geschichte noch die Bücher rezipiert zu haben. Da gab es viele Übergänge, Zwischenwege und Kreuzungen, - allerdings eine ungebrochene Kontinuität, die des Suchens nach der Konkretisierung des Freiheitsbegriffs des "utopischen Sozialismus", des Freiheitsbegriffs des geschichtlichen Widerstands. "Konkrete Utopie" und "utopischer Sozialismus" scheinen mir bei Ernst eine spezifische Verkettung zu haben. Sind die Begriffe der Wesenslogik der Kapitalbewegung bei MarX Begriffe der "konkreten Negation" der "modernen bürgerlichen Gesellschaft", so ist von ihnen desgleichen feststellbar, dass in der "konkreten Negation" der sozialistischkommunistische Freiheitsbegriff "verloren" ging, die utopische Schlüsse/frage des Klassenkampfes um die soziale Befreiung ihres sprengenden Kerns beraubt wurde. Davon können wir und besonders die staats-sozialistisch "Unterdrückten und Beleidigten" viele Lieder singen. Und da wundern sich oft so viele linkelnte/lektuelle im Spätkapitalismus über scheinbar "rein bürgerliche" Widerstandskräfte im "Warschauer Pakt" usw. "
Rudi Dutschke
In den folgenden beiden Jahren ließ sich Dutschke "mit Bloch im Gepäck" immer stärker in die Kontroversen der westdeutschen Neuen Linken ein.1975 betonte er die essentielle Bedeutung Blochs: "Ernst war und ist fiir eine, inzwischen fiir mehrere jüngere Generationen Ausdruck der Kontinuität des sozialistischkommunistischen Widerstands und der konkret-utopischen Perspektive. In einer besonderen Periode der Vernebelungen und Verwirrungen im antikapitalistischen Lager sind die Spuren für die Heimat und für die Zukunft unzweideutig zu halten. " ~ Drei Monate später fügte er über sich selbst an: "(. .. ) Die Neue Linke wird gerade nur über eine kontinuierliche Rezension von Ernst eine breitere Dimension für politische Perspektiven gewinnen können. Als ob die italienischen Kommunisten und Sozialisten ohne Gramsci z.B. auskommen könnten. Und wieviel breiter ist der Ernst. Ich bin sicher, ohnedasBlochsche Moment in meiner Agitation, wie verkürzt auch immer, würde ich niemals anders gehört werden als die vielen anderen Agitatoren. Die anderen Besonderheiten mögen eine Rolle spielen, sind aber nicht entscheidend. Ich habe meine christliche Vergangenheit niemals- liquidiert. -In der Auftzebung bleibt die Erbschaft erhalten. Was ~ovieleLinks-Agitatoren nie verstanden haben. (. .. )" 9
Kritisch-solidarisch hatte Karola sein Engagement verfolgt: ''Die Querelen in der bundesrepublikanischen Linken sind unerträglich und bekümmern uns genauso wie Dich. Du persönlich hast immer noch die Aura um Dich, aber Du allein kannst auch nicht die Risse leimen. Ich halte es auch fiir viel wichtiger, daß Du Dich auf Deine Studien konzentrierst. Die theoretische Arbeit ist heute sehr wichtig, nachdem so viele sogenannte Linke gegen Theorie sind und eine unverdaute Praxis ohne Theorie vorschlagen. " 10
Inzwischen hatte sich seine körperliche Konstitution erheblich verschlechtert. An den Feierlichkeiten zum 90. Geburtstag von Ernst Bloch konnte er nicht teilnehmen. Er schrieb dafür eine umfassende und kritische Würdigung des Blochschen Lebenswerkes. Der Artikel erschien in der Septemberausgabe der Zeitschrift 'konkret' im Jahre 1975 upter dem Titel 'Im gleichen Gang und Feldzugsplan' .11 Wenige Wochen nach Blochs damaligem Geburtstag· waren Dutschkes in Tübingen
TÜTE III
Rudi Dutschke
zu Besuch.Rudi erlitt erneut einen epileptischen Anfall - eine unmittelbare Folge der Schußverletzungen aus dem April 68. Mit etwas niedergedrückter Stimmung nahm er in seinem Brief vom 18. September 1975 Bezug auf die Tage am Neckar:
Liebe Karola, lieber Ernst, hoff entlieh habt Ihr meinenBrief mit dem 'Konkret'-Artikel erhalten. Wenn Ihr wesentliche informative und inhaltliche Einwände habt, so wäre ich Euch dankbar darüber ein Wort zu verlieren. Da ich in den nächsten Wochen für eine evangelische Zeitschrift darüber schreiben will unter welchen Voraussetzungen der E. Bloch in den verschiedenen Klassenfraktionen des deutschen Geistes rezipiert wurde. Und zwar gerade an dem 90. Geburtstag. Aber selbstverständlich auch sonst bin ich fiir jede Korrektur dankbar. Schon aus den glänzenden Gesprächen mit Euch ist mir manches neu klar geworden, auch gerade was die Anfangszeit betrifft. Wiederum reflektiert unter dem besonderen Aspekt des Verhältnisses von Philosophie und Politik. Auch die kritischen Bemerkungen von Ernst über mein Lenin-Lukacs Buch habe ich gut verstanden! Es gi.bt bei mir noch immer eine Kluft, wenn auch vermindert, zwischen agitatorischer und propagandistischer Form. Die Schreibform ist noch nicht die
(
Sprachform. In der jetzigen Etappe bleibt die wissenschaftlich-literarische Arbeit im Mittelpunkt. Dazu brauche ich aber regelmässige Gesundheit. In bester Verfassung habt Ihr mich nicht vorgefunden. Die schwere einwöchige Rundreise vorher über verschiedene Gruppen, Richtungen und Städte hatte mich ziemlich mitgenommen. Ich halte nur viel durch wenn eine absolute Regelmässigkeit von Schlaf, Essen usw. gegeben ist. Das war in dieser Woche bevor wir in Tübingen landeten nicht der Fall. Am frühen Morgen des zweiten Tages erlitt ich so einen kleinen e ile tischen Anfall. Nicht gefährlich, habe es dann voll unter Kontrolle, aber nicht angenehm. Die Rückwirkungen zeigen sich dannfüreinen Tag in der psychischen Struktur und im besonderen in der Lesefähigkeit. Ihr werdet nun leicht verstehen warum ich am Abschlusstag so verkrampft, so wenig entspannt war, gerade beim Lesen . . . Dostojewski's epileptische Anfälle sind mit den meinigen nicht zu vergleichen, man verfiigte damals auch noch nicht über die regulierenden Pillen. Ich bin seit seit Jahren, toi toi ... , ohne schwere Anfälle.
IV TÜTE
Aber allein die kleinen, die fiir meine Freunde und Bekannte zumeist unbesehen vorbeilaufen, ich fiir einige Minuten abwesend bin, sind auch kein 'Vergnügen: Nun ist genug, ich wollte Euch bloss kurz einen nicht ganz durchschaubaren Zusammenhang aufleuchten. Seit Wochen sitze ich nun schon an x-Büchern über die Entwicklung der "Rationalisierung" in der BRD und der DDR. Stinklangweilig auf den ersten Blick, hochspannend auf den zweiten: wie die DDR ihre Herrschaftsmaschine über die Verwissenschaftlichung des Arbeitsprozesses zu festigen versucht. Die Zuspitzung des Herr-Knecht-Verhältnisses wird aber irgendwann einen qualitativen Sprengstoff in sich tragen. Wir werden sehen. Nun höre ich auf, die Zeit drängt und das Bett ruft auf mich. Hoffentlich geht es Euch beiden weiterhin gut. Habt einen guten Schlaf und ein gesundes Aufwachen.
Rudi
Die umfangreiche Zahl von Briefen Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch bezeugen nicht nur die enge persönliche Freundschaft, entgegengebrachte menschliche Wä1me und unmittelbare Hilfe, sie beleuchten zudem, in welchem Ausmaß Dutschke die Blochsche Philosophie defPraXiS kritiSch rezipiert un~ [ ur2 ich handhabbar gemacht hatte. Die Bedeutung Ernst Blochs für Dutschke -wie auch umgekehrt - ist von den jeweiligen Biographen und politischen Kritikern wohl bisher unterschätzt worden.
er Tod Blochs im Alter von 92 Jahren am 4. August 1977 hatte Rudi weit mehr erschüttert, als er in der Öffentlichkeit bereit war zuzugestehen. In dem ersten und wohl schwierigsten Brief unmittelbar nach Blochs Tod machte er Karola und nicht zuletzt auch sich selbst Mut: "(. . .. ) Die Re-aktion der verschiedensten Presseorgane in der BRD auf den Tod von Ernst, auf die Tübinger Trauerreden ist schier eine Geschichte fiir sich. Die Bürokratie in der DDR und die Bourgeoisie in der BRD waren sprachlos bzw. entsetzt über die Unmöglichkeit Ernst Bloch zu ignorieren bzw. 'wohlwollend' zu 'integrieren' am Todestag! Es mangelte nicht an Versuchen der FAZ u.a.m. die sozialistische Position der Freunde von Ernst und Dir zu denunzieren. Ich lege mal einen Leserbrief von mir fiir die FAZ bei. Wie dem auch immer sei, die unglaubliche Anerkennung, Bewunderung, Würdigung und Liebe der Persönlichkeit und dem Werk des Philosophen
Ernst Bloch gegenüber durch so viele Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten ist einzigartig. Die hinterlassene Erbschaft und Perspektive nie aus dem Blick zu verlieren, die Größe und Schwierigkeit der Sache zu durchblicken, - unsere Generation hat da notwendige und schwere Arbeit vor sich. Ein Land verlor den größten subversiven Philosophen des Jahrhunderts, die zwei Staaten mit ihren Regierungen ließen sich in Tübingen nicht wirklich sehen. Die Geschichte wird das Urteil schon gesprochen haben: Regierungen und Staaten vergehen, aber eine große Philosophie wird weiterleben. (. .. ) " 12
Nur zweieinhalb Jahre später starb vollkommen überraschend am 24. Dezember 1979 Rudi Dutschke an den Spätfolgen des Attentats. Er hatte einen erneuten epileptischen Anfall erlitten. Karola Bloch verlor in kurzer Folge zwei ihrer engen Vertrauten.
Anmerkungen 1 Rudi Dutschke, Mein langer \iarsch , Hg.v.
G. Dutschke-Klotz, H. Gollwitzer, J. Miermeister, 1980, rororo 4718, S. 82
2 Rudi Dutschke, Aufrecht Gehen, 1981, s. 96
3 Der Brief ist ausführlich abgedruckt in: Rudi Dutschke, Die Revolte, hg.v. G. Dutschke-KlotZ, Jürgen ~iermeister und Jürgen Treulieb; rororo 4935, 1983 . S. 258
4 vergleiche hierzu: Ulrich Chaussy, Die drei Leben des Rudi Dutschke, Eine Biographie, 1983, s. 308. Rudi Dutschke, Spaziergänge mit den Blochs, in: R.D., Die Revolte (siehe oben), s. 234 ff. Karola Bloch, Erinnerungen an Rudi Dutschke, in: Rudi Dutschke ist tot - Gedanken und Erinnerungen, hg. von Fachschaftsräte-VV der Ernst-Bloch-Universität sowie den Basisgruppen in den VDS, Januar 1980 Tübingen.
5 Brief Rudi Dutschkes an Blochs vom 10. Dezember 1971
6 Franz Jannossy publizierte im SOS-nahestehenden Verlag Neue Kritik in der Reihe 'Probleme sozialistischer Politik' als Band 12 "Das Ende des Wirtschaftswunders", 1969. (vgl. dazu: Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Hg.v. E. Altvater und F. Huisken, Erlangen 1971). Die im Fragment erwähnte Begegnung zwischen Bloch und Lukacs fand im Jahre 1912 in Budapest statt. Vgl.: Peter ZudeiCk, Der Hintern des Teufels, S. 42.
7 Brief Rudi Dutschkes an Blochs vom 17 .7 .1974 aus Aarhus/Dänemark.
8 Brief Rudi Dutschkes an Blochs, abgedruckt in "Die Revolte", s.o. S. 261/2.
9 Rudi Dutschke an Karola, 6. Juli 1975 10 Karola Bloch an Rudi Dutschke, 8.2.75 11 Der Konkret-Artikel wurde nachgedruckt
in: "Die Revolte", s.0., S. 222 12 Brief Rudi Dutschkes an Karola Bloch
vom 28.8.1977.
vor, Luftschlösser, verspottete Wunsch bil- · der. Philosophie muß also keine "'Sekundärliteratur'' mit rotem Umschlag sein, kein parteifrommer Lügenvortrag ... Ich erinnere mich noch genau an diese ersten Augenblicke des Lesens. Ich hüpfte von einem Wort zum anderen, besonders die Überschriften gefielen mir:
"Vieles schmeckt nach mehr': .. "Täglich ins Blaue hinein" ... "Versteck und schöne Fremde': ..
Das war Literatur. So war es mir bei Dostojewski gegangen, bei der _Lektüre von "Raskolnikow" ... Und bei den Gedichten von Brecht und Bobrowski. Hatte Philosophie nicht vor allem "parteilich" zu sein und "wissenschaftlich" zu dienen dem Staat, der Sache? Sie hatte vor allem frei zu sein, das ging von diesem Buch aus. Bloch gab Rätsel auf, strengte an, schenkte nichts. War auch dunkel an manchen Stellen, nur andeutend, selbst auf der Suche. Diese Prosa ließ sich nicht herunterleiern in "Leistungskontrollen" wie Absätze von Lenin und Ulbricht. Und wenn aufsagen, dann wie ein verbotenes Gedicht.
Viel werde ich nicht verstanden haben vom ''Prinzip Hoffnung" bei dieser ersten hastigen Lektüre. Aber eine Vor-Ahnung stellte sich ein, ein Geschmack von diesem verrückten, bohrenden NochNicht, vom hochfahrenden Traum nach Wahrheit, diesem Spießru tenlauf, wie sich noch herausstellen sollte ...
Fünf, sechs Jahre später brachten mir kurze Prosastücke über den Alltag der "Nationalen Volksarmee", über die selber angetroffene Banalität dieses alten neuen Kasernenhofes, die Feindschaft der Zensurbehörden ein. (Angewandt hatte ich eine realistische Methode. "Denken heißt Überschreiten", hatte ich im Vorwort zum "Prinzip Hoffnung" gelesen, "So jedoch, daß Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschlagen wird ... "). Auch meine Freundschaft zu Robert Havemann und Wolf Biermann paßte den strengen Staatsschützern nicht. So landete ich im Gefängnis und nach reichlicher Strafandrohung in Westberlin. Nun konnte ich wiederungehindert durch Straßen gehen und schreiben, lesen, sagen, was ich wollte. Nun, so schien es, hatte alles keinen Sinn mehr. Denn ich war weg. Weggegangen, weggegangen worden ~ auf jeden Fall nicht mehr im eigenen, vertrauten Gebiet. Die Ausgrenzung von Oppositionellen, die Abtrennung, war wieder einmal gut gelungen:
Tief saß das Schuldgefühl und band an Freunde und letzte Feinde. Durfte man weggehen? In Gesprächen zum Beispiel mit Robert Havemann wurde immer wieder die Klage über den "Abgang" von wichtigen Menschen laut. Sie verschwanden im Westen und waren, aus dieser Perspektive, tot. Auch Ernst Bloch, den Havemann sehr schätzte, hätte nach seiner Meinung nicht in Tübingen bleiben dürfen.- Dieser Vorwurf, diese territoriale Entfernung und der damit verbundene "Systemwechsel" überschattete die Beschäftigung mit dem Werk Blochs. Wer etwas zu sagen hat, wer kritisiert, muß bleiben. Und wenn er vom Statt genervt wird, hat er das auszuhalten. Staaten- und Länderwechsel galt als Flucht, als Kapitulation. Und nun befand ich mich selber in Westberlin, also anderswo, und las bei Ernst Bloch:
"Der Vertriebene ist durchaus nicht entwurielt, denn er hat sein Land wider Willen verlassen. So hängt er noch mit ihm zusammen... Befinden sich heute nicht die meis.ten Menschen in einem Zwischenzustand? Jeder Mensch lebt eine Grenzsituation zwischen dem Altern, das er vielleicht nicht aufgeben will, aber auch nicht halten kann, und demNeuen, das noch nicht wirklich wurde. "
Das war mir nahe, tröstete mich. Bloch hatte es in den USA geschrieben, auf der Flucht vor Hitlers Tyrannis. Ließ sich da· etwas vergleichen? Ja, da ließ sich etwas vergleichen. Welche waren auf der Flucht vor der anderen Tyrannis, die auch nicht gerade zimperlich umging mit "andersdenkenden" Zeitgenossen.
"Wir politisch-kulturellen Emigranten kommen uns daher gar nicht besonders
Falsche Erfüllung
exzeptionell vor. Wir sind, was Grenzsituationen anlangt, recht zeitgemäße und nur etwas übertrieben deutliche Erscheinungen. Unser Unterschied vom Normalen ist der, daß wir auch noch die Sorge der räumlichen Zwischenexistenz haben. So kostet der Emigrant die Depressionen und Gefahren der heutigen Friedlosigkeit konzentriert aus. "
Es soll jetzt nicht über Deutschland und die Welt diskutiert werden, Exil ja oder nein und so weiter. Ich will nur andeuten, wie wichtig mir in dieser Situation das war, was von Ernst Bloch aufgeschrieben wurde im Jahr 1939. Und wie vergleichbar mir der Grundkonflikt schien. Wobei gerade dieser Vergleich zu den schärfsten Tabus gehörte, die ich bis dahin kennengelernt hatte ("Flüchtlinge sind wir. Nur wir, niemand .sonst. Nur wir Antifaschisten. Diese Herrschaften sind Ausreiser. Ausreiser mit Sack und Pack, bei hellichtem Tage, mit schönen Papieren, auf eigene Veranlassung und oft mit freundlicher Verabschiedung" sagte Stephan Hermlin erst kürzlich wieder in einem Interview). Ernst Bloch wies auf die Feindseligkeiten gegen ihn und seine Schüler hin, als er 1961 nicht nach Ostberlin zurückkehrte. Er schrieb:
"&J entstand me Tendenz, mich in Schweigen zu begraben. Demgegenüber gaben mir seit geraumer Zeit Universitäten, Zeitschriften und mein Verlag in We,stdeutschhnd Gelegenheit zu lehren, zu publizieren und meine bisherige Arbeit fortzusetzen. Nach den Ereignissen vom 13. August, die erwarten hssen, daß fer selbständig Denkende überhaupt kein Lebens- und Wirkungsraum mehr bleibt, bin ich nicht mehr gewillt, meine Arbeit
TÜTE 35
Jürgen Fuchs
und mich selber unwürdigen Verhältnissen und Bedrohungen auszusetzen."
Hatte Bloch nicht richtig gehandelt? Ich ahnte, daß es mehrere authentische Möglichkeiten geben kann, sich unter schwierigen Verhältnissen angemessen zu verhalten. Dies hätte ich sehr gerne mit meinen DDR-Freunden diskutiert, die standhielten, sich nicht wegekeln ließen ... Im Westen lag Blochs Gesamtausgabe vor, das Lesen konnte beginnen. Mich interessierte besonders die Frage, ob Bloch in Tübingen auf Kritik und Analyse der östlichen Seite verzichtete, ob er zum Beispiel den "Beifall von der falschen Seite" fürchtete, ob er taktierte oder im Nachhinein verklärte, vielleicht um die weitere Veröffentlichung seiner Werke in der DDR wahrscheinlicher zu machen (Wie es einige in den Westen umgezogene DDR-Autoren tun. Manche von ihnen liegen offenbar fester als zuvor an der Parteileine: Sie wollen ihren Reisepaß behalten und sich die von Zeit zu Zeit nötigen Verlängerungsstempel nicht verscherzen. Freunde und Bekannte warten, die Mutter ist krank und muß besucht werden ... ). Nichts davon ließ sich bei Ernst Bloch entdecken. So sehr hing er auch nicht am Ländchen DDR, eher dieser Eindruck. Er kannte die Welt, dachte über Grenzen hinweg, war fähig zum neuen Anfang. Mit 76 Jahren. Souverän schrieb, dachte und sprach er weiter, ohne Rüchsicht auf irgendwelche Ideologiewächter oder Staatengebilde. Er analysierte die "falsche Erfüllung", die die Hoffnung auf demokratischen Sozialismus in den "real existierenden Staaten" verraten, aber nicht auslöschen kann. Er bezeichnete die Entwicklung in der Sowjetunion als tragisch, weil diesem zunehmend mächtiger gewordenen Land die liberale Tradition fehlt, "das Individuum, die Freiheitskategorie. Dort gibt es noch nicht einmal eine Gleichheitskategorie. Und noch nicht einmal eine Brü-
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derlichkeitskategorie. Der Zarismus ist drin ... ", sagte er in einem Gespräch mit dem Rundfunk 1974. Und er schreibt:
"Eines ist dem noch nachzutragen, ohne Lust, doch unabweisbar. So kam es, daß Bauarbeiter eine rote Fahne zerrissen, im Umzug an ihnen vorbeigeführt ... Die rote Fahne erinnerte die Arbeiter nicht nur mehr an 'Wacht auf, Verdammte dieser Erde', sondern sie erinnerte wahrscheinlich an das Ulbrichtsche darin, an das stalinistisch Diskreditierte insgesamt. Der Sozia.lismus hat sich drüben! estgefahren inApparatschiks, Schema, vor allem irz grausamen Institutionen, in Mitteln, die nicht den Zweck heiligen ... und immer wieder die Verschickungslager in Sibirien (für unliebsame Intellektuelle neuerdings durch die Einliefenmg in Irrenhäuser ersetzt), die riesige Staatsomnipotenz ... "(Suhrcamp-Werke / 11, 471).
Und wer Bedenken hat, das Kriegsrecht in Polen· zu verurteilen (Wie leise treten gerade einige sozialdemokratische Politiker, als habe es die Zeit des 'Sozialistengesetzes' im vorigen Jahrhundert und die Lager-Verfolgung durch die Nazis nicht gegeben. Was hilft? Ein neuer Friedenskongreß vielleicht.), der kann noch einmal nachlesen, welche "Brüderlichen Kampfesgrüße" Ernst Bloch 1968 nach Prag sandte:
''Das grauenvolle Prager Geschehen wird nie vergessen werden... Lüge über Lüge kommt noch hinzu, angebliche Rettung des Marxismus wird von denen gebrüllt, mit Panzern und Blutvergießen garniert, die in Wahrheit als seine schlimmsten Feinde und Diskreditierer vor den entsetzten Augen der Linken in der ganzen Welt tätig sind ... " (Suhrkamp, 11/418)
Diese Sätze halten sich nicht zurück, sie nennen die Dinge beim Namen. Sind scharf, auf Wahrheit und Wertung orientiert. Auch nicht auf der eiligen Suche, das "Schlimmste zu verhindern" (was
im Falle des Einmarsches in die Tschechoslowakei und die Kriegserklärung an die freie Gewerkschaft "Solidarität" gerade geschehen war!). An dieser Entschiedenheit, das auszusprechen, was ist, und was zu bedenken ist aus eigener Position, werden auch die nicht vorbeikommen, die Ernst Bloch heute und nach langer Schweige- und Verleumdungszeit sele_ktiv umwerben: Die DDR-Staatlichkeit hat sich entschlossen, ein Buch mit Texten aus dem historischphilosophischen Werk zu verlegen. Gut so könnte man sagen, und das stimmt schon: besser ein kleiner Teil, als gar nichts. Und doch soll auch sortiert und entschärft werden. Das Erkundigen und Bemühen um das gesamte, unzensierte Werk (und die freie Diskussion in jeder Buchhandlung) wird entscheiden, ob solche Reduktion gelingt.
Bloch war ja der Meinung, daß der ausstehende Anstoß in Richtung humane Gesellschaft aus dem Westen kommen wird. "Und dann nach Rußland hineingetragen wird ... " (Gespräch im April 1974 mit dem SWF zusammen mit Karola Bloch). Hierzu könnte die offene und kontroverse Zur-Kenntnis-Nahme der Blochschen Gedanken beitragen (wie zum Beispiel auch der von Manes Sperber und Karl Popper). Es soll kein neuer "Klassiker" installiert werden, es kommt vor allem auf Fragen und eigene Ideen an. Das heißt auch: Bücher schmuggeln ...
Trautje Franz
Revolutionäre Philosophie in Aktion Ernst Blochs politischer Weg, genauer besehen
. 264 S., DM 26,80 ISBN 3-88506-132-5
Jürgen Fuchs Mai 1985
Ernst Bloch wird auch im Jahr seines hundertsten Geburtstags und darüber hinaus lnspirationsquelle und Berufungsinstanz bleiben für eine grqße Gemeinde von Lesern. Die Faszination, die von ihm ausgeht. nicht unbefragt hinzunehmen, daran macht sich Trau_tje Franz in ihrer Studie über den politischen Gehalt 1m Werk Ernst Blochs. Unbefangen und detailgenau verfolgt sie den politischphilosophischen Weg Blochs, die Erfahrungsgehalte d~r Revolutionsepoche am Anfang dieses Jahrhunderts. die expressionistische Entstehungsatmosphäre seiner . f~hen Schriften, Einflüsse aus der jüdischen und chnsthchen Mystik und aus dem Marxismus. Vor allem aber geht es um die politische Konsequenz de_r Blo~schen Philosophie, um seine Schlußfolgerungen m politischen Fragen, um oftmals nachdenklich stimmende Reaktionen auf das Zeitgeschehen.
JUNIUS VERLAG Von-Hutten-Str. 18, 2000 Hamburg 50.
Heidrun Hesse
ccAUFBAAUSEN . ZUM SEIN •• BEDENKEN GEGEN BLOCHS METAPHYSISCHEN MATERIALISMUS
cA , ~" (w JA 'tc(, Lb-~~~L1 .... -&--- k Heidrun Hesse studierte F Tübingen Philosophie und ist zu den Tü inger "Vernunftkritikem" um den Konkursbuch-Verlag zu zählen. Sie veröffentlichte 1984 ihre Dissertation "Vernunft und Selbstbehauptung", eine von Horkheimers Begriff der "instrumentellen Vernunft" ausgehende Studie zur Kritik der neuzeitlichen Rationalität und ·der mit ihr gesetzten Techniken der Herrschaft über die Natur und in der Gesellschaft.
"Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was." So schrieb Ernst Bloch im Vorwort seines wohl bekanntesten Werks "Das Prinzip Hoffnung". Gedruckt bereits 1959, sind diese Sätze von schier verblüffender Aktualität. Denn lesen lassen sie sich als triftiger Hinweis auf eine gerade gegenwärtig weit verbreitete Befindlichkeit, die sich vor allem in der linken Szene eingenistet zu haben scheint. "Dieser Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht." Die Furcht weiß von der katastrophalen technischen Möglichkeit, daß ein atomarer Amoklauf der Herrschenden jede Spur menschlichen Lebens auf der Erde vernichten könnte . Und ebenso wachsam richtet sie sich gegen den fortgesetzten Raubbau an der Natur, der die Lebensgrundlagen der Gattung in ·
wachstumsbesessener Kurzsichtigkeit auf eine schleichendere Weise zu zerstören droht. Wie ist diesen Gefahren diesseits von zynischer Resignation ins scheinbar Unvermeidliche, panischer Flucht in bewußtseinstrübende Heilslehren oder verzweifelt-heroischem Trotzdem, wie ist ihnen im weitesten Sinne politisch also, zu begegnen?
Viele werden den bitteren Geschmack der Ohnmacht nicht los. Ängste melden sich unüberhörbar zu Wort und in ihnen - auch - ehrliche Ratlosigkeit. Das ist, so denke ich, zunächst keineswegs · schlimm. In diesem Innehalten nämlich könnte uns wenigstens die Ahnung dämmern, daß es an der Zeit ist, ~inige frühneuzeitliche Omnipotenzphanasien und allzu naive Wunscherfüllungsträume zu verabschieden, die in der Projektion eines selbstherrlich sich verwirklichenden Geschichtssubjekts 'Menschheit' gipfeln . Wenngleich sie in ihr noch nicht Einsicht geworden ist, diese Ahnung immerhin könnte die Angst nicht nur dem dreist-fröhlichen Optimismus der selbstgefälligen Wendepolitiker vorau~haben.
"Der Boden wankt", diagnostiziert Bloch. Da wäre es, auf den ersten Blick, durchaus naheliegend, Abhilfe dort zu suchen, wo sie vollmundig versprochen wird: "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen." Blochs Philosophie bietet sich so als Lehrmeisterin der Hoffnung an. Sie will den Ängstlichen und Zweifelnden unter die Arme greifen und auf die Sprünge helfen in eine bessere Wirklichkeit. Prinzipielle Auskunft glaubt sie geben zu können über die Ursachen nicht nur der Furcht, sondern auch der Angst in der Welt. Und - eine gewiß fas-
Metaphysik
zinierende Verheißung - sie gibt vor, '"in der Welt selber" zu suchen und zu finden, "was der Welt hilft". Das klingt verlockend, zumal, wer Bloch noch erlebt hat, sich seiner außerordentlichen hoffnungskräftigen Vitalität erinnern wird, die seine Hörer mehr noch als seine Leser zu begeistern und mitzureißen vermochte.
Da müßte schon eine gehörige Portion Verstocktheit mitbringen, wer dieses Angebot zur Selbstverständigung nicht pochenden Herzens wollte prüfen mögen . Ich vermute allerdings , daß andererseits so mancher der Versuchung allzu vorschnell und bedenkenlos nachgibt, sich bei Bloch die Orientierung zu holen, die alle Verwirrung beseitigt. Auf der Ebene der Scfilagwörter wird das sogar wunschgemäß funktionieren. Wem das genügt, dem kann ich nur anraten , sich die Mühe einer intellektuellen Auseinandersetzung zu ersparen und Bedenken gegen Blochs metaphysischen Materialismus sicherheitshalber umgehend vom Tisch zu wischen. Nicht allein mir aber scheint Mißtrauen angebracht gegen ein gesellschaf tskri.tisches Philosophieren, das sich etwas darauf zugute hält, ontologisch im (Noch-Nicht-)Wesen des Seins begründet zu sein. "Das Inkognito des Menschengrunds, Weltgrunds bleibt entweder ungelichtet, oder es wird in letzthin gemeinsamem Aufbrausen zum Sein wie Utopie hell." Diese wuchtige Behauptung über das und aus dem "Experimentum Mundi'', Blochs theoretischer Summa, ist so einer dieser Kernsätze, in denen es wahrhaft apokalyptisch braust, blitzt und donnert. Welche kleineren Fragen als die nach dem Sein überhaupt und welche weniger grandios-mystifizierenden Antworten werden eigentlich verdrängt, wenn sich jemand an solchen Apotheosen aufrichtet?
Freilich, bei aller Vernarrtheit in die anti-geschichtlichen Wesensrätsel, die Metaphysik endgültig glaubt lösen zu können, ohne dabei doch jemals ihre jeweilige historische Beschränktheit hinter sich zu lassen, war Ernst Bloch ein entschieden politischer Kopf. In das komfortable Verlies des selbstgenügsamen Denkens, jenen berüchtigten Elfenbeinturm bloß akadenlischen Räsonnierens, hat er sich nicht kleingläubig zurückgezogen
. oder gar einsperren lassen . Seine Neugier, sein lichter Witz und seine Sprache hoben sich wohltuend ab von der f al-
TÜTE 37
Heidrun Hesse
sehen Bescheidenheit der vielen fleißigen grauen Mäuse, die im universitären Geschäft um kaum etwas anderes als um Selbstbehauptung ringen. Bloch schien nie überfordert, wenn es galt, praktische Konsequenzen des Theoretisierens aufzuzeigen und zu aktuellen Problemen Stellung zu nehmen. Interessanterweise unterschied ihn diese Fähigkeit nicht nur vom Heer seiner Kollegen, sondern noch eindrücklicher von der zumeist andächtig dahindämmernden Gemeinde seiner Studenten. Auf matte Unwillig-
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keit nämlich pflegten die Aktivisten der Fachschaft zu stoßen, wenn sie diese zu politischer Diskussion bewegen wollten, gerade so, als beglaubige der Name
! "Bloch'' auf dem Seminarschein - eine Art Ablaß? - einem jeden unzweifelhaf
t tes Engagement. Offensichtlich ist kein Denken dagegen gefeit, von seinen An-hängern weniger als produktive Herausforderung ernstgenommen zu werden, als ihnen vielmehr zur Erbauung und als Versicherung zu dienen. Dem "Alten" ist es gewiß nicht anzulasten, es scheint mir jedoch noch heute bemerkenswert,
\
daß sich ausgerechnet das große BlochSeminar politisch eigentlich immer nur al~ Lobby hervortat.
Zwar rät auch Blochs Philosophie, das "nächste Beste" nicht selbstvergessen zu überspringen, leben aber tut sie von einem ungeheuren, in seiner letzten metaphysischen Zuspitzung fast naivverrnessenen, Pathos der überschreitung. Eine elementare Lust am Aufbegehren ist da spürbar, von der indessen das häufig arg vertrocknete Gerede der braven Verteidiger Blochscher Philosopheme kaum noch Zeugnis abzulegen vermag. Kein Hauc!1 von pflichtmäßiger Moralität, dieser eigentümlichen Zwanghaftigkeit, wie sie etwa dem Haberrnasschen Modell der Diskursethik anhaftet, weht durch "Das Prinzip Hoffnung". Es (ent)führt den Leser hingegen in vielversprechend·e Wunschlandschaften. Faszinierend, wie Bloch nicht nur in Religionen und großer Kunst, ·sondern ebenso in Trivialliteratur, schiefen Tagträumen und ganz alltäglicher Unzufriedenheit den -zunächst durch und durch weltlichen - Geist der Revolte gegen das schlechte Bestehende namhaft zu machen weiß. freilich, mit der Entdeckung des "Kontinents Hoffnung" (Klaus Podak) gibt sich die Abenteuerlust des Mystikers nicht zufrieden. Sie will in das innerste Geheimnis des Seins selbst vordringen. Versteht sich, wenn das Wünschen helfen soll, dann müssen die Hoffenden tätig werden und lernen, ihre Wünsche auch zu verwirklichen. Wissen ist vonnöten, geschichtliche und natürliche Zusammenhänge müssen begriffen werden, damit objektiv-reale Handlungsmöglichkeiten ergriffen werden können. An solch konkreter "Ten-
1 denzkunde" allerdings hat Blochs philo-1 sophisches Werk denn doch zu wenig zu 1 bieten. Es läßt sich nämlich gar nicht
wirklich ein auf die Fragestellung, was wir aus der zukunftsoffenen geschichtlichen Situation machen können, in die
wir zufällig hineingeboren sind , wie wir in ihr ohne imaginäre Rückversicherung richtig leben können. illochs theoretischer Ehrgeiz geht nur vordergründig auf kritische Gesellschaftstheorie. Die Philosophie der Hoffnung verhehlt nicht, daß sie fundamentalen Aufschlub geben will über Wesen und Tendenz des Weltprozesses überhaupt. Ein imaginärer Weltgrund soll es sein, der durch unser Wünschen und Tun hindurch und im Kampf gegen das "Fortdauemd-Widersacherische" in der Welt dem Verum, Unum und Summum bonum zustrebt. Geschichte wird eingespannt in eine abstrakte Ontologie
· des Noch-Nicht. Ihr angebliches Ziel, "die Erhellung dessen, was im letzten Daß: grund des Geschehens so treibt wie sich noch verborgen ist", wäre auch ihr Ende: die Erfüllung aller Wünsche, formal bestimmt als kosmische All-Iden titä t,inhaltlich als rettende Entdeckung des "Krauts gegen den Tod". Daß Blochs Philosophieren auf der Ebene einer "Phänomenologie des Wunsches" äußerst anregend und erhellend ist, ihr Herzstück aber , die Ontologie, die verwegene Ausgeburt unkritischen Wunschdenkens, hat Hanna Gekle als erste ausgeführt. (Ihr Buch "Wunsch und Wirklichkeit" wird im Herbst im Suhrkamp Verlag erscheinen.) Wer über die fatale metaphysische Konstruktion, die Bloch in seinen verschiedenen Werken nur geringfügig variiert , nicht krampfhaft hinwegsehen mag, wird ihrer Diagnose nur zustimmen können. ~·
Von "Heimat" raunt es. Gewiß, mit "Blut und Boden" hat diese Sehnsucht nichts gemein. Verheißen aber,jedenfalls beabsichtigt ist die Oberwindung aller Widersprüche, die Aufhebung nicht nur der altbekannten "Entfremdung", sondern jeglicher Fremdheit, von der Adorno, dem eigenen Hang zum Messianismus zum Trotz, immerhin ahnte, gerade sie könne das gesuchte Gegengift gegen Entfremdung sein. ''Von früh an will man zu sich." Wirklich? Nicht zu einem anderen? Läßt sich der Begriff der Gesellschaft, gar das Ideal einer befreiten Gesellschaft so simpel anthropologisch im Selbsterhaltungs- und Selbsterweiterungstrieb "des" Subjekts fundieren? Lieben wir, wie wir unseren Hunger stillen? Beruht Vergesellschaftung auf gemeinsamen Interessen? In der zentralen Kategorie der philosophischen Ethik der Neuzeit, dem "Sollen", drückt sich, so scheint mir, ein wa-
. cheres Problembewußtsein aus als in ihrer glättenden Vereinnahmung durch die "docta spes". Bloch nimmt sie als Indiz
einer Spannung bloß von Wunsch und Noch-nicht-Wirklichkeit. interpretiert sie als Vorschein des harmonischen· Endreichs. Aus einer vernunftkritischen Perspektive. wie sie in der "Dialektik der Aufklärung" wenigstens angedeutet ist, ließe sich die Denkfigur des "Sollens'' !nders und wohl sogar streng gesellschaftskritisch dechiffrieren: als Hinweis darauf. daß der Wunsch des einen durchaus nicht der Wunsch des anderen ist, der des Täters nicht der des Opfers. der der Herrschenden nicht der der Beherrsch-
)( ten. Moralkritik könnte aufmerksam machen auf die gravierenden Widersprüche, die zwischen Wünschenden, ja schon auf der Ebene des eigenen Wünschens, auftauchen und sich durch dessen Verwirklichung im gesellschaftlichen Machtkampf um Anerkennung keineswegs in lauter Wohlgefallen und heitere Vernunft auflösen.
Aber spricht Bloch nicht auch von der ''Melancholie der Erfüllung"? In der Tat, jede gegenwärtige Wunscherfüllung bleibt Bloch zufolge etwas schuldig. Dauer und "absolute Bedarfsdeckung" (sie!) verspricht erst der "Besitz" (sie!) des höchsten Guts. Auf ihn hin ist jede aktuelle
Unser Küchenchef empfiehlt heute:
Fromage Intellectuel
Zutaten: 1 hypnotisiertes Kaninchen 1 Scheibe durchwachsener Deleuze 1 /2 Pfund Guattari 3/8 l Foucault 1 Schuß Kafka Gewürze (Glucksrnann, Bloch)
Besorgen Sie sich ein im traditionellen linken Diskurs verschmachtetes hypnotisiertes Kaninchen aus der gesellschaftlichen Fabrik. Ziehen Sie ihm das Fell ab, und nehmen Sie es auseinander. Durchwachsenen Deleuze und Guattari würfeln und in sexuell aufgeladener Atmosphäre heiß anbraten. Kaninchen hineingeben und von allen Seiten territorialisieren . Anschließend wieder deterritorialisieren. Nun vorsichtig lauwarmen Foucault in den Sud geben , dann ein Schuß Kafka. Alles zusammen in die revolutionäre Kriegsmaschine schütten, decodieren, beschleunigen und nochmals deterritorialisieren, bis sich die Identitäten zum reinen Strom des Begehrens in der ganzen Heterogenität seiner Vielheit verschmelzen. Ab und zu ordentlich wün-
Zwecksetzung immer wieder zu überbieten. Es ist diese Fixierung auf einen formal bestimmten zu verwirklichenden Endzweck. die einen eigentümlichen Nihilismus ins Spiel setzt: Im Streben nach dem allerhöchsten Positiven verwandelt sich das je erreichte "Beste" umgehend in "Stückwerk''. Gegenwart wird im wörtlichen Sinne ver-mittel-t. Daß Bloch lange glaubte, Stalins Politik rechtfertigen zu können, mag mit dieser Denkschablone zusammenhängen.
Wer sich schließlich dem Zentrum der Blochschen Metaphysik zu nähern wagt, der Besinnung auf "das eigentlich metaphysische Dunkel des gelebten Augenblicks", der kann eine für das neuzeitliche Denken bezeichnende Verwechslung gewahr werden: die notorische Identifizierung von Wunscherfüllung mit aneig-
. nender Vergegenständlichung. Aus Blochs Perspektive, nicht unbedingt aus der Wahrnehmung dessen, der sich auf ihn einläßt, bleibt der gelebte Augenblick dunkel, weil er "noch unbeherrschtes Jetzt" ist. Zu lichten wäre dieses Dunkel nach Bloch erst, wenn der Weltprozeß an sein Endziel gekommen wäre und damit ineins auch die Vergänglichkeit ver$an-
sehen, aber Vorsicht, Wünschen haben Explosivkraft! Kaninchen in die Repres~ sionsform geben. Vorher gut mit Diffusität einfetten, damit sich kein Bodensatz (Gewalt, Militanz, Kriminalität) bildet. Mit der Wunschverkettung aus der revolutionären Kriegsmaschine übergießen - es muß kräftig strömen - und anschließend geriebenen Bloch und Glucksmann darüber ritualisieren. Zum Schluß obenauf die Diskursflöckchen setzen. (Feinschmecker bevorzugen den pikanten Gegen-Diskurs). Die Repressionsform in den libidinösen Backofen schieben. Backzeit: Null bis unendlich. Temperatur: Anarchie bis Chaos, dann entwickeln sich die Methoden der Zersetzung am besten. Während der Backzeit brauchen Sie nichts anderes zu tun als abzuwaren und fleißig zu konsumieren. Nach Beendigung der Garzeit Backofen listig öffnen und recht fröhlich lachen. Wenn die Revolte schillert, ist der Kapitalismus kaputt. Serviervorschlag: Mit soviel Fröhlichkeit, Helligkeit und Ausdauer wie nur möglich garnieren. Verwenden Sie auch
Metaphysik
gen. Denn der Tod und das Dunkel des gelebten Augenblicks haben "die gleiche Wurzel", sie sind dem "Noch-Nicht",dem "Nicht-Haben" geschuldet.
Wie noch jede Metaphysik, die sich der kritischen Reflexi~n ihrer eigenen Voraussetzungen entziehen und aus der Geschichte davonstehlen will, um uns endlich mit dem wahren Wesen des Seins vertraut zu machen, will auch der Blochsche Materialismus den Tod nicht wahrhaben. Ein "kritisches Verhalten", das Slch aüS der Tradition des historischen Materialismus versteht, wird sich dagegen · dem Wissen stellen, daß der· Tod "wirklich ins Nichts" führt (Max Horkheimer). "Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte", so lautet ein Schlüsselsatz der" Deutschen Ideologie" . Er eröffnet auch uns genügend Forschungs- und Handlungsmöglichkeiten. Nimmt man ihn als Ausgangspunkt für die eigene Standortbestimmung
. im Spannungsfeld der Gegenwart, so wird man ihrer Komplexität vermutlich eher gerecht werden können als durch ihre ontologische Einschreinung in einem . ominösen Noch-Nicht-Sein, das nach Selbstaneignung hungert.
einige schmückende Beiwörter. Ihre Gäste werden begeistert sein und sofort auf einer Fluchtlinie abfahren. Dieses Rezept ist sehr vielseitig und läßt sich auf verschiedene Arten abwandeln. Hier einige Tips: ( ... ) Für Frauen eine besondere Spezialität: Deleuze und Guattari in die Pfanne hauen, mit einer Gewürzmischung aus gemahlener Lonzi und lrigaray, zerstoßener Kristeva, granulierter Dalla Costa gehackter Cixous und Prokop und vor allem viel eigener Erfahrung bestreuen. Die Kräuter üben einen stailisierenden Einfluß auf den weiblichen Organismus aus und schützen den Körper vor männlichem Zugriff.( ... ) Guten Appetit und fröhliches Sodbrennen! Kneipenkollektiv Rote Straße
(beigelegter Kommentar des Buchladenkollektivs Rote Straße zur Aufsatzsammlung von Böckelmann u.a.: ''Das Schillern der Revolte", Merve-Verlag, Berlin (W.), 1978)
TÜTE 39
Lateinamerika
Laenne·c Hurbon
GEGEN DEN BANALEN MATERIALISMUS
Ernesto Carqenal und Karola Bloch am 9. Oktober 1980 in Tübingen
Au{ dem Bloch-Lukacs-Colloque in Paris traf die TüTE Laennec Hurbon, der in den letzten Jahren in mehreren Veröffentlichungen auf die Bedeutung der Blochschtfu Philosophie für die revolutionäre Praxis der Befreiungsbewegungen der 3. Welt hingewiesen hat. Laennec Hurbon stammt aus Haiti, studierte Theologie und Soziologie in Paris und arbeitet zur Zeit im "Centre National de Recherche Scientifique" in Paris im Bereich "Soziologie und Religion des karibischen Raums". Mit seinem Buch "Ernst Bloch, Utopie et Esperance" von 1974, der ersten Gesamtdarstellung der Blochschen Philosophie in Frankreich, schaltete er sich in die Diskussion über die Theologie der Befreiung ein. Die Attraktivität der Blochschen Philosophie für die Länder der 3. Welt besteht nach Ansicht Laennec Hurbons wesentlich darin, daß Bloch einer der wenigen europäischen Philosophen gewesen sei,
. der sich mit den außereuropäischen Kulturkreisen befaßt habe. Er habe sich nicht nur mit den kulturellen Erscheinungen der modernen westlichen Gesellschaften auseinander gesetzt, sondern sich ebenso ernsthaft mit der jüdischen, arabischen und chinesischen Kultur beschäftigt. Dies könne im Zusammenhang mit der Diskussion über ein eigenständiges Entwicklungsmodell für die Länder der 3. Welt, das sich nicht notwendig an westlichen Zivilisationsmustern orientiert, fruchtbare Ansatzpunkte bieten.
Theologie der Befreiung
"Mir sind viele Verwandtschaften zwischen Ernst Bloch und Ernesto Cardenal aufgefallen", sagte Karola Bloch im Jannuar 1981 in Managua in einem Grußwort . "Die Verbindung von Christentum und Marxismus ist den beiden Männern eigen. Die Hoffnungsphilosophie Blochs fol t allen S uren in der Kulturgeschichte der Menschheit, die auf die - - „ .... _.,,,_...
40 TÜTE
Möglichkeit des Glücks, der Erfüllung inweisen. Das letzte Wort im Haupt:."'
werk 'Tus Prinzip Hoffnung" heißt "Heimat". Der Philosoph hofft, daß ein mal der Tag kommt, an dem der Mensch seine Identität, seine Heimat finden wird. Ernesto Cardenal spricht von Liebe, die die Menschen verbinden soll und wird .... Wie schade, daß Bloch und Cardenal nie einander . begegnet sind. Sie wären Freunde und Kampfgenossen geworden, zwei Wurzeln von demselben Baum." (aus TÜTE 2/81)
Trotz dieser Ähnlichkeiten sei es aller-dings schwer, eine direkten Einfluß der Blochschen Philosophie auf die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika festzustellen. "Subjekt - Objekt" erschien zwar schon 1949 in Mexiko-City, aber ansonsten wurden nur einzelne Werke sehr zögernd, das "Prinzip Hoffnung" sogar erst 1977, ins Spanische übersetzt. So konnte sich die Blochrezeption in Lateinamerika laut Laennec Hurbon erst allmählich und auf Umwegen entwikkeln, einerseits über die 3. Welt-Diskussion iri Europa, andererseits im Rahmen theologischer Fragen und nicht über die politische Philosophie. Er selbst sei zu Anfang der 70er Jahre in Frankreich mit
der Diskussi0n über das Verhältnis von Marxismus und Christentum und die Stellung der Christen zur politischen Praxis konfrontiert gewesen . In Zusammen- 1 hang mit seiner Begegnung mit Molmanns "Theologie der Hoffnung" sei Bloch in die Diskussion eingeflossen . So wären Blochsche Gedanken indirekt auf dem Umweg über Frankreich und die "Theologie der Befreiung" nach Latein amerika gekommen, und zwar in Form einer Kritik an einem in Lateinamerika 1 sehr prädominanten, dogmatischen 1
Marxismus. Diese Diskussion zwischen traditionellreligiösen Christen und den Theologen der Befreiung über das Verhältnis von Christen zu einer revolutionären Praxis habe in Lateinamerika, wo das Christentum eine mächtigere gesellschaftliche Position als im säkularisierten Europa einnimmt. eine viel größere politische Bedeutung gehabt . Allmählich würde Bloch zumindest in Brasilien und Mexiko in christlichen Kreisen auch direkt rezipiert.
Das Imaginäre
Für die Analyse der politischen und kulturellen Bewegungen in Lateinamerika erscheinen ihm die Blochschen Kategorien außerordentlich geeignet. Vor allem Blochs Verständnis des '1maginären '' sei für die soziologische Forschung in dieser Hinsicht besonders wichtig. Denn , so Hurbon, das Imaginäre sei der Ort der En tfaltungde~ menschlichen Wünsche und damit die Grundkategorie zum Ver-
ständnis der sozialen Bewegungen der revolutionären politischen Veränderungen in der Welt. Darin bestehe für ihn auch die Attraktion der Philosophie Blochs. Erst das Begreifen der Macht des
'
Imaginären ermögliche uns die Erklärung für die konservativen und reaktionären B~wegungen in der Geschichte wie des
1 Sieges des Faschismus in Deutschland oder die überaus starke Widerstandsfähigkeit und Stabilität der vielen Diktaturen in der 3. Welt.
Den positivistischen Methoden der modernen Wissenschaft bleibe der Zugang zum Verständnis der Produktivität des Imaginären in der Symbolik der Kultur der Massen natürlich versperrt. Die Blochsche Hermeneutik bietet hier die Möglichkeit zur Erforschung der darin befindlichen gesellschaftsverändernden Tendenzen . Sie liefere ihm z.B. einige wichtige Kategorien zur Analyse und ensprechenden Beurteilung der vielen kulturellen, sowohl politischen, als auch religiösen, ja oft prophetischen Bewegungen. die Jahr für Jahr auf den karibischen Inseln, aber auch in anderen Re gionen Lateinamerikas entstünden. Wenn
. wir diese nicht ernst nähmen , gäben wir sie frei für den Mißbrauch für irgendwelche reaktionären politischen Ziele.
Praxis
Es wäre jedoch falsch, aus einer sogearteten Analyse der lateinamerikanischen Gesellschaften direkte Konsequenzen für die politische Praxis zu ziehen. Das sei auch nicht der Sinn der Blochschen Philosophie . Hier seien mehrere Vermittlungsschritte notwendig. Blochs Philosophie stelle primär, und das sei ungewöhnlich für ein marxistisches Werk, eine Reflexion über eine revolutionäre Ethik dar. Sie sei sowohl Kritik des Positivismus und des "banalen Materialismus", als auch jeder Form eines Anthropomorphismus. Es ließe sich daraus lediglich eine Orientierung und zwar eine undogmatische Neuorientierung der Politik jenseits der Ideologien des real existierenden Sozialismus und des Kapitalismus entwickeln. Das Blochsche Denken ließe sich nicht auf den "traditionellen marxistischen Materialismus" reduzieren, es sei weit mehr; die Blochsche Philosophie beherberge auch Idealismen, aber genau darin bestehe seine Stärke im Kampf gegen den "'banalen Materialismus". Das wird seiner Ansicht nach Auswirkungen auf die Forschung der nächsten Jahre haben. • ·
China
BLOCH IN CHINA Während des Kolloquiums "Utopie und Verdinglichung" in Paris anläßlich des 100. Geburtstag von Ernst Bloch und Georg Lukäcs sprach der Chinese Saen Yang Kha über die Bedeutung von Lukacs zur Analyse der gesellschaftlichen Situation in China. Dieser Vortrag löste bei den Zuhörern die Neugierde nach Bekanntheit und Zugänglichkeit der Werke beider Philosophen in China aus. Die TüTE sprach mit Saen Y ang Kha.
Saen Y ang Kha hat in Peking Philosphie studiert und an der Sorbonne in Paris seine Doktorarbeit über die "Kritische Theorie" geschrieben. Heute arbeitet er bei der chinesischen Zeitung in Paris, gibt Seminare über chinesische Philosophie am "College International de Philosophie" und schreibt an einem Handbuch für chinesische Studenten über die Strömungen der westlichen Philosphie . Nach dem Tod Mao Zedongs begab sich die chinesische KP am Ende der siebziger Jahre auf den wirtschaftlichen Reform- und Modernisierungskurs, mit der eine vorsichtige Entdogmatisierung und "Entmaoisierung" einhergeht. Saen
~y ang Kha wertet diese Politik positiv und sieht in der liberaleren Diskussion die Möglichkeit eines eigenen und offe- . nen Weges zum Sozialismus. Die Partei hält zwar ein wachsames Auge auf die Diskussion der Intellektuellen, aber dennoch ist es möglich in Philosophie und Literatur über Humanismus (im Verständnis der chinesischen Tradition) und Entfremdung zu diskutieren und Philosophen des westlichen Marxismus wie Lukacs, Sartre und auch Bloch zu rezipieren. Kha betont, daß Lukacs viel bekannter sei als Bloch. Die Diskussion über und das Studium der Blochschen Werk~ habe erst begonnen. Zwar sei schon vor der Kulturrevolution mit der übersetzung seiner Schriften begonnen worden. Doch diese Arbeit sei aufgrund der Vorherr-
. schaft der Gedanken Maos während dieser Zeit unterbrochen worden. Die Hauptarbeit sei erst ab 1979 eingeleitet worden. "Thomas Münzer" sei übersetzt und auch in einer relativ hohen Auflage erschienen. In China könnten die Bücher nicht in genügender Anzahl für alle erscheinen. Aus dem "Prinzip Hoffnung" und "SubjektObjekt" seien erst einige Kapitel übersetzt und erschienen. Da die Auflagen
sehr klein seien, bliebe die Bekanntheit dieser Werke auf philosophische und intellektuelle Kreise eingeschränkt. Mit der Rezeption des "Prinzip Hoffnung" hätten einige chinesische Philosophen ein Mittel gefunden, um religiöse Phänomene im heutigen China zu analysieren. Jedoch sei "Subjekt-Objekt" in der philosophischen Diskussion kritisiert worden. Der chinesische Hegel-Spezialist X und -übersetzer, He Ling, habe in seinem Vorwort zur übersetzung der "Phänomenologie des Geistes" die Blochsche Darstellung als falsche Interpretation der Hegelschen Dialektik und als eine Art subjektiver Dialektik bezeichnet.
e Bloch würde von den chinesischen Philoso2hen auch nicht als Marxist angesehen, sondern als Uto ist oder als Theologe zugehörig zur Strömung der "Theolo ie der Hoffnung",_ oft auch als progessiver Philosoph, der in die Reihe des NeoMarxismus gestellt würde.
Daß Bloch in China übersetzt und zugänglich ist, löst im Vergleich zu den Ländern des realen Sozialismus unweigerlich Erstaunen aus. In der DDR zur Unperson erklärt, Ende der SOer Jahre wurden seine Werke dort nicht mehr aufgelegt. In den anderen Ländern ist er gar nicht übersetzt; zumindest nicht offiziell . Nur in Jugoslawien liegen übersetzungen vor, und von der Praxis-Gruppe wurde Bloch rezipiert und diskutiert. Dennoch bleibt Bloch in China nicht ) von der ideologischen Kritik verschont. In einem 1983 erschienenen Buch über westlichen Marxismus ist Blochs Philosophie, so Kha, als bourgeoise bezeichnet worden, aber dieses ist nicht die Meinung aller chinesischen Philosophen.
Ob sich in China die Diskussion von Werken, wie denen von Bloch, nicht nur in begrenztem Rahmen, sondern offen entfalten kann, bleibt abzuwarten.
TÜTE 41
Ernst Bloch ist tot, die Tübinger Universität wird 500 Jahre alt und der AStA abgeschafft - der Deutsche Herbst 19 77.'
ERNST BLOCH und die
Ernst und Karola Bloch
42 TÜTE
NEUE LINKE In besonderer Weise wurde die Entwicklung und Geschichte der Tübinger Neuen Linken seit den sechziger Jahren durch Ernst und Karola Bloch geprägt und weitergetrieben. Bis ins hohe Alter blieb Bloch nicht müde, sich in den politischen Alltag einzumischen. Sein Tod war ein einschneidender Verlust.
Auf den folgenden zwölf Seiten sollen unter dem Signum der Ernst-Bloch-Universität die Bezüge herausgestellt werden, die die Tübinger Studentenschaft mit dem "Genossen Bloch" verbanden. Einern Gespräch von vier Tübinger Alt-Aktiven, das von zwei nur wenig bekannten Kundgebungsreden Blochs umrahmt wird, folgt der Reprint eines Interviews, das Tübinger AStA-Vertreter 1975 mit Bloch führten. "Mit geballter Faust" ist die Trauerrede des AStA auf den toten Bloch überschrieben, die die inhaltliche Nähe zwischen der Hochschul-Linken und dem Philosophen der Praxis bezeugt. Nach einer kurzen Erinnerung an das Wie der Ausrufung der Ernst-Bloch-Universität schildert Karola Bloch in einer Unterhaltung das Verhältnis der Blochs zu Rudi Dutschke und zum SDS.
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HOFFNUNG In den sechziger und siebziger Jahren stand Bloch in engem Verhältnis zur Neuen Linken und speziell zur Tübinger Studetenschaft. Unzählige Male hatte er sich solidarisch und kritisch in die Arbeit der Linken eingemischt. Sein Tod hatte im August 1977 vier Aktive aus unterschiedlichen Tübinger 'AStA-Generationen' zu persönlicher und politischer Trauer veranlaßt. Im Februar 1985 äußerten sich Ali Schmeissner, Bernd-Ulrich-Jung, Gundi Reck und Welf Schröter dariiber, was Bloch ihnen bedeutete und noch bedeutet.
"Aufrechter Gang"
BERND-ULRICH: Blochs Tod - das war ein konkreter Verlust. Bloch war solidarisch und hat nicht nur fromme Sprüche losgelassen. Er hat seine Philosophie ge-lebt~
ALi: Bloch hat, meiner Meinung nach, verschiedene Eckpfeiler eines abstrakten, revolutionären Idols für die Neue Linke, abgedeckt. Möglicherweise ist es die Tübinger Nähe, die mich dazu verleitet, so etwas zu sagen. Kein anderer hat wie Bloch diese Kontinuität aufgewiesen . In den Nachrufen sieht man, wie er aus der Entfernung natürlich auch ein Stück weit mythologisiert und verklärt wurde wie andere wichtige theoretische und praktische Köpfe auch. Bloch war für mich wichtig, weil er zu bestimmten Zeiten mit der Studentenrevolte zusammen offen aufgetreten ist, soweit er es körperlich vermochte. In den Sechzigern, als er noch einigermaßen gut zu Fuß war, diskutierte er mit uns im Republikanischen Club . Sein Seminar war ein politisches Seminar. In der ganzen Restaurationsphase der siebziger Jahre mit den Berufsverboten etc., wo Linke zu Liberalen wurden und Liberale zu gar nichts mehr, blieb Bloch der Einzige des Lehrkörpers bei dem - obwohl körperlich gebrechlich - in entscheidenden Momenten anzufragen war. Er fand es selbstverständlich, sich in einer politischen Sache mit seinem Namen und seiner Person herzugeben . Deutlich wurde dies unter anderem 197 5, als er die Ehrendoktorwürde erhielt. Er integrierte die Demonstration gegen Berufsverbote in die Veranstaltung. Als die sauberen Herren auf ihren Stühlen saßen und schäumten, begriff er diesen Widerspruch an seiner Person gegenüber den Studenten, die -ein Transparent entfalteten mit der Aufschrift 'Wann ist er dran'. Er repräsentierte für uns den großen Eckpfeiler efrles "aufrechten sozialistischen
qanges'' . Er war kein Proletkumpel, der irgendwo von alten Zeiten träumte. Bloch war kein vom praktischen Leben abgehobener Philosoph . Er war jemand, der seinen Weg ging, sich nicht opportunistisch beugte. Das empfand ich eigent-
1 lich als das Grandiose an ihm. Deswegen war Bloch im Unterschied zu vielen an
' deren wie etwa Habermas und Adorno - Marcuse ausgenommen - sicherlich ein viel wichtigerer Mensch innerhalb der Studentenrevolte. Habermas und Adorno sind im ersten ·Ansturm der Begeisterung für sich auch gleich wieder umgefallen und haben Distanz gesucht. Sie waren nicht in der Lage, ein Rückgrat aufzubauen, das durchsteht und eventuell auch den Professorentitel in den Wind schreibt, sollte die Revolte etwas Neues und Egalitäres bringen. Die konnten sich das gar nicht vorstellen.
WELF: Ich möchte das Stichwort vom "aufrechten Gang" nochmal aufgreifen . Moralisch, politisch integer zu sein, schien mir aus meinen Erfahrungen die Chiffre für den Namen Bloch. Dies betraf nicht nur das Thema Vietnam, oder Chile, Berufsverbote oder Ähnliches. Seine moralisch-politische Integrität zeigte sich, wenn er in schwierigen Situationen, Fragen auf den Punkt brachte, seine Haltung nicht preisgab und auch bereit und fähig war, linke Tabus anzugehen: Exemplarisch stand hierfür seine unerbittliche und doch differenzierte Stellungnahme beim Tod von Holger Meins.
GUNDI: Warum die Chiffre 'moralischpolitische Integrität'? Heute könntest Du damit kaum mehr etwas ausdrücken. Ein Mann bewahrt Haltung, biedert sich nicht an, ist nicht opportunistisch, hat eine große Bedeutung gewonnen. Heutzutage wird das eher ausgelegt als unoffenes Denken, als dogmatisches festhalten an liebgewonnenen Einsichten. Warum erscheint Bloch nicht als stur oder bloß eigensinnig?
Frankfurt: Ernst Bloch gegen Notstandsgesetze
ALi: Gegenüber dem verlogenen System, das wir erst später Kapitalismus nannten, war es sehr wichtig, daß Bloch immer diese grundlegende Argumentation draufhatte. Er hat die Leute weniger durch seine Schriften angesprochen. Seine Texte haben inhaltlich ausgedrückt, was für uns in der von uns geschaffenen Öffentlichkeit immer ein grtindlegendes Wertmuster war. Dieses Wertmuster hieß: ) man will den Sachen auf den Grund gehen· und sie in ihren wahren Dimensionen erfahren und begreifen .
WELF: Verständlich wird diese Art ·der Wahmehmumg meines Erachtens erst, wenn wir sie in direktem Zusammenhang der Geschehnisse der siebziger Jahre sehen. Begriffe wie Repression. Widerstand und Protest waren die direkte Kehrseite des "Aufrechten Ganges" . Die Begriffe fielen in jener Zeit sehr viel häufiger und hatten unmittelbar analytischen Charakter. Es gab ja nach der Kampagne für Karl-Heinz Roth sogar ein eigenständiges 'Anti-Repressions-Komitee'. Die Worte Protest und Widerstand spiegelten etwas wie 'Dem-System-nicht-nachgebenwollen', 'Bei-seinen-politisch-morali-schen-Auffassungen-dagegen-bestehen
bleiben'. Hier hatte Blochs Ausdruck 'aufrechter Gang' Bedeutung und Funktion. Die Frage danach, ob Bloch eine 'korrekte' Marx-Interpretation lieferte, ob er die Oktoberrevolution 'richtig' einschätz-te und ähnliches mehr, wurde erst in zweiter Linie gestellt.
BERND-ULRICH: Ich glaube, wir bauen da bezüglich der siebziger Jahre ganz schön was auf. Bloch war Anhängsel ei- '
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GRUSSWORT VON ERNST BLOCH zur landesweiten Demonstration des Tübinger Ersatzgeldkampfes vor ca. 13.000 Teilnehmern. 18.10.1976
Also, liebe Demonstranten. Ich darf mich in einer freundlichen Weise an Sie wenden. Wir brauchen unter uns Freundlichkeit und endlich ein Ende der Zersplitterung. Wir brauchen das, denn neue trübe Dinge oder trübe alte Dinge, gehen, wie man weiß oder auch nicht weil~ aus Zeitungen, die sie verschweigen, gehen auf uns zu . Ich meine die Sache mit dem sehr nüchternen Namen und dem ganz und gar nicht poetischen Inhalt dazu, die mit dem Terminus Ersatzgelder auch praktisch und vor allem praktisch jetzt in die Wege geleitet werden sollen, von der herrschenden Klasse. Es gibt heute Dinge, über die man als ein redlicher Mensch nicht zweierlei Meinung sein kann, und denen muß in einfachen Worten, sehr komprimierten und nicht unperspektivischen, sondern im Gegenteil , reich und mit Perspektiven sich verbindenden, entgegengetreten werden und ins Bewußtsein gebracht und in die Hand und in die geballte Faust, die hier das zuständige und zulässige Instrument ist; außer dem Begriff, der bei der Sache sein muß, wie es sich von selbst versteht. Aber ein deutlicher Begriff, und einer, mit einer sogar sehr gelehrten Herkunft; nämlich mit einem Wort, das sich bei dem reaktionären königlich-preussichen Staatsphilosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel findet: Herr und Knecht, als ein unnatürlicher Zustand; Teilung des Menschen in diese beiden Gruppen und Klassen; und mehr noch als Klassen, geborene Feinde; einig in der Ausbeutung des Knechts durch den Herrn, einig auch, leider Gottes, allzu lange im Bestehenlassen dieses höchst unnatürlichen, historisch längst abgelaufenen, nur durch Feigheit oder Dummheit aufrechterhaltenen Zustandes - dieser Dualität. Und dazu gehört das, was hier nun probiert wird, und wogegen wir als Demonstranten der Logik und der Moral zusammen demonstderen·. Das .geht hier aufs Neue um. Und ich glaube und hoffe, daß ein geringes Nachdenken keinen Proleten, erst recht keinen Studenten - der doch erfahren hat was Demonstration ist - und der sich durch Feigheit nicht abschrecken läßt, abhält weiter an ihr teilzunehmen, für eine neue und hoffentlich besser fundierte Zukunft, die für diese Studneten auf der Tagesordnung steht, sowohl in dem, was die Grenzen seines Erduldens ausmacht, wie an dem, was die Hoffnung und das Fazit der Perspektiven, die er hat, bestimmt, ausbildet und normierend vor sich hin setzt. Das war's, was ich in Kürze bei dieser Gelegenheit sagen wollte, daß wir als Studenten,
\
als Kommilitonen, als Menschen aus dem Volk, die sich ·durchaus einig sind in dem einen, daß es nicht zwei Arten von Menschen gibt; das ist es, worin wir unsern Mann zu stehen haben .
ICH BITTE SIE ZU BEGINNEN!
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ner Revolutionärin. Er konnte kein Englisch lernen, sagt er, weil er das 'Prinzip Hoffnung' schreiben mußte. Während er irgendwo in seinem Zimmerle saß, muf~-
}
te Karola die Familie ernähren . So aufrecht war die Geschichte im Exil in den USA - tagespolitisch gesehen - jedenfalls nicht. Er hatte ein faszinierendes theoretisches Denken, keinen platten ökonomismus. Obwohl er sagte, fromm mag ich zwar sein, aber Theologe bin ich nicht, hatte er seine Nähe zu den Theologen . Dieser Ansatz, der sehr genau überbauphänomene untersucht, hat mich sehr beeindruckt. Ich lernte Bloch kennen in seinem Seminar, das nicht hieß "Erklärung des Faschismus", sondern "Einige Aspekte des Faschismus". Er analysierte historisch-philosophisch. Neben der "Theologie der Hoffnung" war es seine Betrachtung des Faschismus, die mir etwas brachte . Bloch hatte es in "Erbschaft
\ dieser Zeit" dargelegt. Nicht, was die KPD gemacht hat, war falsch, sondern
( was sie nicht gemacht hat. Es gibt noch mehr als die Ökonomie. Auf der anderen Seite stand sein tagespolitisches Engagement. Aber beides war nicht ohne weiteres vermittelt. Als wir auf die Idee kamen, einen 'Arbeitskreis Knast' zu schaffen, gingen wir zu Karola . Sie hatte den Verein Hilfe zur Selbsthilfe gegründet. Bloch saß dabei und mischte sich ein .
· Ali Schmeissrier mit Oberpedell Lang
Die praktische Seite kam in der Politik in der Studentenschaft zum Tragen. Das Allein-Theoretische wäre nie entscheidend gewesen. Das haben andere auch gebracht. Wichtig war, daß Bloch, der mir und anderen etwas bedeutete, nicht nur ein Theoretiker, sondern daß er auch ein Praktiker war, sich nie gescheut hat, in die alltäglichen Auseinandersetzungen reinzugehen. Dort hat er tatsächlich so etwas dargestellt wie 'aufrechter Gang'!
Moral und Utopie
AL!: Die Negation von den guten Werten, die für mich immer noch die Moral
ausmachen , führt sehr schnell zur llegriffsleerheit. Wenn ich den Bloch der Moral entkleide, dann ist sein Wertgebäude tatsächlich nur ein rein semantisches Produkt, das niemanden mehr anzieht. Wieso interessiert Dich ein Begriff wie der "aufrechte Gang"? Der kann Dich doch bloß interessieren, weil Du das Gefühlt hast, daß Du dort , wo Du Dich streckst, gedrückt wirst. Also willst Du Dich gerne mal wohlfühlen .
GUNDI: Bloch ohne Moral, ohne positive Ethik , ohne ganz bestimmte emanzipative Menschlichkeitsvorstellung kann man vergessen. Das ist ja auch ein ganz zentrales Problem innerhalb der marxistischen Tradition .
AL!: Das ist wie Marx ohne die Feuerbachthesen~
BERND-ULRICH: Vor einigen Wochen war im Blauen Salon in der Münzgasse die Veranstaltung über die 'Diktatur der Freundlichkeit'. Die Frage "Wer bin ich" , die zentrale Blochsche Frage, die auf Utopisches verweist, hat ein Plattkopf als Frage des BKA bezeichnet. Das macht irgendwie die Geschichte deutlich. Nicht nur die Bürger haben dieses Moment der Utopie , das mit Moral sehr eng zusammenhängt, beiseitegedrängt . Es gibt auch den Vulgärmarxismus oder den Leninismus. bei dem der Zweck die Mittel heiligt. Bei Bloch war das nicht so. Der Weg mußte Vorschein des Zieles sein. Nichts gegen Lenin, der historisch Recht hatte, aber alles gegen den Leninismus und gegen solche Leute. die meinen, die Leninsche Methode sei in einer Gesellschaft anwendbar , die auf eine bürgerliche Revolution zurückblicken kann.
WELF: Das ist eine fast schon reine Luxemburgistische These. Rosa warnte davor, die Russische Revolution zum Modell zu machen für alle nachfolgenden Revolutionen.
BERND-URL/CH: Natürlich, deshalb ist Bloch für mich der Gegenpart einer solchen Position , die tatsächlich nicht mehr Nahziel und Fernziel vermittelt. sondern die meint, das Nahziel sei, den bürgerlichen Staat auszuschalten und hinterher alle zu belehren. Das war nicht die Position von Bloch. Obwohl er sich mit dem Begriff der 'konkreten Utopie' vehement r gegen Leute gewehrt hat, die meinten - l\ und da sind wir wieder bei der Moral - „ allein der moralische Anspruch würde , genügen. Dagegen richtet sich seine marxistische Kritik. Es muß die konkrete Si- , tuation analysiert werden, es muß gezeigt
f werden. wie die Chose läuft, dann kann . -man mit dem moralischen Impetus rein
,;;; gehen und die Sache entsprechend wen~~ den. Das beinhaltet Blochs theoretisches ;~ Konstrukt "konkrete Utopie·.
Hoffnung
GUNDI: Welche Rolle spielte der Begriff Hoffnung? Hoffnung im Blochschen Sinne. Wenn Du den Unterschied zum Hoffnungsbegriff des Messianismus im Christentum aufrechterhalten willst. muf~t Du ja den politischen. den analytischen Gehalt von Bloch immer mitdenken. Was passiert aber, wenn dieser marxistische Teil ins Rutschen gerät, wenn er abdriftet ins rein Moralische oder Negative. Kann man angesichts von Auschwitz, Hiroshima und dem, was hier passiert. noch von Hoffnung reden?
ALi: Der Begriff Hoffnung bezieht sich ja auf ein Ideal der Menschen , nämlich daß es möglich wird , diesem Scheusal Kapitalismus in seinen verschiedenen Erscheinungen ein Ende zu bereiten. Man kann sich nicht auf die Gesamttotalität beziehen und erwarten, der Systemgeist möge uns eine gute Welt bescheren .
Karola Bloch und Gundi Reck
GUNDI: Die Emanzipation des Menschen aus seinen Zwängen ist heute aber kein Stichwort mehr.
ALi: Geschichte muß man doch als Entwicklung begreifen, wo sich in einem dialektischen Prozeß Veränderungen erge-
l ben. Es ist richtig, daß die Geschichte der Neuen Linken, der intellektuellen Linken zu Bruch ging.
GUNDI: Die ganze Neue Linke der sechzier Jahre und danach war überzeugt und mit einer derartigen Kraft erfüllt, daß hier und jetzt in allen Lebensbereichen, in der WG und anderswo etwas verändert werden kann. Deswegen konnte Hoffnung doch noch etwas bedeuten.
BERND-ULRICH: Die Blochsche Hoffnung ist nicht die Hoffnung, daß morgen die Revolution sein wird. Die BloGhscli.e Hoffnung heißt Veränderung schaf-
fen durch das eigene Eingreifen in Geschichte und zwar nicht das individuelle Eingreifen, sondern als Klasse oder Kollektiv. Das ist es. was verlorengegangen ist. Nicht die Hoffnung, daß morgen Revolution sein wird , ist verloren gegangen. Und wohin? Ich weiß es nicht. Wir haben früher Politik gemacht in der Studentenschaft oder, wenn Du so willst im Ghetto. Das hatte Auswirkungen nach draussen. Wir wurden in unserem Ghetto in den siebziger Jahren ganz schön eingemacht. Im Zusammenhang mit dem Terrorismus hat man dicht gemacht, die Verfaßte Studentenschaft, AStA etc. abgeschafft. Das ist die geschichtliche Entwicklung, die Leute dazu veranlaßt hat, zu sagen, eingreifen sei nicht mehr möglich. Dann sage ich, das ist ein Ghettobewußtsein !
Gleichzeitig haben sich über Kernkraftwerke und sonstwo gesellschaftliche Widersprüche aufgetan, die wir in unserem Ghettobewußtsein nicht gesehen haben , wovon man aber eigentlich nur träumen konnte, nämlich über das Ghetto hinauszukommen. An diese Widersprüche sind viele von einer irgendwiegearteten Vorstellung revolutionären Handelns rangegangen, haben festgestellt, daß da sind alles keine richtigen Revolutionäre und das paßt nicht in die Schächtelchen und Schubladen. Folglich haben sie den Schluß gezogen, revolutionäres Eingreifen in Geschichte sei nicht mehr möglich, anstatt an diese Widersprüche heranzugehen im Sinne der Hoffnung, Geschichte und der Geschichtsprozeß ist noch nicht entschieden, aber er wird entschieden, wenn wir einfach geschehen lassen, was geschieht, dann aber gegen uns. Anstatt einzugreifen, haben sie sich hingesetzt und gesagt, · eingreifen ist nicht mehr möglich.
WELF: Die politische Arbeit der Neuen Linken Ende der sechziger und weit hinein in die siebziger Jahre war geprägt von einem internationalistischen Bewußtsein. Die Solidarität mit den Befreiungskämpfen in · der Dritten Welt in Asien, Afrika und Lateinamerika hatte sehr viel mit der Projektion von Wünschen' und Utopien zu tun. Was in Zentraleuropa nicht machbar erschien, sollte zumindest von den Ches, Ho Chi Minhs, Cabrals, Fanons usw. geleistet sein. Die Idealisierung dieser revolutionären Bewegungen führte spätestens kurz nach der siegreichen Machtübernahme zu Frustration und zu politischem Kater.
Vietnam, Kambodscha aber auch der Iran machen das in dramatischer Weise deutlich. Während der Internationalismus-Tage im Dezember 1981 in Tübingen hatte Brigitte Heinrich auf diesen Identitätsverlust der heimischen Uni-Intellektuellen hingewiesen. Dies verweist ebenfalls auf ein falsches unverarbeitetes Zurückziehen aus dem Feld des gesellschaftlichen Eingreifens.
AL!: Mich verwundert, wie Leute mit ihren Effahrungen, die sie am eigenen Leib gemacht haben, umgehen. Es verlangt ja keiner, daß es geradlinig so weitergehen soll, aber Grundelemente gemeinsamen Handelns in Frage zu stellen, um in den Politnihilismus einzusteigen, ist keine Alternative.
Frankfurt 1978, Solidaritätsveranstaltung "Zefzn Jahre Prager Frühling"; die Aktualität der Blochschen Kritik an den Okkupanten der CSSR (Rudi Dutschke, Welf Schröter)
Bloch-der Citoyen
WELF: Die Begegnung mit Blochschem Denken war für mich noch in anderer Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Es handelt sich um die Frage der Demo- X kratie, der Bürgerrechte und um "Erbschaft'' der bürgerlichen Revolution. Blochs Y erteidigung der republikanischen Freiheiten des CitoyeP. und deren Aufhebung haben mein Sozialismusverständnis nachhaltig geprägt. Die Kritik am Stalinismus lautete demnach, daß es eine sozialistische Demokratie ohne Erbschaft der bürgerlichen Revolution, oh-ne die Aufhebung der Rechte des Citoyen nicht geben kann. Sozialismus nach Bloch ist die Radik'alisierung der Rechte des Citoyen, der Radikalisierung der Demokratie, aber keineswegs deren Negation .. In vielen Fällen war Bloch gegen zahheiche Linke ein Kritiker, der daraufhinwies, daß sozialistische Umwälzung nichts gemein habe mit der Plattwalzung von Bürgerrechten, daß Sozialismus nicht von oben beschert werden
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Neue Linke und Bloch
könne. Nach dem Deutschen Herbst 1977 ist sich meines Erachtens ein großer Teil der Neuen Linken dieses Citoyen-Gedankens, dieses Verständnisses von Zivilgesellschaft erst mühsam bewußt geworden. Die heftigen Kontroversen um das von links angestoßene Russell-Tribunal zur BRD 1978 scheinen mir Belege genug. Viele Linke taten dies als bürgerlichliberalen Quatsch ab. Was soll ein Revolutionär mit der Verteidigung von Grundrechten zu tun haben?
1 Blochs Citoyen-Begriff war mir ein wich-• tiger Hebel linker Selbstkritik.
G UND!: Bei Bloch findet sich diese Position in "Naturrecht und menschliche Würde" und vielen anderen Schriften.
GRUSSWORT VON ERNST BLOCH . für die Veranstaltung zum Tod Holger Meins am 15.11.1974
Auf der von der Universitätsleitung verbotenen Gedenkveranstaltung zum Tod von Holger Meins am 15.11.1974 nahm Ernst Bloch in einem Grußwort zur politischen Entwicklung des Rechtsstaates und dessen Verhalten gegenüber den politischen Gefangenen Stellung. Die Veranstaltung des AStA wurde dennoch durchgeführt. Sie fand im Flur der Neuen Aula statt.
Ich spreche hier, um in Gemeinsamkeit mit so vielen gleicher Gesinnung und auch einer am Platz seienden Klugheit gegen die Untaten der Folter, der Einzelhaft und gegen die schließliche, langsame Hinrichtung von Gefangenen zu protestieren. Erfolg ist überhaupt keiner zu sehen als einer ins Unglück hinein: in Verunsicherungen nicht etwa der Folterherren - oder auch -knechte -, sondern Verunsicherung der Linken und auch der rechten Mitte, die die Berührung mit der Linken noch nicht aufgegeben hat, Verunsicherung, Erzeugung sogar von Feigheit, unter Umständen wider Willen, wenn hier die Machtmittel des Staates auf eine solch verkommene und schreckliche Art angewandt werden . J;>olitik, wurde gesagt, sei die Kunst des Möglichen. Zweifellos sind die Möglichkeiten, mit Verhaltensweisen, wie sie die Baader-Meinhof-Gruppe an den Tag gelegt haben, Politik zu machen, weit über die Kunst des Möglichen hinaus oder auch hinter ihr zurück. Es soll auch in unserer Versammlung in nichts betont werden oder so weit die Akzente verschoben werden, als ob wir nicht genau wüßten, daß wir nicht auf der Seite der Baader-Meinhof-Gruppe stehen, und daß wir dies für eine untaugliche Art der Kunst des Möglichen, die Politik zu strapazieren, ansehen - aber das hat damit gar nichts zu tun. Jedenfalls setzt sich der Staat selber in ein großes Unrecht, in ein Unrecht, das im Fall der Baader-MeinhofGruppe gekennzeichnet ist durch Isola-
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Aber kann man das so behaupten, daß dieser Teil Bloch eine derartige Rolle gespielt hat? Die Neue Linke hat doch ganz selbstverständlich auf den Grundrechten im Sinne des Citoyen aufgebaut. Sie trat mit diesem Anspruch an, tatsächlich Demokratie in diesem bürgerlich-verkrusteten Staat zu verwirklichen. Die ganze Anti-Repressionspolitik war davon gekennzeichnet, daß diese Gesellschaft ihren Mitgliedern die bürgerlichen Rechte eigentlich gar nicht gewährt.
WELF: War es nicht vielfach von der Linken nur taktischer Gehalt?
ll ALI: Für die Neue Linke war es immer ein prinzipieller Bestandteil, die bürgerlichen Rechte sozusagen zu ihrer materiel
il len Verwirklichung zu treiben . Der Wi-
tionsfolter, durch Vernichtung der Persönlichkeit, durch Austilgung alles dessen, was sie in ihrem Zusammenhang mit ihrem Leben, mit ihren falschen Überzeugungen an den Tag gelegt habt:n - dieses alles wird auch ausgetilgt, und wir leben dann, hervorgerufen durch den Rechtsstaat , in einem zweifellos sich anbahnenden Unrechtsstaat, in einer Aufhebung der liberalen Partien der Verfassung, die ohne weiteres und mit Leichtigkeit in den immer drohenden und noch lange nicht abgegoltenen möglichen Faschismus überleiten kann.
Hrsg. v. AStA Tübingen, Aug. 1977
Principiis obsta - an den Anfängen halte fest, ist eine alte, auch juristisch durchaus vertretbare Formel, und diese Anfänge sind bereits über die Anfänge ziemlich hinausgekommen, und ein Jubel, daß wir darüber durch Unrecht hinausgekommen sind, dürfte kaum einen Platz haben, sondern ein Gefühl von Scham und Schande, daß die Unterdrücker der Unterdrückten, der juristisch mit Recht Unterdrückten, aber
derstand entstand, weil dieser Staat, mit den Rechten Schindluder trieb und sie nicht denen zubilligte, denen sie zustanden.
GUNDJ: Ich sehe die Entstehungsgeschichte der Neuen Linken aus dem Versuch heraus, der Wirklichkeit das Ideal bürgerlicher Freiheit gegenüber zu stellen . Die K-Gruppen haben doch nur mit ihrem Papier-Ausstof~ eine Rolle gespielt . Und das Russell-Tribunal war, denke ich, nur ein Versuch neben vielen anderen, Freiheit und Menschlichkeit gegen kapitalistische Verhältnisse einzuklagen.
ALi: Das Russell-Tribunal war 1978 schließlich der Ausdruck dessen , was die Linke nach dem Deutschen Herbst noch machen konnte. •
auch personlos Gemachten, zu einem Gehorsamsvieh Degradierten , daß dieses nun über alle Maßen hinaus sich auswächst und man von seinen Anfängen, den Principien, so weit weg ist, daß man nicht mehr weiß, wo man eingreifen kann . Rechtzeitig ist der Augenblick noch, in dem wir leben; warten wir länger zu, sehen wir zu, ohne zu protestieren , dann wird Unaufhebbarkeit eintreten, wie sie schon einmal einge treten ist, die wiederum nur durch Eingriff von äu1~erer Gewalt vernichtet werden kann, wie der Faschismus - allerdings in diesem Fall mit Recht - vernichtet worden ist. Herr Merseburger hat in einer seiner Leistungen des Fernsehens mit Recht gesagt , daß der Staat , und zwar heute mehr denn je. sich genau an seinem schwächsten Glied bewähren muß, damit er nicht durch die Verführungen der Gewalt. die die Gewalt selbst mit sich bringt, ins Unrecht und in den Unrechtsstaat versinkt und darin untergeht. Ich glaube, daß das eine treffliche Formulierung des Zustands ist und auch der Postulate ist, die der gegenwärtige Zustand an uns stellt : daß wir nicht vergessen und nicht vergessen können , \•.:as ein Rechtsstaat bedeutet, \\:as die Wahrheit und die Gerechtigkeit, die Abwertung und Abwehr zugleich von Bosheit und Niedertracht bedeutet, daß man nicht sie selbst und nicht die gleichen Mittel auf der Seite des Rechts-Gläubigen übernehmen kann oder steigern kann.
Also, es ist höchste Zeit - und dieser Abend mit anderen. die hoffentlich gleichzeitig an verschiedenen Universitäten der Bundesrepublik stattfinden, dieser heutige Abend soll ein deutliches Eintrittstor sein dafür , daß man sich von dem Recht nicht Unrecht gefallen läßt und daß nicht stumpfsinnige Übertragungen aus dem Rachegefühl und den Rachegewohnheiten eines bösartigen Spießbllrgers, daß sie nicht die Handlungen eines Staates bedingen, der als demokratischer Staat in die Taufe gehoben worden ·ist, und dabei seinem Namen und seinem Auf trag treu bleiben möchte und treu zu bleiben hat.
WIDERSPRUCH-INTERVIEW MIT ERNST BLOCH
Im Juli 197 5 gab Ernst Bloch anläßlich seines 90. Geburtstags und der Verleihung des Ehrendoktors der Tübinger Studentenzeitung folgendes Interview:
FRAGE: Herr Bloch. Sie werden vom Fachbereich Philosophie der Universität Tübingen zu Ihrem 90. Geburtstag den philosophischen Ehrendoktor erhalten. Wie kommt eine bürgerliche Universität dazu. einen Marxisten auf diese Weise zu ehren?
BLOCH: Es ist eigentlich nicht meine Sache, dazu Stellung zu nehmen.
1
Das wäre eine Gewissensfrage: Wieso können Sie überhaupt den Ehrendoktor annehmen und ähnliches. Der Doktor geht aber nicht vom Staat 'aus, sondern vom Fachbereich. der in einem entscheidenden Teil mit der Reaktion nichts gemein hat und auch ohne Neinstimmen beschloß. Was anderes läge freilich vor, wenn z.B. etwas ins Haus fallen sollte wie das Bundesverdienstkreuz. Das ist nicht annehmbar, wegen der Schandpersonen, die ebenfalls das Bundesverdienstkreuz bekommen haben. Es ist aber eine ganz andere Sache, wo-
)
rüber wir reden müssen, daß junge Wissenschaftler durch das Berufsverbot gehindert werden, das Katheder zu besteigen.
FRAGE: Wozu ich Sie bitte, Herr Bloch, Stellung zu nehmen, ist eine Wertung des politischen Klimas, das zur Zeit herrscht. Hat der Intellektuelle in der heutigen Situation die Möglichkeit, Meinungen zu beeinflußen, welche Macht hat der linke Intellektuelle angesichts des Stammheimer Prozesses?
BLOCH: Die Baader/Meinhof-Sache ist natürlich nicht ganz leicht. Ich finde es gibt glücklichere Themen als dieses. Und wenn man immer das zwar wichtige, aber ebenso armselige Wort sagen muß, daß man kein Anarchist ist und mit dem nicht übereinstimmt, daß im Gegenteil die Baader/Meinhof-Gruppe dem Rechtstrend noch einen äußeren Anlaß gelie-
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fert hat, dann müßte man noch etwas anderes haben, das nicht den Spießern recht gibt. Es ist abscheulich, Bomben in ein Warenhaus zu werfen, unadressiert Attentate zu machen, wobei man die eigenen Genosse hätte mittreffen können. Das wird auch die Situation nicht verändern, also insofern kann man ja schon allein aus praktisch strategischen Gründen kein Anarchist sein.
ANDERE HORIZONTE Die Haftbedingungen bei Baader/Meinhof mögen ja durchaus katastrophal sein. Ich weiß aber nicht, ob sie anders sind, als bei vielen anderen Häftlingen auch. Z.B. das, was in Mannheim passiert ist, davon hat kein Mensch geredet, bis der Skandal bekannt wurde, daß Menschen durch Beamte in ekelerregender Weise umgebracht worden sind, die schon vorher schre~kliche Bedingungen hatten. Man sollte nicht vergessen, daß B/M eine Gefangenen-Aristokratie darstellen, die uns andere, die anonymen Inhaftierten in den Gefängnissen zu leicht vergessen
! lassen. Also, man müßte einen anderen Fall haben, um den Rechtsstaat anzu- · prangern. Dazu wäre das Berufsverbot sehr gut geeignet.
FRAGE: Das ist zweifellos richtig, aber die Schwierigkeit ist ja die, daß B/M von der Reaktion zum Prüfstein für die Verfassungstreue gemacht worden sind, d.h. wenn jemand eintritt - nicht für Baader/ Meinhof, aber für ordentliche Haftbedingungen, für einen fairen Prozeß im Rahmen der bürgerlichen Legalität, so wird er - wie es bei Böll geschehen ist -identifiziert mit Baader/Meinhof, d.h.,
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wer nur die bürgerliche Legalität verteidigt, wird mit denen identifiziert, obwohl er mit ihren Aktionen überhaupt nichts gemein hat. Und deswegen scheint B/M so etwas wie der moralische und politische Gradmesser für die gegenwärtige Situation in der BRD zu sein.
BLOCH: Sachlich stimme ich Ihnen völlig bei, trotzdem ist es taktisch genau umgekehrt. Man hilft den Anarchisten nicht und hilft uns nicht, wenn man das, was sie sagten, so stark pointiert. Es gibt andere Schrecken im Spätkapitalismus: Wir haben die dauernde Kriegsgefahr, wir haben wieder deutlich den Urwiderspruch iß:i Kapitalismus, die ökonomische Krise, die hervortritt und arbeitslos und brotlos macht. Das sind Sachen, die ~ zum Kapitalismus gehören und die direkt wohl jeder empfindet, und wo selbstverständlich alles auf unserer Seite ist.
FRAGE: Die Frage ist eben nur, ob die Linke im Augenblick in der BRD nicht so schwach ist, daß ihr Stellungsnahmen zum Thema B/M buchstäblich aufgezwungen werden, die Linke also nur noch reagieren, nicht mehr agieren kann.
BLOCH: Als ob es sonst nichts gäbe. Redenwir nicht von der Linken, sondern vom Unterträglichen unseres Zustandes, aer eine inl(e hervorrufen müßte, ie diesen aufhebt. Reden wir von der Ölkrise, wie da geschoben worden ist, und die die Ausrede ist für ungeheure Preissteigerungen der Konzerne . Reden wir davon, daß der Kapitalismus selber die Krise befördert. Diese Themen sind doch leicht verständlich und verwischen die Situation nicht, im Gegenteil.
FRAGE: Sie haben eben das Stichwort
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gegeben, daß die Zustände in der BRD so sind, daß es eigentlich eine Linke geben müsse. Nun, wir haben eine Linke, aber die ist schwach und zersplittert. Gibt es spezifische Ursachen, daß hier die Linke so schwach ist, während das auf unsere Nachbarländer, etwa Frankreich, keineswegs zu trifft?
BLOCH: Darf ich da Marx zitieren aus der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung? Wir Deutsche haben die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung. Das ist die deutsche Tradition: zwischen deutscher Theorie und deutscher Praxis klafft ein Riß. Lenin hat allerdings geglaubt, daß der Schlußpunkt der Revolution - und was für einer - mit grossem Krach in Deutschland vollzogen würde. Bei ihm war Respekt vor Deutschland da, wegen der Großen Theorie. Aber die Deutschen haben kein Talent zur Praxis. Wo Praxis in anderen Ländern schon vorhanden war, 1848 oder 1918, da machten wir mit, aber wo ist denn eine Revolution in Deutschland gelungen? Was ist denn aus 1918 in Deutschland geworden? Was ist mit Liebknecht und Rosa Luxemburg passjert? Daß 1918 in Frankreich, England oder Amerika die Revolution nicht ausgebrochen ist, hängt damit zusammen, daß diese Staaten Sieger waren. Also, man darf nicht Deutschland als Ausgangspunkt der Revolution sehen - schön wär's, aber damit rec nen . ann man in einem Fall-. Die Nazis haben die Linke im Nu überrumpelt, und sind so rasch eingebrochen ins Proletariat, als wäre es Sozialismus gewesen, was die Nazis zu bieten hatten.
Jetzt sieht es mit unserer Linken auch nicht viel besser aus. Bismarck brauchte heute gar kein Sozialistengesetz, sondern die Roten haben sich durch ihre Streitigkeiten und Zersplitterung selbst das Gesetz gegeben. Aber aufges<;hoben ist nicht aufgehoben. Die Theorie des Marxismus haben die Deutschen gegeben, und das ist eine ewige Ehre. Die Praxis werden die anderen machen, und dann machen die deutschen Proleten mit, aber die Führer in der Verwirklichung der Revolution sind sie offenbar nicht. Ich glaube, daß der Satz vom jungen Marx noch eine große Zukunft hat: "Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungs-
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tag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns." Diesen Satz hat man nach 1917 verlacht als eine falsche Prophezeihung. Er ist auf jeden Fall etwas pathetisch, aber wenn man das "Schmettern des gallischen Hahns" abstreicht, dann ist etwas dran. Allein konnten die Deutschen eben kei~ volution zum Sieg führen, der Ausgang des Bauernkriegs ist ein Symptom dafür. Thomas Münzer wollte die Landsknechte haben. Geld hatten die Bauern keines, das hatten aber die Fürsten und Herren. Also schlug Münzer vor, daß man die Landsknechte mit der Plünderung der fürstlichen Schlösser bezahlen sollte. Mit den Landsknechten hätten die Bauern siegen können. Münzers Vorschlag wurde fast einstimmig abgelehnt, weil der christliche Heerhaufen nichts mit den Landsknechten zu tun haben wollte. Und das, obwohl Friedrich, der sogenannte Weise, in einem Brief geschrieben hatte: wir Fürsten sind jetzt verloren. So sicher war den Fürsten ihr eigener Untergang, als einige Bauern anfingen zu schießen. Die Schlacht bei Frankenhausen ging ja dann auf schreckliche
Weise für die Bauern verloren . Das gab es bei jeder Revolution, daß sie itiehtäTlein eine Revolte der Mühseligen und Beladenen war, sondern auch einer der Intelligenz. War Lenin denn kein Inteflektueller:r-
FRAGE: Nur, hat unsere Studentenbewegung nicht daran gekrankt, daß sie rein auf die Universität beschränkt blieb, während die französischen oder die italienischen Studenten eine KP hinter sich haben, und auch Teile der Arbeiterschaft?
BLOCH: Na, die KP in Frankreich während des Pariser Mai kann sich sehen lassen, sie hat auf Weisung Moskaus gehandelt, d.h .: nicht gehandelt. Die Studentenbewegung in Paris wäre anders ausgegangen, ohne daß die Studenten einen Schuß hätten abzufeuern brauchen, hätte sie die KP entsprechend unterstützt. In der BRD ist die Linke isoliert und zersplittert, weil sie sich untereinander über eine einheitliche politische Konzeption nicht einigen kann.
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Ich meine, da gehören noch andere Horizonte dazu, und anderes, als ewig an sich gegenseitig herumzumäkeln.
FRAGE: Ein viel diskutiertes Thema ist die Frage der Gewalt. Die Frage ist: Gehört zur Vorstellung des Revolutionären der Begriff Gewalt notwendig dazu?
BLOCH: Ob Gewalt notwendig hinzugehört, das kommt auf die Verhältnisse an. gegen die sich die subversive Gewalt richtet oder zu richten hat. Wenn eine sehr große Reife der Bedingungen da ist zu einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse. so daß sich sogar eine Mehrheit bildet, die der Veränderung zustimmt, dann, in diesem überwiegend theoretischen Fall leider. ist die Gewalt in einem strengen Sinn nicht notwendig. Aber, wie gesagt. diese Verhältnisse sind selten eingetreten und Revolutionen las- ~ sen sich nicht durch eine Parlamentsmehrhei t beschließen. Und lassen sich in den seltensten Fällen ersetzen. Nun stutze ich überhaupt bei dem Wort: Gewalt. indem sie ausschließlich rebellischen Bewegungen zugeschrieben·wird. Die rebellischen Bewegungen haben Gewalt gebraucht, weil sie gezwungen waren Gewalt zu gebrauchen. Und zwar durch jene Oberen, die die eigentliche Gewalt nicht als einen ausbrechenden und dynamisch sichtbaren Zustand besaßen, sondern eine statische Gewalt ausübten, die zu schlafen schien und so auch sich geben konnte, als wäre sie gar nicht vor-
handen. Im Augenblick aber, in dem eine Veränderung hervorgerufen wurde, verwandelt sich die statische Gewalt in ihr echtes Gesicht, nämlich ebenfalls in eine dynamische; also: Unterdrückung, Pistolenschüsse oder wenn es eine Revolution niederzuschlagen gilt, weißer Terror~ Neben dem roten der weiße Terror,
Ernst Bloch auf Korcula 1968
der sich auch sehen lassen kann; also die Kategorie der Gewalt gilt auch für beide Seiten durchaus. Wenn es eine Verabscheuung der Gewalt, ein Aufrufen der Bergpredigt hier gegen rebellische Linke gibt, ist es Heuchelei. Eine ganze Zeit eben braucht die Obrigkeit Gewalt und erklärt, sie habe ihr Schwert von Gott. Diese Gewalt ist zwar lange Zeit statisch, das Schwert bleibt noch in der Scheide. Aber es ist doch ein Schwert und zu jeder Zeit bereit, aus der Scheide herausgenommen zu werden. Andererseits freilich, glaube ich, gibt es auch ein Gewaltrecht des Guten. Also: der kategorische Imperativ sozusagen mit dem Revolver in der Hand. Das steht z.T. wörtlich in meinem Buch "Thomas Münzer", im Kapitel "Gewaltrecht des Guten". Im bürgerlichen Gebrauch des Wortes "Gewalt" steckt viel Scheinheiligkeit. Der Marxist muß aber untersuchen, wofür die Gewalt gebraucht wird~· Die link~~ Gewalt . wird J!!!:.~i.~~f-~E!ganLde~Q~~. sc~-~~!~g~!?B~~_hl_unsI~L.~ufhe bl!!!K .~~~üns~li~_ep_~~g_~de~~Eg.~.i: .. ~!~~~) ge.~.!liE~~!J::@!g.!~!: Die staatliche bürgerliche Gewalt wird zur Wahrung eines längst veralteten Zustands gebraucht. Für spätere Zeiten wird es wahrscheinlich unbegr,eiflich sein, daß es künstlich und sinnlos zwei Arten von Menschen gibt: Herr und Knecht, wobei es ganz gleich ist, ob es Leibeigene oder Feudalherr, oder ob es Monopolkapitalisten
sind und hinausgeworfene Fabrikarbeiter - es gibt viele Beispiele, soviel Sie wollen, das Grundverhältnis Herr und Knecht ist darin geblieben. Ob jemand Herr oder Knecht ist, ist ein reiner Zufall der Geburt. Dieser unerträgliche, unverständliche Zustand, soll aufgehoben werden, und dazu hat die Geschichte ein paar Schritte gemacht, indem die schlimmste Herrenwillkür gefallen ist. Bauern werden heute nicht mehr aufgehängt und vorher gefoltert, weil sie ein paar Hölzer gestohlen haben, um sich eine Suppe kochen zu können. Es gab bis zur französischen Revolution eine völlige Unangemessenheit von Strafe und Vergehen. Aber die ungeheure Heuchelei bleibt auch in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen. Das ist ausgedrückt in einem schönen Satz von Anatole France: "O die majestiätische Gleichheit des Gesetzes, das den Armen wie den Reichen gleichmäßig verbietet, Holz zu stehlen und unter Brücken zu schlafen."
FRAGE: Es scheint die gegenwärtige innenpolitische Situation der BRD gerade auch dadurch gekennzeichnet, daß versucht wird, bestimmte Gesinnungen und Neigungsäußerungen zu unterdrücken. Die Berufs':erbotspr~is.„basiert wesentlich auf Gesinnungsschnüffelei:
BLOCH: Ja, das scheint nicht nur so, das ist so. Nun kann ja auch eine rein theoretische Propaganda jederzeit in eine praktische umschlagen. Das Essen ist der Beweis des Puddings sagt Engels. Wenn wir bloß über Formeln aus der höheren Mathematik, aus der Quantentheorie oder aus der allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie sprächen, würde niemand zur Unterdrückung dessen etwas unternehmen. Wir Marxisten aber können ja nicht plötzlich reine Kontern-
plation treiben. Wir lehren eben den inneren Widerspruch der Gesellschaft, die Krise des Kapitalismus, mit einem anderen Akzent und mit einem anderen Ziel, alswenI1. wir. an 'cüe ··Tafel schreiben: ~;1/2gTDas ist.dieF onÜel cieSFäIT: gesetzes, das können wir ruhig lehren. Aber schon den Widerspruch im Kapitalismus könne wir nicht lehren. weil keiner von uns bei dem theoretischen Widerspruch allein bleiben kann.
FRAGE: Glauben Sie, daß die Sozialdemokratie heute noch willens und in der Lage ist, den Rechtsdrall in der BRD aufzuhalten?
BLOCH: Ja, der linke Flügel, die Jusos, der einwandfrei ist aber schwach. Von der Gesamtpartei kann ich bis jetzt freilich leider nur sagen, daß sie die Berufsverbote entscheidend initiiert und durchgeführt hat. Daran sind die Kommunisten zum Teil sogar selbst schuld. Sie machen es der Sozialdemokratie leicht, damals und heute: Ist denn die Sowjetunion mehr als 50 Jahre nach der sozialistischen Revolution immer noch so schwach, innerlich so wenig gefestigt, daß sie oppositionelle Intellektuelle in die Emigration treiben muß, daß sie die moderne Kunst unterdrücken, abstrakte Bilder verbrennen muß? Hat die Sowjetunion so wenig Vertrauen in die Errungenschaften des Sozialismus, daß sie sich dermaßen abriegeln muß? Das gilt auch für die DDR mit der Sowjetunion im Hintergrund. Ist es denn für sie wirklich notwendig, so vorzugehen, daß sie dafür eine ungeheuer schlechte propagandistische Wirkung im Westen in Kauf nimmt? Wozu denn diese Angst? •
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Nachruf
Ernst Bloch. Neunzigjährig stand er mit geballter Faust vor uns und forderte das politische Asyl für chilenische Flüchtlinge. Seine Worte drückten Alltag aus, einen Alltag von Existenzproblemen, Bedürfnissen, gesellschaftlicher Realität und Hoffnung, diese im gemeinsamen Handeln und gemeinsamer Anstrengung wenigstens teilweise zu lösen. Das war er, wie er sich im feierlichen Rahmen universitärer Festlichkeit gab, als er dafür Sorge trug, daß diese, seine Ehrendoktorwürde, vor allen, die dabeisein wollten, im größten Saal dieser Universität, zum Akt einer politischen Zukunft wurde.
Wir, die Studenten, hatten in ihm den Mitstreiter, aber auch das Vorbild, den mitleidenden Genossen, aber auch den Zeitgenossen, der Rat wußte, aber auch Erfahrung gesammelt hatte, der gegen Unrecht und Unterdrückung unablässig protestierte.
Er war es, der in seinem Werk der Geschichte, aber vor allem den kleinen Ereignissen die Differenziertheit abverlangte, den Kern hervorhob, die Dinge beim Namen nannte, um ihrer Widersprüchlichkeit Ausdruck zu verleihen, um die voranschreitenden Tendenzen herauszuarbeiten, um die Hoffnung nach Veränderung zu nähren. Er ließ sich nicht auf Lüge, Feigheit und Verflachung ein, was Unrecht war blieb Unrecht, wo Friede sein sollte, wurde der Widerstand benannt, wo Kriege geführt wurden, wurde die Rebellion geehrt.
Ernst Bloch wird in uns weiterleben. um ihn zu trauern ist<las-·ein:e:···äiJe·r:·sicK' über ihn freuen, seiner Produktivität und seinem Erbe zu danken, das wichtigere Moment. Unsere Trauer gilt unserer Scli~äche
1 der-AufrlChtig}(eit so o-ftäÜs
dem Weg zu gehen, feige zu sein anstelle des Muts, den er von uns forderte, betrübt zu sein, wenn andere von uns es aufgeben, an eine bessere Zukunft zu
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Am 9. August 1977 wurde Ernst Bloch begraben. Nach den Trauerreden von Walter Jens, Siegfried Unseld, Adolf Theis, Helmut Fahrenbach sprach für den AStA Tübingen die Referentin für die Verfaßte Studentenschaft, Gundi Reck. Nach ihr ergriffen Oskar Negt und Rudi Dutschke das Wort. Die AStA-Rede auf Ernst Bloch hatte folgenden Wortlaut:
glauben. Und unsere Trauer muß besonders denjenigen gelten, die versehen waren mit einem Stück Hoffnung, mit einem Akt Aufrichtigkeit, als sie zu Opfern wurden, als sie von unterdrückten Menschen dieses Systems zu Toten eines Gewaltapparats wurden, der seine Funktion in Unterdrückung und Tötung hat.
Wir trauern um Benno Ohnesorg, bei dessen Tod man unseren AStA bestrafte, weil er seiner Witwe Beileid aussprach. Wir trauern um die unzähligen kleinen
Karola und Jan Bloch, Miriam und June
Leute, die in Kriegen verheizt, durch Polizeikugeln liquidiert, durch die industrielle Maschinerie verstümmelt, durch die Meinungsmanipulation bewußtlos gehalten, durch das System der Profitmaximierung und die Herrschaft von Wenigen vergewaltigt v.:erden. Wir trauern um Elisabeth Käsemann, die sich aufgerichtet hatte und deren Ermordung zu gunsten von Fußball und Staatsraison im Lügengewirr und der schamlosen Passivität der Herrschenden unterging.
Ernst Bloch war ein Mann, der uns ein wahrer, das heißt wirklicher Genosse war. Er trauerte mit uns um Holger Meins und war doch so redlich, nicht in blinder Parteilichkeit einer Politik des Unmöglichen nachzuhängen, ebenso wie
er nicht bereit war, eine Art Sozialismus zu akzeptieren, die sich im Kern revolutionären Denkens, die Permanenz kollektiver Selbstverwirklichung, dem Ziel Demokratie, Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit und Freundlichkeit zunehmend verschloss. Er kam in diesen Teil Deutschlands nicht deswegen, wie es die Apologeten der Herrschenden heute ummünzen wollen, weil er aktiv für diesen Staat eintreten wollte, sondern deshalb, weil er ein Getriebener der Mächtigen war, wie es seine gesamte Geschichte beweist.
Wir freuen uns, daß wir sein Vermächtnis erhalten können. Wir freuen uns um so mehr, als wir uns nicht der prestigeträchtigen Heuchelei anschliessen müssen, die zwar die Größe und Bedeutung seiner Tätigkeit zu rühmen vorgibt. gleichz.eitig aber versucht, sich vom politischen Gehalt derselben zu distanzieren.
Wir wissen, daß seine Position nicht nur Theorie bliebt. sondern haben erfahren dürfen, daß er den Kampf gegen die Reaktion immer unterstützt hat. Diese Unterstützung war und ist für uns umso wichtiger, als gerade in dieser Zeit sich
Vertreterinnen der Studentschaft legen einen roten Blumen-Stern am Sarge Blochs nieder
Verhältnisse durchsetzen, getragen von einem Staat von Bürgern, die ihre eigenen demokratischen Normen und Ansprüche zweckdienlichst vergessen.
Ernst Bloch hat immer betont, daß der Kapitalismus als Grundübel unerträglicha Zustände schafft, die nur durch den praktischen Kampf für eine freie Gesellschaft umgestürzt werden können. Wir werden es uns nicht nehmen lassen, sein Erbe an dieser Universität , die gerade wieder einmal von den Herrschenden weitgehender entrechtet und einer effektiveren Kapitalverwertung zugeführt .werden soll. kämpferisch aufzunehmen und weiter zu entfalten. Gerade in einer Situation, in der es sol-che Professoren immer weniger gibt, bei denen Aufrichtigkeit, Wissen , politisches Denken und Handeln vereint sind wie in der Person Ernst Bloch. Er war einer der letzten Marxisten, die noch lehren durften. Befremdend ist nun, wenn wir sehen, wie diejenigen, die fast verhindert hätten, daß ihm zu seinem neunzigsten Geburtstag die Ehrendoktorwürde zuerkannt wurde, sich nun anschicken sein Erbe zu verwalten.
Ernst Bloch lebt weiter, nicht in den Bilanzen der Bewußtseinsindustrie, nicht in der Heuchelei der Herrschenden und Manipulateure , nicht in privater sondern in revolutionärer Hoffnung. Diese Universität trägt bereits von un für uns seinen Namen. Seine Inhalte werden wir verstärkt durchsetzen. Wir werden einen Anfang machen, wenn wir anlässlich der Feierlichkeiten der Bourgeoisie zur fünfhundertjährigen Unterdrückung von Geist, freier Meinung, radikalen Veränderungsmöglichkeiten und praktischer Hoffnung ·auf eine neue Gesellschaftsordnung eine Ernst-Bloch-GedächtnisVeranstaltungsreihe realisieren werden, die unsere Auseinandersetzung mit Kapital und Staat durch sein Wissen vorantreibt.
Schon heute abend wird der AStA ab 20.30 Ühr vom Holzmarkt aus einen Fackelzug zum Gedenken an unseren Lehrer und Genossen organisieren.
Wir tun dies auch, um Ernst Bloch in Schutz zu nehmen, gegen jene Lobredner, die ihn zu Tode feiern wollen. Nicht nur ihn, sondern auch seine Philosophie. Denn sie haben Angst, daß das Noch-. Nicht zu; Praxis werden könnte, daß die Zukunft unsere Heimat wird.
1 Wie nah s~nd uns manche, d~e tot sind, wie fern smd uns manche, die leben.
DIE AUSRUFUNG DER ERNST· BLOCH·
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UNIVERSITAT Am Abend nach der Beerdigung Blochs zogen dreitausend Teilnehmer eines Fackelzuges vor das Hauptgebäude der Universität, um per Akklamation der Umbenennung der Uni zur "Ernst-Bloch-Universität" zuzustimmen. Wenige Tage zuvor hatten Unbekannte bereits die Inschrift am Hauptportal heimlicherweise angebracht. Einer, der dabei war, lüftet den Schleier dieses nächtlichen Kunstaktes: Jcr · Da staunten die e e len nicht schlecht, als am Morgen des 6 . August 1977 über dem Hauptportal der Neuen Aula, dem neoklassizistischen Repräsentationsbau der Tübinger Universität, in großen schwarzen Lettern der Schriftzug: ERNST-BLOCH-UNIVERSITÄT prangte. Hatte diese altehrwürdige Herberge der sieben und noch mehr Künste doch die letzten 500 Jahre nach ihrem Gründer Eberhard-Karls-Universität geheißen . Da Ernst Bloch erst zwei Tage vorher gestorben war, konnte es sich, in der Kürze der Zeit, wohl kaum um einen offiziellen Widmungsakt handeln. Diesen · messerscharfen Schluß bestätigte uns auch das "Schwäbische Tagblatt", das kurz darauf zu berichten wußte, daß der Dekan der philosophischen Fakultät (der Chefredakteur spricht hier pikanterweise vom Dekan der philosophischen Fachschaft), Freiherr Bruno v. Freytag gen. Löringhoff, tobend und fluchend ausspucke vor den Schrnierern, die die Inschrift angebracht hätten, was die verhängnisvolle Folge von Bloch "und seiner ganzen Brut" sei. · Die "Blochsche Brut" war es also~ die in einem nächtlichen Handstreich die Universität nach ihrem Lehrmeister umbenannt hatte . Einer der damaligen AStA-Vertreter, der dabeigewesen ist, erinnert sich mit sichtlichem Vergnügen an die ganze .Geschichte: "Nachdem der alte Bloch gestorben war, haben wir uns überlegt, was man als studentisch-linke Antwort auf die offiziellen Trauerfeierlichkeiten machen könnte . Ein sichtbares Zeichen, daß wir seine politische Botschaft angenommen hatten, wollten wir verbinden mit einer Kritik am Bestehenden. Nun hat uns der Name Eberhard-Karls-Uni-
versität sowieso nicht gepaßt, da er außer für einen blutigen Antisemiten auch für den Repräsentanten eines Feudalstaates und damit ebenfalls für einen feudalen Lehrbetrieb stand. Da saßen wir also, ungefähr zehn Mann hoch, in den AStA-Räumen im Clubhaus, das genau gegenüber der Neuen Aula liegt, schauten aus dem Fenster und diese eindrucksvolle Fassade .-an, dachten an "500 Jahre sind genug", und einer meinte, daß das bestimmt gut aussehen würde, wenn da auch noch Ernst-Bloch-Universität über dem Eingang stünde·, und so gab eins das andere und alle fanden die Idee spitze. Wir also gleich raus und über die Straße und ham' uns das Portal mal genau angeguckt, wie lang das ist. Dann schnitten wir uns aus Pappe eine Schablone aus, die war mit dem Sternchen hinten und dem Sternchen vorne bestimmt zehn Meter lang. Damit machten wir erstmal einen Probelauf im Clubhaus und sprühten den Schriftzug dort an eine Wand. Das hat prima geklappt und sah eigentlich auch ganz gut aus.
Nun gab es aber noch ein einfaches Problem, nämlich wie kommt man jetzt da hoch? Denn das Interessante ist ja, daß direkt links neben dem Haupteingang das Zimmer der Pedellen ist. Und wegen
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Die Uni am Abend voh Blochs Beerdigung
der Vorbereitungen für das 500-jährige Uni-Jubiläum und der damals stattfindenden Ostasiatischen Kulturwoche, und weil man schon deshalb Aktionen linker Studenten befürchtete, war dieses Pedellenzimmer Tag und Nacht besetzt. Da brannte auch Licht, es war also tatsächlich jemand da. Zusätzlich hatte die Uni-Leitung noch einen Nachtwächter engagiert, der mit einem Hund durch die Anlagen der Universität patroullierte, daß niemand einen Rucksack irgendwo abstellen oder sonst einen Anschlag vorbereiten konnte. Es mußte also alles schnell und lautlos über die Bühne gehen, denn wenn der Pedell auch nur zufällig aus dem Fenster gesehen hätte, hätte er uns ganz sicher bemerkt. Und das war. ja auch der persönliche Witz dabei, daß das sozusagen vor den Augen der Pedellen passiert ist und die das nicht mitgekriegt haben." Hier unterbreche ich den Erzähler, um ihm zu berichten, daß die Pedellen wohl immer noch sauer sein müßten.
Denn Oberpedell Lang wollte, obwohl er sich noch genau an die Sache erinnerte, überhaupt keinen Kommentar dazu abgeben. Er bestritt energisch, daß sie
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em1gen Arger dadurch bekommen hätten. Ja, nicht einmal die nicht unerhebliche Mühe und Sauerei, die die Pedellen bei dem vergeblichen Versuch, die Sprühschrift einige Tage später abzukratzen, auf sich nehmen mußten, wollte er noch wahrhaben. Nach nunmehr acht Jahren sitzt der Stachel noch immer tief! Darob sichtlich erheitert fährt die "Blochsche Brut" fort: "Erst mal mußten wir also da hoch kommen, und das waren immerhin 6 bis 7 Meter. Wir hatten Glück, denn in unmittelbarer Nähe wurde gerade ein anderes Uni-Gebäude renoviert, und da war auch ein Gerüst mit einer riesigen Leiter. Die wurde von zwei Mann hergeschafft, während gleichzeitig zwei andere Schmiere standen. Denn weil kurz zuvor der Bankier Ponto und Generalbundesanwalt Buback ermordet worden waren und außerdem bald ein europäischer Gipfel in Tübingen stattfinden sollte, war gerade hier eine verstärkte Anwesenheit von staatlichen Sicherheitskräften. Einer stellte sich also mit einer Tascher lampe. am Schimpfeck auf und ein zweiter an der Wilhelmstraße vor der Neuen Aula. Wenn die Bullen kommen sollten, mußten sie am Schimpf vorbei, und dann hätten wir noch ein paar Sekunden Zeit gehabt, um zu verschwinden. Wir mußten nun also in aller Hektik die Sache über die Bühne kriegen. Das war nicht ganz ungefährlich, denn wir mußten in schwindelnder Höhe sprühen und immer wieder runter, die Leiter weiterrücken, und wieder hoch mit der Schablone. Schließlich waren wir fertig, es war alles gut gegangen,
auch die Leiter wurde wieder ordentlich zurückgebracht, und alle Beteiligten standen genüßlich vor diesem Werk und freuten sich teuflisch, denn eine so schöne Sprühschrift hatte es schon lange nicht mehr in Tübingen gegeben." Der Eklat geschah am nächsten Morgen, als alle Welt die Schrift sehen konnte. Die Uni-Leitung reagierte zunächst noch recht gelassen in der Annahme, die Buchstaben wäreri nur angeklebt und leicht zu entfernen, ja, sie lobte sogar noch die saubere Arbeit. So stand es auch im "Tübinger Tagblatt", und die AStA-Nachtarbeiter kringelten sich vor Lachen, als sie das gelesen hatten. In der Folge ging es jedoch nicht mehr so witzig zu, denn im zuständigen Ministerium in Stuqgart war wan sehr erzürnt über das kß'~!Wi\~W~'·äxerTubinger Universität ausgerechnet/""nach einem Marxisten zu benennen. Es wurde regelrecht nach den übeltätern gefahndet,. aber man konnte natürlich nie jemandem etwas nachweisen. Der große Erfolg der Aktion aber war, daß anläßlich der Trauerfeierlichkeiten jede Menge Journalisten in Tübingen versammelt waren, und so war die Sprühschrift ERNST-BLOCH-UNIVERSIT Ä T innerhalb von zwei Tagen quer durch sämtliche Feuilletons Europas verteilt. Bei den Begräbnisfeierlichkeiten selbst wurden noch von honorigen Männern ergreifende Reden gehalten, doch kaum war der alte Bloch unter der Erde, da wurde auch schon das Entfernen der Sprühschrift angeordnet. Was die Pedellen nicht abkratzen konnten, übertünchten später die Maler. Doch von Stund' an war der Name Ernst Bloch Universität nicht mehr auszulöschen. Er ziert heute noch alle Publikationen der Studentenschaft, wird sogar von etablierten Chefredakteuren gedruckt und fährt als Autoaufkleber mit
der hochgereckten Faust in der Mitte durch das ganze Land und kündet vom Widerstand derer, die den aufrechten Gang noch nicht verloren haben.
Albrecht Schäfer
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1 MLE AUSZÜGE AUS EINEM GESPRÄCH Wenige Jahre nach dem Tod Ernst Blochs veröffentlichte Karola Bloch ihre Erinnerungen an das gemeinsame Leben mit dem am 4. August 1977 verstorbenen Philosophen. Das im Neske-Verlag erschienene Buch mit dem Titel "Aus meinem Leben" bricht mit dem Jahr 1961, mit der Übersiedlung der Blochs nach Tübingen, abrupt ab. In einem langen Gespräch schilderte Karola Bloch, warum sie ihre Autobiographie nicht bis in die sechziger oder siebziger Jahre hinein fortschrieb, obwohl ihr politisches Engagement eng mit dem SDS und der Neuen Linken verbunden war. Das Stadtmagazin TOTE veröffentlichte im Oktober 1981 autorisierte Auszüge.
FRAGE: Karola, Du hast soeben Deine Erinnerungen fertiggestellt. Warum endest Du mit dem Jahre 1961? KAROLA BLOCH: Ich würde diese Frage mehrfach beantworten. Eine Antwort ist: aus Faulheit, weil ich nicht noch mehr schreiben wollte. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die zweite Antwort lautet: deshalb, weil mir im Vergleich zu meinem früheren Leben, also bis 1961, die Bundesrepublik etwas langweilig vorkommt. Bei den Erinnerungen bis 1961 ist mir der Strom nicht ausgelaufen. Ich konnte erzählen und erzählen. Das war alles, wie mir andere sagten, spannend. Wenn ich irgendwo ein Kapitel vorgelesen habe, wollte jeder die Fortsetzung wissen. Ich hatte schon viele Lesungen und habe noch fünf vor mir.
Aber bei der Bundesrepublik -, wenn ich von der Studentenbewegung absehe, von einigen Strömungen im SDS, von der Bekanntschaft und Freundschaft mit Rudi Dutschke absehe, - wüßte ich nicht, was ich schreiben sollte, was irgendwie in die Phantasie greift und die Menschen interessieren sollte, außer vielleicht noch über die Gründung des Vereins "Hilfe zur Selbsthilfe" für die Betreuung von Strafentlassenen. In der Bundesrepublik lebten wir von Anfang an verhältnismäßig gut. Ernst wurde sehr angesehen, hat Vorträge gehalten. Zuerst hatten wir überhaupt kein Geld. Aber bald füllte sich die Kasse durch Vorträge und Bücher, die veröffentlicht wurden. Wir hatten gleich eine nette Wohnung, in der wir uns wohlgefühlt haben, fanden auch bald einen Kreis von Bekannten und Freunden. Und alles so Positive ist langwefü.g, finde ich jedenfalls. Leid, Schmerzen, Konflikte, das ist vjel interessanter. Ich war, bis ich in die Bundesrepublik kam, immer berufstätig, habe auch politisch gearbeitet. Hier war ich schon engagiert für die Studentenbewegung, war Vorsitzende des Republikanischen Clubs in Tübingen usw.. Ich habe Strafentlassene betreut. Aber das war alles für mich nicht überwältigend genug. Das kann man als einzelne Episoden erwähnen.
Eines der wichtigsten Argumente für die Nichtfortsetzung der Erinnerung ist die Tatsache, daß ich nicht. mehr berufstätig war. Als wir hierile'r"-karnen:'~~habe"'ich' aufgehört, weil ich erstens nicht wußte, welche Chancen sich mir als Architektin in Tübingen öffnen. Zweitens brauchte mich der Ernst hier mehr als vorher, er hatte keine Sekretärin. Ich mußte für
ihn die ganze Post erledigen und alles, was die Organisation der Vorträge betraf. Es haben sich sehr viele Leute und Medien gemeldet. Diese Form der Publicity, der Öffentlichkeit, die sich natürlich gebildet hat, weil Bloch als einer, der aus der DDR hierher kam und schon einen Namen als Philosoph hatte, anziehend war. Ich habe meinen Mann auf seinen Reisen begleitet. Wir waren ziemlich viel weg. Und da bin ich in eine so ganz andere Rolle gekommen. Leute, die mich in der DDR oder in Amerika oder sonstwo kannten, haben einen anderen Menschen erlebt, als diejenigen in der Bundesrepublik, weil ich· hier doch mehr oder weniger ein Anhängsel von Ernst Bloch war. Früher war das nicht der Fall gewesen. Ich litt darunter, weil' ich eben meinen Beruf gern habe. Es ist ja auch ein schöpferischer Beruf Auf diese Weise wurde mir eine lebendige Ader aus meinem Leben durchschnitten. Das verhältnismäßig bequeme, jedenfalls nicht sehr aufregende Leben stand im Gegensatz zu den dramatischen letzten Jahren in der DDR ab 1956/57, als Bloch so angegriffen wurde. Auch ich wurde zum schwarzen Schaf und bin nach 25 1 ahren Parteizugehörigkeit aus der Partei ausgeschlossen worden. Das war alles sehr aufregend, schmerzlich, bewegend. In dei Bundesrepublik war ich mit der Linken nur lose verbunden. Aber es war nicht diese Integration mit dem Leben, wie das früher der Fall war ...
FRAGE: Welche Episoden sind es, an die Du dachtest?
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KAROLA BLOCH: Einige schöne Episoden will ich erwähnen, die Begegnung mit dem SOS , die Freundschaft mit Rudi Dutschke.
FRAGE: Du sagtest, Du hättest den SOS als antistalinistisch empfunden. Woran hat sich das festgemacht?
KAROLA. BLOCH: Der SOS war vor allem gegen die Diktatur üb e r das Proletariat. Damals gab es noch den Begriff der Diktatur des Proletariats. Aber diese existierte nicht in der DDR, in Rußland oder in den Ostblockstaaten. Das war doch überall die Diktatur ü b e r das Proletariat. Die SDS'ler in Tübingen waren für die Beteiligung der Arbeiter an Leitung und Planung der Produktion im Betrieb . Dafür waren wir auch. Das hat uns verbunden. Der Gedanke der Räteorganisation war in der Sowjetunion, im Stalinismus undenkbar. Die Verfolgung der freien Meinung, die Strafen und Verhaftungen, wenn jemand etwas sagte, was nicht ganz der Norm entsprach, ... bei allem dachte der SOS doch genauso wie wir. Wir empfanden die Art des existierenden Sozialismus als einen degenerierten Sozialismus. Für uns hatte er eigentlich mit Sozialismus gar nichts mehr zu tun. Nur die Verstaatlichung der Betriebe bedeutet noch nicht Sozialismus. Da hat der SOS eigentlich dieselbe Meinung gehabt wie wir.
FRA GE: Wie hast Du denn Rudi Dutschke kennengelernt?
~1 KAROLA BLOCH: Rudi haben wir in
Bad Boll 1967 kennen gelernt. In Bad Boll fand eine Diskussion.statt, die "Revolution in Deutschland" hieß. Eingela-den waren Bloch, Dutschke, Maihofer, Flechtheim, ... Maihofer war derjenige, der die Laudatio auf Ernst Bloch hielt, als er den Friedenspreis des Deutschen
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Buchhandels erhielt. Damals schien er uns links zu stehen. Er war Jurist. Er hatte Bloch nach Saarbrücken eingeladen zu einem Vortrag über 'Naturrecht und menschliche Würde' . Er hat auch ganz begeistert über dieses Buch geschrieben, so daß wir von Herrn Maihofer eine gute Meinung hatten. Erst auf dieser Tagung in Bad Boll hat er sozusagen sein wahres Gesicht gezeigt, als er sagte, er hielte den Kapitalismus für eine bessere Gesellschaftsordnung als den Sozialismus. Das hat dann unserer Freundschaft ein Ende gesetzt.
Die Be egnung des alten Bloch mit dem jungen Dutschke war bewegend . Aus Tübingen sind viele Leute nach Bad Boll gefahren, die diese Begegnung miterleben wollten. Das Gespräch zwischen Bloch und Dutschke war sehr interessant und freundschaftlich. Für mich war das ein großes Erlebnis. Was bei Dutschke auch erfreuli.Gh war , ist seine nsic t, daß man nicht nur Marx als den VaterdeS revolutionären Gedankens der Befreiung_ des Proletariats nehmen soll . Sondern man sollte auch die Reihe der ander~ fortschrittlichen Denker erwähnen, die ~ucll d~n beteiligt hatten-:-Öazu gehören zum Beispiel die utopischen So-
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zialisten. Da waren sich beide einig , Selbstverständlich waren sie sich auch einig in der Negierung des herrschenden, des real -existierenden Sozialismus. Das war der Anfang der Bekanntschaft, Es hat sich sofort eine Korrespondenz entwickelt. Ich habe viele Briefe. Kurz nachdem sie sich getroffen hatten, wurde das Attentat auf Dutschke verübt. Ein Jahr lang war er unter ärztlicher Kontrolle. Die Ärzte haben ihm gehol fen. Dutschke hat in einem Brief geschrieben: "Sie sind zwar Fachidioten, aber glänzende Fachidioten ." Sie haben sich kolossal viel Mühe gegeben mit Rudi, das muß man sagen. Als Dutschke sich erholt hatte, war er eine Zeit lang in En'gland, wohnte bei Erich Fried. Ich habe mehrere Briefe aus England, London und Cambridge . Das ist eine in teressan te Korrespondenz . Wir haben ihm finanziell geholfen und Rudi schrieb dann immer: "Danke für die Rote Hilfe~" Als e.r schon gesund war und nach Dänemark ging, - dort wohnte er in einer Wohngemeinschaft in Aldersvile in einem schönen Haus- , haben wir ihm geschrieben, daf~ wir unseren Crlaub in Dänemark verbringen wollen . Wir wohnten woanders, aber jeden Tag verbrachten wir in Aldersvile . Und Rudi holte uns mit der ganzen Kinderschar in einem kleinen zerbeulten Auto im Hotel ab. Rudi selbst konnte nicht chauffieren, weil seine Augen nicht nach rechts und links blicken konnten. Bis zu seinem Tod war das so. In Aldersvile saßen wir, wenn das Wetter gut war, in einem großen Kreis im Garten. Rudi hatte viele Gäste. Er war beliebt und geschätzt , man wollte seinen Rat hören. Er hat viele Anrufe bekommen aus London, Amsterdam, von überall, wo sich etwas regte . Unser Zusammensein war immer durch Telefongespräche gestört . Wir saßen an einem großen Tisch und sprachen über alle möglichen Probleme . Für Ernst war ein großer Sessel herausgeholt worden und eine Decke für seine Knie . Es war eine wunderschöne Zeit. Oft fuhren wir ans Meer. Davon habe ich auch ein Foto mit der kleinen Polly. Sie wurde nach der Polly in der Dreigroschenoper so genannt. Sie war vielleicht ein oder zwei Jahre alt . Am Meer sprach man weiter. Es war eine angenehme Stimmung.
( lrene Scherer & Welf Schröter August 1981)
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Die Geschichte der Budapester Schule ist die Geschichte der Unzufriedenheit der Lukacs Schüler Agnes Heller, Mihaly Vajda,Ferenc Feber und György Markus mit dessen Spätwerk der "Ontologie des gesellschaftlichen Seins". Dies war die Grundthese des Vortrags von M. Vajda über G~org Lukacs und die Budapester Schule im Sommer 1984 in Tübingen. Er schilderte darin das damalige Selbstverständnis der Budapester Schule als den Versuch die Lukacs'sche Systematik einer marxistischen Philosophie zu Ende zu Denken. Dieses Projekt einer Ontologie des Marxismus mußte seiner heutigen Ansieh nach notwendig scheitern. Vor dem Hintergrund der politischen Erfahrung von 1956 war die kritische Haltung zur sozialen Wirklichkeit und offiziellen Ideologie das verbindende Element ihrer kollektiven Tätigkeit. Vier Grundfragen bildeteten dabei den Ausgangspunkt des Denkens der Lukacs Schüler: 1. Gibt es im Geschichtsprozeß mehrere Alternativen der Entwicklung? 2. Gibt es ethische Werte in der marxistischen Theorie? 3. Welchen Status hat die Entfremdungstheorie des frühen Marx? 4. Welches Verhältnis besteht zwischen marxistischer Theorie und "bürgerlicher Philo-
sophie"? . In der Beantwortung dieser Fragen war man sich mit Lukacs nur noch in der Frage der Entfremdung als Kategorie zum Verständnis der sozialen Wirklichkeit einig. Der folgende Text setzt mit dem Hauptteil seines Vortrags ein:
Georg Luklics' "Ontologie des gesellschaftlichen Seins" war nichts anderes, als eine indirekte Apologie des realen Sozialismus. Das wußte Lukacs natürlich nicht. Es gehört zur Natur dieser indirekten Apologien, daß derjenige, der sie betreibt, das überhaupt nicht bemerkt. In dem Augenblick als wir das aber erkannt hatten war klar, daß es die Budapester Schule nicht mehr geben konnte. Ich will die offizielle Rehabilitation von Ltik~cs im heutigen Ungarn nicht als Beweis Jäfur· ausnützen, daß seine Theorie der "Ontologie des gesellschaftlichen Seins" diese Funktion hatte. Aber das ist nur charakteristisch, und dies zeigt die Analyse des Grundaufbaus der Ontologie.
Die Ge.schichte der Budapester Schule war nichts Anderes, als der Versuch bestimmte Momente der Praxis, der Subjektivität, das lebendig Menschliche .in diesen Bau hineinzutragen, worin sie je-
doch von vorneherein gar keinen Platz hatten. Damit läßt sich unsere Tätigkeit im Ganzen charakterisieren. Als Lukacs 1968 mit der Ontologie fertig war, formulierten wir eine Kritik, die wir damals noch als grundsätzlich empfanden. Wir haben in dem ganzen Werk nämlich zwei Ontologien gefunden, eine, die eine eindeutig notwendige, yon der menschlichen Tätigkeit vollkommen unabhängige Entwicklung der Geschichte konstatierte, und eine zweite, in der die Funktion der menschlichen Praxis innerhalb der Geschichte betont wurde, wo Geschichte also nicht mehr unabhängig von den individuellen Tätigkeiten geschieht. Wir waren eindeutigpraxisorientiert und wollten daher die zweite Ontologie betonen.
Der Begriff der Praxis kommt zwar auch bei Lukics sehr häufig vor, aber Praxis war für ihn nach dem Muster der menschlichen Arbeit einejede menschliche Tätigkeit als gattungsmäßige Tätig-
Budapester S~hule
Lukacs 1954
keit. Dies ist überhaupt der problematischste Begriff seiner gesamten Konzeption.
Eine jede Tätigkeit ist eine gattungsmäßige, wenn sie von Menschen ausgeübt wird, und in diesem Sinne ist jede Tätigkeit erst einmal Praxis. Die Geschichte muß dann unter den verschiedenen konkreten menschlichen Handlungen diejenigen auswählen, die in der Tat in die Richtung der Gattungsmäßigkeit weisen. Diese Unterscheidung hätten wir noch akzeptieren können, wenn sie mit derjenigen identisch gewesen wäre, die zwischen bewußten Taten und Taten, die nicht mit echtem menschlichem Bewußtsein ausgeführt werden, unterschied. Wir betonten das Moment der Bewußtheit, das hingegen bei Lukics überhapt keine Rolle spielte. Sein beliebtester Spruch von Marx und das Motto seiner Ästhetik war: "Sie tun es, aber sie wissen es nicht." Während Marx diesen Satz im Zusammenhang mit entfremdeten Epo-
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Mihaly Vajda
chen der Menschheitsgeschichte gebraucht hatte, spielte für Lukacs die Bewufüheit in der menschlichen Tätigkeit keine bedeutende Rolle. Der Unterschied zwischen wahren gattungsmäßigen und nur scheinbar gattungsmäßigen Taten zeigt sich nur darin, ob diese Handlun- . gen in die Richtung der Gattungsmäßigkeit "für sich" zeigen oder nicht. Wir hingegen wollten die Bewußtheit der freien Wahl betonen, doch wir erkannten noch nicht, daß diese innerhalb der Konzeption gar keinen Platz hat.
Aber als wir 1975 unsere Kritik an Lukacs' Ontologie publizierten 1, konnten wir die ganze Konzeption noch immer nicht kritisieren, da wir weiterhin
- innerhalb des ganzen Theoriegebäudes geblieben waren. Wir hoben damals folgende fünf Punkte hervor:
1. Uns war klar, daß es so etwas wie eine Dialektik der Natur nicht geben kann. Denn zur Dialektik gehört eben die Bewußtheit, die es in der Natur gerade nicht gibt. 2. Wir waren mit seiner Widerspiegelungstheorie ausgesprochen unzufrieden. 3. Wir konnten seine naturalistische Konzeption der Entwicklung nicht teilen. 4. Es gibt keine geschichtlich-gesellschaftlichen Gesetze unabhängig von den menschlichen Aktivitäten. Das war wieder die Betonung der zweiten Ontologie. 5. Wir haben die Rolle der Werte betont. Diese spielen innerhalb des Lukäcsschen Spätwerk überhaupt keine Rolle, lediglich innerhalb der Kategorie des ökonomischen Werts, auch wenn er die Moral gelegentlich erwähnt.
Diese Subjektivierung der Lukacsschen Gesamtkonstruktion konnte deren Rahmen natürlich noch nicht sprengen, da wir die grundsätzlichen methodischen Probleme die dadurch enstanden, noch nicht übersehen konnten. Wir hatten zwar schon damals eine andere Definition von Philosophie, die im Grunde genommen nicht als Ontologie bezeichnet werden konnte, aber der Grundstein des ganzen Baus, die Gattungsmäßigkeit, der Mensch als Gattungswesen und damit eine Vorstellung von menschlichem Wesen war geblieben. Und genau das ist der Punkt, an dem die ganze Problematik der Ontologie entsteht und an dem sie kritisiert werden muß. Das heißt nicht, daß die Konzeption nicht aufrechtzuerhalten ist, sondern nur, daß der metho-
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dologische Ausgangspunkt und die damit verbundenen politischen Konsequenzen deutlich klargelegt werden müssen.
Gaspä.r Tamas hat in seiner Metakritik 2
unsere·r ·damaligen Kritik an Lukacs, das ganze Unternehmen der "Ontologie des gesellschaftlicher.. Seins" als den Versuch bezeichnet, die eigenen Werte als das Sein zu schildern. Und Lukäcs hat in der Tat seine Werte, seine Wahl ontologisiert und damit zum Sein transformiert.
An dieser Stelle muß man sich nun allerdings fragen, in welchem Sinne Lukics' Ontologie überhaupt eine Ontologie darstellt. Was hat das ganze Unternehmen
Mihtily Vajda mit Rudi Dutschke auf dem Bahro-Kongress 19 78
mit der Theorie des Seins zu tun? Der Titel ist zwar "Ontologie des gesellschaftlichen Seins", abe~ er hat kein einziges Mal die F·rage aufgeworfen, was "Sein" überhaupt bedeuten soll. Was ist das, "das Sein", diese alte Hauptfrage der Ontologie? Das war in keiner Weise in. seinem Werk erwähnt.
Es war für ihn in der Tat keine Frage mehr, was "Sein" eigentlich heißt. Diese Frage war für ihn· schlicht antimarxistisch, weil für ihn von vornherein klar war, daß "Sein" nichts Anderes ist als das "All des Seienden". Er konnte aber in seiner Ontologie nie klar machen, ob Bewußtsein auch zum "All des Seienden" gehört, oder ob es das Sein, d.h. das All des Seienden, nur widerspiegelt. Die Widerspiegelungstheorie, die er nie aufgeben wollte, gehörte organisch zu seinem Theoriegebäude. Eben weil schon dieses Sein von Beginn an bis zu seinem Ende - was es im übrigen beides nicht geben kann -, eine eindeutige, von Gesetzen bestimmte Entwicklung hat, gehört das Bewußtsein dann vielleicht doch nicht zum Sein. Es ist dann etwas Epiphänomenales.
Warum muß der Mensch sich überhaupt in der Welt orientieren, wenn seine Tätigkeit von Gesetzen, die von ihm unabhängig sind bestimmt ist? Das Bewufüsein ist in diesem Sinn ein Attribut des "All des Seienden", aber: es kann nach Lukäcs nicht in der gleichen Weise jedem Einzelnen zugeschrieben werden. Und wenn wir nun zum Gesellschaftlichen übergehen, dann heißt das: Der Mensch gehört auch zum "All des Seienden", aber nur als "stumme Gattung", wie Lukacs es ausgedrückt hat. Um als Gattungswesen "an sich", als das jeder Einzelmensch bestimmt werden kann, sich zu einem Gattungswesen "für sich" zu entwickeln, muß er der Menschhei tsgeschichzu ihrem Ziel verhelfen. "Sein, höchsten Ranges" hat wie die Gattungsmäßigkeit, die als Sich-Verwirklichende in der Geschichte zu finden ist, ihre höchste Gestalt erst am Ende der Geschichte erreicht. Der einzelne Mensch als Gattungswesen "an sich" wird nur dann zum Gattungswesen "für sich", wenn seine Handlungen diese Gattungsmäßigkeit fördern. Aber durch den Umstand, daß die Gattungsmäßigkeit als solche An teil am "Sein höchsten Ranges" hat, sind auch die Menschen in einer bestimmten Weise kategorisiert. Sie befinden sich nicht auf der gleichen Stufe der Gattungsmäßigkeit. Es gibt Gattungswesen niederen und höheren Ranges. Und wenn das schon einmal so ist, dann ist der Inhalt der Gattungsmäßigkeit letztendlich zweitrangig.
Ich glaube man kann sagen, daß die Konsequenz der gesamten Konzeption in der totalen Aufuebung der Individualität besteht. nämlich in der Einheit des Individuums mit der Gattung. Am Ende muß jedes Individuum an der Gattungsmäßigkeit gleichen Anteil haben. mit dem ''Sein höchsten Ranges" identisch sein. Dann gibt es keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen. Wenn diese ''Individualität höchsten Ranges" in der Welt einmal verwirklicht sein wird, gibt es sie nicht mehr. Eine Konzeption in der, zwar unbewußt, die Menschen je nach erreichter Seinsstufe eingeteilt werden müssen, und das ist die Konsequenz der Konzeption der Gattungsmäßigkeit, ist aber für mich in keiner Weise akzeptabel. Ontologien dieser Art gab es schon früher, aber "Sein höchsten Ranges" war dort immer nur Gott zugehörig; dies ist dennoch etwas anderes als Menschen ihrer Seinsstufe nach einzuteilen.
Daß Lubcs dennoch innerhalb des offiziellen Kommunismus ein Ketzer sein konnte. auch das liegt in der Möglichkeit seiner Konzeption. Er hätte immer sagen können. die Entscheidungen der Partei entsprechen nicht der Gattungsmäßigkeit. Auch den Führern der Gesellschaft kann es passieren, um es ironisch z~ sagen. daß sie plötzlich nur gattungsmäßig '"an sich" sind. Eben weil er mit seiner Konzeption immer politisch kritisch sein konnte, war er für uns ein AnziehungspoL und das nicht nur für uns, · sondern für viele in der östlichen, aber auch in der westlichen Welt. Aber die Tatsache. daß er politisch kritisch sein konnte, heif~t noch nicht, daß seine philosophische Konzeption in der Tat kritisch war. Das heißt eher, daß er das Idealbild einer Gesellschaft apqlogetisch verteidigte, um konkrete Erscheinungen dieser Welt kritisieren zu können.
Ich möchte kurz mit einem Zitat die Grundkonzeption Lukacs' am Begriff der Arbeit aufzeigen, der für seine ganze Theorie Ausgangspunkt ist. In der Kategorie Arbeit liegt bei ihm schon die ganze Struktur der menschlichen Praxis, und wie wir aus dem Zitat ersehen werden können, spielt auch hier die Individualität keine Rolle. "Im Arbeitsprozeß", so sagt er, "manifestiert sich die bestimmte Rolle des Gattungswesens in der Weise, daß seine repetitiven Züge", nämlich die des Arbeitsprozesses, "in den Vordergrund treten und das Individuelle nur soweit in Betracht gezogen wird, daß es mit der Aufhebung des Irrtums konsistent ist. Am subjektiven Pol ist ein Trend zu unterscheiden: Das Objektiv-Optimale (mit anderen Worten: das, was auf der Ebene des Gattungswesens ist) ist der rein partikulär-individuellen Methode vorzuziehen. Man könnte dieser Feststellung erwidern, daß das Optimale gewöhnlich als eine indivduelle Errungenschaft entsteht, aber in einer längeren Frist. Was seine Substanz betrifft, setzt es sich deshalb durch, weil es schon ursprünglich auf der Ebene der Gattungsmäßigkeit stand, zur Verallgemeinerung im Stande und keine bloße Partikularität war."
Was steht auf der Ebene des Gattungsmäßigen? Was sich durchsetzen kann. Was kann sich durchsetzen? Was auf der Ebene der Gattungsmäßigkeit steht. Daß diese' Argumentation sich im Kreise bewegt, ist im Augenblick uninteressant. Wir wissen .aus der philosophischen Tradition seit Heidegger, daß die Kreisför-
migkeit der Argumentation nicht unbedingt einen circulus virtuosus bedeutet. Das Wichtigste ist: Die Existenz des Gattungsmäßigen steht über und vor allem Partikularen, dessen Funktion nur darin besteht, die Gattungsmäßigkeit zu verwirklichen.
Es muß betont werden, daß die grundlegende Gedankenstruktur von seinen ersten Schriften an dieselbe war. Er suchte von Anfang an seinen Gott. Denken wir an seine Frühwerke "Die Seele und die Formen" oder "Die Tragödie der Metaphysik". Der große Unterschied liegt darin, und dies ist etwas Verhängnisvolles,
Budapest 1956
daß er am Anfang seinen Gott noch in · der Transzendenz suchte und ihn am Ende in der Immanenz gefunden hat. Es ist ganz und gar nicht uninteressant, nicht neutral, wem das Individuum ausgeliefert ist. Einern persönlichen Gott, ja, dem wären wir alle ausgeliefert. Aber wenn es in der Gesellschaft Institutionen gibt, die unser Sein höheren oder niedereren Ranges bestimmen, ist das etwas ganz anderes. Ich würde, wie erwähnt nicht sagen, daß bei Lukacs die Gattungsmäßigkeit als solche mit bestimmten Institutionen der kommunistischen Partei in den sozialistischen Staaten gleichgesetzt wäre. Aber im Grunde genommen sind es immer diese Institutionen, die, wenn auch in der Praxis nicht immer, aber im Prmzip von vornherein, die Gattungsmäßigkeit verkörpern müssen. Wenn wir von seinem ,in der Tat klassischen marxistischen Frühwerk "Geschichte und Klassenbewußtsein" ausgehen, so gab es bei Lukacs nur einen einzigen außergwöhnlichen Augenblick in der Geschichte seines Denkens, nämlich in dem Aufsatz "Der Bolschewismus als moralisches Problem", worin er für sich einsah, daß es etwas außerordentliches
Budapester Schule
Gefährliches ist, die Werte und deren Wahl mit dem Sein gleichzusetzen. Aber schon wenige Monate später schrieb er den berühmten Aufsatz "Taktik und Ethik", in dem der Gedankengang mit dem im Bolschewismus-Aufsatz absolut identisch ist, bis auf den Pun.kt, daß er mit Hilfe von Hegel Feststellungen und moralische Postulate gleichsetzt, um damit die Unvermeidbarkeit der Entwicklung zu begründen.
Als wir damals den Alternativcharakter der Geschichte, die Werte und die Praxis betonten, bemerkten wir nicht, daß man in eine solche Konzeption, ·in der die Entwicklung der Gattungsmäßigkeit "an sich", zur Gattungsmäßigkeit "für sich" in jedem Augenblick der Geschichte verwirklicht wird, zwar schon Alternativen pressen kann. Aber was sind das für Alternativen, wenn die Geschichte schon von vorne herein die Gattungsmäßigkeit verwirklichen muß, wenn die Gattungsmäßigkeit nicht das Ergebnis der Geschichte ist, sondern von Anfang an feststeht? Selbst wenn wir ein Ergebnis des Geschichtsprozesses wählen - und es gibt mehrere mögliche Ergebnisse der Menschheitsgeschichte eo-- dann können wir das doch nicht als das einzig Gattungsmäßige schildern. Und genauso verhält es sich mit den Werten. Denn wenn es We'rte gibt, die tatsächlich zur menschlichen Praxis absolut notwendig sind, die aber .schon von vorneherein im Hinblick auf ihre Gattungsmäßigkeit bestimmt sind, dann verlieren diese jegliche Funktion und dann hat der Lukics natürlich recht, wenn er sie aus seinem Gebäude einfach ausklammert. Wir haben also die gesamte Konzeption nur verwirrt, indem wir immer: mehr subjektive El~mente hineingepresst haben, bis wir am Ende schließlich einsahen, daß sie innerhalb dieses Systems gar keinen Platz finden konnten. Und in dem Augenblick war die Budapester Schule zerfallen.
Aber eines ist sicher: Die Aufgabe der Schule war letztendlich keine andere als diesen Bau einer marxistischen Ontologie solange zu kritisieren, bis zumindest für uns klargeworden war, daß es so etwas wie eine marxistische Ontologie überhaupt nicht geben kann.
Anmerkungen: 1 vgl. Feher, Heller, Markus, Vajda: "Notes
on Lukäcs' Ontology. In: Agnes Heller (Hg.): "Lukäcs Revalued'', Oxford 1983, s. 125-153
2 Tamas: "Lukäcs' Ontology: a Metacritical Letter", ebd., S. 154-176
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Rainer Kohler
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Zum 1 Oüsten Geburtstag von Georg Lukii.cs zu schreiben, heißt erstmal auswählen. Das Werk des ungarischen Philosophen ist derartig umfangreich und von so großer thematischer Spannweite, daß hier nur auf 'Geschichte und Klassenbewußtsein' sein erstes, in der Tradition des Marxismus stehendes, Werk eingegangen werden kann. Die lebensphilosophischen, unter dem Einfluß von Simmel und Dilthey verfassten Frühschriften können ebenso wenig berücksichtigt werden, wie das wichtige literaturtheoretische Werk und seine letzte Abhandlung "Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins", die, nach seinem Tode unvollständig veröffentlicht, die Bedeutung der Arbeit als Grundkategorie für die Gesellschaft und deren Verhältnis zur Natur her.ausstellt. Nicht eingegangen werden kann auf den kommunistischen Politiker Lukacs, der sich nach seinem Eintritt in die KP Ungarns, seiner Partei in der Unga.pschen Räterepublik und l 956als Volksbildungsminister zur Verfügung stellte und der 1928 mit den "Blum-Thesen" eine politische Programmatik gegen den Faschismus entwarf. Eine Programmatik, die mit ihrer Konzeption von Volksfront und Volksdemokratie sicher erfolgreicher gewesen wäre, als die stalinistische Konzeption der Diffamierung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung als sozialfaschistisch. War Lukacs als Politiker nicht
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sonderlich erfolgreich, wenn man vom späteren recht haben absieht, so hat er als Philosoph eine der wesentlichsten Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts mitbegründet und entscheidend beeinflußt, jene Strömung, die man den 'Westlichen Marxismus' nennen kann. In Fortsetzung der Kritik Lenins und Rosa Luxemb.µrgs am Revisionismus der II. Internationale und insbesondere der Theorie Karl Kautskys, hat der 'Westliche Marxismus' den kritischen Gehalt der Marxschen Dialektik wiederhergestellt. Lukacs hat zu dieser Strömung, der man so unterschiedliche Denker wie Karl Korsch, Antonio Gramsci, Jean Paul Sartre, Henri Lefäbvre oder die 'Frankfurter Schule' zurechnen kann, mit dem von ihm geprägten Begriff der Verdinglichung, seinen Untersuchungen zur Bedeutung der Hegelschen Philosophie für die Marxsche Geschichtsdialektik und seinen literaturund kunsttheoretischen Arbeiten wesentliches beigetragen. Wie wichtig "Geschichte und Klassenbewußtsein" für mehrere Generationen Linker Intellektueller war und immer wieder ist, zeigen einerseits die wütende Polemik von Seiten der orthodoxen Marxismus gegen das Buch, die Lukacs mehrere Male zum taktischen Abschwören der wichtigsten Aussagen zwangen und andererseits die verschiedenen Rezeptionsphasen, zuletzt während der Studentenbewegung, als z.B.
:Hans Jürgen Krahl, der wichtigste Theoretiker des Frankfurter SDS von Lukäcs beeinflußt wurde.
Zwischenbemerkung
Noch nicht 18 Jahre alt. hatte ich meine ersten 'Erlebnisse' mit Georg Lukacs und erste Erfahrungen mit überzeugender Philosophie. Gefühlsmäßig links, in der Schule auf Opposition eingestellt, sah man im Fach Geschichte die ersten Möglichkeiten Kritik an dem zu üben, was einem da vorgesetzt wurde. Am einfältigsten war der Unterricht bei der Behandlung des Marxismus. Der wurde als im 19. Jahrhundert gerechtfertigte Sozialkritik dargestellt, die heute überholt sei, da ja die 'Voraussagen' über die Entwicklung des Kapitalismus, insbesondere die Verelendung des Proletariats nicht eingetroffen seien. "Geschichte und Klassenbewußtsein", ohne Kenntnis über den Autor gekauft, erschien vom Titel her genau das Richtige um der Verdummung was entgegenzusetzen. Wie wohltuend das dämliche Gesichts meines Lehrers angesichts folgendes, vielleicht damals nicht richtig verstandenen, aber treffendes Satzes: "Orthodoxer Marxismus bedeutet also nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx' Forschung, bedeutet nicht einen 'Glauben' an diese oder jene
These. nicht an die Auslegu.ng eines 'heiligen Buches: Orthodoxie in Fragen des . Marxismus bezieht sich vielmehr ausschließlich auf die Methode. Sie ist die wissenschaftliche Überzeugu.ng, daß im di.alektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefu,nden wurde, daß die.se Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann. . . ·: Gerade dieses uneingeschränkten Insistieren auf der dialektischen Methode als der einzig richtigen stellt heute meine Hauptkritik an Lukäcs dar. Nichtsdestotrotz damals paßte das.
Dialektik - Totalität - Verdinglichung
Ziel von "Geschichte und Klassel\bewußtsein" ist eine Kritik am 'Marxismus' der II. Internationale, der insbesondere bei Karl Kautsky Geschiqhte auf eine evolutorische, determiniert ablaufende Folge von Epochen reduziert und aus dem Marxismus eine positivistische Soziologie macht, die sich der Untersuchung der Tatsachen, Sachverhalten und Fakten zu widmen habe. Lukclcs kritisiert dran, daß hier Methoden und Betrachtungsweisen der Naturwissenschaften auf die Gesellschaftswissenschaft übertragen werden. "Die 'reinen' Tatsachen der Naturwissenschaften entstehen nämlich dadurch, daß eine Erscheinung des Lebens wirklich oder gedanklich in eine Umgebung versetzt wird, in der ihre Gesetzmäßigkeiten ohne störendes Dazwischentreten anderer Erscheinungen ergründet werden können. " Diese Art zu denken findet ihre. Grundlage in der Struktur der warenproduzierenden kapitalistischen Gesell_schaft. Dazu weiter unten mehr. Djese methodische Vorgehensweise leugnet bzw. ignoriert den historischen Charakter aller Erscheinungen. Mit dem Verzicht auf geschichtliche Dialektik kommt man in die Situation, Tatsachen nicht mehr historisch, also von Menschen gemacht, ~u sehen, sondern als 'naturgesetzlich' und somit über dem menschlichen Handeln stehend. Der Opportunismus ist die Konsequenz des Verzichts auf das historisch-dialektische Denken. Fatalismus folgt ihm auf dem fuße. Das Verhalten der SPD am Beginn des 1. Weltkrieges illustriert dies deutlich. Der Marxismus darf, wenn er politisch handlungsfähig sein will, wenn subjektivelntentionen und objektive Bedingungen zusammengebracht werden sollen, die 'Tatsachen' nicht isoliert, sondern im Zusammenhang
denken. "Erst in diesem Zusammenhang, der die einzelnen Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens als Momente der geschichtlichen Entwicklung in eine Totalität eingefügt, wird eine Erkenntnis der Tatsachen, als Erkenntis der Wirklichkeit möglich. " Die Wahrheit einer jeden Tatsache liegt in ihrem Bezug auf das Ganze, nur im Bezug auf das Ganze wird deutlich, wie in jeder einzelnen Tatsache das Wahre enthalten.ist. Die Dialektik ist der Kerngehalt des Marxismus. Luk:ics versteht unter Dialektik mehr als nur eine Denk- und Erkenntnismethode. Für ihn ist dialektisches Denken, das den Gegenstand aus seiner Unmittelbarkeit reißt und ihn in eine prozessurale Totalität einbettet, immer mit der gleichzeitigen Teilnahme an seiner Veränderung verbunden. Sozialistische Theorie kann nur innerhalb der revolutionären Bewegung entwickelt und verstanden werden. Dies meint Lukacs auch, wenn er von der Aufhebung der Trennung von Theorie und Praxis spricht. ''Einen Marxisten der Gelehrtenstubenobjektivität kann es ebensowenig geben, wie eine 'naturgesetzlich' garantierte Sicherheit des Sieges der Weltrevolution. Die Einheit von Theorie und Praxis be-
steht nicht nur in der Theorie, sondern auch für die Praxis. 'Wie das Proletari.at als Klasse nur in Kampf und Tat sein Klassenbewußtsein erobern und festhalten, sich auf das Niveau seiner - objektiv gegebenen - geschichtlichen Aufgabe erheben kann; so können Partei und Einzelkämpfer auch nur dann ihre Theorie sich wirklich zu eigen machen, wenn sie diese Einheit in die Praxis hinzutragen imstande sind." In Parteifragen übrigens ist Lukacs zeitlebens Leninist gewesen. In "Geschichte und Klassenb~wußt-
Georg Lukacs
sein" wird eine Begründung für die Notwendigkeit von bolschewistischen Kaderparteien gegeben, die den eher politischpraktischen Begründungen Lenins in "Was tun" zu einem theoretischen Niveau verhilft. Im Gegensatz zum dialektischen steht das bürgerliche Denken, das Lukacs von Gegensatzpaaren Subjekt-Objekt, Theorie-Praxis, Freiheit-Notwendigkeit Sein-Sollen und deren Unvereinbarkeit in prozessualer Totalität gekennzeichnet sieht. Gegenstände bleiben in ihrer Unmittelbarkeit. Das nennt er auch kontemplatives oder verdinglichtes Denken. "Der Unterschied von der 'Metaphysik' wird dann nicht mehr darin gesucht, daß in jeder 'metaphysischen' Betrachtung das Objekt der Gegenstand der Betrachtung unberührt, unverändert verharren muß, daß deshalb die Betrachtllng selbst bloß anschauend bleibt und nicht praktisch wird, während für die di.alektische Methode das Verändern der Wirklichkeit das Zentralproblem ist. " Lukacs Methode alle gesellschaftlichen Phänomene in prozessualer Totalität zu denken, könnte man auch als genetischen Strukturalismus charakterisieren. Sein Begriff von Totalität schließt nicht nur Phänomene und Sachverhalte sondern auch antizipierbare Möglichkeiten der Entwicklung und Utopien mit ein. In diesem Zusammenhang steht auch der spezifische Wahrheitsbegriff des Marxismus. Wahrheit ist nicht eine Wahrheit des Erkennens, sondern eine Wahrheit des Werdens. Lukacs Ausgangspunkt für seinen Begriff der Verdinglichung ist die abstrakte Arbeit, die die ungleichen einzelnen Arbeiten in der Gesellschaft einander angleicht und vergleichbar macht, und die wegen der Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware zur Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise wird. Verdinglichung existiert erst mit dem Warenfetischismus und mit der Verallgemeinerung der Warenzirkulation. Bei Marx erscheint der Begriff der Verdinglichung im III. Band des Kapitals, wo auf den im ersten Kapitel entwickelten Begriff des Warenfetischismus zurückgegriffen wird. An dieser Stelle bezieht er sich auf den Gesamtprozeß und die Trinitarische Formel, die Kapital, Arbeit und Boden zu Quellen des Reichtums, also Ungleiches zu Gleichem m_acht, und die einzige Quelle des Reichtums die Arbeit verdunkelt. Damit verallgemeinert sich das Phänomen der Verdinglichung, das von der Zirkulation ausging, in die Produktion eindrang und die Welt in eine Welt der Beziehun-
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gen zwischen Dingen verwandelt hat. Beziehungen, durch die die Produktionsverhältnisse diejenigen beherrschen, die sie durch ihre Arbeit reproduzieren. Wesentlich für Lukacs ist der historische Charakter der Verdinglichung, die für ihn in untrennbarem Zusammenhang mit der mehrwertproduzierenden Arbeit steht und sich in allen Formen des Kapitals und des rechtlichen, staatlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und philosophischen Oberbaus wiederfindet. Insgesamt wird Verdinglichung in "Geschichte und Klassenbewußtsein" auf drei Ebenen behandlet: Zum einen Verdinglichung als Phänomen, das eine fertige und objektive Welt von Sachen produziert, denen ein theoretisches Subjekt gegenübersteht. Zum anderen als die Antinomien des bürgerlichen Denkens, w9 der auf die Verdinglichung zurückgehende Gegensatz von Subjekt und Objekt als unauflösbar für die bürgerliche Philosophie dargestellt wird. Zum dritten der Standpunkt des Proletariats. Das Proletariat, von Lukacs als identisches Subjekt - Objekt bezeichnet, besitzt als erste Klasse in der Geschichte ein einzigartiges Erkenntnisprivileg. Da es als Klasse schon selber Totalität im oben beschriebenen Sinne ist, ist es in der Lage die DÜalität von Subjekt und Objekt zu überwinden, sich gleichzeitig zum Träger und Gegenstand historischer Veränderung zu machen. Zusammenfassend noch einmal die Grundgedanken in "Geschichte und Klassenbewuß tsein" :
- Die Dialektik wird wieder auf ihre entscheidende Position im Marxismus gebracht. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Philosophie Hegels für den Marxismus herausgestellt. - Die Ablehnung der von Engels im "Anti-Dühring" entwickelten Naturdialektik. Lukäcs betont, daß die 'dialektischen' Gesetze der Natur, nichts mit den von Marx für die Gesellschaft entdeckten zu tun haben. In der Natur werden· sie zu deren unüberwindbaren Eigenschaften. Sie können zwar erkannt und ausgenutzt werden, lassen aber nur eine kontemplative Theorie und Praxis zu. Bezieht sich die Dialektik auf die äußere Natur, ist die Einheit von Subjekt und Objekt nicht möglich. - Die Ablehnung der Wiederspiegelungstheorie folgt aus der Erkenntnis der Totalität der Gesellschaft als Prozess. Die Definition der Erkenntnis als Abbild des Seins bedeutet einen Rückfall in das kontemplative Denken, in den Dualismus
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von Sein und Bewußtsein, von Theorie und Praxis.
Anmerkungen
Lukacs großer Verdienst ist sicher, daß er mit der Wiederherstellung der Position der Dialektik im Marxismus. diesen zu sich selbst zurückführte. Dabei zeigte er auf, daß die Fragen, die sich die Theoretiker der II. Internationale gestellt hatten, falsch gestellt waren, da sie von einem objektiven Geschichtsverlauf ausgingen. Gleichzeitig mythologisierte er das Proletariat, das er zu der Klasse hochstilisierte, die die Harmonie von Subjekt und Objekt herstellen sollte. Dies gelang ihm nur unter Ausschluß der Natur und der B~ziehungen zwischen Natur und Gesellschaft. Entgegen seinen Absichten zeigte er den prophetischen und mythologischen Grundzug des Marxismus auf. Ähnlich wie bei einem Mythos fallen auch hier Erzählung (Theorie) und Handlungsanweisung (Praxis) zusammen. Den Mythos zu verstehen, bedeutet nicht nur seinen Inhalt, sondern auch seine Werte und Handlungsanweisungen sich zu eigen zu machen. Der Mythos kann nur von innen verstanden werden. Ähnlich verhält es sich mit der Lukacsschen Totalität. Lukics' Denken ist strenges Denken. Seine Nähe zum Dogmatismus ist unverkennbar und macht gleichzeitig auch wieder einen Teil seiner Faszination aus. Sicher ist Vieles von "Geschichte und KlasseI?-bewußtsein" heute nicht mehr haltbar. Der Autor selber hat ja in seinen Selbstkritiken einiges revidiert. Unbestreitbar bleibt meiner Meinung nach, daß Lukacs der marxistische Philosoph des 20. Jahrhunderts ist. Ein Plädoyer zur Beschäftigung mit ihm impliziert an vielen Stellen seiner Texte spontanen Widerspruch, bringt aber für das Denken mehr, als die spontane Zustimmung und Heimeligkeit, die das Kaminfeuerdenken Ernst Blochs beim Leser auszulösen pflegt.
Geschichte des
GESCHICHTE DES KOR vom komitee zur verteidigung der arbeiter zum komitee zur sozialen seibstverteidigung in deutscher übersetzung herausgegeben von welf schröter, inka thunecke, irene schcrer und dorothea riekert unter mitarbeit von zahlreichen initiativen und einzelpersonen, tübirigen 1984
die im mai 1983 in paris erschienene französischsprachige originalausga be, die in zusammenarbeit mit der zeitschrift »L 'ALTERNATIVE« entstand, ist die bisher einzige im westen erschienene authentische dokumentation über das KOR, die aus einem kreis der mitglieder des ehemaligen KOR selbst zusammengestellt wurde. Sie wurde von im exil lebenden früheren aktiven des KOR und vertretern der französischen linken gemeinsam herausgegeben mit dem votum, die solidaritätsarbeit für SOLIDARNOSC und die KOR-angeklagten durch information und aufklärung zu unterstützen. aus dem inhalt:
kurzer abriß der geschichte des KOR -- die arbeitsweise und die moral des KOR - fünfunddreißig kurzbiographien - dokumente des KOR 1976-1981 - alltag des KOR - die angeklagten sprechen - unter kriegsrecht mit beiträgen von aleksander smolar, jan josef lipski, anka kowalska, adam michnik, jacek kuron, henryk wujek u.v.a. die broschüre hat 114 großformatige seiten, kostet 10,- dm und ist zu beziehen über: inka thunecke sigwartstr. 11 7400 tübingen bankverbindung: kreissparkasse tübingen, kto.-nr. 123 190
Veranstaltung
Vorbereitungsgruppe Tübingen Sozialistisches Büro Offenbach
3 .TÜBINGER BLOCH-TAGEN «GESELLSCHAFT UND VERNUNFT»
Aufruf
zu den
Wenn wir auf den Bloch-Tagen 1985 nach "Gesellschaft und Vernunft'' fragen, so geschieht dies auf dem Hintergrund der Entwicklungen in den hochindustrialisierten kapitalistischen Gesellschaften der letzten Jahrzehnte. Wurden bei den Bloch-Tagen 1978 und 1981 "Naturbeherrschung" und "Politisches Bewußtsein ohne herrschaftliche Rationalität" zum Thema gemacht, so beschäftigt uns dieses Jahr die Frage nach einer allgemeinen. gesellschaftskritischen Vernunft . In den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften hat sich eine Vielfalt von Politik- und Theorieansätzen herausgebildet, von der Frauenbewegung über die ökologischen Ansätze, bis hin zu den um ihre Rolle kämpfenden Gewerkschaften . Alle diese Bewegungen und Ansätze werden vertreten und formuliert in ganz verschiedenen Lebenszusammenhängen, die ihre Existenz oder auch ihre Auflösung der sich in der jüngeren Geschichte abspielenden Modernisierung der Gesellschaft verdanken. Jede dieser Bewegungen beansprucht ihre eigene gesellschaftliche Vernunft und Utopie, es läßt sich sogar beobachten, wie beispielsweise Ökologie- und Gewerkschaftsbewegung in ihrem Anspruch auf allgemeine Emanzipation in (Interessens-)Konflikt geraten . Auf theoretischer Ebene ergibt sich das
, selbe Problem einer verallgemeinerbaren · gesellschaftskritischen Vernunft .
Es ist nicht mehr möglich, sich umstandslos explizit oder implizit auf eine optimistische Geschichtsphilosophie zu berufen und es ist ebensowenig ausgemacht, daß diese oder jene Gruppe der selbstbewußte Träger des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Die klassisch marxistische Auffassung von der Dialektik fortschreitender Produktivkraftentwicklung und der sie hemmenden · Produktionsverhältnisse kann diese Entwicklung kaum mehr fassen.
8. - 9.NOV.1985 Im Gegenteil, diese Auffassung unterliegt selbst dem Verdacht "instrumenteller Rationalität", wenden sich die gesellschaftlichen Oppositionsbewegungen doch gegen den instrumentellen Charakter des angeblichen "Fortschrittsgaranten Produktivkraftentwicklung". Aber auch in den gegenwärtigen theoretischen Bemühungen um eine Kritik der esellschaftlic en Entwicklun en zeichnet sich eine eindeutige Lösung des Problems ab . Versucht auf der einen Seite
"°Habermas auf eine nur "formale" Weise Kritik im "herrschaftsfreien Diskurs" zu begründen, so finden sich auf der anderen Seite vor allem in Frankreich die sogenannten)("postmodernen" Theoretiker mit dem Verlust einer allgemeinen gesell-schaftskritischen Vernunft ab, ja begrüs·sen ihn im Namen einer "Politik der Minderheiten" (Lyotard).
Vorläufiges Programm:
Freitag, 8. 11.
Wir halten es nun für sinnvoll, auf den 3. Ernst-Bloch Tagen die Fragen nach einer allgemeinen kritischen Vernunft zu stellen, auf der skizzierten theoretischen Ebene, aber auch gerade in praktisch politischer Hinsicht. Läßt sich die Vielfalt der Politikansätze zu einer einheitlichen Perspektive verbinden, und ist das überhaupt sinnvoll? Auch Blochs Denken gibt uns für diese Fragen wichtige Orientierungspunkte. Gerade seine Philosophie wendet sich auch gegen eine linear~ Fortschrittskonzeption der Geschichte. "Ungleichzeitigkeiten", "Differenzierungen im Begriff Fortschritt", die Bedeutung ästhetischer und' gesellschaftlicher Utopien und seine Überlegungen zu einem anderen MenschNatur Verhältnis sind Momente seiner Theorie, die wir für diese politische Dis-
, kussion fruchtbar machen sollten.
ERÖFFNUNGSVERANSTALTUNG mit zwei Hauptreferenten
Samstag, 9 .1 1. Arbeitsgruppen zu folgenden Themen: I AG VERNUNFT
Gibt es heute noch eirre allgemeine emanzipatorische Vernunft? II AG GESELLSCHAFTLICHE GEGENMACHT
Wie ist heute praktisch politisch eine umfassende gesellschaftliche Opposüion noch denkbar?
III AG NATURBEHERRSCHUNG Was leistet die Ökologiebewegung für eine Kritik der instrumentellen __ _ Vernunft/Technik?
IV AG SPRACHE Welche Rolle spielt Sprache für eine gesellschaftliche Vernunft?
V AG UNGLEICHZEITIGKEIT "HEIMAT" Ist "Heimat" eine utopische Perspektive?
VI AG RELIGION Welche Rolle spielen religiöse Bewußtseinsformen in Protestbewegungen?
VII AG BLOCH Einführung in die Blochsche Philosophie
Kontakt: Reinhard,
Tel.: 07071/43573
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Veranstaltung
-------------------------------~o~ 100.G~urtdqronEmdB~~
7. Oktober - 11. Oktober 1985 1 SYMPOSIUM AUS ANLASS VON ERNST BLOCHS 100. GEBURTSTAG
Die Zeitschrift "Spuren" und die "Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur" laden zu einem politischen, philosophischen und ästhetischen Symposion ein, das vom 7. bis 11. Oktober in Hamburg stattfinden wird. In einer Reihe von öffentlichen Vorträgen und Diskussionen soll die heutige Bedeutung zweier Begriffe untersucht werden, die dem Frühwerk Blochs entnommen sind: "Objektive Phantasie" und "Ornament". Wir gehen von der Beobachtung aus, daß der "irrationale" Anteil in den politischen, philosophischen und ästhetischen Diskursen der letzten Jahre deu'tlich zugenommen hat. Begriffe wie "Fortschritt" oder "Vernunft", die den Traditionen der Aufklärung entlehnt sind und die noch. vor kurzem die Diskussion beherrschten, werden heute wieder gründlich in Frage gestellt. Dagegen sehen sich mythisch geladene Bilder, Vorstellungen von einer "nachgeschichtlichen" Situation wie auch apokalyptische Visionen erheblich aufgewertet. Der neuzeitliche Begriff vom Menschen, der auch in die revolutionäre Konzeption der Marxschen Lehre bestimmend eingegangen war, ist durch neue ethnologische, psychoanalytische und philosophische Fragestellungen erschüttert worden; und der Begriff der Geschichte dieses Menschen ist, weit davon entfernt, noch universale Geltung beanspruchen zu können, erneut von Erfahrungen unterlaufen, die sich eher in Metaphern der Wüste Ausdruck verschaffen. Blochs 100. Geburtstag soll dem Symposion Anlaß, nicht eigentlich Thema sein. Nicht so sehr über Bloch ·rp.ag also gesprochen werden als vielmehr im Umfeld einer Frage, die sein Werk in einem großen Entwurf bezeichnet hat. Denn Blochs Metaphern des Ornaments und seine Chiffren objektiver Phantasie bedeuten bereits eine Verschiebung und einen Überschuß, in denen der neuzeitliche Mensch und seine Geschichte überboten werden sollten; und zwar in jeder Schicht dieses Werkes: von der alle Hyb-
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ris verwerfenden Maxime, Erbschaft aus echter Ungleichzeitigkeit anzutreten, über die Konzeption eines "Multiversums" von Kultur bis hin zum Denken von Intensitäten und einer"Wunschzeit", in welchen sich die linear geschichtliche Zeit ebenso bricht wie die Präsenz des "Ich", aus der die traditionelle Metaphysik sprach. Das Symposion soll einem Dialog Raum geben, der an Intensität und Weite gewinnen muß: einem Dialog all derer, die heute jenseits einer Situation weiterdenken wollen, für die sich vor Jahren das Wort von der "Krise des Marxismus" fand; einem Dialog, der sich den "Erniedrigten und Beleidigten" und ihrem Aufbegehren verpflichtet weiß.
Folgende Referenten haben bisher zu folgenden Arbeitsthemen zugesagt.
Eröffnungsvortrag: Burghart Schmidt: Vernunft, Mythos, Utopie. Differenzierungen eines Begriffsverhältnisses /Politik: Oskar Negt: Heimat. Geschichte, Eigensinn, Reaktion / Ernest Mandel: Ubi Lenin, ibi Jerusalem. Geschichte und Revolution / Jan Robert Bloch: Offene oder geschlossene Natur? Naturphilosophie und Politik / Philosophie: Khosrow Nosratian: Der Horizont des Leibes. Phänomenologische Einsätze / Hanna Gekle: Das gekränkte Ich. Noch-Nicht im Unbewußten? / Manfred Geier: Sprache der Utopie - Utopie der Sprache. Zur Zeichentheorie des Abwesenden / Jan Philipp Reemtsma: Blochs Sprache. Zum Duktus der Philosophie / Gerard Rau/et: Subversive Hermeneutik. Über die Entzifferung des Ornaments / Helmut Fahrenbach: Utopie der Präsenz. Bloch und Heidegger / ;fsthetik: Hans-Joachim Lenger: Ornament und Tod. Zur Utopie in der Kunst /
Joseph Beuys hat seine prinzipielle Bereitschaft erklärt, an dem Symposion mitzuwirken. Außerdem hoffen wir auf Zusagen von G. Lygeti und J.-F. Lyotard.
7.-11. Oktober. Objektive Phantasie. Hochschule für bildende Künste Hamburg
Organisation: Marita Pieniak, Telemannstraße 25, 2000 Hamburg 20, Telefon 040 / 49 22 06
und Georg Lukacs veranlaßte auch das Goethe-Institut in Paris zur Veranstaltung eines 4-tägigen Kolloquiums mit dem Titel "Verdinglichung und Utopie". Unterstützt wurde die Veranstaltung von der "Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales" und dem "College de Philosophie". Vom 26.-29. März wurde 6 Stunden täglich in insgesamt über 50 jeweils auf 10 Minuten begrenzten Ref eraten und anschließenden Kurzdiskussionen ein Mammutprogramm durchgezogen, in dem die weitverzweigten und komplexen Themen "Entfremdung und Verdinglichung", "Gegenseitige Einflüsse und Unterschiede", "Marxismus und dialektische Vernunft", "Utopie und Hoffnung", "Ästhetik und Kultur", "Ontologie und Existenzphilosophie" und "Geschichte und Politik" abgehandelt wurden.
Hatte Arno Münster in seinen einleitenden Worten noch die Frage nach der Aktualität der beiden großen Denker aufgeworfen und damit die Relevanz der Veranstaltung gerechtfertigt, so war im weiteren Verlauf bis auf wenige Ausnahmen leider recht wenig davon zu bemerken. Die meisten Vorträge drehten sich um nicht uninteressante. aber eben doch sehr akademische Probleme wie beispielsweise das Verhältnis von Bloch und Lukacs zu Max Weber und ihr Auftreten im damaligen Weber-Kreis oder die Antinomie zwischen Kunst und Leben im Werk des jungen Lukacs. Dies gipfelte gelegentlich in Debatten um einzelne Textstellen, bei denen letztendlich offen blieb, ob es sich um die Präsentation von Gedanken oder der eigenen Persönlichkeit handelte. So kam schließlich auch keinerlei Reaktion auf die· ausdrückliche Warnung Leo
XLöwenthals vor der Preisgabe der beiden primär an der politischen Praxis orientierten Philosophen für die Integration in den bürgerlichen Wissenschafts- und Kulturbetrieb. Denn "Mitmachen wollten wir nie", das gelte nicht nur für die Frankfurter, sondern auch für Bloch und Lukics. Wie fern den Konferenzteilnehmern die konkret-aktuelle Politik gewesen sein muß, drückte sich am deutlichsten iI). der Ignoranz über die Abwesenheit eines angekündigten Referenten aus. Kein Wort wurde darüber verloren, dai~ der ungarische Oppositionelle Gaspär Tamas durch die Verweigerung der Aus-
reisegenehmigung mit Gewalt an der Teilnahme gehindert worden war. Lediglich eine Unterschriftenliste gegen das Ausreiseverbot lief mehr oder weniger versteckt und kommentarlos durch den Konferenzraum.
Immerhin ließen vereinzelte Diskussionen vermuten, daß es manchen Teilnehmern um aktuelle politische Fragen und eine politische Philosophie der Praxis ging. An manchen Diskussionspunkten entbrannten plötzlich heftigere Auseinandersetzungen, die sich jedoch häufig aufgrund des geballten Vortragsprogramms nur als Polemiken entluden. Sie
.spiegelten deutlich die gegenwärtige l(üse der Lipken . Theorie wider, ihre· F as~~slgkelt · .vor. den versteinerten Strukturen der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Ganz offensichtlich fand in den Diskussionen der letzten Jahre ein Paradigmenwechsel statt. Wären vor zehn Jahren noch die Bezüge von Bloch und Lukacs zu Hegel diskutiert worden, so ist heute der Glaube an eine sich in der Geschichte verwirklichende Vernunft längst aufgegeben, und Max Webers Rationalitätsbegriff erscheint zur Charakterisierung der Übermächtigkeit der Strukturen in der modernen Welt
dar. Helmut Fahrenbachs Entgegnung, daß ja wohl "Das Prinzip Hoffnung" als Blochs grundlegendes Werk anzusehen sei, blieb in diesem Zusammenhang alleine stehen. Blochs Versuch einer materialistischen Philosophiekonzeption scheint nicht mehr ernstgenommen zu werden. Wie soll dann aber Utopie konkret sein?
Einen Versuch, nicht in eine reine politische Propagierung von Werten jenseits historisch-gesellschaftlicher Bedingungen zurückiufallen, stellte Constanzo Preves leidenschaftliche Verteidigung der Lukacsschen Ontologie dar. Eben jene Werte könnten nur politische Relevanz erlangen, wenn sie sich ontologisch verankern ließen. Erst damit wäre eine marxistische Geschichtsauffassung und eine adäquate Beurteilung der Modeme wieder möglich, eine ontologische Be-· gründung der Revolution. Die darauf folgende Auseinandersetzung war einerseits von einem versteckten Stalinismusverdacht und der zu Recht befürchteten Gefahr einer unangreifbaren Legitimationswissenschaft dominiert. Dieser richtete sich allerdings mehr gegen die beiden Kollegen Tertulian und Oldrini. Andererseits formulierte Rainer Rochlitz ent-
eher geeignet. Die Verunsicherung und schieden die Habermassche Gegenposi-der Mangel an analytischen Kategorien tion, daß es methodisch schlicht.unmög-zum Verständnis der Wirklichkeit, die lieh sei, eine marxistische Ontologie zu Skepsis und Orientierungslosigkeit in scgreiben. der ge_gew_ärtigen Theo~iendeb~tte drück- '"1/ Ein dritter kontrovers diskutierter ten ~ich m den erheblichen Differenzen 7i\' Punkt waren die Theorien der Postmozwischen den einzelnen Ansätzen und derne. Während die Franzosen Marc Jiden erhofften Auswegen aus dem versteinerten Gehäuse aus. Ein Konzept scheint darin zu bestehen, sich auf idealistische Wertvorstellungen zurückzuziehen und das mit einer Rückbesinnung auf die Frühwerke zu rechtfertigen. Dies gipfelte in der These von Norbert' Bolz, Blochs gesamte Philosophie ließe sich aus seinem Frühwerk "Geist der Utopie" erschließen. Alle darauf folgenden Veröffentlichungen stell- , ten nui' endlose Selbstinterpretationen
nun stmo e .)für die gegenwärtige Epoc e "ä1s"'Cfur~haus angemessen ansahen, wurde sie sowohl' von italienischer als auch von deutscher Seite schlichtweg als verfehlt abgelehnt. Für den Fall, daß diese jedoch zuträfen, so insistierte Norbert Bolz, hätten Bloch und Lukäcs uns nichts mehr zu sagen. So stand der Versuch von Raulet, die Blochsche Hermeneutik zum Verständnis und möglichen Überwindung der
Veranstaltung
Postmoderne zu beerben, nicht mehr zur Debatte. Ob durch die Konzetration auf reines "Spurenlesen" im Gewirr der Zeichen die Gefahr der unbeabsichtigten Aufgabe der utopischen Dimension entsteht, wurde zu einer irrelevanten Fragestellung.
Diese drei Diskussionen stellen die wenigen Momente der gesamten Tagung dar, in denen kurzzeitig versucht wurde, nicht nur über philosophische Fragen im Werk, sondern auch über die politische Aktualität der beiden zu streiten. Ein Streit, der produktiv hätte sein können, wurde peinlichst vermieden, und sei es mit dem Argument, essen gehen zu müssen. Das überladene Repräsentationsprogramm stand hierfür von vornherein im Wege, und keiner der Diskussionsteilnehmer war gewillt oder in der Lage, es in Frage zu stellen, sorgfältigst darauf achtend, sich nicht zu sehr zu entzweien und deshalb selten mit Engagement etwas vertretend. Den Bloch und seine Philosophie in die Glasvitrine stellen, nicht an ihm kratzen, nicht kritisieren, ihn vorsichtig philosophisch betrachten, aber ja nicht auf die Realität anwenden, könnte dies doch an politische Praxis erinnern. Von der Bloch'schen Brut war nichts zu spüren. Diese Enkel werdens nicht besser ausfechten ...
Mit Lukacs hingegen war es nicht so einfach. Zu sehr war seine Philosophie in die konkreten politischen Verhältnisse verstrickt, diskutiert wurde, was übrigbleiben sollte, philosophisch und ästhetisch. Wenige versuchten den Ganzen, viele den Jungen bis "Geschichte und Klassenbewußtsein", manche den Späten der Ontologie zu retten. Ihr Hunderster sollte Anlaß zu kritischer Würdigung sein, doch die zentrale Frage, die beide· beschäftigte, die Aufhebung der Verdinglichung, die Verwirklichung der Utopie war für die meisten Teilnehmer offensichtlich nicht Erbschaft und Aufgabe.
ki/ric
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Veranstaltung
"Marxismus und Philosophie" war der Titel des Fachseminars vom 1. -12.4.1985 am Inter-University-Center in Dubrovnik. Nach dem Verbot der jugoslawischen Zeitschrift "Praxis" 1971 war es den jugoslawischen Philosophen der "Praxis-Gruppe" nicht mehr möglich, die jährliche "Sommerschule" auf der Insel Korschula durchzu: führen, welche die einzigartige Möglichkeit war, eine Disskussion zwischen östlichen, nicht-orthodoxen und westlichen Marxisten zu führen. Die Seminare am Inter-University-Center sollen dafür Ersatz schaffen.
In diesem ersten Teil des Seminars, an den das Lukäcs-Bloch-Symposion anschließen sollte, waren "grundsätzliche Erörterungen des Verhältnisses von Marxismus und Philosophie" das Thema. Was könnte man unter dieser Fragestellung verstehen? Marx stellt in der Kritik der Hegel'schen Rechtsphilosophie die These von der "Aufhebung der Philosophie" auf. Leider hat er diese These unausgeführt belassen. Es stellt sich also heute die Frage, welchen Status die marxistische Theorie im Verhältnis zur traditionellen Philosophie hat? Ist sie "positiveWissenschaft" der Geschichte, die ihre Begründungskriterien ex negativo aus den Bewegungsgesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung schöpft, oder hat sie sich durch Prinzipien oder Normen "philosophisch" auszuweisen? Muß sie sich die Frage nach dem "Menschen" oder gar dem "Sein überhaupt" stellen, begründet sie sich also aus anthropologisch/ ontologischen Fragestellungen und Antworten, die Kritik erst möglich machen?
Das wäre also die zur Diskussion gestellte Grundproblematik des Seminars gewesen. Leider hörte man aber nur wenig zum Thema. Von historeographischen Untersuchungen zur Geschichte des Marxismus bis zur Ästhetik der Postmoderne am Beispiel der Architektur war zwar so einiges Interessante, aber keineswegs am Thema orientierte zu erfahren. Diese
. Wechsel- und Sprunghaftigkeit der Diskussions- und Referatthemen verunmög-
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lichte eine zusammenhängende, an der Grundfrage orientierte Diskussion; das Seminar drohte in akademische Selbstdarstellung und für gesellschaftlichP Pra-
& xis bedeutungsloses Historisieren überzugehen.
Die Frage der marxistischen Theorie als philosophischer Anthropologie wurde zuerst von Heinz Paetzold aus Hamburg erörtert. Er wollte mit Gehlen, Scheler und Agnes Heller eine materiale Anthropologie restituieren, was ihm die Kritik einbrachte, er verallgemeinere individuelle Setzungen zu allgemein gesellschaftlichen, sein Projekt wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Helmut Fahrenbach dagegen versuchte in seinem Vortrag strukturelle Bestimmungen menschlicher Existenz als Praxis mit Hilfe von Brecht's "Philosophie als Verhaltenslehre" aufzuweisen; eine formale Bestimmung menschlicher Existenz, die der materialen gegenübersteht. Eberhard Braun dagegen hielt jeden Versuch, menschliche Wesensbestimmungen vorzunehmen, für gescheitert, weil. sie die
Historizität menschlichen Daseins übersteige. So macht er den Versuch, das Eindringen des Themas "Alltagsleben" in die Philosophie zu beschreiben und die Unhintergehbarkeit von Historizität und Gesellschaftlichkeit von alltäglicher Lebenswelt aufzuweisen. Von Seiten der Theoretiker, die die objektiven Bedingungen menschlicher Praxis in den Vo.rdergrund rücken, hielt Hans Georg Flickinger in seiner Interpretation des Marxschen Kapitals Marx dort für am überzeugendsten, wo er auf den Subjekt- und Entfremdungsbegriff verzichtet und in Anleh11ung an Hegel 's Logik negativ Kategorien entwickelt, die rein aus dem "Sein der Dinge" hervorgehen. Auch Marek Siemek aus Warschau hält die Kritik der politischen Ökonomie für die entwickeltste Form marxistischer Theorie. Er hält die Wirkungen historisch philosophischer Anthropologie von der einen, und Versuche einer Naturontologie von der anderen Seite für eklektizistische Theorieansätze. In Anlehnung an "Geschichte und Klassen bewußtsein" des frühen Lukacs will er. eine "Sozialphilosophie" schaffen, die den Menschen schon immer als gesellschaftliches Wesen faßt. Helmut Reinecke aus Frankfurt forderte eine Neuformulierung der Kritik der politischen Ökonomie unter den Bedingungen der reellen Subsumtion; die stofflichen Eigenschaften der Produktion haben seiner Hauptthese nach die Möglichkeiten der Emanzipation, des sinnlichen Verlangens nach Lust und Glück verhindert. Die provokantesten Thesen des Seminars formulierten jedoch die PraxisTheoretiker aus Zagreb. Gvosdan Flego versuchte den Marxschen Kritikbegriff zu rekonstruieren und kam zu dem Ergebnis. Kritik erschöpfe sich nicht in der Immanenz sondern verweise schon immer auf menschliches Sein als Möglichkeit. Dieses menschliche Sein sei schon immer im Ganzen des "Seins" zu sehen. Anthropologie müßte also schon immer von Ontologie durchdrungen sein. Von dieser Hauptthese ging auch der wohl bekannteste jugoslawische Praxisphilosoph Gajo Petrovic aus. In seiner Kritik der kritischen Theorie vermisste er die Ganzheitlichkeit der kritischen Theorie, sie trage alle Momente in sich, vergesse aber die Philosophie als das "Denken der Revolution'', als d i e Möglichkeit des menschlichen Seins. In seiner folgenden Kritik der "Negativen Dialektik" Adornos bezeichnete er jene als "dogmatische Antidogmatik" und parallelisierte
sogar in recht fragwürdiger Weise die Rolle des Leidens in Adornos Theorie mit Stalins ideologischer Version, die Unterdrückung durch notwendiges Leiden für den Aufbau des "Sozialismus" legitimierte. Im folgenden Symposion zum 100. Geburtstag von Lukacs und Bloch konnte man grob gesprochen zwei Lager von Positionen ausmachen. Einigkeit herrschte darüber, daß die Konzeption des späten Lukäcs, die Ontologie des gesellschaftlichen Seins keine Tragfähigkeit mehr hat. Dies machte der Vortrag von Zarko Puhovski, E. Braun und Gajo Sekulic deutlich. Unterscheiden konnte man das Bloch-Lager, das in verschiedener Weise Blochs Grundlegung einer Onthologie des Noch-Nicht Seins aufnahm und seinen Utopie begriff positiv rezipierte, auf der anderen Seite die Lukacs- ~
Fraktion, die vor allem am Lukics von "Geschichte und Klassenbewußtsein" anknüpfte. Helmut Fahrenbach intendierte eine Ablösung der utopischen Fragestellung von der metaphysischen Wesensontologie Blochs, während Gerard Cunico diese Trennung nicht so akzeptieren mochte. Hans Ernst Schiller versuchte die Wirkungen des Lucacs'schen Totalitätsbe!!riffs aus "Geschichte und Klassen-
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bewußtsein" auf die Theorie Blochs aufzuzeigen. Bloch sei, so die Hauptthese, mit der Rezeption von Lukacs Totalitätsbegriff über jenen hinausgegangen. Gegen die "geschlossene Totalität" Lukacs' setzte Bloch den Begriff der "Sphäre", die relative Autonomie der Phänomene im Überbau. Dagegen polemisierte Marek Siemek aus Warschau in seinem Referat gegen eine Mißdeutung des Lukäcs'en Totalitätsbegriffs. Totalität heiße bei Lukacs immer "offene Prozeßrealität", die die partikulare Faktizität als teilmoment des Prozesses fasse. Möglichkeit entspringe demnach immer aus der Immanenz gesellschaftlichen Seins. Dem gegenüber steht der Bloch'sche Utopiebegriff als "Transzendieren ohne Transzendenz". Auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation bezogen war in einer Weise, in der es eigentlich für jeden Vortrag eines solchen Symposions wünschenswert wäre, das Referat ~e:F~·tte>rrrr~hs aus Frankfurt. In Haberma?scner Manier kritisierte er einen "romatischen Antikapitalismus" beim frühen Lukacs wie in heutigen gesellschaftlichen Protestbewegungen. Versöhnungsgedanken im Arbeitsbegriff, in den Sozialen- und in Naturbeziehungen seien in hochgradig aus-
Veranstaltung
differenzierten Gesellschaften nicht mehr einlösbar. Auch::Qe;<l'~d ii~til~~ bezog sich in seinem Referat aüf~efiie'-äKtuelle Situation, die der Postmoderne, die er aber nicht wie deren Theoretiker in der beliebigen Partikularität der Sinnstrukturen, und in der Ununterscheidbarkeit von Realität und Fiktion aufgehen lassen wollte. Demgegenüber hielt er an Geschichtsphilosophie, "Dialektisierung der Wirklichkeit" und den Bloch'schen Gedanken der konkreten Utopie, allerdings in einem hermeneutischen Sinn, ohne einheitlichen Sinn, fest. (siehe auch Interview in diesem Heft) In der abschließenden Diskussion konnte zu Recht gesagt werden, daß die Positionen der kritischen Theorie sowie andere relevante Positionen z.B. die französische Diskussion um den (Post-) Strukturalismus personell wie inhaltlich zu wenig zum Tragen kamen. Die gegenwärtige Rationalitä tsdiskussion war so fast überhaupt kein Thema des Seminars. Es besteht deswegen die Absicht, im nächsten Jahr. zum Seminar "Subjektivität und Emanzipation" sowohl eine bessere inhaltliche Vorstrukturierung als auch organisatorisch einige Verbesserungen vorzunehmen. RB
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Rezension
DER HINTERN DES TEUFELS Ernst Bloch -leben und Werk.
Rechtzeitig zum hundersten Geburtstag Ernst Blochs publiziert der badische Elster-Verlag eine Monographie von Peter Zudeick: Der Hintern des Teufels/ Ernst Bloch - Leben und Werk. Die 3 7 0 Seiten umfassende und in Leinen gebundene Buchausgabe stellt nach dem etwas oberflächlichen Rowohlt-Bändchen (rm 258,
< Sivlia Markun, Ernst Bloch) die erste seriöse Biographie über Ernst Bloch dar. Zudeick, der übrigens selbst bei Bloch in Tübingen studierte und später über Aspekte des Blochschen Werkes promovierte, ging mit seinem Unterfangen ein ungeheures Wagnis ein, denn Bloch, "der produktivste Ketzer im Marxismus" (Negt), hielt seine eigene Biographie für nicht allzu wichtig. So · erhöhten sich die Schwierigkeiten des Rundfunkredakteurs und Journalisten, die Mosaiksteine des Blochschen Lebensweges kunstvoll zusammenzufügen. Doch die Frucht des Recherchierens und langen Suchens übersteigt alle Erwartungen. Dem Autor gelang es, eine geradezu einzigartige Material- und Bildsammlung zusammenzutragen und auszuwerten. Eine große Zahl bisher weitgehend unveröffentlichter Fotos, Text- und Zitatstellen von
. und über Bloch lassen diesen stilvoll gestalteten Band zu einer wahren Fundgrube für Blochianer und Kritiker werden. Präzise und sachkundig arbeitete Zudeick den Lebensweg Blochs in die politische Zeitgeschichte ein und reflektiert auf dessen philosophische Entwicklung. Von Deutschland nach Prag über Zwischetiaufenthalte in Österreich und Paris, getrieben weiter 1938 ins elfjährige Exilland USA, Rückkehr in ein hoffnungsträchtiges besseres Deutschland nach Leipzig - bis er als treibend Getriebener die DDR verlassend in der BRD in Tübingen Ruhe zur Arbeit findet. Vom weltpolitisch agierenden Antifaschismus in kurzen Sprüngen
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durch Hegels Dialektik hinein in einen anekdotenreichen Alltag führt Z udeick die Lesenden zwischen ernsten und schmunzelnden Mienen. Immer wieder finden sich Auszüge aus Karola Blochs Lebenserinnerungen, die 1981 unter dem Titel "Aus meinem Leben" im Neske-Verlag erschienen sind. Peter Zudeicks verdienstvolle Leistung liegt in der lebendigen Rekonstruktion des Blochschen Weges bis in die Tübinger Zeit und in deF gesellschaftlichen und philosophiegeschichtlichen Einbettung des marxistischen Gesamtwerkes. Die Schwachstellen des ElsterBandes liegen in der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Bloch und der studentischen Neuen Linken. Hier gleitet Zudeick allzuoft ab von methodischer Sauberkeit zu feuilletonistischer Polemik. So etwa wenn er eine Blochsche Skepsis gegen basisorientierte Politikformen der Studenten konstruiert und dies mit einem Zitat belegt, in dem Bloch sich gegen ML-Gruppen und deren Stalinverehrung absetzt (S. 275). Das Interview, das Tübinger Studenten der ASTAZeitung 'Widerspruch' 1975 mit Bloch führten, ist für Zudeick ein "beeindruckendes Dokument" gegen die studentische Linke (S. 280). Die Trauerreden des Tübinger ASTA und Rudi Dutschkes am Sarge Blochs geraten unter Zudeicks Fürsprache zur Assoziation Bloch-Terror-Ponto-Meins. Kein Eingehen auf die Inhalte linken Rezeptionsverhaltens, stattdessen platte Sensationsschreibe: "Aufsehen erregte aber vor allem ... " (S. 316). Für den Autor geradezu peinliche Stellen entstehen, wenn Zeugen gehört werden wie etwa: " ... Gert Ueding erzählt, wie dieses Verhältnis aus nächster Nähe Blochs während der Studentenbewegung ausgesehen hat: 'Ei.nst Bloch gilt vielen ihrer Protagonisten als erprobter Vordenker. Von Bloch haben sie meist kaum etwas gelesen, vielleicht seinen Vortrag über den Wissenschaftsbegriff des Marxismus gehört oder ein Fernsehgespräch gesehen. Außerdem kursieren auf den täglichen Flugblättern, die in Mensa und Universität alle Tische und Bänke bedecken, oder auf den Transparenten und Wandzeitungen im ASTA-Gebäude einige besonders markige Bloch-Sentenzen .. .'" (S. 322/3). Die mangelhafte und nur unwillig betriebene Recherche in dieser Richtung erreicht ihren Höhepunkt in der selbstgenügsamen Festsetzung: "In der Tat hat es lange Jahre keine Auseinandersetzung mit Bloch von links gegeben" (S. 325 ). Laut Zudeick ist dies durch ein dünnes Wagenbach-Bändchen zum 90.
Geburtstag Blochs durchbrochen worden und lebte in den BlochTagen 1978ff. kurzfristig wieder auf. Hier irrt der Journalist. Trotz dieser Kritik, die ihre Anknüpfungen auf den letzten hundert Seiten des "Hinterns" mehrmalig auffindet, gehört Zudeicks Arbeit zu den Errungenschaften wissenschaftlicher Blochforschun.: gen. Das Verhältnis Blochs zur Neuen Linken wird von anderen aufgearbeitet werden müssen. Insgesamt aber verdient Peter Zudeick und der Elster-Verlag deutlichen Zuspruch.
Welf Schröter
Peter Zudeick, Der Hintern des Teufels/ Ernst Bloch - Leben und Werk. Elster- Verlag, 1985. 375 Seiten. DM 48.00
ERNST BLOCHS POLITISCHER WEG
Rechtzeitig zum hundersten Geburtstag von Ernst Bloch erschien im Hamburger Junius-Verlag die über zweihundert Seiten umfassende Studie von Trautje Franz "Revolutionäre Philosophie in Aktion - Ernst Blochs politischer Weg, genauer besehen". Der mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat und zureichender Literaturliste versehene Band überrascht und besticht gesellschaftlich-engagierte Lesende schon nach kurzem Durchblättern. Die ehemalige Tübinger Bloch-Schülerin (?) hat der großen Anzahl literarischer Grabsteine gerade keinen neuen hinzugefügt, sondern in .erfrischender und souveräner weise den politischen Schutt über Blochs Werk um- und umgepflügt. Sie wühlt Blochsche Gedanken aus dem Staub stickender Seminarphilosophie wieder heraus, bearbeitet selbstbewußt und mit überragender Sachkenntnis das Werk des politischen, des eingreif enden und sich verändernden Bloch. Keine mythische Lqbeshymne schallt unkritisch aus ihren Seiten, sondern der Anspruch wird sichtbar, einem "revolutionären Philosoph" gerecht zu werden. Abzulesen ist dieser Ansatz bereits bei der Kapitelunterteilung: 'Grundzüge der Philosophie des "Noch-Nicht" / 'Die Konstitutionsphase politi
..5cher Reflexion und Aktion'/ 'Vom "Geist" der Utopie zur strategisch-taktischen Zukunftsphilosophie'/ 'Propaganda als Praxis theoretischer Philosophie'/ 'Auswertung und Folgerungen unter Einbezug spätc...- Einstellungsänderungen'. Trautje Franz folgt nicht positivistisch dem Lebensweg der Person, sondern Kontinuität und Wandlung des Blochschen Denkens im Verlauf politischer Praxis. "Revolutionäre Philosophie in Aktion"
als Titel der wissenschaftlichen Studie weiß sich in zentraler Wei-
, se dem Abarbeiten Blochs -an Intention und tatsächlicher Folge der Oktoberrevolution verpflichte~ .. Die kritische Kennzeichnung des Weges von Bloch vom antifaschistischen Stalinverehrer zum vehemente~ten Kritiker des sowjetischen Reiches herausgearbeitet zu haben, stellt wesentliches Verdienst der Autorin dar. Wenn man auch nicht jeder Einschätzung zuzustimmen geneigt ist (Bloch und
· der Eurokommunismus), so hat die Wissenschaftlerin doch ohne ideologisierte Scheuklappen einen neuen Zugang zu Bloch freigearbeitet. Ihre kritische Würdigung Blochs ohne blinde Apologetik wird ihren Leserkreis weniger in staatlichen Bibliotheken finden als vielmehr unter jenen, denen ihre Tagträume noch nicht erloschen sind. Der Junius-Band wird den einen zur Einführung in Blochs Denken und Handeln dienen, während die Grabwächter der deutsch-deutschen Staatsanstalten Franzens Arbeit in den 'Giftschrank' verbannen werden.
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Trautje Franz, Revolutionäre Philosophie in Aktion - Ernst Blochs politischer Weg, genauer besehen. Junius- Verlag, März 1985, DM 26,80.
"Wer sein Wissen nur aus Büchern bezieht,
den stellt man
am besten selbst ins Regal"
(so Bloch 11.11.'55).
Aber hin und wieder ein Buch
kann auch nicht schaden.
Schaut' mal bei uns rein!
D-7400 Tübingen 1 Marktgasses13
...-........-r11st
Ernst Bloch Werkausgabe
Werkausgabe in 17 Bänden stw 550-566. DM 240,
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stw 568. DM 16,-
Bd. 3: Neuzeitliche Philosophie I Von Descartes bis Rousseau
stw 569. DM 24,-
Bd. 4: Neuzeitliche Philosophie II Deutscher Idealismus und
19. Jahrhundert stw 570. DM 28,-
Suhrkamp Taschenbuch
Verlag
am 8. Juli 1985