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Albert Ottenbacher Eugenie Goldstern Kindheit und Jugend in Odessa Eugenie Goldstern wird in Odessa in der ersten Hälfte der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts geboren. Das Geburtsdatum gibt Rätsel auf. In den Dokumenten werden insgesamt fünf verschiedene Tage ausgewiesen. 1 Festzustehen scheint die Mitte des Monats Dezember des Jahres 1884. Bei äußerer Belastung 2 oder von fremder Hand 3 werden offensichtlich falsche Angaben gemacht. Ein Fehler bei der Übertragung vom römischen in das arabische Zahlensystem ist als Ursache der Unterschiede unwahrscheinlich. Die Abweichungen könnten sich durch Umrechnungen aus dem gregorianischen in den julianischen Kalender ergeben. Eugenie Goldstern errechnet vielleicht für die amtlichen Angaben jedesmal das Datum wieder neu. Sie denkt demnach lebenslang in der alten russischen Zeitrechnung. Auch der Geburtstag ihrer Schwester Teresa ist nicht bekannt. Die Geburtstage der Brüder sind überliefert. Wird die Geburt eines Mädchens nicht besonders registriert ? Ihr Name wird am ersten Schabbat, welcher der Geburt folgt, vom Vater in der Synagoge verkündet, wenn er zur Lesung der Tora aufgerufen ist. Die Mutter spricht hierbei einen Segensspruch dafür, daß sie die Entbindung gut überstanden hat. 4 Eine eigene, der Bar Mizwa der Buben vergleichbare Feier, deren Datum sich einprägt, ist nicht vorgesehen. " Jenja " ist das jüngste von 13 Kindern. 5 Älteren Geschwister werden Pflichten und Verantwortung übertragen. Die Jüngsten bekommen oft eine bevorzugte Stellung. Sie werden mit weniger Strenge behandelt. Sie finden mehr Beachtung, entwickeln rasch Selbstbewßtsein. Sie erreichen größere Freiheiten mit geringerem Aufwand. Die Mutter muß sich um den gesamten Kreis kümmern. Für das Jüngste ist die Kinderfrau besonders wichtig,. Ihr Einfluß ist groß. Ihre Autorität ist allgemein anerkannt, weil sie schon alle Anderen großgezogen hat. 6 Üblicherweise wird einer einfachen Frau vom Lande diese Aufgabe übertragen. Wird Jenja auf diese Weise zum ersten Mal mit der Volkskultur vertraut gemacht ? Entwickelt sich so ihre lebenslange Begeisterung für urtümliches Spielzeug,, für einfachen Hausrat, für die formschöne, praktische Ordnung der Dinge ? Hat sie bei ihrer Amme die Liebe zu alten Sagen, zu unverfälschtem Brauchtum, das Interesse an christlicher Religion entwickelt ? Stammt aus den Gesprächen mit ihr die Achtung vor dem klaren Hausverstand, die Einfühlung in die Logik des knappen Wirtschaftens ? Hat sie bei ihr gelernt, sich nicht von äußerer Pracht und respektheischendem Auftreten blenden zu lassen. Wurde von ihr das Talent gefördert, fremden Lebensverhältnissen neugierig und wißbegierig, aber nie indiskret zu begegnen ? Wurde sie von ihr angeregt, mit anderen Menschen zu fühlen, sie verstehen, ihnen helfen zu wollen ? 1 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldezettel, Wien 21.12.1910, 20.8.1914, 8.8.1917, 6.1.1918, 24.2.1921, 4.12.1933 2 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Todfallsaufnahme Abraham Goldstern, Wien 21.2.1906 3 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldekarte Jenny Sara Goldstern, Wien o.J. 4 Rachel Monika Herweg, Die jüdische Mutter, Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1995, S. 78 5 Brief von Frau Claire Wernert, geb. Goldstern, vom 22.8.1994 6 Stahl, a.a.O., S. 67

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Albert Ottenbacher

Eugenie Goldstern

Kindheit und Jugend in Odessa

Eugenie Goldstern wird in Odessa in der ersten Hälfte der Achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts geboren. Das Geburtsdatum gibt Rätsel auf. In den Dokumenten werden insgesamt fünf verschiedene Tage ausgewiesen. 1 Festzustehen scheint die Mitte des Monats Dezember des Jahres 1884. Bei äußerer Belastung 2 oder von fremder Hand 3 werden offensichtlich falsche Angaben gemacht. Ein Fehler bei der Übertragung vom römischen in das arabische Zahlensystem ist als Ursache der Unterschiede unwahrscheinlich. Die Abweichungen könnten sich durch Umrechnungen aus dem gregorianischen in den julianischen Kalender ergeben. Eugenie Goldstern errechnet vielleicht für die amtlichen Angaben jedesmal das Datum wieder neu. Sie denkt demnach lebenslang in der alten russischen Zeitrechnung. Auch der Geburtstag ihrer Schwester Teresa ist nicht bekannt. Die Geburtstage der Brüder sind überliefert. Wird die Geburt eines Mädchens nicht besonders registriert ? Ihr Name wird am ersten Schabbat, welcher der Geburt folgt, vom Vater in der Synagoge verkündet, wenn er zur Lesung der Tora aufgerufen ist. Die Mutter spricht hierbei einen Segensspruch dafür, daß sie die Entbindung gut überstanden hat.4 Eine eigene, der Bar Mizwa der Buben vergleichbare Feier, deren Datum sich einprägt, ist nicht vorgesehen.

" Jenja " ist das jüngste von 13 Kindern.5 Älteren Geschwister werden Pflichten und Verantwortung übertragen. Die Jüngsten bekommen oft eine bevorzugte Stellung. Sie werden mit weniger Strenge behandelt. Sie finden mehr Beachtung, entwickeln rasch Selbstbewßtsein. Sie erreichen größere Freiheiten mit geringerem Aufwand. Die Mutter muß sich um den gesamten Kreis kümmern. Für das Jüngste ist die Kinderfrau besonders wichtig,. Ihr Einfluß ist groß. Ihre Autorität ist allgemein anerkannt, weil sie schon alle Anderen großgezogen hat. 6 Üblicherweise wird einer einfachen Frau vom Lande diese Aufgabe übertragen. Wird Jenja auf diese Weise zum ersten Mal mit der Volkskultur vertraut gemacht ? Entwickelt sich so ihre lebenslange Begeisterung für urtümliches Spielzeug,, für einfachen Hausrat, für die formschöne, praktische Ordnung der Dinge ? Hat sie bei ihrer Amme die Liebe zu alten Sagen, zu unverfälschtem Brauchtum, das Interesse an christlicher Religion entwickelt ? Stammt aus den Gesprächen mit ihr die Achtung vor dem klaren Hausverstand, die Einfühlung in die Logik des knappen Wirtschaftens ? Hat sie bei ihr gelernt, sich nicht von äußerer Pracht und respektheischendem Auftreten blenden zu lassen. Wurde von ihr das Talent gefördert, fremden Lebensverhältnissen neugierig und wißbegierig, aber nie indiskret zu begegnen ? Wurde sie von ihr angeregt, mit anderen Menschen zu fühlen, sie verstehen, ihnen helfen zu wollen ?

1 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldezettel, Wien 21.12.1910, 20.8.1914, 8.8.1917, 6.1.1918, 24.2.1921,

4.12.1933

2 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Todfallsaufnahme Abraham Goldstern, Wien 21.2.1906

3 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldekarte Jenny Sara Goldstern, Wien o.J.

4 Rachel Monika Herweg, Die jüdische Mutter, Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1995, S. 78

5 Brief von Frau Claire Wernert, geb. Goldstern, vom 22.8.1994

6 Stahl, a.a.O., S. 67

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Jenja stammt aus einer sehr wohlhabenden Familie. Sie wächst auf in in einer erblühenden Hafenstadt am Nordwestufer des Schwarzen Meeres, der viertgrößten Stadt des russischen Reiches. 7 Wie ihre ältere Schwester Tina besucht sie das Gymnasium. 8 Vom Lernen am " gimnazye " können die meisten anderen Mädchen nur träumen. 9 Die Goldstern - Töchter werden sicher beneidet. Sie können nett angezogen mit Büchern in der Hand in die Schule, später gar zur Universität gehen, um Doktor zu werden. Sie sind privilegiert. Ihr Vater Abraham kann leicht für das Schulgeld aufkommen. Er will aber jede Vornehmtuerei vermeiden. Deshalb ordnet er an, daß seine Kinder ihr Pausenbrot in der Schule mit ärmeren zu teilen haben. 10 Er gehört zum Kreis der großen Kaufherren, denen der russische Staat eigene Freiheitsrechte zuerkannt hat. 11 Er ist ein Vertrauter des Prinzen Troubetzkoy, eines Sprosses aus altem russischem Adel. Der Fürst ist einer der größten Grundbesitzer der Ukraine.12 Hier wird fast das ganze Ausfuhrgetreide Rußlands erzeugt. Vassili Andreevitch ist Herr über viele Tausende von Bauern. Er verfügt über Ländereien, die vier Bahnstunden entfernt von Odessa in der Gegend von Schitomir liegen. Seine Grundflächen haben beinahe den doppelten Umfang der Schweiz.13 Sicher durfte die jüngste Tochter ihren Vater bei den Reisen auf die Güter seines Geschäftspartners begleiten.

Jenja liebt wohl wie alle Kinder die feuerspeienden Lokomotiven, die schimmernden Armaturen und polierten Laternen, den Rauch und Wasserdampf, den die schwarzglänzenden Kolosse verströmen. Auf dem Privóznaya - Platz vor den triumphalen Eingangsbögen des monumentalen Bahnhofes klingeln elektrische Trambahnen, rollen lautlos elegante Kutschen, drängen sich Einspänner, Fiaker und pferdebespannte Lastwagen. In der großen Schalterhalle rücken die Zeiger der großen Uhr zitternd voran. Menschen reihen sich vor gläsernen Schaltern. Andere zieht es in einen prachtvollen Salon mit bequemen Lederfauteils, geschliffenen Spiegeln, Kristallustern und venezianischen Kandelabern. Ein Glockenschlag zeigt an, daß nur noch eine Viertelstunde Zeit bis zur Abfahrt bleibt. Elegantes ledernes Reisegepäck steht neben verschnürten Körben und umgürteten Truhen. Träger bahnen sich ihren Weg durch die aufgeregte Menge. Die tonnenschwere, über 23 Meter lange Schnellzuglok aus Nischni Nowgorod naht mit tosendem Fauchen und Stampfen.14 Sie kommt quietschend, dampfend und pfeifend zum Stehen. Bald geben drei Glockenschläge das endgültige Zeichen zum Aufbruch. 15 Am Abteilfenster sieht man Parkanlagen, Vorstädte, das Wasserwerk vorüberziehen. Schließlich folgt die flache Landschaft des Gouvernements Cherson. Die Bahnlinie kreuzt bei Winniza den Fluß Bug. Sie durchquert vor Zhmerinka bald Wälder, bald wohlbestelltes Ackerland. Der Zug fliegt mit 120 Stundenwerst dahin.

7 Robert Weinberg, The Revolution of 1905 in Odessa, Indiana 1993, S. XIV

8 Walter Goldstern, Die Familie - Goldstern - The Family, Aldford, o.J., S. 32

9 Sydney Stahl Weinberg, The World of of Our Mothers, The Lives of Jewish Immigrant Women, New York 1988, S.

48

10 Walter Goldstern, a.a.O.. S. 24

11 Walter Goldstern, a.a.O.. S. 24

12 Walter Goldstern, a.a.O., S. 24

13 Nicolas Ikonnikov, La Noblesse de Russie, Tome R 2, Paris 1962, S. r 42

14 Brian Hollingsworth u.a., Das Handbuch der Lokomotiven, Herrsching 1990, S. 96

15 Marie Fürstin Gagarin, Blond war der Weizen der Ukraine, Erinnerungen, Bergisch Gladbach 1991, S. 92

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Der Weg steigt allmählich an durch eine sanft gewellte, prärieartige Ebene von Podolien nach Wolhynien. Auf den fruchtbaren und ergiebigen Schwarzerdeböden erstrecken sich endlose blumengesäumte Felder. In dem warmen, nicht zu strengen Klima gedeihen Weizen und Mais, Tabak, Sonnenblumen und Zuckerrüben.

In Schitomir, der weißen Stadt, kommt man mit der elektrischen Straßenbahn vom Bahnhof zum Hauptplatz. Man kann für 90 Kopeken einen Zweispänner mieten, wenn nicht ohnehin die Equipage des Gutsbesitzers Troubetzkoy bereitsteht. 16 In den ländlichen Ansiedlungen kann Jenja den natürlichen Schönheitssinn einer alten Bauernkultur kennenlernen. Die Dörfer liegen meist am Ufer eines Sees oder Flusses. Sie sind umgeben von ihren Obstgärten. Zwischen den niedrigen, strohgedeckten Holzhäusern, die sich gut in die sanft bewegte Hügellandschaft einfügen, wächst Gemüse, blühen Unmengen von Blumen. Auf den Wegen tummeln sich Hunde, Gänse, Enten und Hühner. Für Kinder gibt es als beliebtestes Spielzeug kleine farbige Tonfigürchen, die " svystuni " genannt werden. Sie stellen verschiedene Tiere dar und sind mit einem kleinen Pfeifchen verbunden. 17 Es gibt phantastische Puppen mit ausladenden Röcken, Ammen mit Kindern im Arm, einen Herrn im Ruderboot oder einen Reiter, dessen Körper in den des gefleckten Ziegenbockes übergeht, auf dem er thront. Die Hohlräume sind zu einem der Okarina ähnlichen Blasinstrument geformt. 18 Auf dem irdenen Geschirr sind Ranken und Blumen, Vögel und Fische gemalt. Die Erwachsenen trinken " Kwas ", ein saures, vergorenes Brotgetränk aus Steingutflaschen, die Lebewesen nachgebildet sind. Sie essen eine dampfende Rote Rübensuppe, den " Borschtsch " mit geschnitzten Löffeln. Ihre Schöpfkellen, Schüsseln, Krüge und Teller sind aus Holz. Ihre Salzgefäße haben die Gestalt von Vögeln. Die Griffe der Wasserschöpfkellen sind mit Pferde- oder Vogelköpfen verziert.19

Kuchen können die Form von Rosen, Bällen oder Knoten, von Muscheln, Hörnern oder Kronen annehmen. 20 " Täubchen " genannte Delikatessen werden aus den Blättern von Kohl oder Rüben und einer Pilzfüllung modelliert und gedünstet. Den Frauen ist der Sinn für Schönheit und Kunst angeboren. Sie lieben harmonische Farben. Sie tragen orientalisch anmutende, lange, mit lebhaften Tönen bestickte Blusen zu ihren schönen, handgefertigten Trachten aus selbstgewebten Leinenstoffen. Phantasievoll bemalen sie den großen Ofen in der Stube, die Räume und die Fassaden der Häuser. Die Wand zwischen den Fenstern überziehen sie mit der Darstellung eines verzweigten Baumes oder Strauches. An die Zimmerdecken zaubern sie ein durchgehendes Blumenornament. Sie malen mit Pinseln aus Gras oder Hirse. Sie benutzen zum Farbauftrag zusammengebundene Lappen und aus Rüben geschnitzte Stempel. Sie stellen Farbstoffe aus farbigem Ton, Ruß und Pflanzensäften her, die sie mit Milch, Mehl und Eiern vermischen. 21 Im Winter fahren sie auf Schlitten, die mit kunstvoll eingekerbten Rosetten und anderen Pflanzenmustern reich geschmückt sind.

16 Baedeker, Russia, a.a.O., S. 375

17 Charles Holme ( Hrsg. ), Peasant Art in Russia, London 1912, S. 27

18 Jewgenija Petrowa, Jochen Potter ( Hrsg. ), Russische Avantgarde und Volkskunst, Stuttgart 1993, S. 100

19 Lessja Dantschenko, Ukrainische Volkskunst, Keramik. Glas, Holz, Metall, Volksmalerei, Weberei, Stickerei,

Teppiche, Leningrad 1982, S. 7

20 Helen und George Papashvily, Die Küche in Rußland, Reinbek 1979, S. 106

21 Dantschenko, a.a.O., S. 21

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Das schwere, dunkle, grobe Brot, das in wagenradförmigen Laiben gebacken ist, wird " ukrainka " genannt. Der " Borschtsch " ist eine Ukrainische Erfindung. Er unterscheidet sich grundlegend vom russischen. Zu den roten Rüben kommen nämlich neben Rindfleisch auch Schweinefleisch, mehrere Gemüsesorten und Knoblauch. Ein russisches Sprichwort sagt : " Ukrainer bleibt überall Ukrainer. " 22 Ukraine bezeichnet ein Grenzgebiet, in dem verschiedene Kulturen zusammentreffen. Fahrende Sänger berichten in diesem " Land am Rande " 23 von den friedliebenden Kimmeriern, den durchziehenden grausamen Skythen, den fürchterlichen herumschweifenden Sarmaten, den einfallenden Hunnen und Kosaken, die alle ihre Spuren hinterlassen haben.

Jenja lernt eine bäuerliche Frömmigkeit kennen, für die sie sich später immer wieder interessieren und begeistern wird. Viele Seiten des religösen Brauchtums spielen sich farbenprächtig und unüberhörbar in der Öffentlichkeit ab. Zu Beginn der Karwoche läuten um vier Uhr nachmittags überall die Glocken, um die Gemeinde zur Beichtfeier zu rufen. Am Gründonnerstag versammelt das volltönende Geläute zum Abendgottesdienst. 24 Im Morgengrauen zwischen Osternacht und Frühmesse streben festlich gekleidete Fromme nach Hause, um ihre Osterverpflegung zu holen. Anschließend eilen sie mit vollen Speisekörben zur Kirche zurück. Hartgekochte Eier, geröstetes Spanferkel, Würstchen, Rahmkäse und Kuchen werden nach alter Sitte vor der Kirche niedergelegt, damit der Priester sie nach dem Hochamt segnen kann. Gegen Ende der Zeremonie verlassen die Gläubigen das Gotteshaus in einem langen Zug. Vorneweg gehen die Träger mit den Kirchenfahnen. Ein Geistlicher, der ganz in Gold und Silber gekleidet ist, schwenkt das Weihrauchfaß und breitet die Arme zur Segensgeste. Kinder tragen Blumen und bunte Bänder im Haar. Der Ruf " Christus ist auferstanden " klingt durch die Straßen.25

Anfang Juli steht überall auf den Feldern goldener Weizen. Die Sonne scheint warm. Die fette, schwere und schwarze Erde erfüllt die Luft mit einem lehmigen Duft. Ein berittenerAufseher überwacht die Erntearbeiten. Frauen mühen sich in gebückter Haltung. Mit der Linken führen sie einen Stock, um die Halme zu fassen. Mit der Rechten schneiden sie Garbe für Garbe mit der Sichel. Sie haben keine Sensen, keine Mähmaschinen. Mehrere Garben werden mit geflochtenem Stroh zusammengebunden und aufgestellt. Die endlosen Reihen erstrecken sich bis zum Horizont. Eine junge Mutter muß mit zupacken. Ihr Neugeborenes schläft friedlich unter einem Sonnenschutz, der einem Indianderzelt nachempfunden scheint. Hin und wieder fährt der Gutsherr im zweispännigen Wagen vor.26 Die Männer sind unter freiem Himmel mit dem Dreschen beschäftigt. Es werden Verfahren, wie in biblischen Zeiten angewandt. Die Ähren werden in zwei Reihen so zusammengelegt, daß die Wurzelenden außen liegen. Die Drescher müssen beim Schlagen mit den schweren Flegeln bestimmte Abstände einhalten, um sich nicht zu gefährden. Sie bemühen sich, bei ihrer Arbeit in einem gleichmäßigen Takt zu bleiben. Auf das Getreide sausen die Schläge im Rhythmus herunter. Andernorts werden pferdegezogene große gefurchte Holzwalzen, Rollen und Schlitten verwendet, um die Körner vom Stroh zu trennen. Teilweise wird einfach das Vieh über die geschnittenen Halme getrieben, um den ausgetrampelten Weizen ernten zu können. Das ausgedroschene Stroh wird mit dem Rechen entfernt. Schließlich wird das Korn mit einer Schaufel durch die Luft geworfen. Das schwerste und beste fliegt am weitesten. Es wird gesiebt und kann als Saatgut Verwendung finden.

22 Otto Kessler, Die Ukraine, Beiträge zur Geschichte, Kultur und Volkswirtschaft, München 1916, S. 13

23 Petrowa, a.a.O., S. 100

24 Davidoff, a.a.O., S. 40

25 Davidoff, a.a.O., S. 42

26 Davidoff, a.a.O., S. 98

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Die Bauern werden mit einem Anteil des Ertrages entlohnt. Sie sind seit wenigen Jahrzehnten aus der Leibeigenschaft entlassen. Die Bevölkerungsdichte ist angewachsen. Zwischen 1860 und 1894 verdreifacht sich die Getreideausfuhr Rußlands. 27 Fast der gesamte Weizenexport erfolgt über den Freihafen von Odessa 28, der zu den größten der Welt gehört. Die führenden Nationen Amerika und Österreich sind bei weitem überrundet. Jährlich wird das blonde Gold mit 50 Millionen Eisenbahnwaggons, in die Stadt geschafft. 29 Es wird durch das Mittelmeer und den Atlantik bis nach England verschifft. Ein dreinhalb Kilometer langer, acht Meter hoher hölzerner Viadukt zieht sich um den ganzen Hafen. Aus den Schüttgutwägen der russischen Südwestbahn strömt das Korn direkt auf Transportbänder. Es wird gewogen, befeuchtet, gereinigt und schließlich durch teleskopartig ausziehbare, schwenkbare Fallrohre in die Schiffe geführt. An anderen Plätzen wird es sackweise von Menschenkraft aus den Flußbarken und Fuhrwerken geladen. Draußen am Wellenbrecher ankern manchmal mehr als zwei Dutzend Ozeandampfer.

An den Piers wehen hunderte von Flaggen aus aller Herren Länder. Hier laufen gigantische Panzerschiffe ein. Mit riesigen Schloten ausgerüstete Dampfer liegen im Becken des Petroleumhafens. Graziöse italienische Jachten, hochgewölbte anatolische Barkassen und eigenartig bemalte trapezuntische Feluken passieren den Leuchtturm. Zwischen 1883 und 1898 ist ein Anwachsen der Industrie um das Zweieinhalbfache zu verzeichnen. 30 In der Stadt entstehen Schiffsreparatur- und Eisenbahnwerkstätten, Fabriken zur Herstellung von Apparaten und landwirtschaftlichen Maschinen. Die Jute-, Kork-, Leder- und Tabakindustrie 31 blüht. Maschinenfabriken, Eisengießereien, Docks, Kornspeicher mit dampfgetriebenen Förderanlagen, eine Zuckerraffinerie, Färbereien, chemische Fabriken, Mühlen, Lagerhäuser und Brennereien schießen aus dem Boden. 32

Odessa ist das " russische Marseille ". 33 Im Hafen landen die meisten Waren und Luxusartikel, die in das Reich des Zaren eingeführt werden. Die Schiffsverbindungen führen zum Asowschen Meer, der Levante, den südeuropäischen Häfen, bis nach London und China. 34 Feines Schuhwerk wird aus Wien eingeführt. 35 Oliven aus Griechenland, Öl aus Südfrankreich, Malagatrauben aus Lissabon, dunkler Wein von der Insel Chios, neue Teesorten von holländischen Schiffen, in japanische Seide eingewickelte Zigarren und unbanderolierter Tabak aus dem Staat Virginia werden hier importiert. 36 Taue und Trossen spannen sich am Kai. Dreimaster werden gelotst. Lastschiffe trocknen ihre Segel. Bugspriete, Masten und Rahen schaukeln in der Dünung. Angler sitzen an der

27 Weinberg, a.a.O., S. 2

28 Weinberg, a.a.O., S. 4

29 G. Luther, Die Neugestaltung des Hafens von Odessa, Braunschweig 1889, S. 8

30 Weinberg, a.a.O., S. 5

31 Der Große Brockhaus, Bd. 13, Leipzig 1932

32 Weinberg, a.a.O., S. 5

33 Isaak Babel, Geschichten aus Odessa, München 1972, S. 106

34 Johannes Penzler ( Hrsg. ), Ritters geographisch - statistisches Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1906, S. 44

35 Stahl, a.a.O., S. 4

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Mole. Handkarren werden geschoben. Ein Dampfkran hebt schwere Packen aus dem Laderaum. Halbnackte barfüßige Lastträger schleppen Waren auf schwankenden Brettern in die unzähligen Lagerschuppen.

In den Straßen wehen die gestreiften Gewänder der Tataren. Man sieht stämmige, muskulöse Perser mit rotgefärbten Haaren. Türken haben ihren Fez mit weißen Tüchern umbunden. Sie passieren die Stadt auf dem Rückweg von Mekka in ihre Heimat in Transkaukasien. Runzlige deutsche Kolonisten aus Lustdorf und Liebental tummeln sich neben malaiischen Matrosen und englischen Schiffsmechanikern. Die Volkszählung von 1892 belegt die Einwohnerschaft von Armeniern, Baschkiren, Georgiern, Imojeden, Karatschajern, Kaukasiern und Mordwinen. Aus Skandinavien stammen Dänen, Esten, Finnen, Letten, Litauer und Schweden. 37 Ein deutscher Reisender ist schon zur Jahrhundertmitte beeindruckt durch das " großartige Völkergewirre. " Er faßt zusammen : " Odessa ist eine ganz eigentümliche Stadt, in der wohl alle Völker Europas vertreten sind. " 38

Der Speisezettel ist von südländischer Vielfalt. Aus dem Hinterland kommen Flußkrebse und zarter Karpfen, der nach Art der jüdischen Küche gespickt werden. Aus dem Meer stammen Garnelen, in feiner Kräuterbrühe pochierte Austern, köstliche Makrelen und der Kaviar. Sterlet wird zur klaren, dunkelorangefarbigen Suppe. Von den Griechen kennt man die levantinischen Gemüsesorten. Paprika, junger Kürbis und Oliven werden mit würzigen Soßen angerichtet. Sie werden mit Reis, Zwiebeln, oder Kräutern gefüllt, golden gebräunt und orientalisch aromatisiert. Pelmeni nennen sich Ravioli nach sibirischer Art. 39 Piroggen, die russische Spezialität, ein mit gehacktem Fleisch gefülltes, pfannenkuchenähnliches Backwerk, werden mit Krautcreme, Lachs oder gedörrten Champignons serviert. 40 Tscherkessische Gerichte sind scharf gepfeffert und gewürzt. Sie werden in kleinen kaukasischen Terrinen serviert. 41 " Charlottka " heißt ein vom französischen Küchenmeister des Zaren erfundener, mit Karamelglasur überzogener Grießpudding, der mit kandierten Früchten und Nüssen garniert ist.42

Ende der 1880er Jahre werden die Eisenbahnverbindungen nach Warschau, Kiew, Minsk, Brest-Litowsk 43 fertiggestellt. Saisonarbeiter kommen aus dem neu erschlossenen Hinterland in die aufstrebende Metropole. Sie suchen Anstellung auf den Docks und Bauplätzen. Jeden Sommer machen sich unzählige Bäuerinnen und Bauern aus der ganzen Ukraine auf zur Arbeitssuche in die Hafenstadt. Belarussen, Moldawier und Bulgaren gelangen oft zu Fuß, zu einem Arbeitsmarkt. 44 Zehntausende von Großrussen, Griechen, Juden aus Rußland und Polen wandern zu. Sie verlassen

36 Babel, a.a.O., S. 32

37 Resultats du Recensements d' Odessa du 1 Décembre 1892, Odessa 1894, S. 67

38 Karl Koch, Die Krim und Odessa, Reise-Erinnerungen, Leipzig 1854, S. 169

39 Dohrn, a.a.O., S. 174

40 Gagarin, a.a.O., S. 55

41 Gagarin, a.a.O., S. 86

42 Papashvily, a.a.O., S. 25

43 Steven J. Zipperstein, The Jews of Odessa, A Cultural History, 1794 - 1881, Stanford 1985, S. 16

44 Weinberg, a.a.O., S. 8

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ihre angestammten Dörfer, die seit Generationen gewohnte Lebensumwelt. Sie suchen das " Neue Eldorado "45 dessen Wirtschaftswunder 46 den Vergleich mit Kalifornien nicht zu scheuen braucht. Um den Stadtkern bilden sich rasch wachsende Vororte mit slumartigen Vierteln. 47 Hier finden Hilfsarbeiter, Kärrner, Lastträger, geflohene Sklaven, Deserteure und Wanderarbeiter eine notdürftige Unterkunft.48

Die schmalen, winkeligen Gassen unten am Hafen werden " von anständigen Menschen nachts gemieden. " 49 Hier reihen sich Bierhallen, Spelunken, zwielichtige Quartiere, Gebrauchtwarenläden und Spielhöllen. Hier schreien reißerische Werbetafeln in allen möglichen Sprachen. Man kann Karten und Domino spielen, Wasserpfeife rauchen und einen Schlafplatz für fünf Kopeken mieten. Hier nächtigen Landstreicher, zerlumpte Ausgestoßene der Gesellschaft auf dem nackten Boden. Hier findet sich ein geeigneter Umschlagplatz für Hehlergut. 50 Der britische Konsul warnt seine Landsleute : " Von den Messingarmaturen der Schiffe bis zur großen Persenning, nichts ist zu schwer oder stark genug befestigt. Das Tageslicht ist kein Hindernis für ihre Unternehmungen, und wenn man sich mit diesen Dieben befaßt, ist es gut, auf der Hut zu sein, denn ein Leben ist nicht viel wert. " 51

Die Bewohner dieser Gegenden dringen selten in das saubere, stets feiertäglich als " Klein-Paris " 52 herausgeputzte Stadtzentrum. Hier blinken Spiegelscheiben, schimmern elektrische Lichter, ragen stolze Denkmäler, amtieren majestätische Polizisten. Die schachbrettartig angelegte Altstadt mit ihren Prospekten, Basaren und Parkanlagen zeigt noch die Handschrift eines klassizistischen Hafenbauingenieurs aus Neapel. 53 Professor Koch aus Leipzig berichtet : " Ein prächtiger mit Alleebäumen bepflanzter Spaziergang nimmt einen ziemlich breiten Raum (... ) ein, sodaß namentlich an Herbstabenden, Hunderte von Spaziergängern sich nicht weniger der angenehmen und kühlenden Seeluft erfreuen, als sie sich gern mit ihren Blicken in dem weiten Meere, dem treuen Bilde der Unendlichkeit verlieren. Man nennt den Spaziergang am hohen Ufer den Boulevard. (... ) Eine Treppe von einer Schönheit, wie sie keine zweite Stadt der Welt aufzuweisen hat, führt den Abhang hinunter nach dem Strande und dem Hafen hin. Ungeheure Gewölbe tragen die Steinmassen der Treppe; unter ihnen ist wiederum der Raum zur Verbindung des freien Verkehrs genutzt. " 54

45 Zipperstein, a.a.O., S. 106

46 Weinberg, a.a.O., S. 9

47

48 Weinberg, a.a.O., S. 9

49 Alexander Kuprin, Olessia und andere Novellen, Berlin 1911, S. 157

50 Herlihy Patricia, Odessa : a history, 1794 1914, Cambridge, Mass. 1986, S. 272

51 Herlihy a.a.O., S. 227

52 Herlihy a.a.O., S. 227

53

54 Koch, a.a.O., S. 173

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Den wohlhabenden Bürgern dienen drei Museen, zwei Dutzend Bibliotheken, Klubs, mehrere Theater, ein Zirkus. 55 Man fährt Fiaker, besucht das Café Richelieu, studiert die ausländische Presse. Man genießt italienische Opern im großen Haus, das von österreichischen Architekten dem Wiener Burgtheater nachempfunden wurde.56 Man trifft sich in den Foyers und Vestibülen, die im Stil Ludwigs XVI. gehalten sind. Man flaniert durch die Passage des wundervoll verzierten Warenhauses, das mit dem Grand Hotel Arcade verbunden ist. Die Neue Börse prunkt mit carrarischem Marmor im Stil italienischer Gotik. Die Staatsbank gibt sich florentinisch, der Hauptbahnhof mimt Renaissance. Sein Eingang zeigt Anklänge an den Palazzo Bevilacqua in Verona. Die Schalterhalle ist freskiert wie eine Loggia des Vatikans.

Eine Linie der dampfgetriebenen Straßenbahn führt sechzehn Stationen durch idyllische Gartenstadtgebiete hinaus nach Langeron. Von Ferne klingen Schiffssirenen. An den langen, berühmten Badestränden liegen die Gäste dicht und bunt gemischt. Vielfältige Vergnügungsstätten schließen sich an. Es gibt einen Platz für Pferderennen. Im Alexander - Park und in den Seerestaurants finden abends Freiluftkonzerte für eine sonntäglich gekleidete Menge statt. Falter umschwirren die Lichter. Feuerwerk erhellt die Sommernacht. Bei der großen Fontäne, in der Nähe des botanischen Gartens, stehen herrschaftliche Sommerhäuser auf der nicht sehr steilen Anhöhe aus roten Felsen. Im Frühjahr sprießen dort gelber Ginster, wilde Rosen, Tamarisken, Flieder und Hagebutten. Krimirisblüten in allen Schattierungen und Dahlien entfalten eine verschwenderische Pracht. 57 Unmittelbar am Ufer des Meeres ragen die Datschen der Großkaufleute, der Makler, Ladenbesitzer und Direktoren der Schiffahrtskontore.

Die " belle èpoque " trägt ihren Namen zurecht. Kugelig geschnittene Thujen säumen Fuchsienrabatten. In den Alleen schimmern, vom Grün halb verborgen, weiße Korbmöbel. Der Samowar hat Griffe aus Elfenbein. Die untergehende Sonne leuchtet durch den Vorhang aus wildem Wein. 58 Der Bildhauer und Fürst Paolo Troubetzkoy 59 verewigt in seinen impressionistisch bewegten Skulpturen die vergängliche Gesellschaft, die sich hier ergeht. Leichtfertige, parfümierte Damen scheinen jeglicher Erdenschwere enthoben. Raffiniert geraffte, hauchzarte Kreationen der neuesten Mode umschmeicheln ihre edle Figur. Luftig komponierte Frisuren umspielen ihre ätherischen Züge. Der jugendliche Beau verharrt wie gebannt am Volant seines offenen Kraftwagens. Der Bankdirektor hat den " Manchester Guardian " neben seinem Sessel zu Boden gleiten lassen und verweilt sinnend in einer plastischen Momentaufnahme.

Ein neues Leben

Eine Fotografie aus dem Jahre 1905 zeigt Jenja an der Seite ihres Bruders Iljuscha. 60 Sie trägt ein langes, dunkles Kleid mit weißem Kragen und ein keckes Hütchen. Die Rechte hat sie dem jungen Mann selbstbewußt und kameradschaftlich auf die Schulter gelegt. Iljuscha arbeitet zu dieser Zeit

55 Weinberg, a.a.O., S. 13

56 A. Rado, Führer durch die Sowjetunion, Berlin 1928, S. 739

57 Herlihy, a.a.O, S. 278

58 Babel, a.a.O., S. 7

59 Troubetzkoy Scultore, Verbania 1866 - 1938, Intra 1988

60 Walter Goldstern, a.a.O., S. 43

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als leitender Ingenieur in einer Ölraffinerie in Bukarest. 61 Die Aufnahme könnte also während der Reise auf der Donau vom Schwarzen Meer nach Wien entstanden sein. Von Odessa nach Sulina im rumänischen Delta verkehren Personendampfer. 62 Von dort gibt es einen Seeanschluß nach Konstantinopel. Orient und Okzident begegnen sich. Die friedliche Flußfahrt mit dem Dampfboot vereint eine vielfältige Gesellschaft. Deutsche Geologen, ein amerikanischer Byzantinist, bulgarische Ärzte, die ihre Kenntnisse an der berühmten Wiener medizinischen Schule auffrischen wollen 63, sind unterwegs in die europäische Metropole. Man reist mit allen Annehmlichkeiten, die ein frei fahrender Raddampfer zu bieten hat. Rauchsalon und zwei Speisesäle stehen zur Verfügung. Vor den Sonnensegeln ziehen noch einmal die Felder der Ukraine vorüber. Der größte Strom Mitteleuropas teilt als Grenzfluß die Walachei und Bulgarien, Ungarn und Serbien. Er heißt russisch Dunaj, bulgarisch Dunaw, rumänisch Dunarea, ungarisch Duna, serbokroatisch Dunav. Er verbindet die Einflußbereiche des früheren türkischen Großreiches mit den slawischen und magyarischen Ländern der habsburgischen Krone.

Im Unterlauf verkehren alle Gattungen von Frachtbooten, Flößen, Seglern und Schraubendampfern. 64 " Einbäumler ", Zillen und Nachen mühen sich stromaufwärts. 65 Der Hauptstrom ist stellenweise fast drei Kilometer breit. Er erstreckt sich durch gleichförmiges Flachland, vorbei an Auen, buschbedeckten Inseln und Sandbänken. Große Nebenarme weiten sich zu Seen und Sümpfen. Pelikane, Reiher und Kormorane sind zu sehen. Bojen markieren Wracks, von Schiffen, die auf verborgene Hindernisse gelaufen sind. Das Wasser setzt sich bei Gegenströmung in kreisförmige Bewegung, bildet Schwalle und Wirbel. Frauen knien am Ufer, um Teppiche zu waschen. 66 Der kleine goldhaltige Fluß Peck mündet. Der kahle Babakai - Felsen kommt in Sicht. Man passiert den felsgesäumten Engpaß von Kazan, die Stromschnellen, die Riffe nach dem Eisernen Tor. 67 Hier behindert eine hochliegende, lange Felsbank, deren Klippen bei Niedrigwasser zutage treten, den Schiffsverkehr. Ein Mitreisender schwärmt : " wenige Strombilder der Welt können sich mit jenen Szenerien messen, die wir auf der Fahrt durch die Kataraktenstrecke genießen. Eine prachtvolle wildromantische Landschaft mit abwechslungsreichen Bildern nimmt uns gefangen. " 68 Man übernachtet in Belgrad, fährt anderntags an den Einmündungen von Save, Theiss und Drau vorüber, erreicht den Franz-Josefs-Kai von Budapest. Das Expressboot landet im Laufe des dritten Reisetages in der Weltstadt am Praterquai bei der Kronprinz-Rudolf-Brücke.

Die Reise in das Zentrum der Donaumonarchie wird zur dauernden Emigration. Im Oktober des Jahres 1905 bricht der Aufruhr in Odessa mit aller Gewalt los. Die Entladung der sozialen Spannungen wird planmäßig gegen eine Minderheit gelenkt. Jüdische Männer, Frauen und Kinder

61 Walter Goldstern, a.a.O., S. 34

62 Alexander von Hecksch ( Hrsg. ), Illustrierter Führer auf der Donau von Regensburg bis Sulina, Revidirt und

theilweise neu bearbeitet von Joseph Kahn, Wien, Pest, Leipzig, 1894, S. 101

63 Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, Lebensgeschichte 1921 - 1931, München 1980, S. 100

64 C.V. Suppan, Die Donau und ihre Schiffahrt, Wien 1917, S. 134

65 Suppan, a.a.O., S. 144

66 Claudio Magris, Donau, Biographie eines Flusses, München 1988, S. 474

67 Karl Baedeker, Österreich-Ungarn, Handbuch für Reisende, Leipzig 1903, S. 447

68 Erste Donau - Dampfschiffahrtsgesellschaft, Die Donau von Passau bis Russe, Wien 1927, S. 59

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werden geprügelt, verstümmelt und ermordet. 69 Es ereignen sich unbeschreibliche Grausamkeiten. Reguläre Truppen, die Polizei und der Stadthauptmann beteiligen sich offen an den Übergriffen. 70 Überall kommt es zu Raub und Plünderung, ohne daß die Staatsmacht wirkungsvoll einschreitet. Zehnhntausende von Existenzen sind ruiniert. Jenjas Vater stirbt zwei Monate vor diesen Ereignissen. Sein Besitz in Rußland ist verloren. Die hebräische Inschrift auf seinem Grab am Zentralfriedhof lautet : " Hier liegt begraben ein Mann teuren Geistes, ein treuer Ehemann und ein liebender Vater. Möge seine Seele eingebunden sein in den Kranz des Lebens. "

Vermögen wird keines hinterlassen. In der " Todfallsaufnahme " vom 21.2.1906 des k.k. Bezirksgerichtes Josefstadt 71 wird der Bruder Sima zum Mitvormund von " Jenny " Goldstern bestimmt. Sima muß als Zweitältester für seine jüngste Schwester sorgen. Als ihr Beruf ist " Gymnasiastin " angegeben. Sie hat offensichtlich kein eigenes Einkommen, allenfalls ein geringes Vermögen, über das der Bruder bestimmt. Vielleicht verdient sie ein wenig durch Übersetzertätigkeit, wie ihre Schwester Sonja, oder nutzt ihre Sprachkenntnisse für Nachhilfe. Am 21.10.1910 meldet sich Eugenie Goldstern für eine Wohnung in der Nußdorferstr. 4 I. Stock, Tür 9 beim k.k. Polizeikommissariat Alsergrund an. Im südöstlichen Teil dieses Stadtbezirks, der Wohnraum für die angesehene und begüterte Mittelklasse bietet, bilden Juden einen dicht gruppierten, in sich geschlossene, separaten Teil der Bevölkerung. 72 Der Anteil der Ärzte, Anwälte, Autoren und anderer Freiberufler ist überproportional hoch. 73 In der Nähe der Universität und der Leopoldstadt, dem Mittelpunkt des jüdischen Lebens in Wien, versammelt sich eine " aufstrebende jüdische Bourgeoisie ". 74 In der benachbarten bürgerlichen Josefstadt lassen sich selten Juden nieder. 75 Die Selbstabsonderung könnte durch empfundene antisemitische Feindseligkeit entstanden sein.

Auf dem ersten Wiener Meldezettel ist die Kennzeichnung " Religion : mosaisch " von fremder Hand nachgetragen. Eugenie Goldstern wird gezwungen, ihre Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft offenzulegen. Von keinem ihrer Geschwister ist eine aktive Ausübung der jüdischen Religion in der Familienchronik belegt. Der Vermerk vom 21. Oktober 1910 dient also schon der rassischen Diskriminierung. Sie wohnt wohl bei ihrem Bruder Sima, der Schwägerin Mascha und der kleinen Nichte Käthe. Mascha hat das Gymnasium und das Konservatorium in Dresden besucht. Sie unterrichtet Französisch, Englisch und Russisch.. Sie kann wundervoll Piano spielen. Andererseits ist sie eine passionierte Bergsteigerin. Sie wird als eine der ersten Frauen den Mont Blanc besteigen. 76 Sima hat schon Jenjas Brüder während der Studienzeit unterstützt. Neben seiner Arbeit als Zahnarzt engagiert er sich für die Entwicklung des Sozialismus.77 Er besitzt eine Praxis in der Nußdorferstraße 4a. Am selben Ort ist noch heute ein Zahnmediziner niedergelassen.

69 Weinberg, a.a.O., S. 166

70 Dubnow, Geschichte, a.a.O., S. 447

71 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Verlassenchaftsakt Abraham Goldstern, + 15.8.1905

72 Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867 - 1914, Assimilation und Identität, Wien 1989, S. 80

73 Rozenblit, a.a.O., S. 97

74 Rozenblit, a.a.O., S. 96

75 Rozenblit, a.a.O., S. 87

76 Walter Goldstern, a.a.O., S. 25

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Sogar die Nummer an der Wohnungstür ist erhalten.

Das stattliche Haus mit seiner altdeutsch vielfältig gegliederten Fassade stammt aus dem Jahre 1898. Die beiden Stufengiebel, die drei Erker, von denen einer in einem Türmchen, einer als Söller endet, bilden die repräsentative Schauseite für das Vergnügungsetablissement " Kollosseum ". Über zwei reich geschmückte Durchgänge erreicht man die Tanz- und Speisesäle. Hier werden beliebte Unterhaltungskonzerte gegeben. Im Sommer wird das Amüsement in einem Garten genossen. Das Unternehmen ist " eines der renommiertesten Wiener Varietés " 78 und dient abwechselnd als Komödienhaus und Theater. Operetten, Possen und Revuen wechseln, bis es 1925 endgültig zum Lichtspielhaus wird. Ein Kino des gleichen Namens befindet sich noch heute an derselben Stelle. Unmittelbar vor dem Haus hält ein halbes Dutzend verschiedener Straßenbahnlinien. Sie führen hinaus in die früheren Bauerndörfer an den Ausläufern des Wienerwaldes. Sie verbinden die moderne Großstadt mit Nußdorf und Salmannsdorf, Pötzleinsdorf, oder dem " Holländerdörfel " bei Neuwaldegg .Selbst in der Stadtmitte ist das Landleben nicht fern. Jenny könnte die weltberühmten Bauern im k. k. Kunsthistorischen Hofmuseum besuchen. In den Kunstsammlungen des " Allerhöchsten " österreichischen Kaiserhauses hat sich eine ländliche Hochzeitsgesellschaft ausgebreitet. Dudelsackmusik erklingt. Schankbursche und Speisenträger eilen. Nebenan ist ein Tanzvergnügen in vollem Gange. Die Dorfkirchweih wird durch die Vorführung eines von zwei Paaren ausgeführten Springtanzes eröffnet. Pieter Bruegel zeigt die Hochschätzung und Liebe, die er für das Landvolk seiner Heimat empfindet. Er ist vertraut mit seinem vielfältigen Brauchtum, wie dem Kampf zwischen Fasching und Fasten, oder der Fülle der Kinderspiele. Er kennt die kleinen Gewohnheiten und Notwendigkeiten des ländlichen Alltags. An einem düsteren Vorfrühlingstag wird Holz gesammelt, die Wand der strohgedeckten Kate ausgebessert, ein Vorrat an Weidenruten zum Korbflechten angelegt. Kinder mit Papierkronen und Waffeln veranstalten einen kleinen Fastnachtsumzug. Im Herbst kehrt die Rinderherde von der Weide zurück in das Dorf. Im Winter stapfen die Jäger mit ihren Hunden und magerer Beute durch den Schnee. Vor dem Wirtshaus wird ein geschlachtetes Schwein gesengt. Auf den zugefrorenen Teichen tummeln sich die Schlittschuhläufer.

Studium in Wien und Neuchâtel

Jenny entschließt sich, ihrer Begeisterung für die Bauern zu folgen und Volkskunde zu studieren. In den Matrikeln der Jahre von 1902 bis 1919 des Universitätsarchivs in Wien ist sie nicht verzeichnet. Sie ist wegen ihrer " verhängnisvollen russischen Matura " 79 lediglich als außerordentliche, oder Gasthörerin zum Philosophiestudium zugelassen. Im Wintersemester 1911/12 sind an der Philosophischen Fakultät knapp ein Fünftel der Studierenden weiblichen Geschlechts. 80 In der Frühzeit des Frauenstudiums sind russische Studentinnen unter den Ausländerinnen an der Universität Wien zahlenmäßig am stärksten vertreten. 81 Unter ihnen gibt es eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Jüdinnen. 82 Die Entscheidung für eine selbständige wissenschaftliche Laufbahn steht in großem Widerspruch zur überkommenen Rolle der Frau, die sich als Stütze ihre

77 Walter Goldstern, a.a.O., S. 25

78 Werner Michael Schwarz, Kino und Kinos in Wien, Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934, Wien 1992, S. 126

79 Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, Brief von Eugenie Goldstern an Michael Haberlandt aus Fribourg

am 23.1.1920

80 Heindl, a.a.O., S. 129

81 Heindl, a.a.O., S. 131

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Ehemannes, als Hausfrau und Mutter zu bewähren hat. Sie stellt eine deutliche Auflehnung gegen die väterliche Herrschaft weltlicher und geistlicher Oberhäupter dar. Einer aus Odessa stammenden Jüdin stehen noch größere Vorurteile gegenüber. Russische Studentinnen werden allgemein des Hanges zu Anarchie und Revolution, zu Sozialismus und Nihilismus verdächtigt. 83 Daraus erklärt sich wohl die frühzeitige Orientierung nach den schweizerischen Universitäten, an denen ein liberaleres Klima herrscht und eine Promotion für Frauen möglich ist. 84

Eugenie Goldstern findet ein prägendes Vorbild in der Person des Leiters des k.k. Reichsmuseums für österreichische Volkskunde. Er hält seine gut besuchten Vorlesungen in der Börse am Schottenring. In diesem Prunkpalast werden die einfachen Werke der Volkskunst dem höchst entwickelten gründerzeitlichen Repräsentationsstreben gegenübergestellt. Während in einem eleganten Saal Preise und Kurse für Handelsgüter festgesetzt werden, ist im zweiten Stockwerk die Kultur derer dokumentiert, die diese Werte erwirtschaften. Man gelangt in die Sammlung nicht durch das prunkvolle Entrée mit seinem genienbestandenem, quadrigenbekröntem Portikus. Durch den Seiteneingang an der Wipplingerstraße betritt man ein überreich geschmücktes Vestibül. 85 Ein imposantes Treppenhaus mit marmornen Balustern und vergoldeten Kandelabern führt in eine dämmerige slowakische Stube mit buntbemalten Möbeln aus Groß-Blatnitz in Mähren. Eine vollständig eingerichtete oberösterreichische Küche mit offenem Herd samt Rauchmantel spiegelt sich in kaltglänzendem Kunstmarmor antikisierender Wandgliederungen. Dicht bestückte Pultkästen mit Ostereiern und bemalten Totenschädeln, übervolle Schauvitrinen mit Kropfketten, Bauchranzen- und Schuhschnallen stehen an der Rückwand unter der Galerie. Aus der Schlafstube eines Kupferschmiedes in Kärnten schweift der Blick über endlose Flure im Stil der italienischen Renaissance.

Michael Haberlandt ist der Direktor dieses sehenswerten, den Liebhaber strenger Systematik " nicht ganz befriedigenden Museums ". 86 Er liest als erster und einziger Privatdozent 87 an der Wiener Universität " Ethnographie ". Er versteht es, lebendig und packend sein Wissen über " die beiden Geschlechter innerhalb der einzelnen Nationen ", eine Graburne von den Liu - Kiu - Inseln, 88 die " Cultur der Eingeborenen der Malediven ", über " Sociologie " oder Vielmännerei 89 vorzutragen. Er liebt es, Kenntnisse aus den entlegensten Winkeln der Welt zu sammeln und zu vergleichen. Er stellt

82 Heindl, a.a.O., S. 133

83 Heindl, a.a.O., S. 131

84 Heindl, a.a.O., S. 131

85 Karl Baedeker, Österreich-Ungarn, Handbuch für Reisende, Leipzig 1903, S. 32

86 Leopold Schmidt, Das österreichische Museum für Volkskunde, Wien 1960, S. 42

87 Leopold Schmidt, Die europäischen Vergleichssammlungen im österreichischen Museum für Volkskunde, in :

Wissenschaft und Weltbild, Zeitschrift für Grundfragen der Forschung, 14. Jahrgang, Heft 1, Wien März 1961, S. 59

88 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Faszikel 15 AB - 1, Volkskundemuseum,

Philosophische Fakultät der k.k. Universität Wien, Bericht über die Kommissionssitzung betr. die Verleihung des

Titels eines außerordentlichen Professors an den Privatdozenten Dr. Michael Haberlandt, Wien 5.3.1910

89 Wolfgang Jacobeit, Hannjost Lixfeld, Olaf Bockhorn, (Hrsg. ), Völkische Wissenschaft, Gestalten und Tendenzen

der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994, S. 421

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" Frauenwaffen " von den Gilbertsinseln den " Damendolchen " Japans und den Messern der Eskimofrauen gegenüber. 90 Er betreibt vergleichende Religionswissenschaft. Er kennt die japanische und buddhistische Literatur 91 , ist promoviert in der indogermanischen Sprachwissenschaft. 92 Er hat die " Abenteuer der zehn Prinzen " aus dem Sanskrit übersetzt. 93 Er schreibt gewandte, geistvolle Aufsätze über die verschiedensten Gegenstände des Kulturlebens. Er versucht in einer Überschau, geistige und kulturelle Eigenarten verschiedener Völkergruppen miteinander in Beziehung zu setzen.94

Er bemerkt, daß auch bei fremden Stämmen " die meisten Volksäußerungen in sehr verwandter, oft überraschend gleicher Art " wiederkehren. 95 Er stellt eine " Gleichartigkeit der menschlichen Natur- und Geistesanlagen " fest, die unter ähnlichen Bedingungen zu vergleichbaren Ergebnissen führt. 96 Er findet zahlreiche überraschende Verbindungen von höchsten zivilisatorischen Errungenschaften zu Bräuchen des " primitiven Zöglings der Natur. " 97 Er führt aus, daß die Strafgesetzgebung seiner Zeit im " barbarischen Rachedurst " wurzelt. 98 Obwohl er selbst Träger des Ritterkreuzes des Franz Joseph - Ordens ist, 99 sieht er, daß die aristokratische Gliederung seiner Gesellschaft der Ordnung brahmanischer Kasten entspricht. 100 Er beobachtet, wie politische Vorgänge allenthalben durch " Männerverbände " gesteuert und bestimmt werden. 101 Er widerspricht der Auffassung, die Männer seien die ausschließlichen Träger der Weltgeschichte.Er hebt den " fast gänzlich vergessenen Kulturanteil der Frau " hervor.102

90 Michael Haberlandt, Über Frauenwaffen, Globus, Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Bd. LXIV,

Nr. 12, Braunschweig 1893, S. 185 ff.

91 Schmidt, Vergleichssammlungen, a.a.O., S. 59

92 Verzeichnis über die seit dem Jahre 1872 an der philosophischen Fakultät der Universität in Wien eingereichten und

approbierten Dissertationen, Bd. II, Wien 1936, S. 227

93 Michael Haberlandt, Dichtungen des Ostens, Die Abenteuer der zehn Prinzen, München 1923

94 Schmidt, Museum, S. 20

95 Jacobeit, a.a.O., S. 503

96 Michael Haberlandt, Völkerkunde, Berlin 1917, S. 18

97 Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 101

98 Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 101

99 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Faszikel 15 AB - 1, Volkskundemuseum,

Begründung der Ernennung Michael Haberlandts zum außerordentlichen Universitätsprofessor durch Kaiser Franz

Joseph, Bad Ischl 3.7.1910

100Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 97

101Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 95

102Michael Haberlandt, Die Kochkunst der Primitivvölker, Vortrag, gehalten den 27.9.1912, Vorträge des Vereines zur

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Er setzt sich mit der Kultur des Alltags auseinander. 103 Er sinnt nach über die psychologische Wirkung der " Reclame ", die Wahrnehmung beim Radfahren, oder den Großstadtlärm. Er hält das typische, einfache Spielzeug für einen wichtigen Forschungsgegenstand. Er vermutet, das Kind sei " ein kleiner Urmensch ", dessen Leben und Geist " prähistorisch " seien. 104 Die Welt des Kinderspieles sei ein " rückständiges Element ", 105 in dem sich die wahre Unschuld einer unverdorbenen, bescheidenen und anspruchslosen Kinderseele offenbare. Er begeistert sich für Naturen, die " nicht ergriffen von der Aufregung der Modernität " sind. 106 Er behandelt die primitive Kunst auf der Suche nach der " volksthümlichen, urwüchsigen Grundlage ", dem " eigentlichen Volk ". 107 Er untersucht die Ergologie des Primitiven. 108 Er stößt auf Zusammenhänge zwischen dem " Wirtschaftsbetrieb " und der " Lebensführung ". 109 Er stellt einen " Kommunismus " im gemeinschaftlichen Vorgehen bei Jagd, Fischfang oder Bodenbearbeitung fest.110 Er weist auf die " Restvölker " hin, bei denen sich uralte Lebens- und Arbeitsformen erhalten haben. Er lenkt die Aufmerksamkeit seiner Studenten auf " Randvölker ", die sich als äußerste Vorposten menschlicher Kultur gegen eine übermächtige, unwirtliche natürliche Umgebung behaupten.111 Er weckt damit das Interesse von Eugenie Goldstern an " oft altertümlich verbliebene Sprachgemeinschaften innerhalb oder am Rande der neueren Nationalstaaten " 112, die in ihren Rückzugsgebieten Alternativen zu den modernen Erscheinungen der Entwurzelung und Entfremdung sein könnten.

Im Jahre 1911 wird ein erstes Geschenk von Eugenie Goldstern im Inventarbuch des Volkskundemuseums vermerkt. Eine tönerne Kinderpfeife, rot und golden bemalt, wird in den Bestand aufgenommen. Eugenie Goldstern wird im folgenden Jahr Mitglied im Verein für österreichische Volkskunde und abonniert dessen Zeitschrift. Sie befindet sich in bester Gesellschaft. Die soziale Spannweite reicht von der Schriftstellerin aus Sarajewo, über die Frau Baronin, die Frau Generalkonsul, die k.k. Oberstensgattin und die Hofdame bis zur Französischlehrerin. Der Münchner Baurat Grässel und der Architekturprofessor Gabriel von Seidl gehören zu den Mitgliedern ebenso wie die Äbte der Stifte Zwettl, Seitenstetten und Melk. Die

Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, Wien 1913, S. 25

103Michael Haberlandt, Cultur im Alltag, Gesammelte Aufsätze, Wien 1900

104Michael Haberlandt, Cultur im Alltag, Gesammelte Aufsätze, Wien 1900, S. 139

105Haberlandt, Cultur, a.a.O., S. 133

106Haberlandt, Cultur, a.a.O., S. 133

107Jacobeit, a.a.O., S. 502

108Moritz Hoernes, Natur- und Urgeschichte des Menschen, Band II. Urgeschichte der Kultur, IV - VII, Wien 1909, S.

562

109Jacobeit, a.a.O., S. 503

110Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 76

111Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 18

112Schmidt, Vergleichssammlungen, a.a.O., S. 59

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Fräulein Marie Bena und A. Kolbe dienen dem Museum in " jugendlicher und unermüdlicher Begeisterung "bei der Konservierung und Restaurierung der Kostüm- und Textilsammlung 113 . Hella Schürer von Waldheim legt in einem Aufsatz die " Geschichte und Verbreitung des Fladenbrotes in Europa " dar. Sie vermutet, daß das ungesäuerte Brot der Juden, die " Mazes ", dem Gerstenbrot der alten Griechen ähnelt. Sie erkennt,daß das dünne, scheibenförmige, aus Wasser und Mehl bestehende Gebäck aus Kleinasien, Syrien, Palästina und Ägypten den österreichischen " Fridatten " sehr ähnlich ist. 114

Alice Sperber könnte ein Vorbild für Eugenie Goldstern sein. Sie hat bereits vor Jahren den Doktorgrad erworben.115 In einer neu gegründeten Fachzeitschrift vergleicht sie den sprachlichen Umgang mit bestimmten Gegenständen in verschiedenen Ländern. Der Begriff für " Balken " kann doppeldeutig sein. Das französische " poutre " bezieht sich im übertragenen Sinn auf die sexuell noch unberührte, nicht gedeckte Stute. Das ähnlich klingende italienische " poltrona " bezeichnet die scheuen und ungezähmten Wesenseigenschaften, die solchen Tieren zu eigen sind. Das verwandte " poltrone " bedeutet den bequemen Lehnstuhl, das angenehme Ruhebett. Es bezeichnet aber auch das träge Maultier, den faulen Esel, den Faullenzer, den Schlingel, die feige Memme, den Taugenichts. Der " kantér " aus Reggio in der Emilia und das spanische " canterio " meinen zugleich Pferd, Esel oder Deckenbalken. 116 Die Ursache für diese auffallende " Animalisierung von Gegenständen " könnte in uralten Bräuchen liegen, bei denen Schädel von Opfertieren als Schrecksymbole an den entsprechenden Teilen der Gebäude befestigt wurden. Die sardischen Kosenamen für Kindern " pippiu " und " pippiu " könnten auf den Lockruf für Küken zurückggehen. Schließlich werden auch in Wien Kinder mitunter " Pipihenderln " genannt. 117

Die Privatgelehrte Marie Eysn sieht Verbindungen zwischen Buddhismus und Christentum. Im Schintotempel Schokonscha in Tokio steht links neben der Eingangstreppe ein dem Weihwasserkessel vergleichbarer langer steinerner Trog mit geweihtem Wasser. Daneben wartet eine dem Opferstock ähnliche Opferlade auf gespendete Münzen. In der Nähe hängt ein Glockenseil, mit dem die Gottheit auf die zu erhörende Bitte aufmerksam gemacht werden kann.118 Das Bedürfnis nach Schutz vor Grundverletzungen und unliebsamen Gebietsüberschreitungen führt in ganz Europa zu vergleichbaren Ergebnissen. Der huzulische Stangenzaun verbindet seine Planken und Stempen auf ähnliche Weise, wie sein alpines Ebenbild. Der ungarische Spaltzaun besteht aus den gleichen Schwartlingen, wie der Pinzgauer Girschtnzaun. Flechtzäune werden in

113ÖZV XVII, 1911,S. 97

114ÖZV 1914, S. 23

115Alice Sperber, Inaugural - Dissertation der philosophischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der

Doktorwürde, Charakteristik der Lothringer Märchensammlung von E. Cosquin, ( Paris 1887 ), Wien 1908

116Alice Sperber, Zur Animalisierung von Gegenständen, Wörter und Sachen, Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach-

und Sachforschung, Bd. II, Heft 2, S. 192, Heidelberg 1911

117Alice Sperber, Zur Bildung romanischer Kindernamen, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, XXVII.

Heft, Prinzipienfragen der romanischen Sprachwissenschaft, Meyer - Lübke gewidmet, Teil II, Halle a.S. 1911, S.

153, Hartwig Fischel, Österreichische Volkskunst, ÖZV XVII, Wien 1911, Friedrich Salomo Krauss und Leo

Norberg, Künstlerblut, Ein Schauspiel in vier Aufzügen, Leipzig 1903

118Marie Andree - Eysn, Volkskundliches, Aus dem bayrisch = österreichischen Alpengebiet, Braunschweig 1910, S.

18

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Lettland und Rußland genauso verwendet, wie in Südtirol oder Oberösterreich. Besondere Aufmerksamkeit wird überall den Durchlässen, Übergängen und Überstiegen geschenkt. Bei den Gattern und Gatterln werden mit großem Geschick sinnreiche Verschlüsse, selbsttätige Gatternschieber und verblüffend wirkungsvolle Türlzieher angebracht.

Um die Jahrhundertwende ist eine " sichtliche Ermüdung in der Begeisterung für historische Kunstformen " eingetreten. 119 Der historistische Ruhmestaumel der glänzenden und prunkvollen Ringstraßenära ist verflogen. Die gekonnte Imitation der Vergangenheit, das Maskenfest des Eklektizismus gilt jetzt als Selbstbetrug. In den Kopien erkennt man verflachte Serienproduktion. Den gründerzeitlichen Baumeister aus der Reichshauptstadt sieht man als intriganten, niederträchtigen Menschen " mit dem Kautschukgewissen ". 120 Der Architekt Hartwig Fischel ist Ausschußrat im Volkskundeverein. Er sucht nach einer Vereinfachung der Formensprache, nach Sachlichkeit und Knappheit im Ausdruck, nach materialgemäßen und konstruktiv klaren Lösungen. Er bewundert die Kraft und Ursprünglichkeit der österreichischen Volkskunst. Er findet hier vielseitiges und mannigfaltiges Studienmaterial. Der Oberingenieur aus Wien erlebt Anregungen in den kräftigen, naiven, frischen Äußerungen des Volkes. Er will in der Völkerkindheit, in primitiven Kulturen neue gestalterische Ideen suchen. Er schätzt die bodenständige Tracht. Er beachtet, wie im einfachen Hausrat Aufgaben des täglichen Lebens gelöst werden. Er legt Wert auf die tief verwurzelten Kräfte, die im volkstümlichen Schmuck und Gerät zum Ausdruck kommen.

Der Staat kommt nur für ein Viertel des Vereinsetats auf. Der Großteil der Verwaltungsausgaben und Ankaufskosten wird aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden " großmütiger, begüterter Freunde " bestritten. 121 Das Bankhaus S.M. von Rothschild tritt als Mäzen in Erscheinung. 122 Offensichtlich soll eine völkerversöhnende, einigende Tendenz auf dem volkskünstlerischem Gebiet gefördert werden. Die Volkskunst gilt als neutraler Boden, auf dem eine internationale Verständigung über Grenzen hinweg möglich sei. Ihre österreichische Ausprägung gilt als vorbildlich, weil innerhalb der Grenzen der Monarchie " die stärksten Rassenverschiedenheiten Europas zu einer staatlichen Einheit versammelt " seien. 123 Volkskundliche Erscheinungen könnten nicht ausschließlich als nationale Eigenart betrachtet werden. In Abhängigkeit von Material, Technik und Zweck bestehe eine enge innere Verwandtschaft gewisser gestalterischer Leistungen in den verschiedensten und entferntesten Ländern. In gewissen Motiven zeigten sich gemeinsame uralte Überlieferungen, " die vom Weltverkehr über die ganze bewohnte Schichte des Erdballes getragen wurden. " 124

Der Geograph Richard Andree hat sich schon vor Jahrzehnten mit völkerkundlichen Vergleichen beschäftigt und herausgefunden, daß der Schirm bereits von den alten Ägyptern und Babyloniern als Zeichen der Würde geschätzt wurde. 125 Bestimmte Formen des Aberglaubens sind international

119Hartwig Fischel, Österreichische Volkskunst, ÖZV XVII, Wien 1911, S.2

120Friedrich Salomo Krauss und Leo Norberg, Künstlerblut, Ein Schauspiel in vier Aufzügen, Leipzig 1903, S. 100

121Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XIX. Jahrgang, Wien 1913, S. V

122ÖZV XVII Jahrgang, Wien 1911, S. 95

123Fischel, a.a.O., S. 4

124Fischel, a.a.O., S. 4

125Richard Andree, Ethnographische Parallelen und Vergleiche, Stuttgart 1878, S. 251

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verbreitet. Der böse Ruf der Schwiegermütter scheint auf sämtlichen Erdteilen festzustehen. 126 Die Angst vor dem bösen Blick, dem Werwolf oder den Vampiren herrscht in Europa, Afrika, Asien und Amerika gleichermaßen. Den Brauch, die eigenen Leiden auf unschuldige Sündenböcke zu übertragen, haben auch die Bagadas, Katschinzen und Miaotse. Obwohl seine Beobachtungen das Gegenteil nahelegen, muß Andree " die Gleichwerthigkeit der einzelnen Racen und Stämme in Bezug auf Culturfähigkeit " in Frage stellen, weil er die eigene hohe Zivilisation zum Maßstab nimmt. 127 Sein Werk " Zur Volkskunde der Juden " eilt in großen Sprüngen durch Raum und Zeit und landet meist bei gängigen Vorurteilen. 128 Friedrich Salomon Krauss beurteilt das Ergebnis als das " das wertlose, tückische Hetzschriftchen " 129

Krauss ist eines der ersten Mitglieder in der ethnographischen Kommission der anthropologischen Gesellschaft. Er ist ein heftig umstrittener Pionier der Folklore, der mit umfangreichen Abbildungsmaterial und vielfältigen Fallbeispielen aus allen Ländern und Zeiten die verbindende Macht des Eros belegt. 130 Eine von ihm herausgegebene Zeitschrift kommt nach Meinung Freuds " der Psychoanalyse zu Hilfe". 131 Krauss bemerkt klar, wie die philologische Forschung, durch ethnologisierende Sprachvergleiche " die Phantome der Rassenlehre und der Nationalitätenstreitigkeiten " mächtig fördert. 132 Er verneint das Bestehen eines individuellen jüdischen Volkstums. Er bestreitet jede Besonderheit, bezweifelt jede Eigenart. Er hält dergleichen für eine " Fata Morgana ", für ein vorgespiegeltes, irrlichterndes Scheinvolkstum. 133 Das wirkliche altjüdische, hebräische Volkstum sei schon jahrhundertelang " innerlich gänzlich verwittert ". 134 Alle tatsächlichen urwüchsigen Eigenschaften seien nach kurzer Zeit der Assimilation untergegangen. Juden seien in ihrer entscheidenden Mehrheit Deutsche, selbst wenn ihre christlichen Landsleute anderer Ansicht seien. Sie seien folkloristisch mit den Völkern, in deren Mitte sie leben, völlig identisch. Sie unterschieden sich allenfalls durch eine soziale Ausnahmestellung und die Einhaltung gewisser religiöser Vorschriften. Noch vorhandene Gebräuche seien künstlich aufgezwungene " verkümmerte Überlebsel. " 135

Konrad David Mautner ist Industrieller. Er leitet die von seinem Großvater Isaac gegründeten " 1.

126Andree, Ethnographische, a.a.O., S. 159

127Andree, Ethnographische, a.a.O., S. VI

128Christoph Daxelmüller, Jüdische Volkskunde in Mittel- und Osteuropa, Überlegungen zur Wissenschaftsgeschichte

einer vergessenen Institution, in: Aschkenas, Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 2. Jhg., Wien 1992, S.

183

129Christoph Daxelmüller, Wiener jüdische Volkskunde, in : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie Bd.

XLI, Gesamtserie Bd. 90, Wien 1987, S. 215

130Magnus Hirschfeld, Sittengeschichte des Weltkrieges, Wien 1930

131Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Chronologisch geordnet, Bd. VIII, Werke aus den Jahren 1909 - 1913,

Frankfurt am Main 1973, S. 225

132Krauss, Volkskunde, a.a.O., S. 20

133Krauss, Volkskunde, a.a.O., S. 43

134Krauss, Volkskunde, a.a.O., S. 44

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Baumwoll- und Leinenweberei ", den größten europäischen Textilkonzern mit 23 Fabriken und 23.000 Beschäftigten. 136 Er lebt größtenteils in Gössl im abgelegenen Grundlseer Tal. Er hat mit bäuerlichen Gefährten die Jugendzeit gemeinsam verlebt und ist " als Kamerad unter dem Bauernvolk gern gelitten ". Sein bester Freund und Altersgenosse ist der Gößlerwirt Josef Köberl, vulgo Sepp Veit. Er hat fünf Jahre als kaiserlicher Holzknecht gearbeitet. Von ihm läßt Mautner sich die Bedingungen erklären, nach denen die gefährliche Akkordarbeit auf den Ziehwegen, die mühsame Beförderung der Baumstämme in den Triften und den Klausen des Toplitz- und des Grundlsees geregelt ist. Es gibt sechs verschiedene Lohnklassen. Nur wenige schaffen nach Jahren und mit viel Geschick den Aufstieg zum " Rottmeister ", dem Vorarbeiter einer " Paß ". Mehr als die Hälfte der Männer gehören der untersten Einkommensstufen an, stehen nur als " provisorische " Forstarbeiter im Staatsdienst. 137

Von seinem Gewährsmann erfährt Mautner von den " Unterhaltungen der Gößler Holzknechte ". 138 Begeistert fertigt er Zeichnungen vom Tratz'n und Faustschiam, vom Ganszupfen, Stemmen und Purzeln, die an die brueghelschen Kinderspiele denken lassen. Er zeigt, wie sich erwachsene Mannsbilder dabei vergnügen, Bären aus dem Loch zu stochern, Stiere niederzubeißen, oder Bettelmann zu spielen. An Orten wie dem alten Ladnerwirtshaus beim Tanz der Almdirnen 139 sammelt Mautner seit Jahrzehnten volkstümliches Liedgut, unter anderem nahezu die gesamte mündliche Überlieferung des Dorfes, in dem er wohnt. Ihm werden die musikalischen Erinnerungen von Salinenarbeitern, Holzknechtsfrauen und Webern anvertraut. Man singt ihm " viele der oft recht argen Gaßlreime " vor. 140 Er erfährt Gstanzln, Kinderreime, Tanzreime und Tanzweisen. Er lernt die langgezogenen Almschreie aus dem Toten Gebirge, einen Beerenweiberruf, Verständigungsrufe bei der Holzriefe, Jodler und Ludler kennen. Er läßt sich vom Mesnerdirndl in St. Leonhard von der Geburt des Messias vorsingen : " Die Jungfrau keusch und rein, die soll sein Muata sein. " 141 Das Hirtenlied wird phonographisch aufgezeichnet und anschließend durch Noten und Abschrift festgehalten. Es erscheint in einem umfangreichen Prachtband, zu dem der Forscher mit eigener Hand bunte Initialen, feine Vignetten und farbenfrohe Marginalien entworfen hat. 142

Mautner besitzt eine eigene " Trachtenkammer ". Er veranstaltet im Jahre 1911 ein Trachtenfest und setzt sich dafür ein, daß im Handarbeitsunterricht der Schulen " bodenständige Gewänder " anstelle

135Krauss, Volkskunde, a.a.O., S. 44

136Österreichische Akademie der Wissenschaften ( Hrsg. ), Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 - 1950, Bd.

VI, Wien 1975, S. 165

137Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVII Jahrgang, Wien 1911, S. 82

138Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XV. Jahrgang, Wien 1909, S. 161 ff.

139Mautner, Alte Lieder, a.a.O., S. XVIII

140Konrad Mautner ( Hrsg. ), Alte Lieder und Weisen aus dem Steyermärkischen Salzkammergute, Auflage von 1919,

Reprint Tutzing 1977, S. X

141Konrad Mautner, Alte Lieder und Weisen aus dem Steyermärkischen Salzkammergute, Wien 1919, Reprint Tutzing

1977, S. 15

142Konrad Mautner, Steyerisches Rasplwerk, Vierzeiler, Lieder und Gasslreime aus Goessl am Grundlsee, in Wort und

Weise gesammelt, aufgeschrieben und mit Bildern versehen von Konrad Mautner, Wien 1910

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von " Basarmustern " genäht werden.143 Er schreibt ausgezeichnete Beiträge zum Volkstum seiner Heimat in der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde. 144 Als Privatsammler bearbeitet er wissenschaftlich die Fülle seiner goldspitzgestreiften Frauenhauben, der zeugenen Korsettln, der kattunenen Leiberl und feinen Chemiserl. Im hoch taillierten Achselröckl sieht er noch die Spuren der Mode des Empire. Er hält den längst als altväterlich verschrieenen Spenzer mit Rüschenzier und wattierten Schinkenärmeln in Ehren. Im Ärmelschnitt obersteirischer Frauenjoppen findet er noch Anklänge an die Uniformjacken der Zuaven. Er zeichnet Bauern aus Turnau mit ihren malerischen " Knöpflhosen ". Er weiß, daß sie sich aus der ganz dicken lodenen Überkleidung entwickelt haben, die Jäger und Waldarbeiter vor Schnee schützte. Er kann im langen " Kaputerrock " eines Holzknechtes des Stiftes Admont noch das französische Vorbild der " capote " vom Ende des vorletzten Jahrunderts erkennen.

Edgar von Spiegl hat ähnliche familiäre Voraussetzungen wie sein Freund Konrad Mautner. Er stammt ebenfalls aus dem " Sauerteig der kommerziellen und künstlerischen Gesellschaft " in Wien. 145 Er ist Diplomat. Mit seiner Frau, die den Mädchennamen von Goldschmidt - Rothschild führt, wohnt er im " Schlagerhaus " des Gutes Engleithen bei Bad Ischl. Das weite Feld der religiösen Volkskunde hat in seiner Sammlung " einen sehr bemerkenswerten Niederschlag gefunden " 146 Die gesamte Passion Christi in der Karwoche wird mit volkskünstlerischer Anschaulichkeit vor Augen geführt. In Osterkrippen wird durch Figuren aus Papier oder bemaltem Ton auf richtigen Theaterschauplätzen mit auswechselbaren Kulissen das ganze Leiden des Erlösers vergegenwärtigt. Gleich zwei lebensgroße Palmesel stehen für die dramatische Aufführung des Einzuges des Messias in Jerusalem bereit. Für die Fußwaschung dient das Gründonnerstagsgeschirr aus Gmundner Majolika. Das Schweißtuch der Veronika mit dem Antlitz des gequälten Heilandes ist auf einer weiteren Schüssel dargestellt. Ein Hinterglasbild mit dem " Ecce homo " gemahnt an die erlittene Schmach und das hilflose Ausgeliefertsein des Gottessohnes gegenüber der Brutalität der Menschen. Besondere Bedeutung haben die " arma Christi " genannten Leidenswerkzeuge. Sie können als Amulette an einem kleinen Kettchen aus Silber getragen werden. Sie werden bei der häuslichen Andacht in einem flaschenschiffähnlichen " Eingricht " verehrt. 147 Neben Dornenkrone, Geissel, Kreuzesnägeln, Longinusspeer und Essigschwamm zählt das Beschneidungsmesser zu den angebeteten " Marterwerkzeugen ". Die Beschneidung gilt als erste Leidensstation, " da hierbei zum erstenmal das Blut Jesu vergossen wurde. " 148 Eine Verstrickung der Juden in den Tod des Erlösers, der Vorwurf des Gottesmordes wird schon von Paulus nahegelegt. Er schreibt " von den Juden, welche auch den Herrn getötet haben " und legt damit das Fundament für einen christlichen Antijudaismus, 149 der von den Sammlern Mautner und Spiegl wohl übersehen wurde.

143Viktor Geramb ( Hrsg. ), Steirisches Trachtenbuch, begonnen und begründet von Konrad Mautner, Graz 1935, S.

574

144Franz K. Lipp, Erlesenes Volksgut der Alpenländer, vornehmlich des Salzkammergutes, Sammlung Edgar von

Spiegl im Schloßmuseum Linz, vormals Engleithen bei Bad Ischl, Linz 1968, Kataloge des Oberösterreichischen

Landesmuseums, Nr. 58, Nr. 8 der Volkskunde - Abteilung

145Lipp, Erlesenes , a.a.O., S. 3

146Lipp, Erlesenes , a.a.O., S. 44

147Lipp, Erlesenes , a.a.O., S. 45

148Gertrud Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2, Die Passion Christi, Gütersloh 1968, S. 206

149Rudolf Schuster, Sozial anstößig und moralisch minderwertig, Anti - Judaismus von den Anfängen bis zum Konzil

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Ein Gebet aus dem Sarntal wird im Jahr 1913 in der Zeitschrift für österreichische Volkskunde abgedruckt, das diesen Eindruck der traditionellen Judenfeindschaft vertieft :

" Och weh, weh, tun mir die heiligen Wunden wehDie kloan als wie die großen,wie mi die Juden hobenderstochen und derstoaßen ... " 150

Der Blick über die Grenzen führt nicht immer zur besseren Vertändigung. Er kann von verständnisloser Herablassung getrübt werden. Dr. Edmund Schneeweis berichtet von den ältesten Stammsitzen der Russen, längs der Westküste des Ilmensees. In den armen großrussischen Dörfern wird Hafer und Gerste gedroschen, indem man mit den Ährenenden auf eine Leiter loshaut, bis der größte Teil der Körner herausgefallen ist. Der Rest wird mit einem dicken Stock herausgeklopft. Zum Wäscheschlagen wird eine Schaufel verwendet. Die Bauern tragen Bundschuhe. Ihre Felder sind nur fünf Meter breit und weit verstreut. Eine siebzehnköpfige Familie bewohnt ein kleines Blockhaus. Sie übernachtet im Winter zusammen mit ihrem Kleinvieh. Katzen, Hunde und Geflügel hausen in einer unter dem Ofen befindlichen Höhlung. Als Kamin dient ein ausgehöhlter Baumstamm.151 Die Menschen betten sich auf Pelze und Stroh. Sie nutzen die aufsteigende tierische Wärme als nächtliche Heizung. Sie liegen auf einer Art erhöhter Bühne über einer Grube, die von Schafen, Ziegen und Schweinen bewohnt wird. 152

Rudolf Trebitsch ist ein unabhängiger Privatgelehrter, der aus eigenen Mitteln Reisen, Forschungen und auch Sammlungen bestreiten kann. Er unterstützt das Volkskundemuseum mit hohen Beträgen. Im Jahre 1912 spendet er 15.000 Kronen, mehr als die jährliche Subvention des Kultusministeriums. 153 Er ist wie Eugenie Goldsterns Brüder Samuel und Sima Arzt. 154 Im Jahre 1908 ordiniert er als Doktor der gesamten Heilkunde unweit des Volkskundemuseums in der Josefsgasse 11. 155 Er interessiert sich für die " aussterbenden Völker Europas ".156 Er konzentriert sich besonders auf die Bewohner der entlegenen Atlantikküsten. 1908 forscht er in Westirland und auf den Aran - Inseln. Er untersucht Beziehungen zu der Bevölkerung von Grönland, die er auf

von Nicaea, in : Entschluß, Spritualität . Jesuiten . Gemeinde, 42. Jhg., Nr. 7 - 8, Wien 1987, S. 30

150Klara Pölt - Nordheim, Innsbruck, Lieder und Gebete aus dem Sarntale, Zeitschrift für österreichische Volkskunde,

XIX. Jahrgang, Wien 1913, S. 201

151ÖZV XIX. Jahrgang, Wien 1913, S. 14

152Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XIX. Jahrgang, Wien 1913, S. 13

153ÖZV XIX. Jahrgang, Wien1913, S. 68

154Dr. med. et phil. Rudolf Trebitsch, Versuch einer Psychologie der Volksmedizin und des Aberglaubens, Eine

ethnologische Studie, Sonderabdruck aus Bd. XLIII ( der dritten Folge Bd. XIII ) der Mitteilungen der

Anthropologischen Gesellschaft, Wien 1913

155Verzeichnis der Sanitätspersonen Wiens für das Jahr 1908, verfaßt vom Winer Stadtphysikate der k.k. Reichshaupt-

und Residenzstadt Wien, Wien 1908, S. 137

156Österreichisches Museum für Volkskunde, Diapositivverzeichnis 1 - 1090

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einer fünfmonatigen Reise kennengelernt hat. 157 Er hat dort Eskimos 158 medizinisch untersucht, 159 ihre Sprache phonographisch aufgezeichnet. 160 1909 besucht er die Inselkelten in Wales und auf der Isle of Man. Er bringt Hunderte von Sammlungsstücken nach Wien. Er sammelt in den " vergessenen Ecken Europas "161 meist lange bevor in diesen Ländern eigene Volkskundemuseen entstehen. Er fertigt erste ethnographische Sprach- und Musikaufnahmen, die heute noch im Österreichischen Phonogrammarchiv als Raritäten verwahrt werden. Er nutzt die Technik der Fotografie, ein " damals aufregend modernes Aufnahmemedium ". 162

Er fotografiert altartige, fellbezogene irische Fischerboote auf dem Boynefluß, eine Harfenistin in Dublin, einen Barden bei Eistedfort in Wales. Er hält einen mit Lichtbildern illustrierten Vortrag über die keltische Bevölkerung von Großbritannien und Frankreich am Schluß der Jahresversammlung 1910 163 des Volkskundevereines. Er schildert Hochzeitsbräuche, zeigt den geschnitzten Bräutigamsstock, den Hochzeitslöffel. Genau bis zu den wandfesten Stockbetten mit reichbeschnitzten Schiebetüren beschreibt er die Inneneinrichtung eines Bauernhauses in St. Herbot. 164 1911 kommt er zu den Festlandkelten in der Bretagne. 165 Er widmet dem Volkskundemuseum seine bretonische Sammlung sowie " mehrere überaus interessante Kollektionen " aus der römischen Campagna, aus Mordwinien, Rußland, Griechenland und Spanien im Wert von 5000 Kronen. 166

Er forscht im Sommer 1913 im Baskenland. Die baskische Sprache wird von der spanischen Regierung unterdrückt. Der Katechismusunterricht in der Landessprache muß insgeheim stattfinden. 167 Auf dem Weg nach Guernica stellt Trebitsch fest : " Die Basken sind sehr

157Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, Einladung Urania = Theater, Vortrag des Med. Dr. Rudolf

Trebitsch, Meine Grönlandreise im Sommer 1906

158Trebitsch Rudolf, Bei den Eskimos in Westgrönland, Ergebnisse einer Sommerreise im Jahre 1906 von R.T., nebst

einem ethnologischen Anhang von Michael Haberlandt, Berlin 1910

159Trebitsch Rudolf, Krankheiten der Eskimos in Westgrönland, Wien 1907

160Trebitsch Rudolf, Phonographische Aufnahmen der Eskimosprache, Wien 1906

161Leopold Schmidt, Rudolf Trebitsch zum Gedächtnis, Zur Sonderausstellung des Österreichischen Museums für

Volkskunde, unveröffentlichtes Typoskript, Wien 1956

162Klaus Beitl in einer Sendung des Österreichischen Rundfunks

163ÖZV XVII Jahrgang, Wien 1911, S. 109

164Beitl, Das Wort, a.a.O., S. 112

165Klaus Beitl, Das Wort, die Sache, der Vergleich, Österreichische Beiträge zur Volkskunde von Frankreich,

Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch - Historische Klasse, Sitzungsberichte, 586. Band,

Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde Nr. 20, Wien 1992, S. 111

166ÖZV XIX Jhg., Wien 1913, S. 66

167Rudolf Trebitsch, Meine Baskenreise, Tagebuch Sommer 1913, Eintrag vom 24.Juli

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demokratisch. " 168 Viele wandern nach Amerika aus. In Elizondo wird Trebitsch wegen seiner vielen Kisten für einen Komödianten gehalten. Als er sich in Manguia in einem Gasthaus einquartiert, beargwöhnt ihn die Wirtin gar als Mörder, der " Leichentheile in den Kisten verwahrt " und auf Nimmerwiedersehen verschwinden will. 169 Die Kollektion baskischer Ethnographica wird in einem eigenen Raume des Wiener Volkskundemuseums zur Ausstellung gebracht. Gelehrte Korporationen der k.k. geographischen Gesellschaft und der Wiener anthropologischen Gesellschaft besichtigen unter der Führung des Forschers die Ausstellung.170

Rudolf Trebitsch hält sich bei seinen Studien nicht an die Grenzen der Donaumonarchie. Dennoch wird er auf Vorschlag der k.k. Direktion des Museums für österreichische Volkskunde zum Ritter des Franz Josefsordens geschlagen.171 Er versucht, die Wiener Ethnologie in die Richtung der " vergleichenden Volkskunde " zu lenken. Menhire in Cornwall ähneln den Dolmen in der Bretagne. Der " Kajak " der Grönländer ist wie der irische " Currach " oder " Coracle " ein Lederboot mit Holzgerüst. Die gezahnte Sichel oder das Erbrecht der Tochter findet sich im Baskenland wie in ganz Nordafrika. 172 Der Dreschwagen ist in Armenien wie im Piemont gebräuchlich. 173 Die baskische Hanf- und Flachsbreche kann mit der bündnerischen, italienischen oder französischen verglichen werden.174 Trebitsch kann die entsprechenden Belegstücke nicht alle selbst beibringen. Folglich stellt er die Mittel zur Verfügung für die Erwerbung der Objekte, die von Eugenie Goldstern in Savoyen und Graubünden, im Wallis und in der Maurienne gesammelt werden sollen. 175 In den Jahren 1912 und 1913 werden dafür ungefähr eineinhalbtausend Kronen aufgewendet. 176 Im Archiv des Volkskundemuseums hat sich eine Abrechnung erhalten, aus der hervorgeht, daß sogar 103.50 Kronen für Fahrspesen bezahlt werden.

Flucht nach Wien

Jenjas Brüder streben fort aus dieser verschwenderischen Welt reicher Negozianten. Sie verabscheuen den Luxus, der sich am Rande eines Regimes gebildet hat, das seine Gegner blutig unterdrückt. 177 Sie wollen diese " Gesellschaft skeptischer und umgänglicher Bonvivants " 178

168Trebitsch, Tagebuch, Baskenreise, a.a.O., Eintrag vom 9. August

169Trebitsch, Tagebuch, Baskenreise, a.a.O., Eintrag vom 19. August

170ÖZV XVIII Jhg., Wien 1914, S. 69

171Österreichisches Museum für Volkskunde, Schreiben von Michael Haberlandt an das Hohe k.k. Ministerium für Kultus und Unterricht, Wien 15.10.1912

172Rudolf Trebitsch, Die Basken, Vorbereitungen für eine Reise, Manuskript, o.J., S. 11

173Rudolf Trebitsch, Die Basken, Vorbereitungen für eine Reise, Manuskript, o.J., S. 63

174Rudolf Trebitsch,Vergleichende Literatur zur Volkskunde der Basken, Manuskript, Wien 1914, Heft II.

175Leopold Schmidt, Rudolf Trebitsch zum Gedächtnis, Zur Sonderausstellung des Österreichischen Museums für Volkskunde, unveröffentlichtes Typoskript, Wien 1956

176ÖMV - Inventar VII, Anmerkung vor Nr. 28.312, Wien 1912, ÖMV - Inventar VIII, Anmerkung vor Nr. 30.574, Wien 1912, ÖMV - Inventar IX, Anmerkung vor Nr. 32.653, Wien 1913

177Reinhard Elze, Konrad Repken, Studienbuch Geschichte, Stuttgart 1974, S. 791

178Babel, a.a.O., S. 76

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verlassen. Sima studiert Medizin. Er überzeugt seinen Vater, der akademischen Ausbildung der meisten seiner Brüder und Schwestern zuzustimmen. Er überzeugt ihn vom Wert der Erziehung als einer Investition in die Zukunft. Er schließt sich der revolutionären Bewegung an. Hier herrscht die Vorstellung, daß Rußland zu einer eigenen, westlichen Idealen überlegenen Form des Sozialismus berufen sei. Viele Anhänger der Intelligentsia sehen im einfachen Volk, dem " narod " ein Vorbild. Sie vermuten im Bauernstand den künftigen Träger einer gerechten Gesellschaftsordnung. 179 In der überlieferten kollektiven Zuteilung des Landes sehen sie einen traditionellen " kommunistischen Instinkt ". 180 Ehe der Adel und das Zarentum den Allmendebesitz an sich rissen, war der nutzbare Boden Gemeinschaftseigentum. Er wurde von der Dorfgemeinschaft, dem " Mir " regelmäßig neu verteilt.

Überall lauern Spitzel, drohen Zensur und Kerker. Der russische Ärztekongreß setzt sich 1904 in Petersburg für die Freiheit der Rede, der Presse und der ungehinderten Versammlung ein. Ohne diese Grundrechte könnten die Volkskrankheiten der Kindersterblichkeit, der Trunksucht, Tuberkulose und Syphilis nicht wirksam bekämpft werden. 181 Die Staatsmacht antwortet mit Unterdrückungsmaßnahmen. " Unzuverlässige Elemente " der akademischen Jugend werden strafweise in den Militärdienst geschickt. 182 Sima muß vor der Geheimpolizei auf illegalen Wegen nach Österreich flüchten. 183 Samuel wird wegen seiner freiheitlichen, sozialistischen 184 Einstellung von der Kaiserlich Neurussischen Universität verjagt. Er promoviert im Jahre 1891 als Doktor der gesamten Heilkunde im fernen Wien. 185 Philipp und David krönen ihr Chemiestudium in der demokratischen Schweiz mit dem Doktordiplom. Auch Iljuscha und Monja zieht es ins Ausland. Sie widmen sich der Naturwissenschaft und Technik und spezialisieren sich auf Verfahren der Erdölförderung.

Die Brüder legen viel Ernst und Eifer in ihrem Studium und der beruflichen Laufbahn an den Tag. Jenja steht mächtigen, schwer zu überflügelnden Vorbildern gegenüber. Sie findet als Mädchen in Odessa bessere Ausbildungsmöglichkeiten, als in Wien. Man legt traditionell großen Wert auf ein hohes Bildungsniveau 186 der Jugend. In der Halbmillionenstadt gibt es fast 200 öffentliche und private Schulen. Die Unterrichtssprache ist russisch. 187 Bereits im Jahre 1835 wurde eine Mädchenklasse an der jüdischen Gemeindeschule eingerichtet. 188 Die Stadtväter rühmen sich der

179Valentin Gitermann, Geschichte Rußlands, Bd. III, Zürich 1949, S. 231

180Gitermann, a.a.O., S. 322

181Gitermann, a.a.O., S. 380

182Gitermann, a.a.O., S. 379

183Walter Goldstern, a.a.O., S. 25

184Claire Wernert, Brief vom 9.11.1994

185Walter Goldstern, a.a.O., S. 26

186Zipperstein, a.a.O., S. 108

187Encyclopaedia Judaica, Bd. 12, Jerusalem 1971, col. 1322

188Zipperstein, a.a.O., S. 102

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Einrichtung eines Mädchengymnasiums. 189 Hier erwirbt Jenja ihr Abschlußzeugnis. In eine dreissigköpfige Gymnasialklasse gehen Kinder, die elf verschiedene Nationalitäten repräsentieren. Alle leben in streng getrennten Gruppen. Ohne daß eine offene Propaganda oder erkennbare Ideologie nötig wäre, verteilen sie sich auf verschiedene Bankreihen. Polen sitzen in der " Polenecke ". Griechen, Armenier und Moldawier haben ihren festen Plätze. 190 Es finden sich keine Freundschaften über diese Schranken hinweg 191 .

Um die Jahrhundertwende beträgt der jüdische Anteil an der Gesamtbevölkerung etwa ein Drittel. 192 Juden spielen eine bedeutende Rolle in der Stadtpolitik, sie dienen als Mitglieder des Stadtrates, 193 beherrschen den Getreidehandel. 194 Man kleidet sich nach der europäischen Mode, bevorzugt den Gebrauch von Fremdsprachen. Am liebsten spricht man wie die russische Aristokratie französisch. Der Erziehung wird ein besonderer Wert beigemessen. Man sehnt sich nach Bildung. Man stellt englische Kindermädchen, deutsche Hauslehrer ein. Man beauftragt französische Gouvernanten mit der Mädchenerziehung. In den Schulen spielt der jüdische Glaube eine nebensächliche Rolle oder wird überhaupt nicht unterrichtet. 195 In der " Broder Schul ", der liberalen Synagoge betreibt der Kantor die musikalische Reform. 196 Er trägt die überlieferten Gebete nach der Musik klassischer Oratorien und Opern vor. Er schreibt Fugen und kontrapunktische Choräle. Einem Psalmentext unterlegt er das " Halleluja " aus Händels " Messias ". Sogar das Orgelspiel wird eingeführt. Der Sabbatgottesdienst erlangt Berühmtheit. Ausländische Besucher, russische Honoratioren und die Offiziere der Garnison lassen sich die neuen Kompositionen, den Chorgesang, den schönen lyrischen Tenor im Tempel der fortschrittlichen Israeliten nicht entgehen.

Strenggläubige Zeitgenossen rügen die geringen Kenntnisse im Hebräischen, die Nachgiebigkeit in Fragen des religiösen Ritus. 197 Sie sind überzeugt, Odessa sei randvoll mit Ketzerei, seine Bürger seien die Gottlosesten auf der Erde. Einer, den es hierher verschlage, würde nie wieder entrinnen. Allein die Luft in der frivolen, freisinnigen Stadt führe zum Irrglauben. 198 Die Bibliotheken seien verwaist, die Cafés mit leerem Geschwätz überfüllt. Die Frauen seien um ihre Frisur besorgt,

189Herlihy, a.a.O., S. 279

190Herlihy, a.a.O., S. 255

191Zipperstein, a.a.O., S. 110

192Weinberg, a.a.O., S. XIV

193Weinberg, a.a.O., S. 10

194Weinberg, a.a.O., S. 181

195Encyclopaedia Judaica, a.a.O., col. 1322

196David Nowakowsky, Gebete und Gesänge zum Eingang des Sabbath, für Cantor Solo und Chor mit und ohne

Orgelbegleitung, für den israelitischen Tempel von Odessa, New York 1955, S. 1

197Zipperstein, a.a.O., S. 110

198Glenda Abramson, Tudor Parfitt, The Great Transition, The Recovery of the Lost Centers of Modern Hebrew

Literature, Totowa N.J. 1985, S. 80

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bedeckten ihr Haupthaar nicht. Sie schauten in den Spiegel und verstießen gegen die jüdischen Bräuche. Die weibliche Jugend kleide sich nach der letzten Mode und spaziere offen auf der Straße. Weder Väter noch Söhne gingen regelmäßig zur Synagoge. Die Tradition und Kultur werde in der " Wüste des leichten Lebens " vernachlässigt.199 Auf den Straßen werde am Sabbat ungeniert geraucht. Juden würden ihre Zigaretten an den Mauern des Gotteshauses ausdrücken, ohne sich überhaupt der Frevelhaftigkeit ihres Tuns bewußt zu werden. 200 Daß es am Feiertag verboten sei, ein Streichholz anzuzünden, kümmere sie ohnehin nicht. Ein weit verbreitetes Sprichwort warnt die Gläubigen vor der " gottlosen " Metropole : " Das Feuer der Hölle brennt rings um Odessa, bis zur Entfernung von zehn Wegstunden. " 201

In Jenjas Familie wird im alltäglichen Umgang reines Deutsch gesprochen.202 Ihr Vater stammt aus Lemberg. Seine Heimatstadt ist seit dem Wiener Kongress das Zentrum des nordöstlichsten Kronlandes des Habsburgerreiches. Sie ist " eine der schönsten Städte Österreichs und reich an herrlichen Gebäuden. "203 Sie liegt an einen alten Handelsweg, der von Leipzig über Krakau nach Kiew führt. Sie beherbergt ein Oberlandesgericht, eine Garnison und verschiedene Behörden, eine technische Hochschule und die " Franzens - Universität ". 204 Bis 1871 ist überall die Amtssprache deutsch. 205 Auf den Straßen werden noch immer deutsche Zeitungen ausgerufen. Im Zentrum stehen die " Wiener " Kaffeehäuser. Eine große Buchhandlung bietet deutsche Literatur an. 206 Zwar spricht die überwiegende Mehrheit der Bewohner von Lwow polnisch, aber mit dem " gebildeten Teil der Bevölkerung " kann man sich auf deutsch unterhalten. 207 Der wirtschaftliche Bereich, der Geldmarkt und Handel wird von Wiener Banken wie dem Haus Rothschild beherrscht. 208 In den Kontoren ist folglich Deutsch die Umgangssprache.

Lemberg hat eine Vermittlungsfunktion. 209 Von hier wird neuzeitliches aufklärerisches Gedankengut aus Berlin, Prag und Wien nach Podolien, Wolhynien und schließlich Odessa weitergegeben. Im internationalen, polyglotten Lemberg trifft ukrainische, polnische, russische, jüdische und deutsche Lebensart aufeinander. In " Leopolis Triplex " wohnen römische, griechisch

199Abramson, a.a.O., S. 76

200Zipperstein, The Jews of Odessa, S. 152

201Encyclopaedia Judaica, Bd. 12, Jerusalem 1971, col. 1322

202Encyclopaedia Judaica, Bd. VII, Jerusalem 1971, col. 1447

203Johannes Penzler ( Hrsg. ), Ritters geographisch - statistisches Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1906, S. 51

204August Leskien, Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Bd. 43, Leipzig 1889, S. 67

205Jacob Katz, Toward Modernity, The European Jewish Model, New York 1987, S. 35

206Alfred Döblin, Reise in Polen, Berlin 1926, S. 196

207Karl Baedeker, Österreich-Ungarn, Handbuch für Reisende, Leipzig 1903, S. 331

208Joseph Marcus, Social and Political History of the Jews in Poland, 1919 - 1939, Berlin 1983, S. 74

209Katz, a.a.O., S. 27

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unierte und armenische Katholiken. 210 Fortschrittliche Juden orientieren sich an der deutschen Sprache und Kultur, die den Vielvölkerstaat beherrscht. 211 In ihrem Streben nach Erneuerung gehen sie eine schwärmerische, verhängnisvolle Verbindung mit dem Deutschtum ein. Sie hoffen, daß " sich deutsch fühlen, sich frei fühlen " bedeutet. 212 Das Jiddische der breiten Massen halten sie für einen verstümmelten, verdrehten Dialekt. Sie sehen darin eine geborgte, verdorbene Mischsprache, deren Internationalität die Einheit der Nation bedroht und die Integration verhindert. 213 Sie glauben, ihre Ausgrenzung von der Mehrheit der Gesellschaft durch vermehrte Anstrengungen überwinden zu können. Die Verhältnisse in Berlin gelten als vorbildlich. 214 In der preussischen Hauptstadt pflegt eine Elite aus aufgeklärten Christen und Juden, ungehindert von religiösen Unterschieden, einen lebendigen Austausch. 215 Sie verwirklicht im täglichen Leben die Gebote von Gleichheit und gegenseitiger Achtung.

Die Bibel wird aufgefasst als Ausdruck allgemeiner menschlicher Werte. Die rationale Wissenschaft soll dazu dienen, das Judentum in reiner und unverfälschter Form zu beleben. 216 Sie soll zum besseren Verständnis der Heiligen Schrift verhelfen. Die Thorah wird zum Gegenstand der historischen, philologischen und kulturhistorischen Betrachtung. 217 Sie ist nicht mehr ausschließliche Richtlinie für das tägliche Leben. Dem Talmud wird nur noch geschichtliche Bedeutung beigemessen. Seine Gesetzesentscheidungen gelten als überholt und werden deshalb nicht länger für bindend gehalten. 218 Alter Ballast muß abgeworfen, überflüssige Gebräuche und Zwänge sollen abgelegt werden. Ist erst das jüdische Bildungswesen verbessert, der wirtschaftliche Unternehmungsgeist gestärkt und die Reform der Gemeinden durchgeführt, steht einer Emanzipation und Integration nichts mehr im Wege. Juden müssen im Handwerk und in der Landwirtschaft Fuß fassen. 219 Sie müssen sich von der einseitigen Beschäftigung mit dem Handel und dem Geldwesen befreien. Durch schöpferische, fruchtbare Handarbeit können sie sich ethisch fortentwickeln. Autonomie, Wohlstand und soziale Anerkennung sind der gerechte Lohn der Anpassung. Die erste jüdische Zeitung in russischer Sprache namens " Dämmerung " erscheint in

210Die österreichisch = ungarische Monarchie in Wort und Bild, Galizien, Wien 1898, S. 35

211Katz,a.a.O., S. 9

212Katz, a.a.O., S. 44

213Raphael Mahler, Hasidism and the Jewish Enlightenment, Their Confrontation in Galicia and Poland in the First

Half of the Nineteenth Century, Philadelphia 1985, S. 39

214Katz, a.a.O., S. 33

215Katz, a.a.O., S. 11

216Katz, a.a.O., S. 29

217Christoph Daxelmüller, Jüdische Volkskunde in Mittel- und Osteuropa, Überlegungen zur Wissenschaftsgeschichte

einer vergessenen Institution, in: Aschkenas, Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 2. Jhg., Wien 1992, S.

192

218Encyclopaedia Judaica, Bd. VII, Jerusalem 1971, col. 1436

219Encyclopaedia Judaica, Bd. VII, Jerusalem 1971, col. 1446

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Odessa 220. Sie tritt schon vor der Jahrhundertwende dafür ein, massenhaft in das Land Israel auszuwandern und dort produktive Tätigkeiten auszuüben.Deutsche werden als Wortführer von Zivilisation und Universalität angesehen. Die klassische deutsche Literatur gilt als Inbegriff und Vorbild der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Die Toleranzideale, die humanistische Ethik eines Goethe, Kant und Schiller sollen den Zugang eröffnen zu einem gesamteuropäischen Geistesleben. Am Samstagnachmittag wird statt aus der Heiligen Schrift auf Deutsch aus Schillers Maria Stuart vorgelesen. 221 Lessing, die Idealgestalt eines Aufklärers, setzt sich mit judenfeindlichen Vorurteilen kritisch auseinander. Der protestantische Pfarrerssohn ist mit dem Philosophen und Sproß eines Thoraschreibers, Moses Mendellsohn befreundet, arbeitet mit ihm eng zusammen. 222 Bei ihrer Doktorprüfung wird Eugenie Goldstern als Nebenfach deutsche Literaturgeschichte angeben. 223 Sie ist wohl schon früh mit diesem Lesestoff vertraut gemacht worden. Häufig geben liberale Väter den wißbegierigen Lieblingstöchtern ihre Begeisterung weiter. Sie wollen den jungen Mädchen die Welt des Lernens und der geistigen Führung eröffnen. Die schwärmerischen Verbündeten können deren Bibliothek benutzen, den Diskussionszirkeln ihrer Freunde lauschen und entsprechende Journale studieren. 224

Sicher stehen in Abraham Goldsterns Bücherschrank die " Aufzeichnungen eines Jägers ". Turgenjew verherrlicht darin das Leben eines Edelmannes in der freien Natur und unter einfachen Leuten. Er geht auf einem schmalen Feldweg, verfolgt die Stimmen der Tiere, genießt die aromatische Frische. Die feuchte Erde federt unter seinen Füßen. Er beobachtet innerliche Veränderungen an sich selbst, Sinnestäuschungen, Wandlungen seiner Gefühle. Er verfolgt den Wechsel der Jahreszeiten, des Tagesablaufes. Er trinkt mit einer Schöpfkelle von Birkenrinde aus einem Quell . Er schätzt das Gespräch mit der Müllerin, während Tropfen von den Schaufeln der Mühlräder fallen und das Wasser durch die Schleusen im Damm gluckert. 225 Er macht sich vertraut. Er erkundigt sich geschickt nach den Lebensverhältnissen, nach der Leibeigenschaft und dem Verhältnis der Hörigen zu ihrer Herrschaft. Er fühlt sich ein in die alltäglichen Sorgen und Nöte. Er interessiert sich für Außenseiter. Im Gespräch zwischen Unbekannten begegnet ihm schonungslose Offenheit, werden innerste Regungen geäußert. Als Fremder erfährt er die kleinen häuslichen Geheimnisse. Er lagert sich samt seinem treuen Hund im offenen Schuppen am Fluß auf duftenden Heu und Stroh. Er lauscht dem Sieden des Samowars und dem Schnarren der Wachtelhähne.

Wahrscheinlich gehören zu Jenjas Lektüre die fünf Bände des " Kosmos " eines Alexander von Humboldt. Die Sternenwelt wird entfaltet. In einer übersichtlichen und doch märchenhaften Zeichnung wird die Erdrinde aufgeschnitten, sodaß verschiedene Gesteinsschichten und die Ströme der feurigen Lava erkennbar sind. Wirbelnde Sulfataren ergießen ihre Dämpfe aus dem Erdinneren in die Atmosphäre. Hochgischtende Geysire fauchen aus der Tiefe. Korallenbänke siedeln an versunkenen Vulkanen. Die Ausdehnung der größten Seen der Erde wird mit der des Schwarzen Meeres verglichen. Durch rote Pünktchen auf einer Weltkarte werden " die Juden und ihre Verbreitung auf dem Erdball " 226 markiert. Sie reicht von Schweden bis nach Afrika, von Portugal bis in das Hochland des Iran, entlegenste Gegenden Indiens und Chinas. Auf Stahlstichen prangen

220Weinberg, a.a.O., S. 10

221Stahl, a.a.O., S. 46

222Joachim Prinz, Illustrierte Jüdische Geschichte, Berlin 1930, S. 168

223Protokoll der Doktorprüfung vom 16.6.1920 der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg

224Julius Carlebach ( Hrsg. ), Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland, Berlin 1993, S. 150

225Iwan S. Turgenjew, Aufzeichnungen eines Jägers, Erzählungen 1844 - 1855, München o.J., S. 25

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Mitternachtsonne, Nordlicht und Mondregenbogen. Jenja wird gefesselt von einem Bericht über die " wundervolle Feenwelt " der Alpen. 227 Sie ist beeindruckt von dem Versprechen, das Bild der Alpen versetze alle in Staunen, die sie zum ersten Male sähen. Es bleibe der Phantasie bis in die späteste Folgezeit erhalten. Sie wird ergriffen von wortmächtigen Schilderungen über wildprächtige Berge mit seltsam zerrissenen und durchfurchten Gipfeln, die sich zu erstaunlichen Höhen erheben sollen. Sie liest von Kegelbergen,, zackigen Felshörnern und phantastisch getürmten Eispyramiden. Das Kind vom Schwarzmeerstrand erfährt zum ersten Mal von schauerlichen Quertälern samt ihren brausenden Gießbächen, von schönen Matten, von frischgrünen Triften und helleuchtenden Schneefeldern. Maßstäblich geordnet werden die " Höhen von Europa ", der Montblanc, der Mont Iseran, der Mont Cenis und der große St. Bernhard vorgeführt. 228 Es wird gewarnt vor den dort drohenden Schneestürmen. Der Schnee falle so dicht, daß man kaum einen Schritt vor sich sehen könne. Man verliere jede Richtung. Tod und Verderben seien stets im Gefolge dieser grausigen Stürme. 229

Das größte private Reisewerk der Geschichte ist ein allenfalls der Bibel vergleichbare Kassenschlager in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Es wird mit internationalem Beifall aufgenommen, mit Enthusiasmus besprochen. Seine Verbreitung übersteigt alle Hoffungen. Es wird schnellstens nach Petersburg und sicher nach Odessa geliefert. Sein Autor ist Sohn eines preussischen Majors und Mitglied der königlichen Akademie in Berlin. Er ist mit dem französischen Physiker und Chemiker Gay - Lussac befreundet. Er wird von Balzac Victor Hugo bewundert. 230 Mit dem Physiker Arago verbindet ihn eine herzliche Beziehung. Er reist mit dem Naturforscher Aimé Bompland zu den Mündungen des Orinoko. Er findet mit ihm Versteinerungen von Seemuscheln " in 14000 Fuß Höhe auf dem Rücken der Andenkette ". 231

Als er von seiner Forschungsreise aus Westindien zurückkehrt, berichtet die " Gazette Nationale " über das Ereignis. Er lebt 23 Jahre während der napoleonischen Besetzung seiner Heimat und der folgenden deutschen Befreiungskriege in Paris. Er fühlt sich sein ganzes Leben lang ein wenig als Franzose. 232 Als in Deutschland die nationalen, patriotischen Burschenschaften und der romantische Restaurationkatholizismus den Ton angeben, ist er Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft. Als die Christlich - Deutsche Tischgesellschaft " Frauen, Franzosen, Philistern und

226Bromme, a.a.O., Taf. 34

227Traugott Bromme, Atlas zu Alexander von Humboldt's Kosmos in zweiundvierzig Tafeln mit erläuterndem Texte,

Stuttgart 1851, S. 123

228Bromme, a.a.O., Taf. 6

229Bromme, a.a.O., S. 121

230Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, Nebst Auszügen aus

Varnhagen's Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt, Leipzig 1860, S. 155

231Humboldt, Kosmos, a.a.O., S. 18

232Werner Rübe, Alexander von Humboldt, Anatomie eines Ruhmes, München 1988, S. 127

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Juden " 233 den Zutritt verbietet, hält er Vorlesungen im Salon der Marquise de Montauban. 234 Der deutschstämmige englische Astronom Herschel muß in deutsch geschriebene Briefe erst nachdrücklich von ihm verlangen. 235 Humboldt beherrscht das Französische souverän, bis zur Erfindung von Wortspielen. Sein Werk schreibt er anfangs in der Fremdsprache. Er nennt es " Essai sur la Physique du Monde ".

Der ruhmreiche Naturwissenschaftler Humboldt versucht, die Geographie zur einer Waffe gegen Unterdrückung, Sklaverei und Hochmut zu formen. 236 Nach seiner Auffassung sprechen gewichtige Erkenntnisse für eine Einheit und gemeinsame Abstammung des Menschengeschlechtes. Allein aus der Tatsache, daß sich die Angehörigen verschiedener Abarten durch Paarung fortpflanzen können, schließt er, daß sie " Formen einer einzigen Art " sein müssen.237 Er weist auf Unsicherheiten und Widersprüche in den Rassenlehren seiner Zeit hin. Er wendet sich ausdrücklich gegen die " unerfreuliche Annahme von höheren und niederen Menschenrassen. " 238 Er ist überzeugt, daß sich die Menschlichkeit im Lauf der Geschichte durchsetzt, daß der natürliche Fortschritt zu allgemeiner Freiheit und Gleichberechtigung führen muß. Er will Vorurteile bekämpfen und Grenzen aufheben, die Feindschaft zwischen den Menschen bedeuten. Er möchte die gesamte Menschheit, " ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm " behandeln.239 Im " unermessenen Reich der Sprachen " sieht er einen geistigen Zusammenhang, der auf eine Verwandtschaft schließen läßt.240

Er korrespondiert jahrelang lebhaft mit der sprachgewandten Rahel Varnhagen von Ense 241, der " ersten Jüdin in der deutschen Literatur ". 242 Bei ihr sucht er regelmäßig Hilfe für die " Hauptgebrechen " seines Stils.243 Ihr legt er fast alle wichtigen Passagen seines Werkes zur literarischen Begutachtung und Beratung vor. Exzellenz Baron von Humboldt verkehrt im Salon der liebenswürdigen Tochter eines jüdischen Münzunternehmers und Bankiers. Der Seidenfabrikant Friedländer, einer der reichsten Männer Berlins, hilft dem Weltreisenden oft in uneigennütziger

233Hannah Arendt, Rahel Varnhagen, Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1984, S.

120

234Humboldt, Kosmos, a.a.O., S. XIII

235Rübe, a.a.O., S. 128

236Hanno Beck, Alexander von Humboldts Reise durchs Baltikum nach Rußland und Sibirien, Stuttgart 1983, S. 12

237Humboldt, Kosmos, a.a.O., S. 185

238Humboldt, Kosmos, a.a.O., S. 188

239Humboldt, Kosmos, a.a.O., S. 189

240Alexander von Humboldt, Kosmos, für die Gegenwart bearbeitet von Hanno Beck, Stuttgart 1978, S. 183

241Humboldt, Kosmos, a.a.O., S. XVII

242Kindler Lexikon der Literatur, S. 10892

243Fritz Kraus ( Hrsg. ), Kosmos und Humanität, Alexander von Humboldts Werk in Auswahl, Bremen 1960, S.

XXXVI

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Weise. Jüdische Kreise mit ihrem echten Bildungsstreben ziehen Adelige und Bürgerliche an. Sie vermitteln zwischen den noch streng geschiedenen gesellschaftlichen Schichten.244

Heinrich Heine nennt Rahel von Varnhagen " die geistreichste Frau des Universums. " 245 Sie bewundert das Denken und die gesellschaftliche Kultur Frankreichs. 246 Sie ist eine begeisterte Anhängerin der französischen Revolution.247 In ihrem Kreis empfängt Humboldt sein entscheidendes Bildungserlebnis. Hier befreit er sich aus der " trockenen und pedantischen Atmosphäre Berlins ".248 Hier entwickelt er seine weltläufige Ironie, wird er zum eleganten Kosmopoliten. In der " Dienstagsgesellschaft ", dem Leseklub, finden sich neben Dorothea Veit, der Tochter Moses Mendelssohns, der Philosoph Schlegel, der Bühnendichter Kleist und der Historiker Ranke ein. Der russische Schriftsteller Iwan Sergejewitsch Turgenjew, der sich mit Übersetzungen von Schiller und Goethe in seine Muttersprache befasst, verkehrt in dieser Runde. 249 Studenten und und Diplomaten diskutieren mit der Dichterin Bettina von Arnim oder dem Prosaisten Jean Paul. Gelehrte und Schauspielerinnen debattieren mit dem Komponisten Mendelssohn Bartholdy oder Louis Ferdinand von Preußen, " dem menschlichsten Prinzen seiner Zeit. " 250

Rachel Varnhagen könnte ein Vorbild sein für die fortschrittlichen Mädchen in Odessa. Ihre Heirat mit einem Bräutigam, der einen fremden Glauben hat, gilt allerdings selbst in weniger religiösen Elternhäusern als unzulässig. Die Liebe zu einem russischen Offizier könnte schnell die Grenzen der freiheitlichen Gesinnung spürbar werden lassen. 251 Ist Jenjas Mutter eines jener weiblichen Wesen, die in modischer Kleidung schwelgen, zum Tee einladen, gewandet in ihre großartigen, perlengeschmückten und federbesetzten Roben auf Bälle gehen ? Gehört sie zu den überbeschäftigten, innerlich gelangweilten und sogar unglücklichen Gesellschaftsdamen der Jahrhundertwende, die für die Oper oder das Theater gekleidet, kurz ins Kinderzimmer kommen, um sich die Hand küssen zu lassen ? Sicher denkt sie, daß es für ihre Töchter nicht schicklich sei, etwas anderes als Ehegattin und Mutter zu werden. Aber trotz dieser Überzeugung, muß sie ihre Mädchen, ohne sich dessen bewußt zu sein, in ihrem Unabhängigkeitsstreben ermutigt haben.

Die Töchter aus liberalen Familien lehnen sich sanft auf gegen die Bevorzugung der Knaben in der jüdischen Gesellschaft. Der Umgang mit solchen Mädchen gilt in strenggläubigen Kreisen als schlechter Einfluß und ist deshalb verboten. 252 Sie haben unwiderruflich dem Judentum zugunsten der westeuropäischen Kultur abgeschworen. Sie haben seiner Geschichte und seinen

244Hanno Beck, Alexander von Humboldt, Bd. I, Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769 - 1804, S. 12

245Benno von Wiese, Deutsche Dichter der Romantik, Ihr Leben und Werk, Berlin 1983, S. 294

246von Wiese, a.a.O., S. 292

247Dieter Struss, Deutsche Romantik, Geschichte einer Epoche, München 1986, S. 211

248Beck, Bildungsreise, a.a.O., S. 13

249Wolf Düwel ( Redaktion ), Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917, Bd. 2, Von der Mitte des

19. Jahrhunderts bis 1917, Berlin 1986, S. 148

250Wiese, a.a.O., S. 292

251Stahl, a.a.O., S. 206

252Stahl, a.a.O., S. 26

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Überlieferungen entsagt. Sie verspüren keine Neigung, am Freitagabend die Kerzen anzuzünden, religiöse Bücher zu lesen, Geschirr für Milch und Fleisch auseinanderzuhalten. Sie wollen nicht Klavier klimpern, Deckchen stricken, Französisch parlieren. Sie wollen unabhängig werden. Sie wollen ein interessantes Leben führen, studieren, etwas aus sich machen. Sie geben Gesellschaften. Sie lesen offen moderne Literatur, kleiden sich modisch, gehen alleine aus, zeigen sich in der Öffentlichkeit ohne Anstandsdamen. In den Lesezirkeln der Gymnasiastinnen soll gar über Zionismus und Revolution gesprochen werden. 253 Es kümmert sie nicht, daß es skandalös ist, sich mit Burschen auf der Straße zu zeigen und sei es nur, um mit ihnen zum nächsten Park zu spazieren. Ihnen wird nachgesagt, daß sie sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht größere Freiheiten erlauben. Sie hängen Ideen der romantischen Liebe an, lassen sich nicht die Wahl ihrer Ehegatten vorschreiben. Sie sollen sogar auf Festen mit ungläubigen Burschen tanzen, oder sich von ihnen die Schulbücher auf dem Heimweg tragen lassen. 254

Die " Odessaer Zeitung " erscheint in deutscher Sprache.255 Bei Becker & Wedde wird die neueste deutsche Literatur angeboten. 256 Das Museum der " Kaiserlich Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde " veröffentlicht seine Mitteilungen in russischer und deutscher Sprache. 257 Der promovierte Stadtrabbiner Simon Leon von Schwabacher stammt aus Oberndorf in Württemberg. Er hat in Heidelberg studiert. Er predigt deutsch. Einer seiner Traktate wird in Odessa verlegt bei Ulrich und Schulze in der Krassny Perenlok Nr. 3.258 Eine von ihm verfaßte Denkschrift erscheint " auf Veranlassung Seiner Durchlaucht des Herrn Regierungskommissärs Senator etc. etc. Grafen Kutaisoff " in Stuttgart.259

Er geht auf die letzten Judenverfolgungen in Rußland ein. Er versucht aufzuklären gegen weit verbreitete Blutbeschuldigungen, Ritualmordlügen und Verschwörungstheorien. 260 Er meint, daß von einem spontanen Judenhass beim einfachen, ehrlichen und gesunden Volk keine Rede sein könne. Er geht davon aus, daß das " russische Volk in seinem Grundcharakter zu schlicht und harmlos, zu brav und bieder ist, als daß es eines leidenschaftlichen Hasses überhaupt fähig wäre, vollends gegen uns, die wir in den tausendfachen Wechselbeziehungen des Lebens freundschaftlich und hilfreich, nehmend und gebend mit ihm verkehren und daß dies Volk somit nur das unschuldige, blinde Werkzeug frevelhafter Bestrebungen " gewesen sei.261. Er bezweifelt, daß sich

253Stahl, a.a.O., S. 55

254Stahl, a.a.O., S. 51

255Karl Baedeker, Russia with Teheran, Port Arthur and Peking, Leipzig 1914, S. 394

256Baedeker, Russia, a.a.O., S. 394

257E. von Stern, Das Museum der Kaiserlich-Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde, Odessa 1906

258Simeon Leon von Schwabacher, Der Sieg der Menschheits - Idee über den Nationalitäts - Begriff, Vorlesung zum

Besten des Rothen Kreuzes, Odessa 1878

259Simeon Leon von Schwabacher, Denkschrift über Entstehung und Charakter der in den südlichen Provinzen

Rußlands vorgefallenen Unruhen, Stuttgart 1882

260Simeon Leon von Schwabacher, Drei Gespenster, Eine Zeitfrage, Stuttgart 1883, S. 45

261Schwabacher, Denkschrift, a.a.O., S. 7

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in den Exzessen eine aus dem Volksleben selbst stammende, das ganze Volk beherrschende feindliche Gesinnung ausdrücke. Das einfache Volk sei verleitet, getäuscht und betrogen worden, weil es nicht lesen könne. Dem " armen Muschik " sei vorgegaukelt worden, daß der Zar befohlen habe, die Juden drei Tage lang zu schlagen und ihre Habe zu plündern und zu zerstören. Trotzdem dürften die traurigen Zeiten nicht das positive Urteil über den russischen Nationalcharakter beeinträchtigen. Rußland sei " kein Boden für den Giftbaum des Antisemitismus ". 262

Der Russe Luka Stepanovic Itjaksov singt in einer Aufnahme, die sich im Wiener Phonogrammarchiv erhalten hat 263 :

In der schönen Stadt Odessa,da, auf der geraden Straßestehen drei Häuser,gerade in der Mitte ein großes Haus. Es ist kein Krankenhaus,sondern es ist ganz ähnlich dem Gefängnis....Hier, hinter den dicken und hohen Mauern fragt der Pope den Burschen :

" Erzähle du, böses Kind, wieviele Seelen du umgebracht hast."

" Achtzehn getaufteund hundertzwanzig Juden. "

In der Osterzeit jedes Jahres kursieren Gerüchte über ein bevorstehendes Pogrom. Im Jahr 1859 kam es zu schweren antisemitischen Übergriffen. Am 27. Mai 1871 ereignete sich ein Pogrom in Odessa. Nach der Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahr 1881 wiederholten sich die Judenverfolgungen. 264 Die " Judenfrage " soll dadurch gelöst werden, daß ein Drittel zum Christentum übertritt, ein Drittel auswandert und der Rest zum Aussterben zurückbleiben kann. 265 Die örtliche jüdische Oberschicht beginnt ihren Optimismus in die Möglichkeiten der Akkulturation zu verlieren. 266 Sie bemüht sich immer wieder " das von da und dort aufziehende Gewitter voraus zu fühlen " , 267 Vorurteile abzubauen und Spannungen auszugleichen. Als sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, wird den jüdischen Händlern " Exploitation " vorgeworfen. 268 Zwischen 1903

262Simon Leon Schwabacher, Das Werk der Erinnerung, Weiherede zur eröffnung des zum Andenken des Gottseligen

Erzbischofs Dimitri von der Odessaer israelitischen Gemeinde gestifteten Waisenstpendiums, Odessa 1887, S. 30

263Robert Lach, Gesänge russischer Kriegsgefangener, Akademie der Wissenschafte in Wien, Philosophisch-

historische Klasse, Sitzungsberichte, 205. Band, 2. Abhandlung, 66. Mitteilung der Phonogrammarchivs-

Kommission, Mit einem Anhang von N.S. Trubetzkoj : Über die Struktur der mordwinischen Melodien, Wien 1933,

S. 92

264Zipperstein, a.a.O., S. 114

265Stahl, a.a.O., S. 265

266Zipperstein, a.a.O., S. 115

267Schwabacher, Drei Gespenster, a.a.O., S. 22

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und 1905 erfolgt ein Rückgang der Getreidexporte um ein Drittel. 269 Die Bauern verarmen. Sie sind gezwungen, bei den Gutsbesitzern Felder zu steigenden Preisen zu kaufen, oder zu pachten. Sie geraten in erdrückende Verschuldung. 270 Die Schwerindustrieproduktion halbiert sich im Jahre 1904. In manchen Industriezweigen herrscht Rohstoffmangel infolge des russisch-japanischen Krieges. Rezession, Depression und Arbeitslosigkeit greifen um sich. 271

Jenjas Schwester Sonja übersetzt ein Werk von Maxim Gorjki ins Deutsche. Es trägt den Titel " Judenmassakre ". 272 Es beschreibt die Geräusche eines schwülen, trüben Spätvormittags in der Vorstadt, in der die Luft zittert und das Herz ahnungsvoll erbebt. Aus einer engen Gasse dringt fürchterlicher Lärm. Ein dichtes Knäuel von Menschen heult und brüllt. Scheiben klirren. Ziegel werden geschleudert. Holz kracht unter den Hieben der Plünderer. Sessel und Tische zerbrechen. Gewänder werden zerrissen. Man hört wollüstiges Krächzen und weiche, klatschende Schläge. Der scharfe, feine Schrei eines Kindes betäubt mehr als alle Töne. " Zynische Späße, Schimpfworte, ein Zischen wie von Schlangen " vermengen sich zu einem hämischen und schadenfrohen Klang. 273 Der magere alte Jude mit dem langen grauen Bart, der reiche Lieferant, Frauen und Kinder werden von der boshaften Menge mißhandelt. Schließlich greift ein Trupp Kosaken ein und setzt dem Spuk ein Ende. Am Abend sagt einer auf dem Marktplatz beiläufig : " Vierzehn Juden soll man zerrissen haben .. " 274

Sonja übersetzt mehrere Werke des Semjon Solomonowitsch Juschkewitsch. Der Arzt aus Odessa studierte Medizin in Paris. Der Schüler Gorjkis schreibt realistisch und krass naturalistisch über die Rechtlosigkeit und das soziale Elend der Juden in Rußland. Seine Beobachtungen belegen eine enge Vertrautheit des Autors mit den geschilderten Verhältnissen. " Ghetto " aus dem Jahre 1903 könnte sich auf das Viertel Moldawanka 275 in Odessa draußen beim Güterbahnhof, neben den großen Eisenbahnwerkstätten276 beziehen. Der zerzauste, engbrüstige Schneider Jerochim ist ernst und niedergedrückt. Er spürt, wie sich seine Sehkraft verschlechtert, wie er langsam berufsunfähig wird. Voll schwerer Gedanken, verschüchtert, ergeben und ängstlich fügt er sich in sein Los. Er hat kein Geld, um die Miete zu bezahlen. Er schämt sich. Seine verwahrlosten Kinder heulen. Sie kauen an schmutziger Brotrinde. Sie sind blau vor Kälte. Ihre Mutter Zipka ist wütend. Sie wird zänkisch, verbittert, verhärmt. Sie ist dem Selbstmord nahe, weint und flucht. Der wutenbrannte Hausherr holt den Exekutor. Unter den Augen der neugierigen Nachbarn verjagt der Gerichtsvollzieher die Familie aus der Wohnung, verkauft ihr Hab und Gut. 277

268Schwabacher, Drei Gespenster, a.a.O., S. 31

269Weinberg, a.a.O., S. 22

270Gitermann, a.a.O., S. 377

271Weinberg, a.a.O., S. 22

272Maxim Gorjki, Judenmassakre, aus dem Russischen übersetzt von Sonja Wermer, Wien 1904

273Gorjki, Judenmassakre, a.a.O., S. 19

274Gorjki, Judenmassakre, a.a.O., S. 25

275Herlihy, a.a.O., S. 278

276Babel, a.a.O., S. 86

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Ein grausames System von Ausnahmegesetzen, endlosen Beschränkungen und Bedrückungen untergräbt die Existenz der jüdischen Bevölkerung. In den Jahren von 1903 bis 1905 kommt es in verschiedenen Provinzen Rußlands immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen mit hunderten Toten, Verletzten, Plünderungen und Verwüstungen. 278 Besonders lebhaft ist das Pogrom von Kischinew in Erinnerung. Am Ostersonntag des Jahres 1903 wird in der bessarabischen Stadt ein durch sorgfältige obrigkeitliche Regie vorbereitetes Gemetzel inszeniert. Die " Times " veröffentlicht einen Befehl des Innenministers in Moskau, gegen judenfeindliche Ausschreitungen keine Waffen zu gebrauchen. 279 Die Polizei und staatliche Dienststellen versuchen, der zunehmenden Unzufriedenheit durch massenpsychologische Täuschungsmanöver zu begegnen. Agenten der " Ochrana " stellen Juden als Haupturheber der Ausbeutung hin und stacheln bewußt den Volkszorn an.

Ein junger Schriftsteller wird von der jüdischen Historischen Gesellschaft in Odessa beauftragt, nach Kischinew zu fahren, und mit Überlebenden zu sprechen. Seine Eindrücke schlagen sich unmittelbar in einem gereimten Bericht nieder :

... aus Stahl und Eisen, kalt und hart und stumm,schmied dir ein Herz, du Mensch - und komm !Komm, geh in die Stadt des Schlachtens, sollst sehen mitdeinen Augen,sollst betasten mit deiner eigenen Handan Zäunen, Pfählen, Türen und Wänden,an Gassensteinen und allen Hölzerndas schwarz - getrocknete Blut mit den Gehirnenvon deiner Brüder Köpfen und Hälsen.Und herumirren sollst du zwischen Ruinen,zwischen zerborstenen Wänden mit verkrümmten Türen,vorbei an eingestürzten Öfen, halben Kaminen,entblößten, schwarzen Steinen, halbverbrannten Ziegeln,wo Feuer, Axt und Eisen gesternauf der Bluthochzeit einen wilden Tanz gespielt;und kriech durch Böden, durch löchrige Dächerund schau dich ein in alle schwarzen Löcher -das sind offene, schwarze, stumme Wunden,die auf keine Heilung mehr warten in der Welt ... 280

Im Januar 1905 kommt es zu revolutionären Bewegungen in den Westgouvernements, an denen auch Juden teilnehmen. In Odessa schießt ein Arbeiter namens Stielmann auf den Polizeichef. 281

277Semjon Juschkewitsch, Ghetto, einzig autorisierte Übersetzung von Sonja Wermer, Wien 1903

278Waltraut Heindl, Marina Tichy, " Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück ", Frauen an der Universität Wien (ab

1897 ), Wien 1990, S. 133

279Valentin Gitermann, Geschichte Rußlands, Bd. III, Zürich 1949, S. 384

280Chaim Nachman Bialik, In der Stadt des Schlachtens, Aus dem Jiddischen und mit einem Nachwort von Richard

Chaim Schneider, Salzburg 1990

281S. M. Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. III., 4. Abtlg., Die Epoche der zweiten Reaktion

( 1881 - 1914 ), Berlin 1923, S. 435

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Die jüdische Gemeinde der Stadt schickt im Februar eine scharf gehaltene Denkschrift an die Regierung. Sie verlangt kulturelle Selbstbestimmung. Sie will die Anerkennung als autonome nationale Minderheit. Sie fordert " die Gleichberechtigung als Menschen, in denen ein starkes Gefühl eigener Würde lebt, als aufgeklärte Bürger eines freien Staates. "282 In Schitomir ist die fortschrittliche jüdische Gesellschaft von der Freiheitsbewegung erfaßt worden. Politische Kundgebungen werden abgehalten. Es wird zur Revolution aufgerufen. Die jüdische Jugend engagiert sich in sozialistischen Vereinen. Hier entschließt sich die Staatsmacht, ein Exempel zu statuieren. In den Ostertagen spielt sich mit geheimer Erlaubnis der Obrigkeit ein blutiges Schauspiel ab. Eine " Schwarze Hundertschaft " überfällt mit dem geheimen Einverständnis der Behörden die jüdische Bevölkerung. Fast 200 Menschen kommen ums Leben. 283 Drei Tage währen die Mißhandlungen, Morde und Plünderungen. 284

Odessa ist seit April der Schauplatz blutiger revolutionärer Unruhen und Unterdrückungsmaßnahmen des Militärs. 285 Die Arbeiter nehmen Teil an einem Generalstreik in Südrußland. 286 Im Mai geht die aus dem Baltikum herangeführte russische Flotte in einer Seeschlacht bei Tsuschima unter. Die Insel liegt in der Meerenge zwischen Korea und Japan, etwa gleich weit von Hiroschima und Nagasaki entfernt. Bis auf vier Schiffe werden sämtliche 36 Kreuzer, Zerstörer, Linienschiffe, Panzerkreuzer und Troßdampfer von den Japanern versenkt. Nach dieser Katastrophe ist der Krieg entschieden. Unter den russischen Matrosen der Schwarzmeerflotte wächst die Bereitschaft zur Meuterei. In Odessa werden Magazine zerstört und Offiziere fortgejagt. Ende Juni läuft der " Kujäg Potemkin " in Hafen von Odessa ein. Die Mannschaft hat ihre Offiziere getötet und droht jetzt, die Stadt zu bombardieren, um die Lieferung von Kohlen und Lebensmitteln zu erzwingen. Am 28. Juni 1905 befiehlt der Militärgouverneur, eine Menschenmenge, die sich am Morgen vor dem Schiff der Meuterer versammelt hat, mit Waffengewalt zu vertreiben. Bei dem folgenden Massaker kommen Hunderte um.

Die Hafenanlagen werden in Brand gesetzt. Die automatischen Vorrichtungen zum Fördern und Verladen des Getreides werden ein Raub der Flammen. Güter und Werften für neun Millionen Rubel werden vernichtet.287 Im August gehen Truppen im weißrussischen Gomel offen gegen die Juden vor. Sie werden beschuldigt, Streiks angezettelt zu haben. Sie werden in Stellungnahmen der Regierung ohne Unterschied mit Revolutionären, Anarchisten und Nihilisten gleichgestellt. Sie werden als Urheber der Unruhen bezeichnet. Es kommt zu wahllosen Erschießungen. 288 Im nahen Nikolajew bricht ein Pogrom los. 289 Am Vorabend einer großen, grausamen und gnadenlosen Menschenjagd auf die jüdische Bevölkerung von Odessa, die als Beginn der russischen Revolution in die Geschichte eingehen wird, verläßt Jenja ihre Vaterstadt gemeinsam mit ihren Eltern.

282Dubnow, Geschichte, a.a.O., S. 436

283Bernhard Pollmann, Chronik 1905, Tag für Tag in Wort und Bild, Dortmund 1992, S. 92

284Dubnow, Geschichte, a.a.O., S. 441

285Pollmann, Chronik 1905, a.a.O., S. 105

286Great Soviet Encyclopedia, A Translation of the Third Edition, Bd. 18, New York 1978, S. 395

287Herlihy, a.a.O., S. 227

288Pollmann, Chronik 1905, a.a.O., S. 92

289Babel, a.a.O., S. 62

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Literatur

, , Österreichisches Museum für Volkskunde, Bibliotheksinventar, Zygmunt Gloger, Budownictwo Drzewne, I Wyroby z Drzewa, W Dawnej Polsce, Warszawa 1907, Bd. 1, B. Jannoz, Cerkwie drewniane w okolicach Lwowa, Ziemia, Nr. 41, 42, 43, 44,1911. Nr. 12, 20, 1912, Max Höfler, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVIII. Jahrgang, Wien 1912, S. 119

Abramson Glenda , Tudor Parfitt, The Great Transition, The Recovery of the Lost Centers of Modern Hebrew Literature, Totowa N.J. 1985Andree - Eysn Marie, Volkskundliches, Aus dem bayrisch = österreichischen Alpengebiet, Braunschweig 1910Andree Richard, Ethnographische Parallelen und Vergleiche, Stuttgart 1878Arendt Hannah, Rahel Varnhagen, Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 198Babel Isaak, Geschichten aus Odessa, München 1972Baedeker Karl , Österreich-Ungarn, Handbuch für Reisende, Leipzig 1903Baedeker Karl, Russia with Teheran, Port Arthur and Peking, Leipzig 1914Beck Hanno, Alexander von Humboldt, Bd. I, Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769 - 1804Beck Hanno, Alexander von Humboldts Reise durchs Baltikum nach Rußland und Sibirien, Stuttgart 1983Beitl Klaus, Das Wort, die Sache, der Vergleich, Österreichische Beiträge zur Volkskunde von Frankreich, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch - Historische Klasse, Sitzungsberichte, 586. Band, Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde Nr. 20, Wien 1992, Bialik Chaim Nachman, In der Stadt des Schlachtens, Aus dem Jiddischen und mit einem Nachwort von Richard Chaim Schneider, Salzburg 1990Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 bis 1858, Nebst Auszügen aus Varnhagen's Tagebüchern und Briefen von Varnhagen und Andern an Humboldt, Leipzig 1860Brockhaus Der Große , Bd. 13, Leipzig 1932Bromme Traugott , Atlas zu Alexander von Humboldt's Kosmos in zweiundvierzig Tafeln mit erläuterndem Texte, Stuttgart 1851Canetti Elias, Die Fackel im Ohr, Lebensgeschichte 1921 - 1931, München 1980Carlebach Julius ( Hrsg. ), Zur Geschichte der jüdischen Frau in Deutschland, Berlin 1993Dantschenko Lessja, Ukrainische Volkskunst, Keramik. Glas, Holz, Metall, Volksmalerei, Weberei, Stickerei, Teppiche, Leningrad 1982Daxelmüller Christoph, Jüdische Volkskunde in Mittel- und Osteuropa, Überlegungen zur Wissenschaftsgeschichte einer vergessenen Institution, in: Aschkenas, Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 2. Jhg., Wien 1992Daxelmüller Christoph , Wiener jüdische Volkskunde, in : Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie Bd. XLI, Gesamtserie Bd. 90, Wien 1987, Magnus Hirschfeld, Sittengeschichte des Weltkrieges, Wien 1930, Die österreichisch = ungarische Monarchie in Wort und Bild, Galizien, Wien 1898Döblin Alfred , Reise in Polen, Berlin 1926

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Dohrn Verena, Reise nach Galizien, Grenzlandschaften des alten Europa, Frankfurt am Main 1991Dubnow S. M., Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. III., 4. Abtlg., Die Epoche der zweiten Reaktion ( 1881 - 1914 ), Berlin 1923Düwel Wolf ( Redaktion ), Geschichte der russischen Literatur von den Anfängen bis 1917, Bd. 2, Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1917, Berlin 1986Elze Reinhard, Repken Konrad , Studienbuch Geschichte, Stuttgart 1974Encyclopaedia Judaica, Bd. 12, Jerusalem 1971Freud Sigmund, Gesammelte Werke, Chronologisch geordnet, Bd. VIII, Werke aus den Jahren 1909 - 1913, Frankfurt am Main 1973Gagarin Marie Fürstin, Blond war der Weizen der Ukraine, Erinnerungen, Bergisch Gladbach 1991Gitermann Valentin , Geschichte Rußlands, Bd. III, Zürich 1949Goldstern Jenny, Twardowski, der polnische Faust, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVIII. Jahrgang, Wien 1912Goldstern Walter , Die Familie - Goldstern - The Family, Aldford, o.J.Gomulicki Wiktor, Warschau, München 1930Gorjki Maxim, Judenmassakre, aus dem Russischen übersetzt von Sonja Wermer, Wien 1904 Great Soviet Encyclopedia, A Translation of the Third Edition, Bd. 18, New York 1978Michael Haberlandt, Cultur im Alltag, Gesammelte Aufsätze, Wien 1900Haberlandt Michael, Dichtungen des Ostens, Die Abenteuer der zehn Prinzen, München 1923Haberlandt Michael, Die Kochkunst der Primitivvölker, Vortrag, gehalten den 27.9.1912, Vorträge des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, Wien 1913Haberlandt Michael, Über Frauenwaffen, Globus, Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Bd. LXIV, Nr. 12, Braunschweig 1893Haberlandt Michael, Völkerkunde, Berlin 1917 Hecksch Alexander von ( Hrsg. ), Illustrierter Führer auf der Donau von Regensburg bis Sulina, Revidirt und theilweise neu bearbeitet von Joseph Kahn, Wien, Pest, Leipzig, 1894Heindl Waltraut, Tichy Marina, " Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück ", Frauen an der Universität Wien (ab 1897 ), Wien 1990Herlihy Patricia, Odessa : a history, 1794 - 1914, Cambridge, Mass. 1986Herweg Rachel Monika , Die jüdische Mutter, Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1995Hoernes Moritz, Natur- und Urgeschichte des Menschen, Band II. Urgeschichte der Kultur, IV - VII, Wien 1909, Hollingsworth Brian u.a., Das Handbuch der Lokomotiven, Herrsching 1990Holme Charles ( Hrsg. ), Peasant Art in Russia, London 1912Humboldt Alexander von, Kosmos, für die Gegenwart bearbeitet von Hanno Beck, Stuttgart 1978Ikonnikov Nicolas, La Noblesse de Russie, Tome R 2, Paris 1962Jacobeit Wolfgang , Lixfeld Hannjost, Bockhorn Olaf, (Hrsg. ), Völkische Wissenschaft, Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994Juschkewitsch Semjon, Ghetto, einzig autorisierte Übersetzung von Sonja Wermer, Wien 1903Katz Jacob , Toward Modernity, The European Jewish Model, New York 1987Kessler Otto, Die Ukraine, Beiträge zur Geschichte, Kultur und Volkswirtschaft, München 1916Koch Karl, Die Krim und Odessa, Reise-Erinnerungen, Leipzig 1854Kraus Fritz ( Hrsg. ), Kosmos und Humanität, Alexander von Humboldts Werk in Auswahl, Bremen 1960Kuprin Alexander, Olessia und andere Novellen, Berlin 1911Lach Robert, Gesänge russischer Kriegsgefangener, Akademie der Wissenschafte in Wien, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, 205. Band, 2. Abhandlung, 66. Mitteilung der Phonogrammarchivs-Kommission, Mit einem Anhang von N.S. Trubetzkoj : Über die Struktur der mordwinischen Melodien, Wien 1933Lepszy Leonard, Krakau, Leipzig 1906, Georg Brandes, Polen, Einzig autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Adele Neustädter, München 1898

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Leskien August, Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Bd. 43, Leipzig 1889Lipp Franz K., Erlesenes Volksgut der Alpenländer, vornehmlich des Salzkammergutes,Sammlung Edgar von Spiegl im Schloßmuseum Linz, vormals Engleithen bei Bad Ischl, Linz 1968, Kataloge des Oberösterreichischen Landesmuseums, Nr. 58, Nr. 8 der Volkskunde - AbteilungLuther G., Die Neugestaltung des Hafens von Odessa, Braunschweig 1889Mahler Raphael , Hasidism and the Jewish Enlightenment, Their Confrontation in Galicia and Poland in the First Half of the Nineteenth Century, Philadelphia 1985Marcus Joseph, Social and Political History of the Jews in Poland, 1919 - 1939, Berlin 1983Mautner Konrad ( Hrsg. ), Alte Lieder und Weisen aus dem Steyermärkischen Salzkammergute, Auflage von 1919, Reprint Tutzing 1977Mautner Konrad, Steirisches Trachtenbuch, begonnen und begründet von Konrad Mautner, Graz 1935Mautner Konrad, Steyerisches Rasplwerk, Vierzeiler, Lieder und Gasslreime aus Goessl am Grundlsee, in Wort und Weise gesammelt, aufgeschrieben und mit Bildern versehen von Konrad Mautner, Wien 1910, Viktor Geramb ( Hrsg. ),Nowakowsky David , Gebete und Gesänge zum Eingang des Sabbath, für Cantor Solo und Chor mit und ohne Orgelbegleitung, für den israelitischen Tempel von Odessa, New York 1955Österreichische Akademie der Wissenschaften ( Hrsg. ), Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 - 1950, Bd. VI, Wien 1975Papashvily Helen und George, Die Küche in Rußland, Reinbek 1979Penzler Johannes ( Hrsg. ), Ritters geographisch - statistisches Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1906Petrowa Jewgenija, Potter Jochen ( Hrsg. ), Russische Avantgarde und Volkskunst, Stuttgart 1993Pölt - Nordheim Klara, Innsbruck, Lieder und Gebete aus dem Sarntale, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XIX. Jahrgang, Wien 1913Pollmann Bernhard, Chronik 1905, Tag für Tag in Wort und Bild, Dortmund 1992Prinz Joachim, Illustrierte Jüdische Geschichte, Berlin 1930Rado A., Führer durch die Sowjetunion, Berlin 1928Resultats du Recensements d' Odessa du 1 Décembre 1892, Odessa 1894Rozenblit Marsha L., Die Juden Wiens 1867 - 1914, Assimilation und Identität, Wien 1989Rübe Werner, Alexander von Humboldt, Anatomie eines Ruhmes, München 1988Schiller Gertrud, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2, Die Passion Christi, Gütersloh 1968Schmidt Leopold, Das österreichische Museum für Volkskunde, Wien 1960,Schmidt Leopold, Die europäischen Vergleichssammlungen im österreichischen Museum für Volkskunde, in : Wissenschaft und Weltbild, Zeitschrift für Grundfragen der Forschung, 14. Jahrgang, Heft 1, Wien März 1961, Schmidt Leopold, Rudolf Trebitsch zum Gedächtnis, Zur Sonderausstellung des Österreichischen Museums für Volkskunde, unveröffentlichtes Typoskript, Wien 1956Schuster Rudolf, Sozial anstößig und moralisch minderwertig, Anti - Judaismus von den Anfängen bis zum Konzil von Nicaea, in : Entschluß, Spritualität . Jesuiten . Gemeinde, 42. Jhg., Nr. 7 - 8, Wien 1987Schwabacher Simon Leon, Das Werk der Erinnerung, Weiherede zur eröffnung des zum Andenken des Gottseligen Erzbischofs Dimitri von der Odessaer israelitischen Gemeinde gestifteten Waisenstpendiums, Odessa 1887Schwabacher Simeon Leon von, Der Sieg der Menschheits - Idee über den Nationalitäts - Begriff, Vorlesung zum Besten des Rothen Kreuzes, Odessa 1878Simeon Leon von Schwabacher, Denkschrift über Entstehung und Charakter der in den südlichen Provinzen Rußlands vorgefallenen Unruhen, Stuttgart 1882 Schwabacher Simeon Leon von, Drei Gespenster, Eine Zeitfrage, Stuttgart 1883Schwarz Werner Michael, Kino und Kinos in Wien, Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934, Wien 1992 Stahl Weinberg Sydney , The World of of Our Mothers, The Lives of Jewish Immigrant Women, New York 1988

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Sperber Alice, Inaugural - Dissertation der philosophischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde, Charakteristik der Lothringer Märchensammlung von E. Cosquin, ( Paris 1887 ), Wien 1908, ÖZV XVII, 1911, Sperber Alice, Zur Animalisierung von Gegenständen, Wörter und Sachen, Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung, Bd. II, Heft 2, S. 192, Heidelberg 1911 , Sperber Alice, Zur Bildung romanischer Kindernamen, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, XXVII. Heft, Prinzipienfragen der romanischen Sprachwissenschaft, Meyer - Lübke gewidmet, Teil II, Halle a.S. 1911, Stern E. von, Das Museum der Kaiserlich-Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde, Odessa 1906Struss Dieter, Deutsche Romantik, Geschichte einer Epoche, München 1986Suppan C.V., Die Donau und ihre Schiffahrt, Wien 1917Trebitsch Rudolf, Bei den Eskimos in Westgrönland, Ergebnisse einer Sommerreise im Jahre 1906 von R.T., nebst einem ethnologischen Anhang von Michael Haberlandt, Berlin 1910Trebitsch Rudolf, Die Basken, Vorbereitungen für eine Reise, Manuskript, o.J., Trebitsch Rudolf, Krankheiten der Eskimos in Westgrönland, Wien 1907 Trebitsch Rudolf, Meine Baskenreise, Tagebuch Sommer 1913Trebitsch Rudolf, Meine Grönlandreise im Sommer 1906 Trebitsch Rudolf, Phonographische Aufnahmen der Eskimosprache, Wien 1906Trebitsch Rudolf,Vergleichende Literatur zur Volkskunde der Basken, Manuskript, Wien 1914, Heft IIDr. med. et phil. Rudolf Trebitsch, Versuch einer Psychologie der Volksmedizin und des Aberglaubens, Eine ethnologische Studie, Sonderabdruck aus Bd. XLIII ( der dritten Folge Bd. XIII ) der Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft, Wien 1913Troubetzkoy Scultore, Verbania 1866 - 1938, Intra 1988Turgenjew Iwan S., Aufzeichnungen eines Jägers, Erzählungen 1844 - 1855, München o.J.Verzeichnis der Sanitätspersonen Wiens für das Jahr 1908, verfaßt vom Winer Stadtphysikate der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien 1908Verzeichnis über die seit dem Jahre 1872 an der philosophischen Fakultät der Universität in Wien eingereichten und approbierten Dissertationen, Bd. II, Wien 1936Weinberg Robert, The Revolution of 1905 in Odessa, Indiana 1993Wiese Benno von, Deutsche Dichter der Romantik, Ihr Leben und Werk, Berlin 1983Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XV. Jahrgang, Wien 1909, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVII Jahrgang, Wien 1911, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XIX. Jahrgang, Wien 1913, Zipperstein Steven J. , The Jews of Odessa, A Cultural History, 1794 - 1881, Stanford 1985, S. 16

Archivalien

Archiv der der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg, Protokoll der Doktorprüfung vom 16.6.1920 der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität FribourgWernert, geb. Goldstern Claire, BriefeWiener Stadt- und Landesarchiv, MeldearchivWiener Stadt- und Landesarchiv, Totenbücher, TodfallsaufnahmenÖsterreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Faszikel 15 AB - 1, Volkskundemuseum Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, Briefe von Eugenie Goldstern ÖMV - Inventar VII, Wien 1912 ÖMV - Inventar VIII, Wien 1912 ÖMV - Inventar IX, Wien 1913Österreichisches Museum für Volkskunde, Diapositivverzeichnis

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Reise nach Polen

Im Jahre 1912 setzt Eugenie Goldstern sich in ihrer ersten, wohl aus Rudolf Trebitsch Mitteln honorierten Veröffentlichung mit dem kleinen Spielzeug auseinander, das sie dem Museum geschenkt hat. Sie erkennt in dem bärtigen Reiter auf dem Gockelhahn eine plastische Darstellung des Doktors Twardowski. Anhand einschlägiger Literatur verfolgt sie die uralten mythologischen Wurzeln der kleinen " Volksplastik ".290 Der abgebildete Edelmann promovierte im Fach Medizin an der Universität in der alten gotischen Stadt Krakau. In den ungeheueren Räumen der Jagiellonischen Bibliothek wird ein großes Manuskript gezeigt, das er besessen haben soll. Neben astrologischen Berechnungen und verschiedenenfarbig gezeichneten Planetentafeln prangt auf dem Folianten der Abdruck einer Teufelshand. 291 Durch seine Wunderkuren wurde der Magier zu einem der berühmtesten Ärzte Polens. Wie sein deutscher Kollege, der Doktor Faustus, hat er sich um der Wissenschaft willen mit Leib und Seele dem Satan verschrieben.

Ein Tonpfeifchen, das den Schwarzkünstler zeigt, wird noch heute im Museumsdepot verwahrt. Der Gegenstand stammt aus dem polnischen Tschenstochau, das sich unter russischer Fremdherrschaft befindet. Das Städtchen liegt an der Bahnlinie von Wien nach Warschau. Es ist nicht weit von der Grenze zu Schlesien entfernt. Die felsige Juralandschaft der Umgebung bietet viele Ausflugsmöglichkeiten. Wanderungen führen durch sanfte Täler, in denen rauschende Bäche strömen. Durch wilde, schattige Waldschluchten gelangt man zu Höhlen, die als älteste Fundgruben kultureller Überreste der Steinzeitmenschen gelten. 292 Bei Wierzchow liegt eine tiefe Grotte, in der Spuren menschlicher Besiedlung entdeckt wurden. Wie in Odessa wird in der polnischen Oberschicht gern und geläufig französisch gesprochen. Junge Frauen beherrschen die Sprache mit völliger Selbstverständlichkeit. Sie verbringen " ein Drittel ihres Lebens auf Reisen. " 293 Möglicherweise besucht Jenny in Tschenstochau Verwandte ihres Vaters, die eines der in der Umgebung gelegenen Landhäuser besitzen. In dem Industriezentrum in einer freundlichen Talweitung der Warthe rauchen die Schlote. In der Nähe wird Kohle abgebaut, die dem Betrieb der dampfmaschinengetriebenen Spinnereien und Webereien dient. In einer Vielzahl von Textilbetrieben werden Leinen, Jute und Wollstoffe hergestellt. In dieser wichtigen Exportindustrie spielen jüdische Unternehmer eine führende Rolle. Beinahe vier Fünftel der Ausfuhr erfolgt nach Rußland. 294

Die größte Fabrik heißt " La Czenstochovienne ". 295 Hier entstehen in hochspezialisierter, monotoner Arbeitsteilung verschiedene Gewebe vom groben Segeltuch bis zum zarten Schleier, von der Jute bis zur Seide. In einer Halle zerrupfen und zerteilen dröhnende Maschinen im ewig gleichen Takt ägyptische Baumwollballen. Schlagmaschinen teilen und reinigen ununterbrochen die duftig feinen Fasern, erzeugen einen endlosen, breiten Wattewickel. Stränge werden ausgezogen, gekämmt und entwirrt. In einem weiten Stockwerk werden die lockeren, runden weißen Bänder zu

290Jenny Goldstern, Twardowski, der polnische Faust, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVIII. Jahrgang,

Wien 1912, S. 46

291Döblin, a.a.O., S. 261

292Leonard Lepszy, Krakau, Leipzig 1906, S. 1

293Brandes, a.a.O., S. 166

294Marcus, a.a.O., S. 89

295Generalstab, a.a.O., S. 279

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dicker Watte gepresst. Fäden werden gezogen, schraubenförmig zusammengedreht, auf Spulen gewickelt. In der Weberei werden die Garne verarbeitet. Vibrierende Apparate werden von einer ganzen Reihe sausender Treibriemen in Bewegung gehalten. Die Säle erbeben im pfeifenden und rollenden Rhytmus. Dreihundert Webstühle poltern und krachen " wie bei einer Beschießung. " 296 In der Färberei brodelt Dampf, spritzt das Wasser. Die Arbeiter laufen barfuß. Sie waschen, walken, trocknen, spannen und plätten die Stoffe. Tschenstochau ist ein berühmter Marienwallfahrtsort. Die Klosteranlage wurde ursprünglich als Festung errichtet. Sie ist noch immer von Wehrmauern und einem Graben umgeben. Sie liegt beherrschend auf einer Anhöhe, dem " Hellen Berg. " Sie wurde von Hussiten geplündert, von den Schweden hart aber vergeblich belagert. Von weitem ist der mehr als hundert Meter hohe Kirchturm zu sehen. Jedes Jahr kommen Pilger in Scharen, um zu einer Gnadenikone zu beten. Gutgenährte Priester und Nonnen hasten vorüber. Die Massen der Gläubigen streben in einen zentralen Kulthof. Vor den Arkaden drängen sie sich in langen Schlangen vor den Beichtstühlen. Anschließend strömen sie zum Allerheiligsten. Der Altar ist von einem Gitter umschlossen, an dem silberne Herzen, Ketten, Kreuze, Krücken und Gehstöcke von Kranken hängen, die auf wunderbare Weise geheilt wurden.Das dunkle Gesicht der wundertätigen Muttergottes mit den beiden Säbelhieben auf der Wange ist kaum zu erkennen. Alle Wände der Kapelle sind mit Votivtafeln und Danksagungen überdeckt. Vor den Klostermauern, beim Denkmal des Zaren Alexander II., stehen die Blumenhändlerinnen. Kerzen und Rosenkränze in allen Formen sind feilgeboten. An den Kramläden und Andenkenständen werden kreuzförmige Schmucksachen, Heiligenbilder und Amulette der Schwarzen Madonna vertrieben.

Auf dem runden Platz vor dem adlergeschmückten Lubomirski - Tor ersteht Jenny ihr buntes Tonpfeifchen. Der durch die Lüfte irrende Twardowski steht in enger Beziehung zum Kult der Gottesmutter, weil er auf dem Weg zur Hölle aus den Klauen des Teufels befreit wurde. Da er auf der Fahrt in die Tiefe ein inbrünstiges Marienlied anstimmte, wurde er dazu begnadigt, ruhelos zwischen Himmel und Erde umherzuirren. Die Spinnweben des Altweibersommers heißen in Polen " Marienfäden ". Sie sind die Spur eines zur Spinne verzauberten Gehilfen des Hexenmeisters. Der Famulus läßt sich an den silbrigen Fäden herab, um seinem durch die Lüfte jagenden Gebieter über das irdische Treiben zu berichten. Die Jungfrau Maria wird als wahre " Königin von Polen " im Gegensatz zum russischen Zaren gesehen, der ihr Land besetzt hält 297 und katholische Kirchen in orthodoxe umwandeln will. 298

Tschenstochau ist das Heiligtum des religiösen Nationalbewußtseins eines Volkes, dessen Name von den Landkarten getilgt wurde. Die Heimat ist unter fremden Mächten aufgeteilt. Polens Adlerwappen mußte sogar von den Fassaden alter Häuser und von Bilderrahmen enfernt werden. 299 Kunstschätze wurden nach Großnowgorod oder Petersburg verschleppt. 300 Firmenschilder und Straßennamen mußten mit russischem Text versehen werden. 301 In Postämtern oder

296Döblin, a.a.O., S. 347

297Georg Brandes, Polen, Einzig autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Adele Neustädter, München 1898, S.

72

298Wiktor Gomulicki, Warschau, München 1930, S. 296

299Brandes, a.a.O., S. 105

300Lepszy, a.a.O., S. 9

301Gomulicki, a.a.O., S. 301

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Gerichtsgebäuden mahnen Plakate : " Polnisch zu sprechen ist verboten. " 302 Eine Welle russischer Beamter ergoß sich über das Land. Polen können nicht in den Staatsdienst treten oder einträgliche Stellungen bekleiden. 303 Ihre Kinder werden in der Schule auf russisch unterrichtet. Sie dürfen sich nicht einmal in den Pausen oder auf der Straße in ihrer Muttersprache unterhalten. 304 Aus Ostpreussen wurden innerhalb weniger Tage 50.000 Polen ausgewiesen, die sich im russischen Teil Polens ein Obdach suchen mußten. Das Deutsche Reich versuchte schon unter Bismarck, seinen Einflußbereich zu " germanisieren ". Die Ostkolonisation handelt " gerade als ob die Rede von unbewohnten Gegenden wäre, oder von Landstrecken, die von Wilden bewohnt sind. " 305

Mit der Abhandlung über den Twardowski ergreift die Autorin Partei für ein unterdrücktes Volk, dessen Kultur von den Siegern planmäßig verfolgt wird. Sie bestätigt ihrem Sagenhelden ein " national - polnisches Gepräge. " 306 Im nächsten Jahr kehrt sie noch einmal zurück, um weitere fünf Figuren " vom Markte in Tschenstochau " für das Museum in Wien zu kaufen. Sie müßte mit empfindlichen Unannehmlichkeiten rechnen, sollte ihr Aufsatz bei der strengen Zollrevision an der Grenzstation in Granica von den Beamten entdeckt werden. Eine solche Stellungnahme für die bedrohte polnische Identität kann unmöglich von der Zensurbehörde in Warschau geduldet werden. Die russischen Machthaber versuchen, alles zu verbieten, was das " unglückliche Volk " 307, das gern sein Martyrium mit dem des Gekreuzigten vergleicht, 308 an seine Geschichte, seinen früheren Glanz, seine alten Überlieferungen, seine ureigensten Märchen und Legenden erinnern könnte.

Tschenstochau bestand ursprünglich aus zwei Teilen, die voneinander getrennt waren. Die kleinere Neustadt im Norden erstreckt sich unmittelbar am Fuße des Klosterberges. Am entgegengesetzten Ende liegt die Altstadt, die den Namen der Heiligen Barbara trägt. Sie ist nur auf einem langen Weg, der um die katholische Zitadelle herumführt, erreichbar. Erst im letzten Jahrhundert entstand ein verbindender Stadtteil, in dem eine große, kuppelgekrönte Synagoge steht.309 Im Osten der Altstadt gibt es ein richtiges " Schtetl ", in dem Markt gehalten wird. Bäuerinnen haben lebende Gänse auf dem Arm, Hühnerkäfige zu ihren Füßen. Mehl und Gries wird sackweise angeboten. An den Verkaufsbuden hängen Feigen an langen Schnüren aufgereiht. Auf dem Boden stehen Körbe mit Obst oder weißen Kohlköpfen gereiht. Andere Stände bieten Spielsachen, Töpferwaren oder bunte Gläser feil. Wandernde Händler rufen Schokolade und heiße Pfannkuchen aus. 310

Abends wandern Gruppen von Männern in die erleuchteten Betstuben. Am Freitagabend erstrahlen nach Einbruch der Dämmerung in allen Fenstern strenggläubiger Juden die rituellen Kerzen. Die

302Brandes, a.a.O., S. 88

303Brandes, a.a.O., S. 175

304Brandes, a.a.O., S. 174

305Brandes, a.a.O., S. 69

306Goldstern, Twardowski, a.a.O., S. 42

307Brandes, a.a.O., S. 88

308Brandes, a.a.O., S. 125

309Encyclopaedia Judaica, Bd. 5, Jerusalem 1971, col. 1213

310Döblin, a.a.O., S. 34

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Türen wurden bis zum Ende des Sabbat geschlossen. Die Männer mit den langen Schläfenlocken legen ihren schwarzen Kaftan an. Sie ziehen den schwarz - weißen Gebetsmantel darüber. Sie setzen ihre Zobelmützen oder kleinen Samt- und Satinkäppchen auf. 311 Sie befestigen nach genauen Vorschriften am linken Arm und auf der Stirn zwei kleine, steife, würfelförmige schwarze Lederkapseln, die spezielle, auf Pergament geschriebene Schriftverse enthalten. Im ganzen Viertel herrscht nunmehr heilige Ruhe. Man singt Sabbathymnen. Man erzählt einander in der Dämmerung Geschichten von Rabbis, die Kranke geheilt, " dem Höllenfürsten ein Opfer abgerungen und einen Einblick in die Herrlichkeit Gottes jenseits der Weltmauern gewonnen haben ".312

Im Bibliotheksinventar des Volkskundemuseums sind drei Geschenke von Eugenie Goldstern nachzuweisen, die aus Polen kommen . 313 Zwei reich bebilderte Bände führen die Formenvielfalt vor, mit der in der Volkskunst dieses Landes technische und architektonische Fragen gelöst werden. Thematisch geordnet werden in hingebungsvoll gezeichneten Bildbeispielen knorrige Dreschflegel und sorgsam holzgefügte, weidenumgürtete Kübel, Butten und Bottiche vorgeführt. Beim Stichwort " Tor " ist eine Fülle sinnreicher Holzverbindungen zu bewundern, die sich zu gestückelten, holzverdübelten Türstürzen fügen. Die Hofeinfahrt ist dreigeteilt. Die beiden hohen Flügel öffnen sich dem Fuhrwerk. Der einzelne Ankömmling geht durch eine kleinere Tür. Dieses Grundmotiv wird in sechs verschiedenen Variationen ausgeführt. In Slomnik bevorzugt man den geraden Torbalken, der sich auf kapitellartig bewehrte Pfosten stützt. In Orchów dienen diagonale Streben der Lastabtragung in das Gewände. Über den praktischen Nutzen eines kleinen Schlupftürchens im großen Torflügel sind sich die Zimmerleute in allen Fällen einig. 314

Meisterhafte Zimmermannsarbeit, kunstvolle Dachformen und wohldurchdachte Raumaufteilung bei der hölzernen Bauernkate der Tatragoralen werden detailgenau belegt. Vergleiche mit Beispielen aus Minsk und Noworadomsk sind möglich. In der Landschaft an der Weichsel und den Unterläufen von Narew und Bug lebt man unter einem Dach aus dicken Strohbündeln. Im höher gelegenen Piekielni bevorzugt man Schindeln, in Grani oder Wisly Bretter für die Eindeckung der entsprechend steileren Walmdächer. Das Bürgerhaus entwickelt diese Grundformen weiter. Jetzt wird der Schmuck der straßenzugewandten Fassade wichtig. In Wisznicz schmückt man die Schauseiten mit hölzernenSchweifgiebeln nach barocker Mode, Arkaden und Loggien, mit gezimmerten Motiven aus dem Kirchen- und Burgenbau. Das Herrenhaus der Gutsbesitzer fügt dazu selbst im fernen Wolhynien und Podolien das antikenbegeisterte Motiv des palladianischen Portikus.

Ein Aufsatz, der in Fortsetzungen in einer Zeitschrift erschien, läßt zweierlei vermuten. Er legt nahe, daß Jenny mit christlichen Sakralbauten in der Gegend von Lemberg vertraut ist. 315 Die sorgfältige Bindung und Inventarisierung der nur ein Dutzend Seiten umfassenden Abhandlung, der handschriftliche Vermerk auf dem Umschlagblatt und neben der Registerspalte " Geschenk von Frl. Eugenie Goldstern " zeigen die Freude und Hochschätzung des Museumsdirektors. Die fotografischen Abbildungen veranschaulichen, mit welchem Einfallsreichtum in Polen europäische Gedanken des barocken Kirchenbaus verwirklicht werden. Das basilikale und zentralräumliche Schema wird fruchtbar in die landläufige Formensprache bäuerlicher Holzarchitektur übersetzt.

311Verena Dohrn, Reise nach Galizien, Grenzlandschaften des alten Europa, Frankfurt am Main 1991, S. 75

312Die österreichisch = ungarische Monarchie in Wort und Bild, Galizien, Wien 1898, S. 492

313Österreichisches Museum für Volkskunde, Bibliotheksinventar, Nr. 1963, Nr. 1964

314Zygmunt Gloger, Budownictwo Drzewne, I Wyroby z Drzewa, W Dawnej Polsce, Warszawa 1907, Bd. 1, S.62

315B. Jannoz, Cerkwie drewniane w okolicach Lwowa, Ziemia, Nr. 41, 42, 43, 44,1911. Nr. 12, 20, 1912

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Verschindelte Kuppel, samt Laterne und sechseckigem Tambour stehen bei der Frauenkirche in Zubowice auf einer im Blockbau aufgeführten Vierung.

In der Zeitschrift für Volkskunde erscheint im Jahre 1912 ein kleiner Beitrag, der auf Jennys Aufsatz zu Twardowski eingeht. Ein Volkskundler aus Tölz weist darauf hin, daß auch Salzburg, der Steiermark und in Hallein Gebildbrote üblich sind, bei dene Reiter auf Hähnen, Gänsen, oder Schimmeln dargestellt werden. 316 Im Eingangsbuch des Museums wird der Ankauf einer " Collektion E. Goldstern " aus Bukarest um 80 Kronen vermerkt. Jenja hat die bäuerliche Keramik wohl mit dem Orientexpress von einem Besuch bei ihrem Lieblingsbruder Iljuscha mitgebracht. Er dürfte wie David und Philip als Ingenieur der " Anglo-Danubia " auf den Petroleumfeldern von Câmpina am Fuße der Transsylvanischen Alpen oder in der Raffinerie " Baneasa " arbeiten. Hier kann Jenja den neuesten Stand der petrochemischen Erschließung kennenlernen. Früher diente Erdöl, das in Löchern auf Wiesen zu Tage trat, den Einheimischen zum Imprägnieren von Lederwaren oder als Wagenschmiere. Am Anfang des Jahrhunderts wurde aus daraus das " Leuchtöl " zum Betreiben von Petroleumlampen destilliert. " Erdwachs " wurde zu Paraffin verarbeitet. Schächte, in denen die Hauer den Rohstoff aus den Ritzen des Bodens kratzten, wurden planlos in bis zu 150 Meter Tiefe getrieben und lediglich mit einem Geflecht aus Weidenruten gesichert. Aus den Ölbrunnen wurde die begehrte Flüssigkeit mit hölzernen Kübeln geschöpft, die an Seilen herabgelassen wurden. Es fehlten die einfachsten Sichheitssvorrichtungen wie Grubenlampen oder Ventilatoren. Schlagwetterkatastrophen waren an der Tagesordnung.

Mit der Motorisierung entsteht seit der Jahrhundertwende ein neuer Markt für Benzin. Von Ingenieuren wie Jenjas Brüdern wird die auf den Ölfeldern von Pennsylvanien erprobte " kanadische Stangenbohrung " eingeführt. 317 Die dunklen Holzgestelle der Bohrtürme wachsen in den Himmel. Raffinerien mit einem Gewirr von Rohrsträngen und Batterien von Kesseln für die Destillation von Kraftstoffen werden eingerichtet. Auf Nebengeleisen stehen abgestellte Zisternenwagen und eiserne Ölbehälter. Dampfmaschinen pumpen das Wasser aus den Schächten. In der Luft liegt der beißende Geruch der Dämpfe von Petroleum, Naphtalin und Paraffin, die" förmlich den Atem abschnüren. " 318 Wenn mehr Rohöl gefördert wird, als verarbeitet werden kann, fließt der Überschuß über Wiesen und Felder. Dann kann es durch Unachtsamkeit oder Blitzschläge zu Feuersbrünsten kommen. Halbproletarische Kleinbauern müssen sich als schmutzüberkrustete, abgerissene Handlanger verdingen. Sie wohnen zusammengedrängt in ebenerdigen Hütten. Arbeiterinnen und Arbeiter sind zumeist Juden. Männer, Mädchen und Kinder erledigen schwere, gesundheitsschädliche, oft lebensgefährliche Tätigkeiten für niedrigen Lohn.

In der Haupt- und Residenzstadt des rumänischen Königreiches sieht man noch die bunten Volkstrachten der Landbevölkerung. Jenja ersteht einen Rock aus weissem Loden, der mit aufgesetzten Schnüren und Wollstickerei farbenprächtig verziert ist. Auf dem " Obor ", einem großen Platz im Nordosten der Stadt sind Verkaufsstände sternförmig um ein Zentrum angeordnet. Hier entfaltet sich zweimal in der Woche beim Markttag ein reges Volksleben. Vor Pfingsten wird auf dieser Fläche der " Mosch ", ein großes Volksfest gefeiert.

Wallis

Im Jahr 1912 kommt Eugenie Goldstern zum ersten Mal in das schweizerische Wallis. In diesem

316Max Höfler, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVIII. Jahrgang, Wien 1912, S. 119

317Pollack, a.a.O., S. 35

318Pollack, a.a.O., S. 39

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Kanton haben die Bevölkerungen, obwohl sie aus den unterschiedlichsten Richtungen hierher geströmt sind und verschiedene Sprachen sprechen, schon im Mittelalter demokratische Bündnisse geschlossen. 319 Sie haben früh Hörigkeit, Leibeigenschaft und Schuldknechtschaft abgeschüttelt. Sie sind im freien Besitz von Grund und Boden. Alpen und Wälder sind ihr gemeinsames Gut. Sie sind gewohnt, ihr Geschick in die die eigene Hand zu nehmen. Schließlich hilft in ihren abgelegenen Siedlungen kein Herzog, kein Deichgraf gegen die Naturgewalten der Bergstürze, der Muren und Lawinen. Gegen den anhaltenden Widerstand des Adels setzten die Bauern im 15. Jahrhundert durch, unabhängige, miteinander verbündete Verwaltungseinheiten zu bilden. Solche " Zehnten " können sogar die Einsetzung eines hohen Richters oder eines Bischofs bestimmen. Die Amtsrichter werden von den Wählern der Gemeinde bestimmt. 320 Das Landbuch des bündnerischen Hochtales Avers aus dem Jahre 1622 verkündet stolz : 321

Wir haben von Gots Gnaden eine schöne fryheit;wir haben eigne Macht und Gwalt zu setzen und zu entsetzen !Wir haben eigen Stab und Sigel, Stock und Galgen;wir sind gottlob keinem frömden Fürsten und Herrn nichts schuldignoch unterworfen denn allein dem allmächtigen Got !

Eugenie Goldstern besucht die Seitentäler der Rhone. Sie stößt in die Höhenregionen eines Grenzgebietes vor, das durch gewaltige Gletscher vom benachbarten Italien getrennt wird. An verschiedenen Stellen des Talsystems sind die Sitten und das Brauchtum, die Trachten und die Bauart der Wohnungen grundverschieden. Man vermutet deshalb, daß sich Bevölkerungen unterschiedlichen Ursprunges angesiedelt haben. Aufgrund der Ähnlichkeit von Gegenständen des häuslichen Gebrauchs liegt der Schluß nahe, daß die Vorfahren aus weit entfernten Ländern stammen. Zwischen 930 und 940 suchten spanische Sarazenen das Wallis mit ihren Plünderungszügen heim. Sie kommen als Zuzügler in Betracht. 322 Möglicherweise sind die Walliser Nachfahren von zugewanderten Hunnen oder Vandalen. Deutsche Ansiedlungen sollen auf demobilisierte Söldner zurückgehen, die im Dienste der Ghibellinen in Oberitalien gefochten hatten. 323 Die " herkommen lüt " könnten Reste der in vorchristlicher Zeit eingedrungenen Zimbern und Teutonen, ins Gebirge verschlagene Friesen oder Sachsen sein. 324 Manche Autoren erwägen den Zustrom, keltischer, kmyrischer, alemannischer oder langobardischer Einwanderer.

Eugenie Goldstern forscht im " gewiss in anthropologischer Hinsicht bestbekannten Kanton der Schweiz. " 325 Der Prähistoriker und Gebirgsforscher Ludwig Rütimeyer aus Basel trieb hier bereits in der Mitte des letzten Jahrhunderts Schädelforschungen. 326 Sein Sohn Leopold ist Spezialist für Spuren aus der Frühzeit im gegenwärtigen Volksleben der Schweiz. Er meint, " daß wir in um so

319Arnold Niederer, Bemerkungen zu Louis Courthions " Peuple du Valais ", Schweizerisches Archiv für Volkskunde,

Bd. 67, Basel 1971, S. 32

320Knapp, a.a.O., Bd VI, Neuenburg 1910, S. 560

321Zinsli, Walser, a.a.O., S. 369

322Schmidt, Wallis, a.a.O., S. 228

323Schmidt, Wallis, a.a.O., S. 231

324Georg Budmiger ( Hrsg. ), Die Walser, Bilder und Texte zur Walserkultur, Frauenfeld 1982, S. 14

325Knapp, a.a.O., Bd VI, Neuenburg 1910, S. 543

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tiefere Schichten der Vergangenheit dringen, je höher wir uns nach den Zinnen dieser Zufluchtsstätte schwindender Schöpfungen erheben. "327 Bei seinen Alpenwanderungen glaubt er, eine " alte Heimat " zu betreten. 328 Wenn er auf den Höhen umherstreift, erblickt er den Schauplatz des Lebens früherer Generationen. Rütimeyers zahlreichen Beiträge " zur schweizerischen Urethnografie " 329 haben Eugenie Goldsterns wissenschaftlichen Arbeiten entscheidend geprägt. Viele Hinweise auf noch gebräuchliche archaistische Gerätschaften wie Kerbstöcke, Steinlampen, Salzmörser, aber auch das Kinderspielzeug sind von ihm ausgegangen.

Leopold Rütimeyer ist wie sein Vater Arzt für innere Krankheiten und Kenner der Frühgeschichte seines Heimatlandes. Er hat einen Teil seiner Medizinstudien in Wien absolviert. Wie Eugenies Bruder Samuel ist er Besitzer einer Privatklinik. 330 Er ist Arzt wie Rudolf Trebitsch, der die Mittel für Eugenie Goldsterns Sammeltätigkeit zur Verfügung stellt. Wie dieser interessiert er sich für die Kultur der Polarvölker, besonders der Eskimos, bei denen er lebende Parallelen zu unseren eigenen steinzeitlichen Vorfahren vermutet. 331

Er ist Hausarzt der Diakonissenanstalt in Riehen am Rande von Basel. 332 Seine Ausdrucksweise ist der Landpraxis angepaßt. Sie ist originell und reichlich mit bodenständigen Ausdrücken durchsetzt. Seine Besuche führen ihn weit über die Grenzen hinaus. Mit der Kutsche fährt er zu den Kranken in den badischen Dörfern. Er ist es gewohnt, mit Bauernfamilien unbefangen und herzlich zu verkehren, ihr Vertrauen zu gewinnen. 333 Selbst aus dem Elsaß wallfahrten die Patienten aller gesellschaftlichen Schichten zu ihm. Heruntergearbeitete Leute aus dem einfachen Volk, Bauernfrauen aus dem Emmental und geplagte Familienmütter kommen durch seine Behandlung wieder zu Kräften. 334

Rütimeyer beruft sich mit seinen ethnologischen Forschungen auf Theorien eines weitgereisten

326Knapp, a.a.O., Bd VI, Neuenburg 1910, S. 542

327Carl Schmidt, Ludwig Rütimeyer als Gebirgsforscher, Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, 31. Jhg., 1895 - 1896,

Bern 1896, S.291

328Stöcklin, Rütimeyer, a.a.O., S. 23

329Rütimeyer Leopold, Ur-Ethnographie der Schweiz, Ihre Relikte bis zur Gegenwart mit prähistorischen und

ethnographischen Parallelen, Basel 1924

330Hermann Aellen (Hrsg. ), Schweizerisches Zeitgenossenlexikon, 2. Ausgabe 1931 (348 )

331Stöcklin, Rütimeyer, a.a.O., S. 37

332Staatsarchiv Basel, Leichenreden, Zur Erinnerung an Prof. Dr. Leopold Rütimeyer - Lindt 1856 - 1932, Basel 1932,

S. 5

333Fritz Sarasin, Prof Leopold Rütimeyer, Dr. med. et phil. h.c., 1856 - 1932, Separatabdruck aus dem Basler Jahrbuch,

Basel 1934, S. 2

334Stöcklin, Rütimeyer, a.a.O., S. 16

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Mediziners, 335 die seinem Wiener Kollegen Trebitsch ebenfalls geläufig sind. 336 Adolf Bastian ist ein Schüler des Anatomen und Physiologen Rudolf Virchow in Berlin. 337 Als Schiffsarzt umrundet er mehrmals den Erdball. Rütimeyer bereist immerhin Sizilien, Malta, Ägypten und den Sinai, Ceylon und die Sahara . 338 Er betreibt in aller Welt seine praktischen Feldforschungen. Wie Bastian bemüht er sich, den subjektiven Standpunkt der Eingeborenen, ihre Art der Weltsicht zu verstehen. 339 Wie Trebitsch betrachtet er sie nicht ausschließlich als Forschungsobjekte.340 Er tritt ihnen als hilfsbereiter Arzt entgegen. Er hält abendliche Sprechstunden für die Beduinen der Wüste und der Oasen und erkundigt sich bei den Weddas im ceylonesischen Regenwald nach deren Krankheiten. 341 Er begegnet den " Urwaldmenschen " mit Achtung und Aufmerksamkeit. Er hält sie für Überreste eines Urstammes. Er ist überwältigt von ihrer unverdorbenen Menschlichkeit. Er bewundert ihre harmonischen Körperbewegungen. Er begeistert sich für eine Kultur, die " wie aus entlegenem goldenem Zeitalter zu uns herübergrüßt " . 342

Bereits im Jahre 1871 setzt Bastian sich mit der " Kultur der Primitiven ", ihrer Abhängigkeit von Einflüssen der Umwelt 343 auseinander. Er sucht wilde Stämme auf, um die Kindheit der Zivilisation kennenzulernen. Er stellt fest, daß die verstärkte Isolation einer Volksgruppe schnell dazu führen kann, daß der Eindruck entsteht, sie sei " primitiv ". 344 Jede Sippe, die nicht mit anderen in Kontakt komme, die sich auf einem unterschiedlichen Stand der Entfaltung befänden, werde auf einem bestimmten Niveau stehenbleiben. Er legt den Schluß nahe, daß die abendländische Kultur an einem solchen Mangel an Austausch leidet und sich deshalb keineswegs geradlinig zu ihrem Vorteil fortentwickelt. Folglich bemühen sich Rütimeyer, Trebitsch und Goldstern, zu ergründen, wie kulturelle Errungenschaften durch Zeit und Raum weitergegeben werden. Sie suchen nach Analogien und Parallelen zwischen weit entfernten Völkern. Sie wollen Gleichartiges finden, gemeinsame Quellen ergründen. Sie wollen Tatsachen herausstellen, die fremde Menschen verbinden.

Adolf Bastian ist Begründer des Museums für Völkerkunde in Berlin und " Schöpfer der

335Niederer, Alpine, a.a.O., S. 280

336ÖMV, Archiv, Rudolf Trebitsch, Beiträge zur baskischen Volkskunde, Erläuterungen zur baskischen sammlung des

k.k. Museums für österreichische Volkskunde in Wien, Wien o.J., S.19

337Koepping, a.a.O., S. 7

338Staatsarchiv Basel, Leichenreden, Zur Erinnerung an Prof. Dr. Leopold Rütimeyer - Lindt 1856 - 1932, Basel 1932,

S. 7

339Koepping, a.a.O., S. 152

340Trebitsch Rudolf, Bei den Eskimos in Westgrönland, Ergebnisse einer Sommerreise im Jahre 1906 von R.T., nebst

einem ethnologischen Anhang von Michael Haberlandt, Berlin 1910

341Sarasin, Rütimeyer, a.a.O., S. 3

342Sarasin, Rütimeyer, a.a.O., S. 5

343Koepping, a.a.O., S. 151

344Koepping, a.a.O., S. 168

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neuzeitlichen Völkerkunde " 345 Er verwahrt sich gegen Versuche, die Menschen in " Wilde " und " Zivilisierte " einzuteilen, ihnen angeborene Unterschiede in den geistigen Anlagen zu unterstellen. Er spricht sich deutlich gegen den Kolonialismus, Rassentrennung und " die Verschwörung der herrschenden Klassen " aus. 346 Er hofft auf die Naturwissenschaft als Religion einer Zukunft, in der die Wahrheit nicht mehr einer Kaste, sondern dem gesamten Volk gehört. Er will eine neue " Ethik an der Stelle verfallener Tempel " errichten. 347 Er sieht eine ganzheitliche psychische Einheit des Menschengeschlechtes. 348 Er bewundert die humanistischen, aufklärerischen Ideale eines Alexander von Humboldt. 349 Er wendet sich gegen den Glauben, die eigene, europäische Kultur stehe immer an der Spitze der Entwicklung. Er warnt mit großem Scharfblick : " In unserer eigenen europäischen Kultur finden wir zum Beispiel ganz sicher eine Form der geistigen Barbarei, die nicht nur der eines Afrikaners oder amerikanischen Indianers gleicht, sondern an Dummheit jede wilde Gesellschaft übertrifft. " 350

Der preussische Forscher ist beunruhigt über das unaufhaltsame Verlöschen der " Primitiven Gesellschaften ". Er beobachtet, wie ganze Völker dahinschmelzen, wie Schnee in der Mittagssonne. Landstriche, die einst eine bunte ethnische Vielfalt aufwiesen, sterben aus, werden verlassen und verwüstet. Überbleibsel werden in abgelegene Reservate abgedrängt. Wertvolles Wissen, kostbare Erinnerungen und Erfahrungen gehen unwiederbringlich verloren. Für die gegenwärtigen Bewohner sind ihre Vorfahren ferner, als die " Germanenstämme des Tacitus für uns ". 351 Der melancholische Anthropologe stellt fest, daß durch den Einfluß der modernen Zivilisation, in einem einzigen Jahr mehr zerstört wird, als vorher in einem Jahrzehnt, daß sich die Vernichtung beschleunigt. Er sieht die Aufgabe seiner Wissenschaft darin, schwindende letzte Überreste zu bergen. Er will vorausschauend sammeln, für künftige Generationen Forschungsmaterial erhalten, das sonst endgültig verloren wäre. So soll es in der Zukunft möglich sein, ursprüngliche Organismen, zu rekonstrurieren, sich ihr Wesen vorzustellen.

Rütimeyer sieht die " Primitivität " im eigenen Volk. Er vergleicht die Maskenbräuche im Lötschental mit westafrikanischen und melanesischen Kulten. Er stellt den " Homo - sapens - alpinus " nicht über den aus Kamerun oder von den Banks - Inseln. Unermüdlich sucht er nach " prähistorischen Alpenwörtern ". 352 Er kennt in der Schweiz Orte, wo noch Menschen in Höhlen hausen. 353 Er berichtet von Fischern mit einer Flotte von Einbäumen auf dem Ägerisee. 354 Er zeigt eine Handmühle aus dem Wallis, die sich wenig von römischen Vorbildern unterscheidet. 355 Er will

345Adolf Hinrichsen, Das literarische Deutschland, 1891,

346Koepping, a.a.O., S. 17

347Adolf Bastian, Schöpfung oder Entstehung, Aphorismen zur Entwicklung des organischen Lebens, Jena 1875, S.

VIII

348Klaus - Peter Koepping, Adolf Bastian and the Psychic Unity of Mankind, The Foundations of Anthropolgy in

Nineteenth Century Germany, Queensland 1983, S. 4

349Koepping, a.a.O., S. 26

350Koepping, a.a.O., S. 169

351Koepping, a.a.O., S. 215

352Stöcklin, Rütimeyer, a.a.O., S. 77

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" Urmaterial " 356 im eigenen Land und Volk bergen, ehe es verschwindet und in Vergessenheit gerät. Er glaubt an ein langdauerndes Nachleben oder Wiederaufleben sehr viel älterer Erscheinungen. Solche " Elementargedanken " 357 verbinden die Menschheit durch Raum und Zeit. Die Bergbauern des Tessin trinken aus ähnlichen Kalebassen wie die Indianer des Matto Grosso. 358 In den Hochtälern des Wallis gibt es Nomaden. Die " Eingeborenen " 359 dort haben fast keine Arbeitsteilung. Sie scheren ihre Schafe mit laténezeitlichem Werkzeug. Sie weben ihre Kleider selbst und färben sie mit der Rinde von Nußbaumwurzeln. Sie leben von selbst hergestellter Nahrung " unabhängig von den Schwankungen einer Getreidebörse oder eines Einfuhrtrustes. "

Eugenie Goldstern sucht die Essenz der bedrohten Kulturen nicht bei den Ureinwohnern von Tahiti. Sie beginnt den psychologischen Vergleich nicht in exotischen Ländern. Sie erwartet den Hoffnungsschimmer für ein zersplittertes und unsicher gewordenes Weltbild, die Lösung der Gegenwartsprobleme nicht in den assyrischen Königspalästen von Ninive. Sie beobachtet nicht den Fetischdienst und die Geheimbünde der Eingeborenen von Senegambien, um Entscheidungshilfen für die Einschätzung gegenwärtiger sozialer und religiöser Probleme zu finden. Sie besucht nicht die innere Mongolei, um Wanderungsbewegungen zu studieren und ihre Grundmuster aus der Vogelperspektive zu verfolgen. Sie vermutet die grundlegenden, einfachen und dennoch bedeutungsvollen " Menschheitsgedanken " 360 nicht in der Mythologie der Felsentempel des indischen Ellora, sondern mitten in Europa..

Sie fährt in das Val d' Illiez. Es liegt weit ab von der Welt im untersten Wallis, links der Rhone. In seinem obersten Teil hat es Übergänge über die französische Grenze nach Savoyen. Die ersten Bewohner sollen Römer gewesen sein, die sich vor der Invasion der Barabaren in diese Region flüchteten. 361 Auf einer guten Fahrstraße gelangt man von Monthey in drei Stunden zu Fuß durch eine anmutige Landschaft in das oberste Dorf. Den Weg säumen Weinstöcke, große Buchenbestände und Kastanienwälder. Es gedeihen Kirschen und Nußbäume. Daneben klettert eine Zahnradbahn hinauf zur " geschätzten Fremdenstation " nach Champéry. 362 Es überwiegen Touristen aus Großbritannien. Ihnen dienen Chalets, Tennisplätze, eine anglikanische Kirche und der Afternoon-Tea des englischen Klubs. Eugenie Goldstern beteiligt sich nicht an der Diskussion,

353Rütimeyer, a.a.O., S. 315

354Rütimeyer, a.a.O., S. 307

355Rütimeyer, a.a.O., S. 232

356Rütimeyer, a.a.O., S. X

357Rütimeyer, a.a.O., S. XIII

358Rütimeyer, a.a.O., S. 148

359Rütimeyer, a.a.O., S. XIX

360Koepping, a.a.O., S. 219

361Schmid, Wallis, a.a.O. S. 176

362Knapp, a.a.O., Bd II, Neuenburg 1904, S. 646

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ob es schicklich sei, daß die hiesigen Bauernmädchen bei der Arbeit Hosen tragen. 363 Sie interessiert sich nicht für die Stickerei aus Sankt Gallen, oder die venezianische Keramik, die in fremdenindustriellen Bazars angeboten wird. Aus dem stattlichen Pfarrdorf holt sie ein hölzernes Taufbettchen, ein Gemeinschaftsgut, in dem Neugeborene zur Kirche getragen werden. In dem waldigen, wasserfallreichen Tal findet sie originell verziertes Zimmermannswerkzeug, gedrechselte " Holzschachterl " und ein farbig gefasstes Heiligenfigürchen, das gegen die Gefahren des Gewitters helfen soll.

Im langgestreckten Val d' Herens im Mittelwallis 364 hat die Reisende die Wahl zwischen der Kraftpost, Pferdepost, Maulesel und Mietauto. 365 Die Einheimischen bewältigen ihre Wege am liebsten mit dem Muli. Da sie sehr viel und gut reiten, wird ihnen nachgesagt, daß sie von den Hunnen abstammen. 366 Der Taleingang liegt hoch oben in der Bergwand. Beim Aufstieg sieht man die Rhone breit und majestätisch dahinfließen. Der Fußweg von Sitten dauert sechs Stunden. Er führt vorbei an schachbrettartigen, kleinen Roggenfeldern, die auf steilen Berghängen liegen. Bei Vex verläuft ein Bewässerungskanal, der noch unter der Savoyerherrschaft gebaut wurde. Bäuerinnen mit grellroten Halstüchern, braunen Röcken, niederen kecken Hütchen und roten Strümpfen kommen den Berg heruntergeritten. Sie traben fröhlich durch den Staub. Sie stricken während sie auf dem Rücken des Mulets sitzen und sagen " tiau ", " tiau ", wenn ihr Reittier in den Brombeersträuchern naschen will. 367

Im grünen, weiten Tal bei Evolena ist gerade Heuernte. Ein feiner Duft von den gemähten Matten liegt in der Luft. Dreißig, vierzig Frauen hantieren auf den Wiesen. Von allen Seiten kommen schwer mit Heu beladene Lasttiere in das Dorf. Hier stehen vier Gasthäuser. Eines davon nennt sich " Grand Hotel ", hat einen " Grand Bazar " und eine " Coiffeuse pour Dames ". Trotzdem hat sich viel Ursprüngliches erhalten. Eugenie Goldstern findet ein ornamentiertes " Truherl " eine Strohpresse, eine Brautkrone, einen Hochzeitsstrauß und ein besticktes Reliquienkästchen für die Wiener Sammlung.

Visperterminen liegt an der steilen, sonnigen rechten Seite des Vispertales. Drei kleine Wildbäche suchen ihren Weg über die Hänge. Gestufte Felder umrahmen die Häusergruppen. Die Landwirtschaft wird nach altväterlicher Sitte betrieben. Auf wohlangebauten Terrassen wird mit dem Maultier gepflügt. Die Egge wird von zwei Bauern mit der Hand über den Acker gezogen. Das Getreide wird vom Mann, der in gebückter Haltung arbeitet, mit der Sichel geschnitten. Es wird von der knieenden Frau aufgehoben, zurechtgelegt und mit Halmen zu Garben gebunden. Es wird im Winter auf der in den Stadel eingebauten Tenne gedroschen. 368 Mit der modernen Technik der Elektrizitätsgewinnung hat man schlechte Erfahrungen gemacht. Vor fünf Jahren brachen im Frühjahr die Staudämme, die von der Gemeinde oberhalb des Ortes zur Nutzung der Wasserkraft des Terminensees errichtet worden waren. Die Wassermassen stürzten mit solcher Wucht in die Tiefe, daß unten die Bahnlinie durch Schutt und Felsblöcke unterbrochen wurde. 369

363Eduard Hoffmann - Krayer, Customs of the World, Switzerland, S. 1120, London 1913

364Goldstern, Spielzeug, a.a.O., S.48

365Baedeker, Schweiz, a.a.O., S. 388

366Schmid, Wallis, a.a.O. S. 95

367Schmid, Wallis, a.a.O. S. 87

368Niederer, Alpine, a.a.O., S. 423

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In dem Dorf mit seinen fünf Dutzend Häusern ersteht Eugenie Goldstern 137 Tesseln. Im Jahresbericht des Volkskundevereins 370 ist der Eingang von Sammelgütern aus dem Tessin verzeichnet. Da sich im Inventar nichts derartiges findet, liegt wohl eine Verwechslung mit den walliser " Tesslen " vor. In Wien ist der Begriff offensichtlich nicht bekannt. Diese Kerbhölzer stammen meist aus dem letzten Jahrhundert. Es sind " verschiedene große Holzstücke, welche durch Hauszeichen und andere Einkerbungen gewisse Pflichten und Leistungen angeben. " 371 Die Bauern des Wallis sind keinen adeligen oder kirchlichen Herren grunddienstpflichtig. 372 Sie haben sich seit dem 13. Jahrhundert von der Fron befreit. Sie haben eigene " Bauernzünfte " gewählt und als Verwaltungsausschüsse eingesetzt. 373 Sie selbst regeln untereinander die gerechte Verteilung von Arbeiten für die Gemeinschaft. Als Mittel des Austausches und der Verrechnung dient nicht Geld, sondern das " Tessle ". Eugenie Goldstern beschäftigt sich eingehend mit diesem Modell einer genossenschaftlichen, von Freien und Gleichen getragenen Wirtschaftsform.374

Auch des Lesens Unkundige können diese Holzurkunden verstehen. Darauf werden Eigentumsrechte an den Genossenschaftsalpen verbindlich festgelegt. Die Anzahl der Kühe, die jeder Bauer dort weiden lassen kann, bemißt sich nach den in das Holz gekerbten " Kuhrechten ". Eine Kontrolle dieser plastischen Dokumente ist durch eigene " Beitessle " möglich, die als Kopien nachhause genommen werden können. Die dreidimensionalen Originale werden vom " Alpvogt " verwahrt. Die umschichtige Wahrnehmung, wie auch die Entlohnung dieses wichtigen Amtes wird ebenfalls durch Kerbhölzer geregelt. Eines ist bezeichnet " Die G'wald Hab fir Alzeit ". Es bestimmt den jährlichen Wechsel des " Gewalthabers ", der öffentliche Arbeiten zu überwachen hat. Alle Einzelheiten des Gemeindelebens werden auf diese Weise demokratisch vereinbart. Von der Kreditaufnahme und Zinszahlung, der stundengenauen Bewässerung der Wiesen, der gemolkenen Milchmenge bis zur Kost und Logis für den Ziegenhirten und der Gestellung eines Ziegenbockes zu Zuchtzwecken werden Nutzen und Lasten einvernehmlich gerecht verteilt.

Der Geldumlauf ist gering. Das Gemeinwerk ersetzt die Steuern. 375 Bei drohenden Gefahren wie Lawinenabgängen oder Hochwasser packen alle zu. Wenn eine neue Alphütte zu errichten ist, helfen die Nachbarn beim " Holztragen ". Sie schleppen schwere Balken auf ihren Schultern bergan. Sie legen Hand an, wenn die Reben im gemeindeeigenen Weinberg gelesen und gekeltert werden. Wenn gerodet wird, wenn die Almen gedüngt werden sollen, wenn Saumwege oder Brücken anzulegen sind, muß auf eine gleichmäßige Verteilung der Arbeitsbelastung unter den " Burgern " geachtet werden. Wenn Mauern, welche die Äcker und Rebberge an den Hängen stützen, wenn Pfarrkirchen und Gemeindehäuser, Schulen, Backöfen, gemeindliche Speicher und Ställe gebaut werden, 376 ist der ausgeglichene Einsatz für das Gemeinwohl durch die Notierung auf Tesseln

369Knapp, a.a.O., Bd. VI, Neuenburg 1910, S. 412

370XVIII. Jahresbericht des Vereines für österreichische Volkskunde für das Jahr 1912, Wien 1913, S. 10

371Österreichisches Museum für Volkskunde, Inventar VIII, Erklärung nach Nr. 30.650a, Wien 1912

372Niederer, Alpine, a.a.O., S. 36

373Niederer, Alpine, a.a.O., S. 33

374Gmür, a.a.O., S. 70

375Niederer, Alpine, a.a.O., S. 429

376Niederer, Alpine, a.a.O., S. 46

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sichergestellt.

Das Wallis leidet im Sommer stark unter Hitze und Trockenheit. Seit Jahrhunderten bestehen Wasserleiten, mit denen die wilden Gletscherbäche aufgefangen werden. Sie werden nach dem gleichen Verfahren gebaut, das für Palmengärten einer Oase in Marokko angewendet wird. Sie führen hoch über den tiefeingerissenen Schluchten auf das Kulturland der Obstgärten und Weinberge. 377 In Visperterminen wird der durstige Boden der " Heidenreben " befruchtet durch zahlreiche solcher Wasserkanäle, die " Bisses " heißen. 378 Die Gemeinde besitzt 15 derartige Leitungen, " wovon eine überaus großartige. " 379 Sie sind keine eigentliche Allmende, sondern im Eigentum von privaten Korporationen, sogenannten Geteilerschaften. Die Anteilsrechte werden meist nicht nach dem Grundbesitz vergeben. Sie sind frei verkäuflich. Die Nutzung der Gemeinschaftseinrichtungen wird durch Kerbhölzer geregelt. Oft besteht kein anderer Nachweis, kein geschriebenes Register. Eine Wassertessel ist mit einem Wertpapier, einer Aktie vergleichbar. Sie kann verpfändet, vermacht oder zur Mitgift gegeben werden.

Auf jedem der Wasserrechtsamehölzchen ist ein spezielles Zeichen eingekerbt, das den Eigentümer von Bewässerungsrechten kennzeichnet. Auf der Rückseite ist die Zahl der Stunden vermerkt, die der Bauer das kostbare Gemeingut zur Bewässerung auf seine Felder leiten darf. Die zugeteilte Zeitspanne ist aus der Länge, Art und Tiefe der Kerben zu ersehen. Die einzelnen Plättchen sind durchbohrt und mit einem starken Hanfstrang an einem langen Stab befestigt, um den Verlust oder die Fälschung der Dokumente zu verhindern. 380 21 Hölzchenbündel hängen an dem Stecken, um die Tage eines Turnus zu bezeichnen. Das Wasser ist abwechslungsweise " in der Kehr " zu benützen. Die Reihenfolge im Kehr wird durch die Stelle im Tesselnbund angegeben. Ein Landwirt kann mehrere Tesseln erwerben oder verlangen, daß ihm die neuerworbenen Rechte auf seiner Tessel neu " aufgetesselt ", also dazugeschnitzt werden. 381

Die kilometerlangen " Wasserfuhren " müssen instandgehalten werden. Dann stehen Männer und Frauen mit Schaufeln und Spaten knietief im Schlamm, um die Kanäle auszuputzen, Dämme neu aufzuwerfen, Schleusen zu reparieren. Waghalsige Konstruktionen, die sich an Steilwänden entlangschlängeln oder sogar frei über dem Abgrund hängen, müssen ausgebessert werden. Die Arbeitsleistungen werden mit dem " Hick ", einem Messerschnitt auf den Werktesseln verzeichnet. Im Spätherbst, am Ende des Wasserjahres wird die Buchführung offengelegt. 382 Die Tesselbünde liegen auf dem Tisch im Haus des Vogtes. Aus Wasserbenutzung und Arbeitseinsatz wird der jeweilige Durchschnitt errechnet. Jeder Hüter der Geteilerschaft erfährt seine Bilanz. Die Werte werden verglichen. Überschüssiges kann abgetreten, fehlendes dazugekauft werden. Immer dient als Berechnungsgrundlage die hölzerne, gebündelte, mit Runenschrift gekerbte Tessel.

377Knapp, a.a.O., Bd VI, Neuenburg 1910, S. 413

378Knapp, a.a.O., Bd VI, Neuenburg 1910, S. 412

379Max Gmür, Schweizerische Bauernmarken und Holzurkunden, in : Abhandlungen zum schweizerischen Recht, 77.

Heft, Bern 1917, S. 115

380Rütimeyer, a.a.O., S. 10

381Gmür, a.a.O., S. 116

382Arnold Niederer, Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel, Ausgewählte Arbeiten aus den Jahren 1956

bis 1991, Hrsg. v. Klaus Anderegg und Werner Bätzing, Bern 1993, S. 46

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Wassertesseln sind bislang in der volkskundlichen Literatur nicht erwähnt worden. In Feschel bei Leuk, einen Dörfchen von knapp zwei Dutzend Häusern, die hoch über dem Rhonetal stehen, 383 gelingt es Eugenie Goldstern, solche " Rechtsaltertümer " aufzutreiben. Das Volkskundemuseum in Wien bekommt im Jahre 1912 zwei Exemplare. 384 Auf der Karteikarte des Völkerkundemuseums in Basel wird unter der Nummer 589 im folgenden Jahr eine entsprechende Schenkung festgehalten.385 Die Registrierung ist in der Schrift von Professor Hoffmann - Krayer ausgeführt. Das Objekt ist in der Sammlung im oberen Keller im Fach T 3a noch immer vorhanden. Der dazugehörige, mit " A 6 KT 3a " bezeichnete Akt , der über die Umstände der Beschaffung aufklären könnte, fehlt. 386 In der 1916 erfolgten Veröffentlichung wird erwähnt, die Entdeckung sei von Eduard Hoffmann-Krayer zusammen mit Eugenie Goldstern gemacht worden. 387

Hoffmann - Krayer stammt aus Basel. Er ist verwandt mit dem Chemieindustriellen Fritz Hoffmann-La Roche. Seine finanzielle Lage erlaubt es ihm, mittellosen Studenten in aller Stille zu helfen. 388 Er ist Extraordinarius für Phonetik, Schweizer Mundarten und Volkskunde. 389 Er begründete eine Abteilung " Europa " im Museum für Völkerkunde in Basel. 390 Er plant, ein eigenes Museum für primitive Ergologie, eine universelle Dokumentation der menschlichen Arbeit, einzurichten. Hier sollen seine Ideen der Verknüpfung und Verbrüderung der Völker populär verbreitet werden. Er will durch ein weltumspannendes Denken in der Wissenschaft den Kräften des Hasses und des Mißtrauens den Gedanken des Friedens und der Versöhnlichkeit entgegenstellen. Durch den Vergleich von Werkzeug, Arbeitsgeräten oder Spielzeug aus verschiedenen Ländern und Zeiten soll es möglich werden, " die rastlose Wirksamkeit des menschlichen Geistes und das Hinüber- und Herüberwogen der Einflüsse " 391 für ein breites Publikum anschaulich zu machen.

Eugenie Goldstern findet auch in Graubünden und im Engadin Tesselstöcke, die zum Abrechnen bei der Milchwirtschaft verwendet werden. Zwei davon sind mit angeschnitzten Köpfen geschmückt. Im Vorderrheintal ersteht sie eine vollständige, aus Holz gefertigte Ausrüstung für die Milchwirtschaft. Faß, Butte, Schaff, Napf, Seiher und Löffel gehen auf die Reise mit der

383Knapp, a.a.O., Bd. II Neuenburg 1904, S. 96

384ÖMV Inventarbuch VIII, Eintrag Nr. 30.679 und 30.680, Wien 1912

385Museum der Kulturen, Karteikarte VI 5561 A., Basel 1913

386telefonische Auskunft von Herrn Dominique Wunderlin, Museum der Kulturen, Basel 3.4.1997

387Leopold Rütimeyer, Über einige archaistische Gerätschaften und Gebräuche im Kanton Wallis und ihre

prähistorischen und ethnographischen Parallelen, Sonderdruck aus dem Schweizerischen Archiv für Volkskunde,

XX. Jahrgang, 1916, Festschrift für Eduard Hoffmann-Krayer, S. 12

388Paul Geiger, Eduard Hoffmann - Krayer, 1864 - 1936, in : Schriften der Schweizerischen Gesellschaft für

Volkskunde, Bd. 30, Basel 1946, S. XV

389Neue deutsche Biographie, Bd. IX, Berlin 1972, S. 394

390Hanns Bächtold-Stäubli, Erinnerungen an meinen Lehrer und Freund Eduard Hoffmann-Krayer, 5.12.1864 -

28.11.1936, Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 35, Basel 1936, S. XI

391Eduard Hoffmann-Krayer, Ideen über ein Museum für primitive Ergologie, in : Museumskunde, Zeitschrift für

Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen, Bd. VI, Berlin 1910, S. 117

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zahnradgetriebenen Oberalp-Furka-Bahn. Die Sammlerin selbst strebt in südliche Richtung. Mit der Albulabahn erreicht sie Tiefencastel. Von hier führt nur noch eine steile, von Burgruinen gesäumte Straße vorbei an schroffen Kalkfelswänden durch eine großartige Felslandschaft hinauf zum Julierpass. Weit oberhalb der Waldgrenze, am Fuße der Firnfelder und Geröllhalden des Piz Julier zieht sich die seit der Römerzeit gebräuchliche Straße dahin. Nur noch ein Saumpfad windet sich vom Septimerpass hinunter in das bergumschlossene, steil abfallende Bergell, den Ursprung des Inns. Im obersten Dorf, dem idyllischen Cassaccia, einem verwitterten Bergnest, findet sich wieder eine Rarität aus der Barockzeit für das Volkskundemuseum. Das Tal öffnet sich in einem langen, bald engeren, bald weiteren Ablauf in die Ebene von Chiavenna. Es gedeihen Kastanienhaine. Im Bregaglia spricht man italienisch. Eine Redeweise bezieht sich auf die Kerbhölzer : 392

Wie schön ist es, in diesem Reich zu lebenMan isst, man trinktUnd unterschreibt für alles auf einem Stück Holz

Savoyen

Eugenie Goldstern kommt zurück nach Wien. Als sie die Früchte ihrer Sammeltätigkeit vorführt, ereignet sich ein kleiner Konflikt mit dem Sohn des Volkskundemuseumsdirektors. Sie legt eine Rechnung vor über die Sammlung aus Sedrun und Umgebung und dem Tavetschtal im Graubündener Oberland. Sie berechnet 98,60 Kronen für 33 Gegenstände samt Kiste, Verpackung, Fahrtspesen und Porto bis zur Eisenbahnstation. Vater Haberlandt notiert die Inventarnummern 32.771 - 803 am Rande. Bei der Sammlung aus dem oberen Engadinertale und dem Oberhalbsteingebiete in Stalla am Julier sind 13 Gegenstände zu 57 Kronen von Eugenie Goldstern aufgeführt. Michael Haberlandt nummeriert, schreibt Preise, addiert. Bei einer " Maske für Volksspiele " aus der Antiquitätenhandlung Grand Bazar in St. Moritz - Bad fällt Direktorssohn Arthur das empörte Urteil " Falsifikat !! ". Er kürzt folglich eigenhändig die Abrechnung um 40 Kronen.

Das Register des Wiener Volkskundemuseums belegt für das Jahr 1913 den Eingang einer Fülle von Gegenständen aus Frankreich, aus den Vorbergen der Savoier Alpen südlich von Genf. Sogar in der Bischofsstadt Annecy gelingt es der Sammlerin, einen Kerbstock aufzutreiben, der zur Verrechnung von Lieferungen eines Bäckers verwendet wurde. In La Compotta im Tal des Bauges fotografiert sie, wie prächtig geflochtene Brote aus dem Gemeindebackofen geholt werden. Sie schafft es nicht mehr, ihre Kamera geradezurichten, als ihr der Bäcker stolz strahlend den noch warmen Leckerbissen vorweist. In Arith hat eine ganze Großfamilie samt Gesinde und Hund vor dem strohgedeckten Hof für die fotografische Aufnahme aufgestellt. In den engen bewaldeten Schluchten zwischen den Kalksteinmassiven östlich des Lac de Bourget werden seit langer Zeit Geschirr und Gebrauchsgegenstände hausindustriell hergestellt. Die einfachen, schön gestalteten Waren werden weithin vertrieben. Die Massenproduktion aus städtischen Fabriken bedroht den in diesen weltabgeschiedenen Gegenden lebensnotwendigen Erwerbszweig. Armut und Auswanderung sind die Folge. Im Dorf la Magne erwirbt Eugenie Goldstern aus Tannenholz geschnitzte Löffel und Holzschuhe. Sie schafft aus Buche gedrechselte Becher, Schalen, Schüsseln und Mörser auf der geschlängelten Straße über den Mont Revard zur Bahn nach Aix.

Das Museumsinventar in Wien registriert den Eingang eines Korbes, der aus einem einzigen Rindenstreifen zusammengesetzt ist. Der Herkunftsort Bonneville liegt an der Bahnlinie von Genf nach Chamonix. Das Objekt wurde von der Studentin " von Professor van Gennep im Tausche

392Gmür, a.a.O., S. 63

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gegen ein Butterbrett erworben. " 393 Zum ersten Mal fällt der Name dieses wichtigen akademischen Lehrers, der offensichtlich zur gleichen Zeit wie Eugenie Goldstern die Voralpenzone südlich von Genf bereist. Er hat hier bereits vergebens nach " Tesseln " Ausschau gehalten.394 Der engagierte Volkskundeforscher teilt noch eine weitere Gemeinsamkeit mit seiner Kollegin. Er lebte für vier Jahre in Tschenstochau. Er hat dort die Schrecken der russischen Zensur kennengelernt. Er hat erfahren, wie die Unterdückung eines Volkes sich tagtäglich in Spannungen, Argwohn und geistiger Unfreiheit niederschlägt. 395 Die Verbindung zu Van Gennep könnte durch Rudolf Trebitsch vermittelt worden sein. Während sich im Inventar der Bibliothek des Wiener Volkskundemuseums Einträge seiner Werke erst ab dem Jahre ... nachweisen lassen, hat Trebitsch bei der Vorbereitung seiner Reise in das Baskenland im Jahre 1913 einen Beitrag Van Genneps zur Volkskunde der Basken zur Kenntnis genommen. 396

Neuchâtel

Arnold Van Gennep hat seit 1912 den außerordentlichen Lehrstuhl für Ethnographie und vergleichende Kulturgeschichte zu Neuchâtel in der Schweiz inne. 397 Eugenie Goldstern gehört zu seinen ersten Studentinnen in der blühenden und malerischen Stadt am Ufer des Neuenburger Sees. Die Akademie befindet sich zwischen einem kleinen englischen Garten und dem Uferquai mit seinen Gaslaternen und schattenspendenden Baumreihen. Von hier hat man eine wundervolle Aussicht auf die Alpen vom Mont Blanc und den Savoyer Bergen bis zum Pilatus. Westlich grenzt der Hafen an, der sich mit dem von Odessa nicht messen kann. Hier schwimmen große Lastbarken mit zwei übereinander angebrachten, viereckigen Segeln, die Baumaterial, oder auch Gemüse über den See schaffen. Es verkehren sechs Dampfschiffe. Vierrudrige geräumige Kähne mit flachem Boden dienen dem Fischfang. An den Hängen des Chaumont, der die Stadt amphitheatralisch umgibt, wächst vorzüglicher Wein.

Neuenburg hat eine lange Tradition als Sitz der Gelehrten und der Schulen. Aus allen Ländern kommen junge Leute beiderlei Geschlechtes hierher, um Französisch zu lernen. Die nichtschweizerische Bevölkerung ist infolgedessen in den letzten Jahren stark angewachsen. 398 Die Hochschule umfaßt vier Fakultäten. Neben den Naturwissenschaften werden Geisteswissenschaften, Recht und Theologie gelehrt. Das Lehrpersonal zählt 46 Professoren. Im Wintersemester 1903/04 sind nicht mehr als 28 Naturwissenschaftler eingeschrieben. 399 Das Naturhistorische Museum ist eines der reichhaltigsten der Schweiz. In dem stattlichen Gebäude an der Hafenmole befinden sich viele Gegenstände aus prähistorischer Zeit, die bei der Senkung des Spiegels des Neuenburger Sees

393Österreichisches Museum für Volkskunde, Inventar IX, Erklärung nach Nr. 32.769, Wien 1913

394Gmür, a.a.O., S. 63

395Rosemary Lévy Zumwalt, The Enigma of Arnold Van Gennep (1873 - 1957 ) : Master of French Folklore and

Hermit of Bourg-la-Reine, Helsinki 1988, S. 13

396Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, Rudolf Trebitsch, Vergleichende Literatur zur Volkskunde der

Basken, Heft III., handschriftliches Exzerpt, " Van Genep ( sic ), Revue d' anthropol. et. de sociol. Paris 1910 "

397Piere Centlivres, Philippe Vaucher, Les tribulations d'un ethnographe en Suisse, Arnold van Gennep à Neuchâtel

(1912 - 1915 ), Gradhiva, Revue semestrielle d'histoire et d'archives de l'anthropologie, Paris 1994, S. 90,

398Knapp, a.a.O., Bd III, Neuenburg 1905, S. 562

399Knapp, a.a.O., Bd. II, Neuenburg 1904, S. 563

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entdeckt wurden. 400 Pfeile und Lanzenspitzen aus Feuerstein, Angeln und Harpunen aus Bronze und Eisen, seltsame Geräte aus Knochen und Horn erzählen von der Kultur der frühzeitlichen Pfahlbaubewohner.

In einer schönen Villa inmitten eines üppigen Parks unweit des Schlosses, ist ein ethnographisches Museum eingerichtet. 401 David de Pury der Erbauer des frühklassizistischen Herrenhauses gelangte im 18. Jahrhundert als Kaufherr in Lissabon zu großem Vermögen. In seinem stattlichen Wohnsitz werden " wahre Reichtümer " gezeigt, die ein General in englischen Diensten aus Indien, Ozeanien, dem Basutoland, Zambesien, dem Kongogebiet und Kamerun heimbrachte. 402 Der neue Professor für Ethnographie steht im Widerspruch zur Ideologie des Kolonialismus. Er ist ein provozierender Freidenker. 403 Er vertritt den Standpunkt, daß man zwar auf dem Gebiet der Technik von einem allgemeinen Fortschritt sprechen könne. Allerdings sei hier oft die Verbesserung vom Rückschritt schwer zu unterscheiden. Stets aber sei der einzelne Mensch für Veränderungen verantwortlich. " In Wirklichkeit ist es, genau wie bei uns, bei den australischen Stämmen das Individuum, das Neuerungen erfindet und vorschlägt. " 404 Sonst aber habe der moderne menschliche Erfindungsgeist " genau den selben Wert wie der prähistorische, oder der namenlose aus Afrika oder Ozeanien. " 405 Die Natur bringe zu jeder Zeit und an jedem Ort Menschen mit hervorragenden Begabungen hervor. Nur die jeweiligen Umstände erlaubten ihnen nicht immer, ihre wirkliche Größe zu zeigen.

Van Gennep weist nach, daß in der modernen europäischen Zivilisation die gleichen Regeln 406 für Veränderungen des gesellschaftlichen Ranges gelten, wie im Bereich der " Primitiven ", " Halbzivilisierten ", oder " Wilden ". Er macht deutlich, daß Rituale immer dann vollzogen werden, wenn das Individuum von einem Zustand in einen anderen übertritt. Mit seiner vergleichenden Methode bringt er die feierliche Kaiserkrönung, Konfirmation oder Priesterweihe als " Zermonialkomplexe " 407 in Zusammenhang mit Bräuchen der Häuptlingseinsetzung, Initiationsriten oder Schamaneneinführung aus der Völkerkunde. Viele Volksbräuche lassen sich in drei Stufen gliedern. Zuerst wird die Loslösung von der früheren sozialen Stellung vollzogen. Als nächstes wird die Grenze überschritten. Zum Schluß folgt die Anpassung an die neue Welt des jetzt erreichten Standes. 408 Die Auffassung van Genneps hat sich in der Wissenschaft mittlerweile durchgesetzt. 409

400Knapp, a.a.O., Bd II, Neuenburg 1904, S. 576

401Knapp, a.a.O., Bd III, Neuenburg 1905, S. 549

402Knapp, a.a.O., Bd II, Neuenburg 1904, S. 564

403Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 116

404Lévy Zumwalt, Enigma, S. 88

405Lévy Zumwalt, Enigma, S. 85

406Arnold van Gennep, De quelques rites de Passage en Savoie, Revue de l' histoire des religions, Paris, 1910, S. 239

407Van Gennep, rites a.a.O., S. 240

408Eduard Hoffmann-Krayer, Arnold van Gennep, Les Rites de Passage, Rezension in : Schweizerisches Archiv für

Volkskunde, 14.Jhg., Basel 1910, S. 312

409Pierre Centlivres, Übergangsriten heute, in : Paul Hugger (Hrsg. ), Handbuch der schweizerischen Volkskultur,

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In der Zeit vor dem ersten Weltkrieg bedeutet sie eine gewagte Gleichstellung von feierlichen Gepflogenheiten der hochstehenden europäischen Zivilisation mit rituellen Mechanismen primitiver Völker.

Schon der Wechsel der Jahreszeiten birgt Erschütterungen, die mit entsprechendem Brauchtum abgesichert und bewältigt werden müssen. Die Geburt oder der Übergang von der Kindheit zum Jugendalter ist ein " Grenzübertritt " 410, der die Gemeinschaft zu erschüttern droht und deshalb durch bestimmte Gebräuche eingebunden werden muß. Der Eintritt in einen Berufsstand, der Wechsel des Wohnsitzes, oder der Übertritt in eine Religionsgemeinschaft ist eine gefährliche Veränderung, die mit eigenen Sitten abgeschwächen und kontrolliert werden muß. Auch auf Reisen sieht der Mensch " sich plötzlich ( ... ) mit dem Sakralen konfrontiert, wo vorher das Profane war oder umgekehrt. " 411 Er muß sich trennen von seinem früheren Leben, der Sicherheit seiner alltäglichen Gewohnheiten. Er tritt in einen Schwebezustand zwischen der zurückliegenden und der neuen, noch unbekannten Welt. Schließlich wird er die " Riten der Türe und der Schwelle, der Gastfreundschaft, der Aufnahme " erfahren. 412 Er wird integriert in das Gefüge einer neuen gesellschaftlichen Ordnung.

Am Beispiel von Savoyen entwickelt van Gennep die Grundlagen seiner späteren Forschungsmethoden. 413 Er bleibt dieser Gegend lebenslang verbunden. Immer wieder wird er hier auf " Jagd nach Informationen " gehen. Er will ein genau umgrenztes geographisches Gebiet vollständig erfassen. über die Bauern in diesem Landstrich schreibt er, daß sie " ehrlich, ... wirklich gut, harte Arbeiter und offen für die Freundschaft " seien. Neben diesen guten Eigenschaften hätten sie nur kleine Fehler, welche durch die Schwierigkeiten des Lebens verursacht würden. Unter diesen einfachen Leuten könnten die Wissenschaftler eine " wahre Kur an Ehrlichkeit und Klarheit " nehmen. 414 Man müsse für einige Zeit in die Dörfer selbst gehen, um schrittweise seine Erkundungen voranzubringen.

Eugenie Goldstern unternimmt volkskundliche Studien auf Anregung des Professors Van Gennep. 415 Ihr Lehrer setzt sich in einer Abhandlung aus dem Jahre 1910 mit seinem großen Thema der " Übergangsriten " 416 speziell mit ihren Ausprägungen in Savoyen auseinander. 417, 418 Die Sitten in

Leben zwischen Tradition und Moderne, Bd. I, Zürich 1992, S. 223

410Walter Jens ( Hrsg. ), Kindlers Neues Litaratur Lexikon, Bd. 6, München 1989, S. 215

411Centlivres, Übergangsriten, a.a.O., S. 224

412Centlivres, Übergangsriten, a.a.O., S. 223

413Lévy Zumwalt, Enigma, S. 36

414Lévy Zumwalt, Enigma, S. 104

415Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 3

416Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage ), Frankfurt am Main 1986, S. 237

417K. van Gennep, Bibliographie des Oeuvres d' Arnold van Gennep/p, Paris 1964, S. 23

418Eugenie Goldstern, Hochgebirgsvolk in Savoyen und Graubünden, Ein Beitrag zur romanischen Volkskunde I.

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Chamonix, Evian oder Chatel sind bereits in entsprechenden Abhandlungen dokumentiert. In den Seitentälern der Maurienne müßten sich alte Bräuche unverändert erhalten haben. Van Gennep bedauert, daß seit dem Anfang des letzten Jahrhunderts keine Volkskundeforscher mehr in diese Gebirgsregionen vorgestoßen sind. 419 Die letzte Schilderung über dortiges Brauchtum von einem Abbé Francois datiere aus dem Jahr 1860. 420 Die Gegend sei eine " terra incognita ". 421 Er führt damit die junge Studentin aus Wien auf ein fesselndes Arbeitsgebiet.

Bessans

Gegen Ende des Herbstes des Jahres 1913 kommt Eugenie Goldstern zum ersten Mal in Modane am Ende des langen Tunnels unter dem Col de Frejus an. 422 Der Lokschuppen des großen internationalen Bahnhofes ist als griechischer Tempel dekoriert. Die Maschinen rangieren zwischen ionischen Säulen. Beim Hotel Terminus wartet der Pferdeschlitten. Die Fahrt geht bei eisiger Kälte entlang mühsam terrassierter, später düster bewaldeter Steilhänge. Sie folgt dem Lauf des Flusses Arc. Auf unbezwingbarem Felsen erhebt sich eine Festung aus napoleonischer Zeit. Ihre Schießscharten sind gegen das ansteigende Hochtal gerichtet. Sie erinnern an die Tage, als sich die Burschen von Bessans weigerten, zu den Truppen der Republik einzurücken. Sie waren nicht bereit, ihre Verbindungen zum benachbarten Piemont aufzugeben. Sie waren verrufen als Rebellen, die den Aufstand gegen die Gesetze der Republik predigen. 423 Eine alte Paßstraße. mündet ein. Sie führt aus dem Italienischen herüber. Das Zugtier keucht auf der steilen und gewundenen Strecke. Bei großer Steigung müssen Kutscher und Fahrgast absteigen und neben dem Fuhrwerk wandern. Die eisige Kälte kriecht in die Kleider. Sie treibt das Wasser in die Augen.

Nach dreissig Kilometern ist Bessans erreicht. Der Ort ist eine der höchst gelegenen europäischen Dauersiedlungen. Er liegt auf einer Höhe von 1743 Metern am Rande des französischen Departements Savoie. Der Kirchberg ist ein Ausläufer der wüsten Zacken des Charbonnel, der mit seinen Gletschern zur Gruppe des Mont Cenis gehört. Gegenüber leuchten die Gipfel des Massif de la Vanoise im ersten Schnee. Im Norden sind die Serpentinen des Weges zum Col de l' Iseran auszumachen. Er stellt die Verbindung zum kleinen St. Bernhard nach Italien und über den großen Bernhardpass zur Schweiz her. Zwei Seitentäler führen in eineinhalbtägigen Wanderungen nach dem italienischen Rocciamelone. Hier verkehren die Schmuggler, Hausierer aber auch Bauern, die sich vom Verkauf ihrer Tiere im Piemont mehr Gewinn versprechen.

Das Abendgebet eines Sattlers nach einer solch anstrengenden Reise über das Gebirge hat sich erhalten :

Mein Gott, bin ich heute abend müde.

Bessans, Volkskundliche monographische Studie über eine savoyische Hochgebirgsgemeinde (Frankreich ) II.

Beiträge zur Volkskunde des bündnerischen Münstertales (Schweiz ), Wien 1922

419Arnold van Gennep, rites, a.a.O., S. 183

420Arnold van Gennep, Manuel de Folklore Francais Contemporain, Bd. III, Paris 1937, S. 276

421Van Gennep, Manuel, S. 275

422Eugenie Goldstern, Bessans, Vie d' un village de haute Maurienne, Traduction Francis Tracq et Melle Schaeffer,

Challes-les- Eaux 1987

423Francis Tracq, La Revolution a Averole, Bessans Jadis et Aujourd'hui Nr. 3, Bessans Hiver 1980, S. 10

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Ich gebe Ihnen nicht die Schuld.Morgen früh, bitte seien Sie nicht beleidigt,Werde ich nichts zu Ihnen sagen.Mein Leib auf dem Stroh, meine Seele bei Gott.Der Kerl herunten. 424

In dieser hochgelegenen Region knapp unter der Waldgrenze gedeihen keine Obstbäume mehr. Nur auf den Sonnenseiten der Hänge kann ein wenig Getreide angebaut werden. Immer wieder werden Brücken vom Hochwasser weggerissen, werden Pfade vermurt. Häufig donnern Lawinen mit schrecklichem Krachen zu Tal. Kreuze und kleine Kapellen erinnern an Opfer der Naturgewalten. Vor drei Jahren wurden 38 Gebirgsjäger von einem Eissturz erfaßt. Sie blieben alle verschwunden. Nur noch einer konnte tödlich verletzt geborgen werden. 425 Wintertemperaturen von weniger als 20 Grad sind üblich. Oft verweht ein eisiger Wind die Wege. Der Schnee hält sich sechs Monate. Er liegt übermannshoch. Dann müssen die Kinder von ihren Eltern auf den Schultern in die Schule getragen werden. Die Weiler in den Seitentälern sind zuweilen durch Lawinen von der Außenwelt abgeschnitten. Verstorbene werden dann zur Haltbarmachung in den Schnee auf dem Hausdach gelegt. Erst wenn die Wege wieder frei sind, machen sich die Leichenträger mit der Bahre auf den Weg zum Friedhof in Bessans. 426

Viele Häuser in dem Marktflecken sind sehr alt, niedrig, aus unbehauenen meist unverputzten Felssplittern errichtet. Mörtel ist rar. Ritzen sind mit Gras, Moos oder Kuhfladen abgedichtet. Balken aus Lärchenholz tragen steinerne Zwischendecken und Dächer. Geschickt werden die natürlichen Formen den statischen Erfordernissen angepasst. Aus Geröll entstehen Rundbögen. Rohe Trümmer und gewachsene Steinplatten werden als Sturzriegel für Türen und Fenster genutzt. Die architektonischen Formen fügen sich zu gedrungenen Baukörpern,. Sie verdichten sich zu eigenartigen Höfen und Winkeln. Die Gassen sind nicht gepflastert. Im Winter sind sie vereist. Bei Schneeschmelze oder Regen verwandeln sie sich in einen von Steinen durchsetzten Morast. Frauen wie Männer reiten auf Mauleseln. Die Wäsche wird selbst in der kalten Jahreszeit am Fluß gewaschen. Der Dorfplatz ist durch ein riesiges Kruzifix markiert. Von hier führt ein schmaler, steiler Weg zur Kirche und Kapelle des Heiligen Antonius. In der Nähe finden sich eine Kolonialwarenhandlung, eine Metzgerei und ein halb unterirdisches Cafe, die alle Zeiten überdauern werden. Das Hotel Cimaz hat um diese Jahreszeit geschlossen. Die fremde junge Frau findet Quartier in der grubenartig in drei Metern Tiefe angelegten, " stimmungsvollen Stallwohnung " 427 des Hotelbesitzers. Sie teilt die Unterkunft mit der einheimischen Familie und deren Vieh. Wohnbereich und Kuhstall sind nur durch eine Jaucherinne abgetrennt.

Es gibt keine Elektrizität. Das Wasser wird aus dem Dorfbrunnen geholt und in einen steinernen Küchentrog geschüttet. Die Kastenbetten können zur besseren Wärmedämmung mit Schiebefenstern oder Vorhängen verschlossen werden. Unter den Betten hausen Schafe, Ziegen oder auch Kälber. Tierische und menschliche Lebensvorgänge greifen ineinander. Maultier oder Esel steigen über die gemeinsame Treppe ins Freie. Die Sitzbank dient als Heubehälter. Der Tisch steht nahe dem vereisten Souterrainfenster. Jeder Winkel in dem niedrigen Raum wird genutzt. Einige Rinder, ein Esel, Hühner und Kaninchen sorgen für animalische Wärme in der übervölkerten Stube, die hauptsächlich durch den Kamin belüftet wird. Der Mist wird nur einmal in der Woche entfernt.

424Francis Tracq, Les Passages, Bessans Jadis et Aujourd'hui Nr. 3, Bessans Hiver 1980, S. 20

425Francis Tracq, Aux 19° et 20° Siècles, Bessans Jadis et Aujourd'hui Nr. 3, Bessans Hiver 1980, S. 11

426Francis Tracq,Naître et Mourir à Averole, Bessans Jadis et Aujourd'hui Nr. 3, Bessans Hiver 1980, S. 14

427Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 3

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Wegen Holzmangels wird mit " Kuhholz " geheizt, das während des Jahres von den Kindern gesammelt wurde. Der " tibetanische Brennstoff " 428 wird im Sommer von Hand oder mit dem Spaten in Brikettform gebracht und auf Felsen in der Sonne getrocknet. Jetzt ist er unter dem Dachvorsprung gelagert. Er brennt mit einer klaren und warmen Flamme. Früher wurden mit solchen Mistziegeln sogar Brot und Hostien gebacken.

Eugenie Goldstern erklärt, sie wolle eine Doktorarbeit schreiben, in der sie das französische Bergdorf mit einem österreichischen vergleicht. Sie beabsichtige, die örtlichen Wohnverhältnisse, die anthropologischen Charakteristiken und die Wirtschaftsformen zu studieren. Familie Cimaz müht sich, den schwierigen Namen ihres Gastes richtig zu auszusprechen. Die Artikulation schwankt zwischen Mademoiselle " Golstein " und " Gostein ". 429 Die Volkskundlerin macht die Gastgeber mit dem Brauchtum ihrer fernen Heimat bekannt. Sie veranstaltet eine weihnachtliche Bescherung. Sie besorgt und schmückt " buchstäblich einen echten Weihnachtsbaum ", wie er hierzulande bislang nicht bekannt war. Für die Männer hat sie Pfeifen aus Porzellan und Ton mitgebracht. Sie werden bis auf den heutigen Tag in Ehren gehalten. Die Frauen und Kinder bekommen allerlei süßes Naschwerk und Bonbons. Der achtjährige Albert wird außerdem mit der " Miniaturuniform eines österreichischen Offiziers " beschenkt. 430

So gelingt es schnell, mit den Bessanern ins Gespräch zu kommen. Viele seien gezwungen, während des Winters auszuwandern, um in Paris als Chauffeure Geld dazuzuverdienen. 431 Früher habe man sich als Sänftenträger, als Kutscher oder wandernde Händler in der Fremde durchzubringen gehabt. Trotzdem hielten alle ihrer Heimat in den Bergen die Treue. Die Gegend werde " Maurienne " genannt, weil ihre Bewohner Abkömmlinge von Mauren, von sarazenischen Piraten seien, die sich als Wegelagerer in das Hochgebirge zurückzogen. Ein Weiler in einem Seitental sei nach ihrem Anführer benannt. Er habe die Hufeisen der Pferde seiner Getreuen umdrehen lassen, um die Verfolger zu täuschen. Arabische Inschriften und geheimnisvolle unterirdische Gängen zeugten noch heute von diesen Vorfahren. 432 Neben einer unstillbaren Neugier nach mündlichen Auskünften zeigt die Forscherin einen starken Drang nach exakten Messungen. Sie erfaßt zentimetergenau Vorratskammer, Teigtrog, Tisch, Kamin und Kochherd. Beim Vermessen der Kastenbetten erklimmt sie eine Futterkrippe und erntet dafür den Hörnerstoß der unter der Bettstatt hausenden Ziege. Schließlich macht sie sich sogar daran, die Schädelmaße der Bessaner anthropometrisch zu ermitteln. 433 Ein irritierter Einheimischer erklärt seinen Kindern das befremdliche Vorgehen als " österreichischen Brauch ".434

In Bessans wird Tuch gewebt. Die starken Planen, mit denen Esel und Maultiere zugedeckt werden, Packtücher für das Heu oder den Mist, warme Bettdecken, feste Werktagskleidung, haltbare Hosen

428Francis Tracq, Au Dessus de la Limite des Forets ..., Bessans Jadis et Aujourd'hui Nr. 3, Bessans Hiver 1980, S. 13

429Personnaz, a.a.O.

430Auszüge aus den Memoiren von Albert Cimaz ( 1905 - 1983 ), brieflich mitgeteilt von Hélène und Léon Personnaz,

Paris 7.5.1997

431Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 7

432Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 6

433Goldstern, Vie, a.a.O., S. 7

434mündlich mitgeteilt von Frau Ambroisine Cimaz, Bessans 31.12.1996

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und dicke, schneefeste Gamaschen werden selbst hergestellt. Aus den Wollabfällen werden Fäustlinge mit einem ähnlichen Gerät wie bei den Ruthenen in Galizien gewirkt. Anders als in der Textilindustrie von Tschenstochau kann der einzige Webstuhl im Ort auseinandergenommen und als Verschlag für zwei Kälber verwendet werden.435 Flachs und Wolle wird von den Frauen in jeder Haushaltung verarbeitet und selbst gesponnen. Aus dem groben Leinen entstehen Bettwäsche, Unterbekleidung und grauweiß gestreifte Schürzen. Wenn die Tage kürzer werden, trifft man sich zu stimmungsvollen Spinnabenden, um gemeinsam die Arbeit zu verrichten. Abwechselnd versammelt man sich in der Stallwohnung des Nachbarn. Während die Spinnräder surren, singt und scherzt die Jugend. Die Männer spielen Karten oder erzählen Geschichten aus alten Zeiten. Eugenie Goldstern fügt sich nicht in diese Verteilung der Geschlechterrrollen.

Die Frau aus der Großstadt versteht es, sich Respekt zu verschaffen. Sie ist keine dieser verwöhnten, zimperlichen Damen aus der Stadt. Sie zögert nicht, im Schein der Laternen mit den Bauern während der Nacht auf steilen, eisigen Wegen aufzubrechen. Man bahnt sich den Pfad hinauf zu den steinernen Stadeln, in denen seit dem Sommer das Heu lagert. Die Männer tragen wegen des Tiefschnees Gamaschen über Schuhen und Hosen. Frau Goldstern wird wohl aus Schicklichkeitsgründen über der Norwegerhose einen kniekurzen Rock anziehen. Sie fotografiert die nach dem mühsamen Aufstieg gutgelaunten Bergsteiger, die ihre einfachen, aus Ästen, Leder und Stricken selbst gefertigten Heubindevorrichtungen vorweisen. Trotz der Kälte notiert sie genau das Verfahren, mit dem das Heu zu kegelförmigen zentnerschweren Bündeln geformt und zu Tal gebracht wird. 436 Sie nimmt auf, wie die umfänglichen Ladungen über die Schneeflächen geschleift werden. Sie zeigt, wie die " buissons " von einem davor sitzenden Schlittenfahrer gelenkt, gebremst und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Steilhänge hinuntergesteuert werden.

Wichtige Einzelheiten werden auf großen Glasnegativen fotografisch und eigenhändig in Skizzen festgehalten. Die Bergbauern demonstrieren ihre kunstvollen, kräftigen Griffe und Bewegungen. Schwerarbeit wird im richtigen Augenblick erfaßt. Schließlich läßt sich die gewissenhafte Beobachterin noch ein Modell des eigenartigen Heubündelgerätes anfertigen. Im Marktflecken dokumentiert sie die Arbeit in der finsteren Stallwohnung am hölzernen Webstuhl. Sie fotografiert den Bauern, der weggeschwemmte Ackererde mit dem Esel auf das abschüssige Feld tragen muß. Sie achtet auf zwei Tragtiere, die schwere Packtücher voll Mist schleppen. Sie zeigt die Frauen in ihrer merkwürdigen Werktagstracht beim Waschen am Fluß, beim Ritt auf dem Maultier durch die rauhe und karge Hochgebirgslandschaft. Sie begegnet der Bäuerin, die ihr hochbepacktes Muli führt. Sie trifft in den abgelegenen Weilern und Dörfchen, in den verlassenen Seitentälern auf einfache Menschen die sich ihr und ihrer Kamera ohne Scheu präsentieren. Für die Schulkinder von Bessans ist das Fotografieren eine Sensation. Die gesamte Dorfjugend vereinigt sich teils unbändig drängend, teils gesittet posierend zum Gruppenbild. Die Fotografin ist offensichtlich bei jedermann im Ort bekannt. Ohne große Umstände und Erklärungen bleiben Frauen mitten auf dem Heimweg von der Kirche stehen, um sich ablichten zu lassen. Sie halten kurz ihr Reittier an der Straßenecke an und machen Front zur Kamera. Freundlich und gelöst, ohne sich eigens zurechtzumachen, blicken sie in das Objektiv.

" Die Österreicherin ", wie sie von den Einheimischen genannt wird, liebt das Leben in der Fremde. Hier, wo sie keiner kennt, kann sie untertauchen. Sie kann Erinnerungen zurücklassen, Herr ihrer selbst sein. Sie kann ihr Leben selbständig in die Hand nehmen. Im Frühjahr verwandeln sich die Almwiesen in ein duftendes Blumenmeer. Berganemonen, Alpenastern und seltene Katzenpfötchen blühen. Ein unbeschreiblich würziger, frischer Duft liegt in der flimmernden Luft. Der Anger hinter der Antoniuskapelle ist zur Spielwiese für die Kinder geworden. 437 Die Wege zu den Alpen Le Vallon und l'Arselles sind wieder frei. Eugenie Goldstern wohnt jetzt im gemütlichen Hotel des

435Goldstern, Bessans, a.a.O., S. 49

436Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 42

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Herrn Piere Cimaz, das regelmäßig von Mitgliedern des französischen Alpenclubs besucht wird. Es steht direkt neben der schönen alten Steinbrücke über den Arc. Es bietet Fremdenzimmer ohne Fließwasser und Heizung. Im " Le Cimaz " steigt hauptsächlich gehobenes französisches Publikum ab. Ärzte, Ingenieure und Rechtsanwälte, darunter der langjährige Bürgermeister von Lyon, verbringen dort ihre Sommerferien. 438 Sogar eine Dunkelkammer steht bereit, um Fotoplatten auszuwechseln oder selbst Abzüge herzustellen. Das Café im Parterre des Hauses ist der eigentliche Treffpunkt des Ortes. Vor der Türe walten Zöllner ihres Amtes, unterziehen passierende Schafherden der Revision.

Der Schnee ist getaut. Zu Eis erstarrte Wasserfälle sind in Bewegung geraten. Lawinenstriche schmelzen. Eugenie Goldstern kann aufbrechen, um die Bräuche in den umgebenden Ortschaften zu studieren. Sie wandert an einem Gebirgsbach, vorbei am Weiler la Goulaz durch den Lärchenwald. Das Dörfchen Vincendières besteht aius einem Dutzend Höfen. Selbst in dieser Höhe von zweitausend Metern zeigen sich erste Gersten- oder Roggenhälmchen auf dem kleinen südseitigen Feld unterhalb der Kapelle der Maria Magdalena. Man beginnt einen Stadel an das Haus anzubauen. Schon ist der Dachstuhl aus geschälten Lärchenbalken aufgerichtet. Die Einwohner verdingten sich früher als Träger für die Reisenden auf dem Weg in die Lombardei. Ein Sprichwort aus dieser Zeit sagt :

Wenn der arme Teufel sein Brot backen will,Bricht der Backofen zusammen. 439

Zweimal im Jahr wird der große Gemeindebackofen mit Klaubholz und getrocknetem Mist beheizt. Er wird mit 50 Broten beschickt. Beim Viehhüten isst man ein sehr haltbares Gerstenbrot, das so hart ist, daß das Innere glänzt. Man muß eine kleine Vertiefung hineindrücken und Milch dazutropfen, um davon abbeißen zu können. 440 Das Weißbrot ist den Feiertagen vorbehalten. Auf dem kargen Speisezettel stehen Fadennudeln mit Fleischkäse in einem Teller Milch, Kartoffeln mit Milch, winzig kleine Nockerl. Weiter oben an den Hängen des wilden Albaron stehen die schiefergedeckten Hütten der Alpe la Buffaz. Von hier überblickt man im Westen das Tal von Bessans, im Osten das von Averole. In noch größerer Höhe, bei der Alpe Leonharda scheinen mehr Steine als Gras am Boden zu sein. Bald beginnt der nackte, unbelebte Fels.

Eugenie Goldstern kommt aufwärts dem Lauf des Arc folgend nach Bonneval. Sie meistert den Aufstieg zum Col de l'Iseran. Auf der andeen Seite der Paßhöhe, im Val d' Isere findet sie ebenfalls Stallwohnungen. Sie zieht weiter durch die Tarentaise, um zum Jahrmarkt im eine Tagesreise entfernten Moutiers zu gelangen, Auch dort interessiert sie sich für Frauentrachten. Zu Vergleichszwecken wandert sie in den nächstgelegenen italienischen Ort am Fuße des Mont Cenis. Sie folgt einem alten Weg rechts am Ufer der Cenischia, der die Verbindung zur alten Bischofstadt Susa herstellt. Der Ort war bereits in vorrömischer Zeit der " Hauptsitz trotziger Alpenstämme. " 441 Von dem Saumpfad überblickt sie die alte Abtei Novalesa an den Hängen des Rocciamelone. Das Kloster befindet sich seit dem Jahre 906 im Niedergang. Damals wurde es bei dem großen Raubzug

437Anne und Erik Lapied, Le Preé des Danses, VHS - Video, schwarzweiß 35 Min., Avallon 1993

438Christian Hannß, Neue Fremdenverkehrsentwicklung in den französischen Nordalpen, Tübingen 1984, S. 37

439Bessans Jadis et Aujourd'hui Nr. 9, Les Vincendères, Bessans Printemps 1983, S. 19

440Francoise Cimaz, La Vie au Hamau, Hier, Bessans Jadis et Aujourd'hui Nr. 9, Les Vincendères, Bessans Printemps

1983, S. 51

441Baedeker, Oberitalien, a.a.O.,, S. 59

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der " Sarazenen " gründlich geplündert, als die eroberungslustigen Berber Tunesiens von der ligurischen Küste aus tief in das Land vordrangen. Eugenie hat in Novalesa Glück. Sie kann die überlieferten Frauengwänder zweier benachbarter Regionen, aus der Maurienne und dem Piemont, fotografisch vergleichen. Ihr werden enganliegende Hauben für den Alltag, ausladende mit abstehenden Schleifen gebundene für den Sonntag, flügelartig gefächerte Kopfbedeckungen für die Hochzeit vorgeführt. In Vorder-, Rücken- und Seitenansichten werden knöchellangen aufwendig gefältelten Röcke, die ausladend staffierten, bebänderten Spenzer und fransenverzierten, teils bestickten Schultertücher gegenübergestellt.

In Bessans leben zwei Kulturformen einträchtig nebeneinander. Die Mistheizung verbindet den Ort mit den Kirgisen im Ural, den Eskimos, ägyptischen Fellachen oder den Indern in Benares. 442 Die elektrifizierte Mont-Cenis-Bahn im nahen Modane führt durch einen zwölf Kilometer langen Tunnel in vier Stunden nach Turin. Der Luxuszug Rom-Paris erreicht in sechs Stunden Genf. Eugenie Goldstern unterbricht ihre monatelangen Forschungen zweimal. Nur in einer langen Bahnfahrt ist Neuchâtel erreichbar. Dort studiert sie Geographie, Geologie und deutsche Literaturgeschichte. 443 Professor van Gennep veranstaltet in der kleinen Universitätsstadt den ersten internationalen Kongress für Ethnologie und Ethnographie. Gelehrte aus Holland, Italien, Frankreich und Deutschland und zahllose Neuenburger lassen sich am 3. Juni 1914 von einer großen kinematographischen Abendvorstellung im " Apollo " begeistern. 444 In Filmen aus Malaisia und Brasilien sind Kriegstänze, Batiktechniken, Heilung durch Hypnose und Kinder beim Betrachten eines Bilderbuches zu bewundern. Auf dem Neuenburger See findet ein Schiffsausflug statt. Er führt zu den Ausgrabungsstätten von La Tène am Zihlkanal, der die Verbindung zum Bieler See herstellt. Man nimmt einen Imbiß in den Gärten des ethnographischen Museums. Bei einem Theaterabend zeigen junge Mädchen in Kostümen aus dem 18. Jahrhundert Volkstänze. Der Kongreß wird zum Triumph für van Gennep. Der große Erfolg findet seinen würdigen Abschluß bei einem Bankett mit italienischer Pasta, Geflügel aus den Vogesen, bretonischen Kuchen und Wein aus der staatlich neuenburgischen Kellerei.

Als die Ernennung Van Genneps zum ordentlichen Professor ansteht, werden als Zeichen seiner erfolgreichen Lehrtätigkeit die ernsthaften Studien seiner Schülerin Goldstern angeführt. 445 Sie erweist sich als " bedeutende Sammlerin " von " teilweise sehr erlesenen Werken ". 446 Sie erwirbt Geräte der savoyischen Alpwirtschaft, Butterbretter, Textilgeräte, Spinnstöcke, Holzgeschirr, Holzschnitzerei, religiöse Kleinplastik und Volkskunst. 447 Sie sammelt nicht wahllos, sondern richtet ihr Augenmerk stets auf einen bestimmten, klar umrissenen Bereich. Sie bemüht sich, möglichst mehrere Gegenstände der selben Art zu erwerben, um Vergleichsmöglichkeiten zu schaffen. Sie interessiert sich besonders für Dinge des alltäglichen Gebrauchs. Gewöhnliche

442Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 18

443Auszug aus dem Protokoll der Sitzung der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg vom 19. Mai

1919

52 Centlivres, a.a.O., S. 97

444

445Centlivres, a.a.O., S. 93

446Klaus Beitl, Katalog, Schloßmuseum Gobelsburg, Sonderausstellung Französische Volkskunst, Wien 1968, S. 5

447Beitl, a.a.O., S. 8 - 16

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Werkzeuge und einfacher Hausrat dienen als anschauliche Belegstücke der vielfältigen Lebensformen. Sie bestechen durch ihre materialgerechte, zweckmäßige und mit sparsamen Mitteln erreichte ästhetische Gestaltung.

Von Wien aus durchmißt Eugenie Goldstern das Kaiserreich vor seinem Untergang noch einmal von Nord nach Süd auf einer seiner imposantesten Bahnstrecken. Vermutlich begleitet sie einen ihrer in der polnischen Textilindustrie tätigen Verwandten auf einer Geschäftsreise nach Ägypten. Sie fährt mit der Südbahn über den Semmering. Alpengipfel bieten sich dar, Felsschluchten werden in schwindelerregender Höhe überquert. Selbst eine Burgruine fehlt nicht in diesem großartigen Zusammenspiel von Natur und Baukunst. Nach einem Tag ist die Hafenstadt Triest erreicht. Der Palast des österreichischen Lloyd an der alten Reede ist von einem aus Grinzing gebürtigen Architekten erbaut. Nach drei Tagen kommt der Mittelmeerdampfer im ägyptischen Alexandria an. An der ganzen Ostseite des Hafens stehen Lagerhäuser für Baumwolle. Dieser Rohstoff ist der wichtigste Ausfuhrartikel. Er hat höchste Qualität. Er wird seit fünfzig Jahren in Oberägypten im großen Maßstab angebaut. Seine Anbaufläche nimmt mehr als ein Achtel des bebauten Landes ein. 448 Das Material ist von Bedeutung für die Textilindustrie in Tschenstochau . 449

Die Fahrt geht nilaufwärts nach Kairo und weiter bis zu den Katarakten von Assuan. Die Basare in den überdachten, verwinkelten Gassen der inneren Stadt stehen im Ruf, die interessantesten und reichhaltigsten des Landes zu sein. Bei einem Kaufmann, der in einer viereckigen Nische neben seinen ausgelegten Waren auf dem Teppich hockt, wird die Studentin aus Wien neugierig. 450 Zwischen Straußenfedern, Silberringen, Armbändern und Derwischwaffen entdeckt sie eine zweisaitige Geige mit einem Klangkörper, der aus einer Kokosnuß besteht. Dazu passt eine aus Nilschlamm gebrannte, " Nakkara" genannte, mit Ziegenhaut bespannte Doppeltrommel. Eine aus Rohr gefertigte " Doppelflöte " aus Luxor und eine Zither aus Colfer vervollständigen das kleine Orchester. 451 Für Eugenie Goldstern sind diese Musikinstrumente wahrscheinlich deshalb von besonderer Bedeutung, weil die heute noch gebräuchliche, als Zummarah bezeichnete Doppelklarinette, die verschiedenen Harfentypen, Flöten, die archaischen Klappern und Rasseln ein Stück lebendiger Archäologie darstellen. Sie sind auf Musikdarstellungen aus der Zeit vor mehr als viertausend Jahren nachgewiesen. 452 Eugenie Goldstern hat sich zur Weltbürgerin entwickelt. Überall in der Fremde entdeckt sie Vertrautes. Sie nimmt Beziehungen zwischen verstreuten Tatsachen, zwischen weit entfernten Gegenständen wahr. Sie beherrscht mehrere Sprachen. Sie schreibt deutsch. Sie liest und besitzt

448Karl Baedeker, Ägypten und der Sudan, Handbuch für Reisende, Leipzig 1906, S. LVI

449Döblin, a.a.O., S. 345

450Friedrich Kayser, Ernst M. Roloff, Ägypten einst und jetzt, Freiburg i.B. 1908, S. 278

451Österreichisches Museum für Volkskunde, Inventar IX, Nr. 34.196 - 34.199, Wien 1914

452Rudolf Stephan ( Hrsg.), Musik, Das Fischer Lexikon, Frankfurt 1957, S. 17

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russische 453, 454 polnische 455, französische 456 und italienische 457 Fachliteratur, die in der Bibliothek des Wiener Volkskundemuseums nicht nachzuweisen ist. Sie parliert mit Pariser und Grenobler Museumsdirektoren, disputiert mit Wiener Hofräten und Salzburger Professoren. Bei ihren späteren Kundfahrten muß sie sich in örtliche Dialekte des Schwyzerdütsch und oberösterreichischer Hochgebirgsbewohner einfühlen. Im Vallée d' Hérens setzt sie sich mit einem schwer verständlichen französischen Dialekt auseinander, der sich von Ort zu Ort verändert. 458 Ohne Mühe folgt sie dem savoyardischen " patois ", einer kehlig klangvollen Mundart, in der sich Französisches und Italienisches mischt.

Übergangsriten in Bessans

Eugenie Goldstern bleibt begeistert vom einfachen Leben, von der Nähe zur ländlichen Bevölkerung. Sie kehrt zurück nach Bessans. Sie paßt sich nicht in sentimentaler, oberflächlicher Weise an. Sie interessiert sich und versucht, zu verstehen. Für ihren zweiten Besuch in Bessans hat sie ein besonderes Geschenk vorbereitet. Der Familie Cimaz steht ein freudiges Ereignis bevor. Also bringt der Gast aus Wien für die Ende November 1913 geborene Anne ein hübsches Babyhäubchen. Die kleine Aufmerksamkeit hinterläßt einen Generationen überdauernden Eindruck. 459 Es entsteht ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis. So erfährt die Ethnologin von seltsamen Bräuchen. Einer wurde unlängst vom Bischof verboten. Die Bruderschaft des heiligen Johannes, bestehend aus unverheirateten Männern, trug beim Begräbnis eines Jünglings oder eines jungen Mädchens in feierlicher Prozession schenkeldicke und meterlange Kerzen. 460 Zu Epiphania wurde eine metergroße in örtlicher Tracht gekleidete Puppe im Gemeindeofen gebacken und getauft. An diese Zeremonie schloß sich eine Rodelfahrt in Masken an. 461 Nach einem Begräbnis wurde von den Hinterbliebenen kiloweise Salz aus einem großen Faß an die Trauergemeinde verschenkt. 462

Frau Goldstern gelingt es, die Ausübung solcher Übergangsriten fotografisch festzuhalten. Stämmige Bergbauern demonstrieren seltenes Brauchtum vor ihrer Kamera. Zwei " Betbrüder des

453Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 48

454Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 89

455Eugenie Goldstern, Alpine Spielzeugtiere, Ein Beitrag zur Erforschung des primitiven Spielzeuges, Wiener

Zeitschrift für Volkskunde, 29. Jahrgang 1924, Heft 3 - 4, S. 62

456Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 11

457Goldstern, Spielzeug, a.a.O., S. 63

458Knapp, a.a.O., Bd. II, Neuenburg 1904, S. 543

459mündlich mitgeteilt von Frau Ambroisine Cimaz, Bessans 31.12.1996

460Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 60

461Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 59

462Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 56

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heiligen Antonius " 463, 464 mit schmucken Schnurrbärten, Sonntagsanzug und Hut stehen stramm und fixieren mit ernster Miene die Fotografin. Jeder hält in der Rechten einen mit weißem Tuch bedeckten Teller auf dem ein Kanten Brot liegt, in dem ein Strauß künstlicher Blumen steckt. Die Gabe soll den neuernannten Mitbrüdern überreicht werden. In der Bildmitte, verdeckt von den beiden Betbrüdern hat sich ein schnauzbärtiger Pfeifenraucher in Positur gestellt. Am Bildrand im Hintergrund beoachtet ein vierter feiertäglich gewandeter Herr aufmerksam das Geschehen. Es ist sicher ein Vertrauensbeweis und Zeichen der Anerkennung, daß die Forscherin anschließend zu einem Abendessen und Ball der Antoniusbruderschaft eingeladen wird. Die Bessaner tanzen in einer Stube, die als Ballsaal dient, die ganze Nacht " nach Herzenslust." 465

Die Bessaner Jugend begibt sich nach der weihnachtlichen Mitternachtsmesse zu einer eigens angelegten Rodelbahn. Die Piste führt durch die Mitte des Ortes. Sie erstreckt sich von der oberhalb des Dorfes gelegenen Kirche bis hinunter zum Fluß. Das Vergnügen dauert bis zum Morgengrauen. Frau Goldstern hat ein knappes Dutzend junge Männer bewogen, das nächtliche Geschehen bei Tageslicht für ihre Kamera vorzuführen. Die Burschen sitzen auf kleinen, schemelartigen Schlitten. Der Vordere packt die Füße seines Hintermannes. Fünf Mädchen in feierlicher Tracht haben auf dem Schoß der zur Kolonne vereinten Männer in graziöser Damenreithaltung Platz genommen. Sie legen ihren Kavalieren haltsuchend den Unterarm in den Nacken. 466

Die Forscherin nimmt selbst teil an der Vielfalt des Lebens. Meist berichtet sie aus der unmittelbaren Anschauung einer Feldforschung im hochalpinen Bereich. Sie erarbeitet " eine der frühesten Dorfmonographien überhaupt. "467 . Sie studiert die ungemein sparsamen und naturnahen Wirtschaftsformen oberhalb der Waldgrenze, wo die Nutzung von Biowärme und Sonnenenergie, die nachhaltige Entwicklung als praktische Überlebensphilosophie tägliche Übung ist. Der Mensch folgt geschickt den knappen Resourcen, hütet sich bewußt vor den gewaltigen Gefahren der natürlichen Umgebung. Er meidet Bereiche, in denen Felssturz, Lawinen und Muren drohen. Er weicht den Unbilden des Wetters, dem Blitzschlag, dem Sturzregen, den Schneemassen aus. Wie jedes Lebewesen sucht er die Sonne, das Wasser, den Humus. Die Stallwohnung bleibt selbst bei tiefsten Außentemperaturen mollig warm. Hier werden keine teueren fossilen Brennstoffe, keine Maschinen und Chemikalien zugekauft, keine Bankkredite aufgenommen. Auch wenn Bessaner vorübergehend nach Turin oder Paris auswandern, kehren sie doch meist wieder in ihre Heimat zurück und ermöglichen so das Beibehalten der hergebrachten Lebensweise. 468

Eugenie Goldstern geht bei diesen Forschungen von den Methoden ihres Lehrers van Gennep aus. 469 Sie hat sich eingehend mit den geographischen und historischen Voraussetzungen ihrer Arbeit vertraut gemacht. Sie stellt ihre Untersuchungen unmittelbar am Ort des Geschehens an. Sie verläßt sich nicht auf die Berichte von Pfarrern, Lehrern oder Polizisten. Sie kann keinen Druck ausüben,

463Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 59

464Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., Tafel X, Abb. 2

465Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 59

466Goldstern, Hochgebirgsvolk, Tafel X, Abb. 3 und 5. 58

467Beitl, a.a.O., 5. 5

468Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 6

469Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O.,S. 51

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ist auf den guten Willen ihres Gegenübers angewiesen. Sie braucht Sympathie. Sie braucht Takt und Gewandtheit. Sie ist flexibel und paßt ihre Fragestellungen den örtlichen Bedingungen an. Sie geht langsam und geduldig vor, ohne die Aufmerksamkeit ihrer Gewährsleute zu überanstrengen. Sie achtet auf alles, was ihre Informanten berichten. Sie führt keine Untersuchungen, sondern Gespräche. Als naive und ahnungslose Ausländerin versucht sie, zu begreifen. Sie kann berichten von den landwirtschaftlichen Techniken anderwärts. Sie bemüht sich um eine vertiefte Auseinandersetzung. Sie bemüht sich, versteckte Gemeinsamkeiten, verborgene Grundmuster zu begreifen. Es gelingt ihr, diese Menschen als Helfer und Mitarbeiter zu gewinnen.

Eugenie Goldstern gewinnt Freunde unter der einheimischen Bevölkerung. Man zeigt ihr selbstbewußt die alten Trachten, erzählt Legenden, erklärt archaische Ackerbaumethoden und urtümliche Formen der Alp- und Weidewirtschaft. Die Bergbauern lassen sich vor der Kamera zu regelrechten fotografischen Szenarien arrangieren. Sorgfältig komponiert, gestuft in verschiedene Tiefenschichten, präsentieren sich die Menschen von Bessans. In ihren schönen Gewändern, selbstbewußt in das Objektiv spähend, zeigen sie ihre einfachen Geräte, ihre schmucken Tiere, ihre Freude an der manchmal gefährlichen, meist mühsamen Arbeit. Sie versammeln sich zu Gruppenbildern. Sie lassen sich von mehreren Seiten porträtieren. Sie lassen sich bei der Arbeit beobachten. Sie öffnen ihre privatesten Winkel, zeigen den persönlichen Hausrat, die Kücheneinrichtung. Sie lassen sich buchstäblich in die Töpfe und Schüsseln schauen. Sie gestatten Blitzlichtaufnahmen in der Wohnstube, wo unter dem Kastenbett Schafe und Ziegen und neben der Jaucherinne drei Kühe für animalische Wärme sorgen. 470

Die Forschungen werden vom Krieg jäh unterbrochen. 471 Das große, weltgeschichtliche Unglück wird für Eugenie Goldstern zum persönlichen Mißgeschick. Die junge Wissenschaftlerin, die soviel Vertrauen erworben hatte, wird beargwöhnt. Die Leute von Bessans, bedauern ihre unbekümmerte Mitteilsamkeit, ihr offenes Bemühen um Verständigung. In aller Eile zerstört am zweiten Augusttag der Hotelbesitzer Cimaz die österreichische Miniaturuniform, die seinem Sohn Albert zu Weihnachten geschenkt wurde. 472 Die neugierige fremde Frau, die sich im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Italien mit Plattenkamera und phonographischem Aufnahmeapparat seit Monaten zu schaffen macht, wird der Spionage verdächtigt 473. Ihre zahllosen Skizzen, Notizen und genauen Vermessungen könnten bedrohlichen ausländischen Mächten dienen. Schließlich ist Modane eine schwer befestigte Grenzstation. Dort gibt es Eisenerzgruben, elektrochemische Industrie, Anthrazitminen und zwei Forts. Gebirgsjäger aus der Kaserne in Lanslebourg kommen immer wieder zum Manöver nach Bessans. Plötzlich erscheinen die Erzählungen der angeblichen Forscherin aus der Ukraine und Österreich in einem anderen Licht. Noch Jahrzehnte später ist sich ein Bauer des Schrecks bewußt, der ihm damals in die Glieder fuhr. Er erinnert sich : " C' était un espionne. 474

Anfang August 1914 erklärt die österreichisch - ungarische Monarchie der französischen Republik den Krieg. 475 Die junge Forscherin muß überstürzt abreisen, um nicht als feindliche Ausländerin

470Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., Tafel IV

471Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 4

472Personnaz, a.a.O.

473Trianafil Madeleine, Le bout du Monde, Paris 1962

474Arnold Niederer, Brief vom 18.2.1995

475Karl Ploetz, Hauptdaten der Weltgeschichte, Würzburg 1963, 5. 177

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interniert zu werden. Familie Cimaz bedauert diese Ereignisse, hofft auf eine glückliche Wiederkehr in friedlicheren Zeiten. Eugenie Goldstern besteigt in der enormen Hitze dieses Hochsommers den Col du Mont Cenis. Nach sechs Serpentinen auf der steilen Straße aus Napoleons Zeiten kann sie zurückblicken. Noch einmal liegt das Tal der Arc vor ihr, das sie nie mehr wiedersehen wird. Sie muß möglichst rasch über die Paßhöhe nach Italien gelangen, das ein wenig länger neutral geblieben ist. 476 Kurze Zeit später meldet sie sich zum ersten Mal in Wien in der Lazarettgasse 20, III. Stock, Tür 34. Der Meldezettel zeigt eine auffallend gebrochene, unsichere Schrift. Der Schluß liegt nahe, daß sich hier die Enttäuschung über den Abbruch der Studien und die Strapazen einer überstürzten Heimreise niederschlagen. Sie wohnt jetzt in der Wiener Kuranstalt bei ihrem Bruder, ihrer Schwägerin und deren vierköpfigen Kinderschar. 477

Dr. med. Samuel Goldstern besitzt und leitet das diagnostische Institut und diätetische Sanatorium für interne, Haut- und Nervenkranke, die frühere Fango- und Wasserheilanstalt im Ärzteviertel am Rande des Allgemeinen Krankenhauses. Er hat die Alleinvertretung für den Handel mit dem Morast aus dem italienischen Battaglia und Monfalcone in den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie, sowie in Rumänien und Palästina. 478 In Odessa war die heilkräftige Wirkung des Schlammes aus bittersalzigen Seen noch aus der Überlieferung der Tataren bekannt. 479 Es gab eine " städtische Schlammheilanstalt " 480 , in der mit Magnesia, Kalksalzen, Jod und Brom angereicherte Rückstände aus ehemaligen, jetzt abgeschnittenen Flußmündungen heilbringend angewendet wurden. Um die Jahrhundertwende beginnen viele russische Ärzte, sich mit diesem alten Naturheilverfahren zu beschäftigen und ihre international beachteten Heilerfolge wissenschaftlich auszuwerten. 481

Die Fangoanstalt liegt neben dem beliebten, seit alten Zeiten von den Wienern gern besuchten Brünndlbad. Sie hat ein eigenes Labor samt Röntgeninstitut und einen Sanatoriumsarzt. 482 Sie ist in einem stattlichen, fünfgeschossigen über Eck stehenden Häuserkomplex untergebracht. Im Norden schließt sich ein kleiner Park an. An der Borschkegasse 4 hat sich noch der prächtige Fassadenschmuck der Jahrhundertwende und die ausladende Loggia erhalten. Die Decken sind stuckiert, die Gänge mit farbigen Tonplatten belegt. Im Parterre gibt es eine Fangoküche, eine Kaltwasser- und eine Heißluftabteilung. Im Mezzanin und ersten Stock bestehen weitere Badeabteilungen neben Ordinationszimmern, Büros, Kassa und Laboratorien. Im zweiten Stock liegen Kranken- und Schwesternzimmer sowie die Sechszimmerwohnung des Hausherrn. Im nächsten Geschoß folgen Räume für Patienten, zwei Asthmakammern und ein Waageraum. Im

476Eugenie Goldstern, Bessans, Vie d' un village de haute Maurienne, Traduction Francis Tracy et Melle Schaeffer,

Challes-les-Eaux 1987, S. 8

477Wernert, a.a.O.

478Wiener Stadt- und Landesarchiv, K.K. Handelsgericht, Abteilung Nr. VIII, Acten über die Gesellschafts-Firma

Fangoanstalt Dr. von Aufschnaiter und Dr. Goldstern, Actenzeichen Ges.LXI,175,XXII,13, Eintragung vom 2 O. 3.

19 06

479Rado, a.a.O., S. 745

480Rado, a.a.O., S. 747

481Index - Catalogue of the Library of Surgeon - General's Office, United States Army, Vol. V., Washington 1900, S.

466

482Amtskalender, a.a.O. , 5. 714

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Salon steht ein Pianino. Ein üppiges Sonnenblumenarrangement leuchtet von der Konsole. Die Fenster sind mit schweren Samtportieren und bestickten Schabracken verhängt. Ein weicher Polstersessel ist dem Aquarium zugewandt. 483 Im Garten befinden sich zwei eiserne Lusthäuser. 484 Von der Dachterrasse schweift der Blick über die baumbestandenen Grünanlagen der benachbarten Kliniken. Nebenan lockt das " Brünndlbad " mit seiner Schwimmhalle samt Dampf- und Wannenbädern. An der Fassade des gegenüberliegenden Hauses verweisen noch heute die Stukkaturen auf Segnungen des langbärtigen, seerosenumkränzten Wassergottes Poseidon. Eine steinerne Hygieia, die Verkörperung der Gesundheit, steht neben einem Baumstumpf, aus dem frisches Laub sprießt. Sie spendet heilenden Trank, den sie aus dem Gift der Äskulapnatter gewinnt.

Die " Fango " ist nicht nur Zufluchtsort für Eugenie Goldstern. Anfang des Jahres 1915 kommt der dreiundsechzigjährige Isak Goldstern mit Gattin Anna und Sohn Emanuel hierher. Sein Beruf als Getreidekommissionär, seine in Jahrzehnten aufgebaute Existenz in Odessa ist wegen des Pogroms vernichtet. Er flieht er nach Kolomea in der Nähe von Lemberg. Die Geburtsstadt seiner Frau bietet keine Sicherheit für ihn und seine Familie. Er wird durch Kriegswirren und antisemitische Übergriffe aus Galizien vertrieben. Er findet schließlich in der Klinik von Samuel Goldstern eine Anstellung als Privatbeamter und Buchhalter. 485 Eugenie verliert 1915 durch eine indirekte Folge des Krieges ihren akademischen Rückhalt. Professor van Gennep, bei dem sie in Neuchâtel eingeschrieben war 486, wird seines Lehrstuhles verwiesen. Er wird entlassen, weil er sich öffentlich über Neutralitätsverstöße durch Deutschschweizer empört. 487 Er wird aus der Schweiz ausgewiesen. Ein Steckbrief beschreibt sein polizeiliches Signalement : seinen kastanienfarbigen Schnurrbart, eine kleine Narbe an der Stirn, ein Muttermal unter dem linken Ohrläppchen. 488

Rudolf Trebitsch, der tatkräftige Förderer von Eugenie Goldsterns Forschungsreisen, verfällt angesichts des allgegenwärtigen Kriegsbegeisterung in Melancholie. Er beschäftigt sich mit dem fanatischen Gedicht eines Verwandten namens Arthur in bissigen Randbemerkungen. Den folgenden patriotisch schwelgenden Reim bezeichnet er als " grauenhaft " :

Und nun, da, die Euch boten Dienst und Frohn, Zur Macht gelangt, das deutsche Land bedrohn

Nun dient ihr denen, die Euch untertan Dereinst gewesen ? Fürchterlicher Wahn !

Neben diesen Vers setzt er ein nachdenkliches " wer ist unser ? " :

483Postkarte S 11/14, Alsergrunder Bezirksmuseum

484Österreichisches Staatsarchiv, Statistik St. 2268, Blatt 145 - 155, Schätzung der Liegenschaft Wien IX.,

Lazarettgasse 20 vom 16.6.1938

485Österreichisches Staatsarchiv, Bundesministerium für Inneres und Unterricht, Gnadengesuch Isak Goldstern an den

Bundes präsidenten der Republik Österreich, Wien 26.11.1921

486Imatrikulationsbuch der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg, Sommersemester 1919, Eintrag

Nr. 147 vom 24.5.1919

487Van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt am Main 1986, S.237

488Pierre Centlivres, Philippe Vaucher, Les tribulations d'un ethnographe en Suisse, Arnold van Gennep à Neuchâtel

(1912 - 1915 <, Gradhiva, Revue d' Histoire et d' Archives de l'Anthropologie, Paris 1994, S. 93

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Doch du, Germanenvolk im fernen Gau,Wie unser strahlt dein Auge deutsch und blau ... 489

Trebitsch hat eine Zeitlang Hautkrankheiten zu seinem Spezialstudium gemacht. 490 Er hat Erkrankungen der Eskimos in Westgrönland diagnostiziert.491 Obwohl sein Stiefbruder behauptet, er habe nie als Arzt praktiziert, ist seine Ordnination im " Verzeichnis der Sanitätspersonen Wiens " 492 und im Adreßbuch 493 regelmäßig verzeichnet. Der " mittelkräftige " Doktor der gesamten Heilkunde wird im ersten Kriegsjahr zum Landsturm des Militärkommandos im ungarischen Temesvár eingezogen.494 Die Stadt ist überfüllt mit blutigen Verwundeten und Kranken, die von der nahen Front in Serbien kommen. Trebitsch soll als Oberarzt Operationen vornehmen, für die ihm jede Erfahrung fehlt. Er sieht sich überfordert von den Leiden Tausender zerfetzter, von Kot starrender Soldaten. Der gewissenhafte Mediziner gerät in einem schrecklichen Konflikt mit seinem beruflichen Ethos und dem von ihm geleisteten hippokratischen Eid. Er sieht sich zudem als Handlanger einer Eroberungsarmee, die rücksichtslos gegen die einhemische Bevölkerung vorgeht. 495 Er wird selbst krank und bekommt einen vierwöchigen Urlaub, " der dem Armen eine vorläufige Rückkehr nach Wien " ermöglicht. 496

Anderen gelingt es dagegen vorzüglich, für ihre Wissenschaft Nutzen aus den kriegerischen Zeitläuften zu ziehen. Arthur Haberlandt, der Sohn des Direktors am Museum für österreichische Volkskunde, behauptet in seiner Habilitationsschrift kurz vor Kriegsbeginn, " ganz Osteuropa " stelle ein " Gebiet primitiverer Artung dar, als der zu höherer und mannigfaltigerer Kulturblüte gelangte Westen. " 497 Aufgrund einer ungeheueren Rückständigkeit sei es zur " Bewahrung uralter, prähistorischer Kulturerscheinungen gekommen. " Die Vorführung der " primitiven Überlebsel der Volkskunst Osteuropas " 498 dient zum Nachweis westlicher Überlegenheit. Die Behauptung, daß

489Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv

490Siegfried Trebitsch, Chronik eines Lebens, Zürich 1951, S. 295

491Rudolf Trebitsch, Krankheiten der Eskimos in Westgrönland, Wien 1907

492Verzeichnis der Sanitätspersonen Wiens für das Jahr 1914, verfaßt vom Wiener Stadtphysikate und herausgegeben

von dem Magistrate der k.k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, Wien 1908, S. 137; Wien 1914, S. 56; Wien

1918, S. 23

493Lehmann 1916, Bd. 2, S. 1362

494Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Mil.Kdo Wien, Landsturm - Evidenz - Blätter Ärzte, Karton 9,

Landsturmevidenzblatt Dr. Rudolf Trebitsch, verso Eintrag MA 24851/14, Wien 1914

495Rudolf Jerábek, Potiorek, General im Schatten von Sarajevo, Graz 1991, S. 162 ff.

496Trebitsch, Chronik, a.a.O., S. 296

497Arthur Haberlandt, Prähistorisches in der Volkskunst Osteuropas, Sonderdruck aus der Vierteljahrsschrift Werke der

Volkskunst, Bd. I, H. II, Wien 1913, 5. 1

498Arthur Haberlandt, Prähistorisches, S. 6

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sich " Prähistorisches in der Volkskunst Osteuropas " 499 bis auf den heutigen Tag erhalten habe, führt zur Rechtfertigung von Herrschaftsansprüchen der fortschrittlichen, modernen Nationen. Der Anspruch, derart primitives Volkstum der " höheren europäischen Zivilisation " einzuverleiben, ist eine logische Folge. 500

Der aufstrebende junge Forscher erhält die Zulassung als Privatdozent für Ethnographie.501 Er wird während des Krieges vom Frontdienst freigestellt und kann mit Unterstützung der Orientabteilung des Kriegsministeriums eine " Balkanexpedition " 502 organisieren. Der " überaus brave, ambitionierte, intelligente Offizier " bereist Montenegro, Serbien und Albanien. 503 Er findet " die liebenswürdigste und gastfreundlichste Aufnahme " bei den Besatzungstruppen. 504 Mit militärischen Fassungskommandos und Bergestellen werden zehntausend Ausstellungsstücke zur Volkskunde der besetzten Balkangebiete beschafft. Die " Früchte des Zusammenwirkens von Front und Wissenschaft " 505 werden 1917 im großen Festsaal der Wiener Universität triumphal ausgestellt. " ... ein Beweis dafür, in welchem Ausmaß die Museumsleitung die Zeit zu nutzen verstanden hatte ", schließt der Nachfolger Leopold Schmidt. 506

Haberlandts Doktorvater Moritz Hoernes ist Fachmann für Urgeschichte am Naturhistorischen Museum und Inhaber der entsprechenden Lehrkanzel an der Universität. 507 Er ist als Archäologe an der griechischen und etruskischen Antike geschult. 508 Aus dem Studium der Vorgeschichte zieht er merkwürdige Lehren. Für ihn haben sich immer Vertreter des " kriegerischen Herrentums " 509 in der Entwicklung durchgesetzt. Das friedliche Bauerntum ist gekennzeichnet durch " Rundung des Leibes " 510. Es weist " Merkmale der Zähmung und Züchtung " auf 511. Es steht der "

499Schmidt, a.a.O., S. 60

500Haberlandt, Kulturwissenschaftliche, a.a.O, S. 170

501Wolfgang Jacobeit, Hannjost Lixfeld, Olaf Bockhorn, (Hrsg. ), Völkische Wissenschaft, Gestalten und Tendenzen

der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994, S. 507

502Schmidt, Museum, a.a.O., S. 64

503Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, K. u. k. Kriegministerium, Orient - Abteilung, Vormerkblatt für die

Qualifikationsbeschreibung, Quall. Kart. 917, Wien 6.7.1918

504Arthur Haberlandt, Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und Serbien,

Ergebnisse einer Forschungsreise in den von den k. und k. Truppen besetzten Gebieten, Wien 1917, S. VIII

505Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XXIV. Jahrgang, Wien 1918, S. 53

506Schmidt, a.a.O., S. 65

507Schmidt, a.a.O., S. 59

508Verzeichnis, a.a.O., 5. 190

509Moritz Hoernes, Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa, Von den Anfängen bis um 500 v. Chr., Wien 1915, S.

106

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demokratischen Geistesrichtung "512 näher. Seine Kunst trägt " weiblichen Charakter ". 513 Der Stil hat geringeren künstlerischen Wert. Er ist auffallend schlicht, von genügsamer Einfachheit. Man kann ihn " kaum tief genug herabsetzen. " 514 Die aristokratische Kunstübung durch das " kriegerische Herrentum " 515 ist " reine Männerkunst, reine Wildkunst ". 516 Sie findet sich in " Zeiten der weitreichenden Bewegungen, der kriegerischen Unternehmungen , der erfolgreichen Machtausbreitung. " 517

Abgründe und Tiefen werden nur bei den Naturvölkern der Vergangenheit und Gegenwart, den Menschenfressern und Kopfjägern, gesehen. 518 Jetzt werden keine Vergleiche mehr gezogen, sind keine geistvollen Abwägungen mehr gefragt. Die eigene Zivilisation mit ihrer schrecklichen Kriegsmaschinerie, die den industrialisierten Massenmord hervorbringt, wird als höchster Stand der technischen und ethischen Entwicklung gepriesen. 519 Die Wissenschaft stellt sich willig und beifällig in den Dienst des mörderischen Taumels. Allenfalls beim Feind erkennt man barbarische, primitive Züge. Einfache Parolen und zündende Schlagworte sind gefragt. Der Krieg gilt als " der größte und erfolgreichste Erzieher schon der frühesten Menschheit ".520

Frau Goldstern macht sich im Sommer des dritten Kriegsjahres auf die Suche nach einer Gegend inmitten Österreichs, die von diesem fürchterlichen Lehrer, dem grausamen " Vater aller Dinge " 521 noch nicht erfaßt wurde. Sie unternimmt eine mehrwöchentliche Forschungs- und Sammelreise in die Abtenauer Gegend 522. Wie in der Maurienne sucht sie ein abgelegenes Hochtal auf. Hier läßt sie sich alte Bauernhäuser, wie den Gwechenbergerhof, den Gappenhof oder den Turnerhof zeigen. Sie fotografiert Troadkästen, Badstuben, Holzkechtshütten und urtümliche Bauten zum Flachsbähen, Obstdörren und Krauteinlegen. Das schöne alte Kupfergeschirr ist der Kriegsmetallsammlung zum

510Hoernes, Urgeschichte, a.a.O., S. 106

511Hoernes, Urgeschichte, a.a.O., S. 107

512Hoernes, Urgeschichte, a.a.O., S. 106

513Hoernes, Urgeschichte, a.a.O., S. 106

514Hoernes, Natur- und Urgeschichte, a.a.O., S. 562

515Hoernes, Urgeschichte, a.a.O., S. 110

516Hoernes, Urgeschichte, a.a.O., S. 106

517Hoernes, Urgeschichte, a.a.O., S. 115

518Karl Weule, Der Krieg in den Tiefen der Menschheit, Stuttgart 1916, S. 8

519Weule, a.a.O., S. 7

520Weule, a.a.O., S. 19

521Weule, a.a.O., S. 155

522Jahresbericht

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Opfer gefallen. 523 Gedroschen wird mit einem etwas verdickten Ast, dem " Steckenpengel ". 524 " Patzeneggen " aus Tannenzweigen sind noch im Gebrauch. 525 Das Heu wird auf Fichtenästen bergab geschleift, oder auf einem Tragstock, dem " Riedlstock " geschleppt.

Unerreichbar für die Nachrichten von den europäischen Kriegsschauplätzen steigt Frau Goldstern um zusätzliche tausend Höhenmeter mit ihrer Fotoausrüstung zu den Sennerinnen und Sennern in die unwirtlichsten Gebirgsregionen. Sie dokumentiert die primitiven Lebens- und Arbeitsbedingungen, Werkzeuge und Geräte der dortigen Bevölkerung. Ihr Blitzlicht erhellt rußgeschwärzte Küchen, ebenerdige Herde und finstere Kochgruben. Die Holz- und Bergarbeiter flüchten bei Nacht mit dem Vieh in Hütten aus lose aufeinander geschichteten Steinen. 526 Sie lagern auf mit Moos und Waldgras gefüllten Schlafstätten. 527 Die " Lehmhütte des Negers oder das Lederzelt des Indianers " 528 bietet sicher ein angenehmeres Obdach. Hier wird deutlich, daß äußerste Rückständigkeit und weites Zurückbleiben hinter dem allgemeinen Fortschritt keine " Rassenfrage " 529 sein kann. Der zwingende Zusammenhang zwischen Rasse und Kultur wird anschaulich widerlegt. Die Unterscheidung zwischen Natur- und Kulturvölkern 530 ist hier inmitten Europas aufgehoben.

Paris

In Wien spielt sich das Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen nicht mehr reibunslos ab. Der sozialdemokratische Innenminister Eldersch will Flüchtlinge aus den Ostgebieten des früheren Reiches " mit Extrazügen ehebaldigst " in ihre im Weltkrieg verwüsteten Heimatorte abtransportieren. Die Polizeidirektion Wien empfiehlt " eine Unterbringung in Konzentrationslagern ". 531 In Eugenie Goldsterns Wohnsitz, der " Fango " wird der neue Ungeist deutlich spürbar. Der aus Galizien geflüchtete, jetzt als Buchhalter in der Klinik tätige Isak Goldstern wird mit der Ausweisung bedroht. Die Landesregierung in Wien verweigert ihm und seiner Frau die

523Eugenie Goldstern, Beiträge zur Volkskunde des Lammertales mit besonderer Berücksichtigung von Abtenau

(Tännengau ), in : Zeitschrift für österreichische Volkskunde, Wien 1918, S. 9

524Goldstern, Lammertal, a.a.O., S. 16

525Goldstern, Lammertal, a.a.O., S. 17

526Goldstern, Lammertal, a.a.O., S. 20

527Goldstern, Lammertal, a.a.O., S. 26

528Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 50

529Rudolf Trebitsch, Rassenfragen, in : Urania, Wochenschrift für Volksbildung, X. Jahrgang, Nr. 17, Wien 1917

530Haberlandt, Völkerkunde, a.a.O., S. 39

531Besenböck, Die Frage, a.a.O., S. 44

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Aufenthaltsbewilligung. 532 Er weist mit gerichtlich beglaubigter Abschrift nach, daß er sich schon bei der Volkszählung im Jahre 1910 an seinem vorherigen Wohnsitz im polnischen Kolomea zu seiner deutschen Abstammung bekannte. Er beteuert, daß er im deutschen Geiste erzogen sei, seine Muttersprache Deutsch sei, daß er sich auch im Alltag und in der geschäftlichen Korrespondenz dieser Sprache bediene. Seine Gesuche werden - im sprachlich mangelhafter Form - abgewiesen wegen " Mangel des Nachweises zur deutschen Volkszugehörigkeit ".533 Er habe nicht überzeugend deutlich machen können, daß er nach " Rasse und Sprache " zur deutschen Mehrheit der Bevölkerung Österreichs gehöre. 534

Der Vorgang wird an die Polizeidirektion weitergeleitet. Die " Abschaffung " steht bevor. Bis November soll der herzkranke alte Mann das österreichische Staatsgebiet verlassen. Er soll mit anderen " volksfremden Elementen " deportiert werden, wegen der gegenwärtigen Erscheinungen von Wohnungsnot, Arbeitsmangel und Lebensmittelknappheit an denen die " österreichische Bevölkerung " leide. 535 Verzweifelt klagt er in einer Eingabe an den Bundespräsidenten : " Ich habe nämlich nicht wohin zu fahren, überall bin ich fremd. " 536 Er bittet vergebens um Aufschub bis zum Frühjahr des nächsten Jahres. Schließlich wendet sich sein Arbeitgeber Dr. Samuel Goldstern vertrauensvoll an einen einflußreichen Patienten. Der Außenminister setzt sich persönlich beim zuständigen Ministerialrat des Inneren für eine Berücksichtigung des Gnadengesuches ein. Der Fall wird ohne Aufsehen gelöst, indem der gesamte Akt für vierzehn Jahre zurückbehalten wird.

Isak Goldstern reist im Jahre 1921 persönlich nach Kolomea, weil er hofft, durch eine amtliche Bescheinigung sein Bekenntnis " zur deutschen Nationalität und deutschen Umgangssprache " zu beweisen. 537 Auch sein Verwandter Johann Goldstern hat Schwierigkeiten, weil das Innenministerium behauptet, daß bei ihm " das Erfordernis der Zugehörigkeit zur deutschen Rasse nicht vorliegt ". 538 Der Einundsechzigjährige macht sich auf einen weiten Weg, um von der Direktion eines der beiden deutschen Gymnasien in Galizien ein Zeugnisduplikat zu erhalten. Er betont, daß er den " damals durchweg der deutschen Kultur zugetanenen jüdischen Familien Lembergs " angehört hat. 539 Er ist nicht von der Ausweisung bedroht. Er will aber nicht als

532Österreichisches Staatsarchiv, Deutschösterreichisches Staatsamt des Innern, Eingangs - Nr 22561 - 1920, Wien

29.5.1920

533Österreichisches Staatsarchiv, Bundsministerium für Inneres und Unterricht, Eingangs-Z. 1155597/21, Wien

26.3.1921

534Österreichisches Staatsarchiv, Bundsministerium für Inneres und Unterricht, Zl 115559/21, Wien 24.6.1921

535Oskar Besenböck, Die Frage der jüdischen Option in Österreich 1918 - 1923, Dissertation zur Erlangung des

Doktorgrades der geistewissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, Wien 1992, S. 58

536Österreichisches Staatsarchiv, Bundesministerium für Inneres und Unterricht, Gnadengesuch Isak Goldstern an den

Bundespräsidenten der Republik Österreich, Wien 26.11.1921

537Österreichisches Staatsarchiv, Magistrat der Stadt Kolomea, Leiter des Konskriptionsamtes, Bescheinigung Isak

Goldstern, Kolomea 12.1.1921

538Österreichisches Staatsarchiv, Staatsamt für Inneres und Unterricht, Abweisung des Anspruches von Johann

Goldstern, Wien 22.9.1920

539Österreichisches Staatsarchiv, Johann Goldstern, Wiederaufnahmsgesuch an das Bundesministerium für Inneres und

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Ausländer im eigenen Lande leben. Es ist ihm " geradezu ein Herzensbedürfnis, denn ich bin Altösterreicher und will auch dem neuen Österreich ein treuer Bürger sein. " 540

Eugenie Goldstern hat zu dieser Zeit einen polnischen Pass Nr. 3018, der ihr vom Konsulat in Bern ausgestellt wurde.541 Es ist gut möglich, daß sie die beiden älteren Herren begleitet. Denn im Jahr 1921 kommt eine weitere kleine Tonpfeife in das Volkskundemuseum. Als Herkunftsort ist " Galizien " angegeben. Das Spielzeug ist nach Auflage einer mit Milch angerührten Kreidegrundierung in strahlend blauer Farben bemalt, mit goldenen und silbernen Linien verziert. 542 Wieder ist Doktor Twardowski, der polnische Faust auf seinem ruhelosen Ritt durch die Lüfte dargestellt. Vor neun Jahren hat Eugenie Goldstern am Markt in Tschenstochau fünf Tonfiguren erworben. Hat sie also wieder wie in der Vorkriegszeit die " obligaten jüdischen Provinzverwandten " besucht ? 543

Die Fahrt mit der Nordbahn dauert sieben Stunden. Entlang der March zwischen den Hängen der Sudeten und Beskiden zieht sich die Strecke in das oberschlesische Industrierevier. In Oderberg hat man Anschluß nach Krakau. Nach zweieinhalb Stunden kann man in den Schnellzug nach Lemberg umsteigen. Weichsel und San werden überschritten. Das Ziel ist erst in weiteren sieben Stunden erreicht. Es bleibt viel Zeit, sich über die nach dem Weltkrieg veränderten Verhältnisse zu informieren. In Polen ist zum ersten Mal seit langer Zeit durch den Friedensvertrag von St. Germain ein unabhängiger Staat entstanden. Allerdings wurde die wiedergewonnene Souveränität von blutigen Pogromen an mehr als 150 Orten überschattet. Die Überzeugung des weltlichen Judentums, durch Anpassung an die Mehrheitskultur zu Gleichberechtigung und Anerkennung zu gelangen, hat einen entscheidenden Schlag erhalten. Das Selbstbewußtsein des gebildeten Bürgertums ist gebrochen. Die Hoffnung, Teile des Eigenen in neuer Form bewahren zu können, wurde zerschlagen. Die Zuversicht, sich durch Säkularisierung und Historisierung der jüdischen Vergangenheit der gesellschaftlichen Mehrheit integrieren zu können, wurde betrogen.

Hunderte jüdischer Menschen wurden getötet, Tausende verstümmelt und verwundet. 544 In Lemberg gerieten sie zwischen die Fronten einer neu ausgerufenen Ukrainischen Nationalrepublik und polnischer Militäreinheiten. Drei volle Tage lang wütete die bestialische Rache an den vorgeblichen jüdischen Verrätern. Die Raserei, übertraf sogar die Greuel von Odessa an Grausamkeit. Das jüdische Viertel war durch reguläre Truppen von der Stadt abgeriegelt worden. Auf militärischen Befehl wurde planmäßig geraubt und geplündert. 545 Petroleum, Naphtalin und Benzin zur Brandstiftung wurde mit Militärfahrzeugen herangeschaffft. Brände konnten nicht gelöscht werden. Die Wasserversorgung war vorsätzlich unterbrochen, die Feuerwehr bedroht.

Unterricht, Wien 2.7.1921

540Österreichisches Staatsarchiv, Johann Goldstern, Wiederaufnahmsgesuch an das Bundesministerium für Inneres und

Unterricht, Wien 2.7.1921

541Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldearchiv, Meldezettel Eugenie Goldstern, Wien 24.2.1921

542Petrowa, a.a.O., S. 37

543Arendt, a.a.O., S. 201

544Joachim Schoenfeld, Jewish Life in Galicia under the Austro - Hungarian Empire and in the Reborn Poland, 1898 -

1939, Hoboken N.J. 1985, S. 201

545Josef Bendow, Der Lemberger Judenpogrom ( November 1918 . Jänner 1919 ), Wien 1919, S. 37

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Polnische und ukrainische Häuser blieben unangetastet. Im Norden der Stadt, umgeben von Friedhof, Gasanstalt und Schlachthaus stehen die zerborstenen, rissigen Ruinen unverändert. Sie ragen seit drei Jahren rußgeschwärzt in den Himmel. Von der Straße blickt man in leere Zimmerhöhlen und bloßliegende Innenräume. Ringsum türmen sich noch immer wüste Schuttmassen, reihen sich Trümmerhaufen. Das Vertrauen in die Zukunft ist erstorben. Wer sollte die schwarzen Mahnmale der Zerstörung abbrechen, wenn man nicht wiederaufbauen kann ? 546

Haben Eugenie Goldstern die beiden alten Männer auf der zweitägigen Bahnfahrt von der Familiengesichte erzählt ? Johann wurde in Lemberg, Isak in Brody geboren. Der Mädchenname von Eugenies Mutter Mutter lautet Kitower. In Brody lebte im 18. Jahrhundert der berühmte Rabbi Gerschon Kutawer. 547 Ein Zweig der Familie Goldstern ist seit Generationen in Lemberg ansässig, das jetzt unter polnischer Verwaltung steht. Der Rabbiner Menachem, genannt Mendel, Almaz P. ha - Kolel wird dort in einem Gerichtsurteil aus dem Jahre 1770 erwähnt. 548 Im Jahr 1787 wird er noch als junger Mann bezeichnet, als er auf dem Markt von Jerslaw einen Schuldschein unterschreibt. 549 Er könnte der früheste bekannte Vorfahr sein. Er lehrt in seiner Heimatstadt, wahrscheinlich in der schönen spätgotischen Synagoge, der " Goldenen Rose. "

Sein Sohn ist ein wundertätiger chassidischer Rabbi. Der Chassidismus ist eine fröhliche, ein wenig mystische Religion. Er will das Judentum demokratisieren und volkstümlich machen. Er zeigt, daß es keiner Selbstkasteiung und grüblerischen Gelehrsamkeit bedürfe, um die Liebe und Nähe des Ewigen zu erlangen, der allen Dingen innewohnt. 550 Er ist eine " weltfromme " Glaubensbewegung, die annimmt, Gott sei in allen Dingen, allen Vorgängen des menschlichen und kreatürlichen Lebens gegenwärtig. 551 Die " Lehre von der Heiligung des Alltags " soll helfen, Gewohntes und Selbstverständliches in sinnvoller und wahrhaftiger Weise zu vollbringen.552 Ihr Begründer Ba'al Schem Tov sagt : " Der Mensch soll wahrhaben, daß er bei der Betrachtung der gegenständlichen Welt in Wirklichkeit auf ein Bild des Göttlichen schaut, das in allen Geschöpfen gegenwärtig ist. " 553

Naphtali Hirz ha - Cohen Goldstern trägt den Namen des sechsten Sohnes Jakobs, des Vaters der

546Alfred Döblin, Reise in Polen, Berlin 1926, S. 218

547Samuel Abraham Horodezky, Mystisch - religiöse Strömungen unter den Juden in Polen im 16. - 18. Jahrhundert,

Leipzig 1914, S. 75

548Salomon Buber, Ansche Schem, Biographien und Leichensteininschriften von Rabbinen, Lehrhausvorstehern,

Religionsweisern, Rabbinatsassessoren und Gemeindevorstehern, die während eines Zeitraumes von vierhundert

Jahren ( 1500 - 1890 ) in Lemberg lehrten und wirkten. In alfabetischer Reihenfolge nebst einem Beitrag zur

Geschichte der Juden in Lemberg, Krakau 1895, S. 144 freundliche Übersetzung durch Herrn Wimmer, Bayerische

Staatsbibliothek, München

549Buber, Ansche, a.a.O., S. 142

550Pollack, a.a.O., S. 60

551Martin Buber, Hundert chassidische Geschichten, Berlin 1933, S. 76

552Martin Buber, Der große Maggid und seine Nachfolge, Frankfurt am Main 1992, S. XXVII

553The Jewish Encyclopedia, Vol. VI, New York 1907, col. 252

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Stämme Israels. Er ist ein " Gerechter ", ein Zaddik. Ein Sprichwort sagt : " Ein Gerechter muß nicht auf einer eisernen Brücke gehen, ein Gerechter kann auf einer papierenen Brücke gehen. " 554 Er liest Tag und Nacht in heiligen Büchern. Er muß die Lehre so gestalten, daß sie dem Volk zu eigen wird. 555 Er sucht den göttlichen Willen in allen Wesen und Dingen, das " in der Welt weilende Göttliche " . 556 Er ist das bewährte, rechtmäßige geistige Oberhaupt einer örtlichen chassidischen Gruppe. Ein solcher " Vertrauensmann des Volkes " muß sich mit dem einfachen Volk so abgeben, daß es ihn aufnehmen kann. Seine begeisterten Anhänger strömen von fern und nah in sein Haus. Es ist größer, heller und breiter als die umgebenden Anwesen und trägt den stolzen Namen " Zum goldenen Stern. " Es ist der Mittelpunkt des geistigen Lebens der Chassidim. An Sabbaten oder Feiertagen versammeln sie sich hier zum Vorabendgebet. Sie nehmen mit ihrem Meister die " heilige Mahlzeit " ein. 557

Naphtali Goldstern fühlt sich in die Sorgen der Ratsuchenden ein. Er ist Richter und Geistlicher. Er entscheidet kurz und endgültig alle mündlich vorgebrachten rituellen Fragen ohne viele Kosten, Schreibereien und Zeitvergeudung. Er erklärt Abschnitte aus der heiligen Schrift. Er versteht es, die Gebote so auszulegen, daß sie den Gesetzen des Lebens entsprechen. Er hilft bei leiblichen und seelischen Beschwerden, " für Irdisches und Seelisches in einem. " 558 Er erzählt gleichnishafte Legenden. Er hilft und vermittelt zwischen Mensch und Gott und " was noch schwieriger ist, zwischen Mensch und Mensch ". 559 Er interessiert sich auch für menschliche Probleme innerhalb seines geistlichen Standes. Er gibt eine Sammlung von manifestartigen Briefen heraus, die 1868 in Lemberg verlegt wird. 560 Das schmale Bändchen belegt eine stürmische Auseinandersetzung zwischen zwei Rabbinern die nicht nur in Galizien große Wellen schlägt, sondern die Gemüter bis ins ferne Jerusalem erhitzt.561

Dem Zaddik von Sadagora ist ein Leben zuwider, das von ihm verlangt, gegenüber blindgläubigen Massen die Maske des Heiligen zu tragen. Den Fünfzigjährigen lockt das freie Leben, das er nur vom Hörensagen kennt. Er will die Würde des Rabbi ablegen und sich sogar taufen lassen, um den Zudringlichkeiten seiner Anhänger zu entgehen. 562 Er hängt modernen, freidenkerischen Lehren an. 563 In einem offenen Brief schmäht er seine erstaunten und verwirrten Getreuen als " Menge der Dummen und Abergläubischen ". Er beschimpft sie als Heuchler, " die sich in einen Mantel der

554Dokumentationsarchiv, Erzählte, a.a.O., S. 79

555Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 23

556Buber, Die Erzählungen, a.a.O, S. 19

557Horodezky, Religiöse, a.a.O., S. 154

558Buber, Die Erzählungen, a.a.O, S. 21

559Joseph Roth, Werke Bd. 2, Das journalistische Werk 1924 - 1928, Köln 1990, S. 844

560The New York Public Library, The Research Libraries, First Supplement, Bd. 2, Boston Mass. 1975, S. 736

561The Universal Jewish Encyclopedia, Bd. 5, New York 1948, S. 177

562Samuel Abraham Horodezky, Religiöse Strömungen im Judentum, Mit besonderer Berücksichtigung des

Chassidismus, Bern 1920, S. 223

563Encyclopaedia Judaica, Bd. 7, Jerusalem 1971, col. 1176

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Scheinheiligkeit hüllen ". Unter dem jubelnden Beifall aus dem Lager der Gebildeten verhöhnt er seine aufgebrachten Gegner als " Feinde des Bildungslichtes ". Er beleidigt sie als " Dummköpfe, die wie Wellen des Meeres schäumen. " 564 Sein Kollege aus Zanz setzt sich im Namen der rechtgläubigen Mehrheit der galizischen jüdischen Geistlichkeit zur Wehr. Er wird deshalb von der Rabbinerkonvention der benachbarten Ukraine mit der Exkommunikation bedroht.565 Offensichtlich hat sich dort der fortschrittliche Klerus durchgesetzt. Deshalb kommt es in Odessa zu einer zweiten Auflage des von Naphtali Goldstern gesammelten skandalösen Briefwechsels. 566

Die winkeligen und übervölkerten Quartiere in der Nähe des alten Lemberger Gotteshauses scheinen sich bei Eugenie Goldsterns Besuch seit diesen Zeiten nicht verändert zu haben. Im Westen verlorene Überlieferungen und Gebräuche sind lebendig. Die frommen Juden versammeln sich dreimal täglich zum Gebet, zu Andacht, Klage und Buße. Sie tanzen zum Fest der Thora. Sie feiern acht Tage lang Hochzeit mit Musik, Singen, Tanzen und Trinken. Sie klagen bei Begräbnissen laut auf offenener Straße. Sie fasten streng am Jom Kippur von einem Abend zum anderen. Am Sühnetag, dem größten aller jüdischen Feste eilen sie in lange, schwere, schwarze Seide gewandet oder in weißen Kitteln, die Sterbehemden gleichen, zum Bethaus. Der Gottesdienst dauert vom Morgen bis zum Abend. " Aus tausend Fenstern bricht das schreiende Gebet, unterbrochen von stillen weichen, jenseitigen Melodien, dem Gesang der Himmel abgelauscht. " 567 Noch immer finden Kabbalagläubige bei ihren Wunderrabbis Trost, Rat und Hilfe. Die düsteren Gassen tragen schöne Namen. Sie erinnern an Annehmlichkeiten wie Sonne und Honig, die zwischen den alten Mauern selten anzutreffen sind. Sie bilden eine eigene kleine Stadt. Die Häuser mit den gebückten, seltsamen Giebeln nehmen sich " sich im Dunkeln wie kauernde Ungeheuer " aus.568

Wahrscheinlich befindet sich das Grab des Naphtali Goldstern an einer bevorzugten Stelle des Friedhofes von Lemberg. Es wird durch einen " Ohel ", ein zeltartiges Mausoleum, besonders hervorgehoben. Dieses Häuschen kann von den Gläubigen betreten werden, um dort Kerzen und Öllämpchen anzuzünden und " Quittel " niederzulegen oder festzustecken. 569 Auf diesen kleinen Briefen und Zettelchen ist der Wunsch nach Fürbitte bei Gott, oder der Erfüllung eines persönlichen Anliegens niedergeschrieben. Am Todestage des Zaddik versammeln sich die Chassidim an diesem Ort. Zuerst wird an der festlich erleuchteten Gedenkstätte ein Gebet verrichtet. Anschließend wird eine gemeinsame Mahlzeit eingenommen. In den Gesprächen wird des Verstorbenen gedacht und auf das Wohl seines Sohnes getrunken, " der seine Stelle ausfüllt und sein heiliges Werk fortsetzt. " 570

564Horodezky, Religiöse, a.a.O., S. 230

565Encyclopaedia Judaica, Bd. 7, Jerusalem 1971, col. 1176

566New York Public Library Reference Department, Dictionary Catalog of the Jewish Collecttion, Bd. 4, Boston Mass.

1960, S. 3533

567Roth, a.a.O., S. 849

568Martin Pollack, Nach Galizien, Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen, Eine imaginäre Reise durch die

verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien 1984, S. 196

569Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes ( Hrsg. ), Erzählte Geschichte, Bd. 3, Jüdische Schicksale,

Berichte von Verfolgten, Wien 1993, S. 34

570Horodezky, Religiöse, a.a.O., S. 161

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Menachem Mendel ha - Cohen Goldstern 571, der Großvater von Eugenie, bleibt der überkommenen Frömmigkeit seiner Familie treu. Er ist ausgebildet in der Jeschiwe, einer jener Talmudhochschulen aus denen europäische Gelehrte, Schriftsteller und Religionsphilosophen hervorgehen. 572 Er steht wohl der Haskalah, der jüdischen Aufklärung nahe, hat vielleicht sogar in Prag oder Berlin studiert. Er könnte zu den " Daitschen " gehören, wie die Rationalisten in Galizien von den an der Tradition haftenden Juden genannt werden. 573 Er spricht nicht mehr Jiddisch. Er strebt nach Wohlstand, Bildung, Ansehen gesellschaftlicher Anerkennung. Er kehrt dem engen, ärmlichen Milieu des hergebrachten jüdischen Wohnviertels den Rücken. Er wird Bankier. Er trägt keinen Bart, keine Schläfenlocken. Er legt die seit Jahrhunderten rigoros gehütete, fast religiös ehrwürdig gewordene Tracht ab. Er kleidet sich europäisch. Er ist überzeugt, die eigentliche, höhere Kultur könne nur die deutsche sein. Er benutzt Deutsch als Umgangssprache, kennt seine Klassiker, ist mit den Werken Schillers und Kants vertraut, besitzt ein Konversationslexikon.

Der Onkel Israel Goldstern schreitet in der Assimilation noch weiter voran. Aus seiner Geschichte wird deutlich, daß die Lemberger Verwandten in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Frommen und Vermögenden gehören. Er wirkt als Rabbi. Er ist Vorsitzender eines Talmudvereins, der ein paar hundert Mitglieder umfaßt. Dem Vorstande anzugehören, ist eine große Auszeichnung. Ein Rabbinerposten ist wie ein Adelsbrief. 574 Allerdings weigert sich der geistliche Hirte hartnäckig, eine standesgemäße Ehe einzugehen. Er beugt sich nicht mehr dem traditionellen Recht des Vaters, seine Hochzeit auszurichten, ihm die Lebenspartnerin auszusuchen. Als er eine wenig begüterte Frau seiner Wahl heiratet, erleidet sein Ansehen empfindlichen Schaden. 575 Auf einer Reise nach Deutschland keimen in ihm erste Zweifel an der jüdischen Religion. Gegen den heftigen Widerstand der nächsten Angehörigen tritt er zum Christentum über. Er besucht einen " Missionshaus = Kursus " in Barmen. 576 Er wird im Auftrag des " Rheinisch = westfälischen Vereins für Israel " im südlichen Rußland tätig. Seine Familie bricht mit ihm. Sie trauert um den verlorenen Sohn wie um einen Verstorbenen. Er arbeitet als Missionar an der Seite eines Divisionspfarrers in Kischinew.

Anfang August 1921 füllt Eugenie mit merklichem Schwung einen " Meldzettel " für eine Reise nach Paris aus. Hier trifft sie sicher ihren Lehrer Van Gennep. Sie legt ihm die Ergebnisse ihrer Arbeit über Bessans vor. Er hält sie für " exzellent ". 577 Isoliert von der akademischen Welt, außgestoßen von der universitären Laufbahn arbeitet er in der Studien- und Dokumentationsabteilung des Außenministeriums. 578 Er steht im Ruf " schwierig, mürrisch und

571Nach der Grabinschrift des Abraham Goldstern auf dem Wiener Zentralfriedhof

572Walter Goldstern, a.a.O., S. 24

573Pollack, a.a.O., S. 61

574Die österreichisch = ungarische Monarchie in Wort und Bild, Galizien, Wien 1898, S. 480

575Israel Goldstern, Ein Bild aus der neuesten Judenmission, Herausgegeben vom Rheinisch = westfälischen Verein für

Israel in Köln am Rhein, Köln 1885, S. 6

576Israel Goldstern, Ein Bild, a.a.O., S. 30

577Arnold van Gennep, Manuel de Folklore Francais Contemporain, Bd. III, Paris 1937, S. 276

578Rosemary Lévy Zumwalt, The Enigma of Arnold van Gennep, Helsinki 1988, S. 14

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eigensinnig " 579 zu sein. Im Vorjahr hat er sich von der Mehrheit der französischen Soziologen distanziert. Er warnt vor schnellen Verallgemeinerungen, die zu der Ansicht verleiten, Menschen in " niedrigstehenden Gesellschaftsformen " seien selbst unterlegen und minderwertig.580 Er widerspricht damit den Grundüberzeugungen einer Kolonialmacht. Er neigt zu der Ansicht, die " Unmoral sei ein Zeichen hoher intellektueller Entwicklung. " 581 Schon vor Jahren hat er sich durch eine satirische Schrift maßgebliche Kreise zum Feind gemacht. In " Die Halbwilden " verspottet er schonungslos die biederen Gepflogenheiten und starren Rituale einer wissenschaftlichen Laufbahn. 582 Er lebt wie ein Eremit in einem kleinen Ort an der Peripherie der Weltstadt. 583 In seiner Wohnung in einem kleinen Mietshaus in der Rue Georges la fenestre 10 in Bourg la Reine stehen zahllose Zeugnisse der französischen Volkskunst einträchtig neben schönen Arbeiten algerischer Handwerker. Es gibt keinen Luxus, wenig Komfort. Trotz der stetig wachsenden Bibliothek und des mächtigen Archives wirkt die Atmosphäre nicht ernst und abgeschieden.

Das Pariser Volkskundemuseum liegt seineabwärts auf einer Anhöhe über dem Fluß. Es ist untergebracht im Palais Trocadéro, einem beeindruckenden Dekorationsbau orientalischen Stils. Das Gebäude ist von zwei minarettartigen Türmen von gewaltiger Höhe flankiert und von hohen Pfeilerarkaden umgeben. Abends hat man von der Terrasse eine herrliche Aussicht auf die Kaskaden im Park, das Marsfeld mit dem Eiffelturm und die hinter dem Invalidendom untergehende Sonne. Das ethnographische Museum zeigt neben Gegenständen von den Ureinwohnern Amerikas, der pazifischen Inseln und Afrikas eine beachtliche Sammlung französischer Volkstrachten. Dem hier tätigen Professor Verneau bringt Eugenie Goldstern wohl ein Belegexemplar ihrer Dissertation. Er erteilte ihr die Erlaubnis, ein Schnitzwerk aus Bessans zu fotografieren, das darstellt, wie ein kleiner Priester mit dem Gebetbuch in der erhobenen Hand einen schrecklichen viergehörnten Teufel austreibt. 584

Paris ist in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das " Neue Mekka, das Neue Babylon " für Flüchtlinge aus Rußland. 585 Der Montparnasse war schon zur Zarenzeit der Treffpunkt exilierter russischer Künstler und Intellektueller. Im Le Dome, La Rotonde, La Closerie des Lilas und im Petit Vavin war der äußerste Vorposten der Avantgarde. Mit dem Jahr 1917 verschwinden die Revolutionäre und Bolschewiken. In der bereits fest etablierten russischen Gesellschaft der französischen Hauptstadt findet ein reibungsloser Wechsel statt. Der Neffe von Frau Goldstern hält die Neuankömmlinge wohl für " ein archäologisches Museum der russischen Reaktion. " 586 Konstantin Umanskij ist ein Sohn ihrer Schwester Teresa, die mit ihr in Wien zusammenlebt. Er arbeitet als Korrespondent und Leiter des Pariser Büros der staatlichen sowjetischen

579Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 105

580Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 86

581Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 32

582Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 97

583Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 91

584Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 66

585Robert H. Johnston, " New Mecca, New Babylon " Paris and the Russian Exiles, 1920 - 1945, Montreal 1988, S. 20

586Johnston, a.a.O. S. 15

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Nachrichtenagentur TASS. 587 Er ist kein angepaßter Emporkömmling und Bürokrat. Er setzt sich aus begeisterter Überzeugung für die neue Wirtschafts- und Lebensform in seiner Heimat ein.

Er kennt die russischen Revolution von 1917 aus der Zeit seines Studiums der Kunstgeschichte an der Universität in Moskau. Er erinnert sich an die erregten Kunstdiskussionen im Moskauer " Roten Hahn ", dem früheren Café Pittoresque. Er kennt die neuesten Werke von Chagall, Tatlin, Malewitsch, Burljuk und Kandinsky, die auf der großen Kunstschau im Winterpalais in Petersburg im Sommer 1919 gezeigt wurden. 588 Er hat im Vorjahr in München ein Buch über moderne russische Kunst geschrieben und veröffentlicht. Es setzt den Bericht über die " chaotische Entwicklung einer autochtonen Kunst " 589 in Rußland fort, der im Jahre 1912 im Almanach des " Blauen Reiter " begann.

Die fortschrittlichen Maler, Grafiker und Bildhauer sind bestrebt, " der Selbstisolierung der Kunst ein Ende zu machen, den Blutkreis der Kunst an den des Lebens anzuschließen. " 590 In den Sammlungen der Völker- und Volkskunde suchen sie nach der " gesunden Roheit des halbwilden Volkes. " 591 Sie begeistern sich am Primitivismus der Volkskunst, der " Volksholzschnitte " und des einfachen Spielzeugs. 592 Sie entdecken die Ursprünglichkeit von " Volksplastiken ", wie sie Eugenie Goldstern bereits im Jahre 1912 beschreibt. Schon in diesen Jahren bezeichnet Franz Marc die künstlerischen Vorreiter als " Wilde ". 593 Ursprünge der Moderne werden außerhalb der klassischen akademischen Traditionen in der " barbarischen " Kunst gesucht. 594

Der Avantgardist Malewitsch will gegen bestehende Kunstauffassungen protestieren. Er folgt einer Welle der Begeisterung für die Volkskunst. Er fühlt sich zur grob gezeichneten Klarheit der bäuerlichen Naiven hingezogen. Er beginnt, " Bilder in primitiver Manier zu malen. " 595 Sein Freund Kandinsky entdeckt bereits vor der Jahrhundertwende die Buntheit und Vielfalt der russischen bäuerliche Welt. Er sucht die unverdorbene Unbefangenheit nicht mehr in Afrika oder Ozeanien, sondern bei den alten Völkern des Ostens. Er entdeckt Urquellen schöpferischer Energie in den großen zweistöckigen, mit Schnitzwerk verzierten Hütten im Gouvernement Wologda. Hier hat er das Gefühl, sich " selbst im Bilde zu bewegen ". 596 Er zeichnet die geheimnisvollen,

587Walter Goldstern, a.a.O., S. 31

588Konstantin Umanskij, Neue Kunst in Rußland 1914 - 1919, München 1920 S. 19

58 Umanskij, a.a.O., S. V

589

590Umanskij, a.a.O., S. 51

591Umanskij, a.a.O., S. 27

592Umanskij, a.a.O., S. 67

593Wassily Kandinsky, Franz Marc (Hrsg. ), Der Blaue Reiter, München 1979, S. 28

594Kandinsky, a.a.O., S. 48

595Jewgenija Petrowa, Jochen Potter ( Hrsg. ), Russische Avantgarde und Volkskunst, Stuttgart 1993, S. 12

596Petrowa, a.a.O., S. 34

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lebendigen Ornamente nach. In jedem Gegenstand, jeder Wand, jedem Winkel, der dicht mit vielfarbigen, prächtigen Motiven geschmückt ist, sieht er die unbändige Kraft der phantasievollen Unschuld. Marc Chagall und El Lissitzky lassen sich durch die Ergebnisse der Jüdischen Ethnographischen Expedition des Barons Ginzburg von althergebrachten jüdisch - folkloristischen Motiven inspirieren. 597 Auch in der akademischen Fachwelt Wiens macht man sich Gedanken über die moderne Kunst. Der Anthropologischen Gesellschaft gehören neben Vater und Sohn Haberlandt die wichtigsten Mitglieder des Volkskundevereins an. Hier wird die " Kunst der Narren, der Primitiven und der Kinder " auf die gleiche, niedrige Stufe gestellt. 598 Sie sei vergleichbar mit dem Expressionismus, Futurismus und Kubismus, weil auch hier beim Gestalten der Verstand weitgehend ausgeschaltet sei. Die Erfolge von Frauen in diesen modernen bildnerischen Richtungen lasse sich aus ihrer " größeren Suggestibilität " sowie der für sie typischen " Ausschaltung der hemmenden kritischen Denkvorgänge zwecks Befreiung der unterbewußten Regungen des Gemütes " 599 erklären. Der Volkskundler Karl Spieß, der sich auch Ritter Carl von Spieß nennt, ist mit Arthur Haberlandt seit 1910 verbunden. 600 Er ist " Ausschußrat " in der Leitung des Volkskundevereines. 601 Nach seiner Auffassung sind an der " fremdartigen Farbenpracht ", dem " aufreizenden Rhythmus einer barbarischen Musik " und den " sinnverwirrenden Tänzen " orientalisch orgiastischer Kulte die großen Weltreiche zerbrochen.

Selbst wenn die Überflutung durch diese Mysterien zurückweiche, so würden sie doch den Boden durchsickern und zeitweise im Verborgenen ihren Lauf nehmen, um bei passender Gelegenheit plötzlich mit Mächtigkeit emporzusteigen. Besonders " die Klasse der Unterdrückten " 602 sei anfällig für die Verlockungen des " fremden Geistes. " Einzig die Rückbesinnung auf die indogermanische Mythologie verspreche Rettung. In den Werken der Bauernkunst sei " arisches Mythengut " aus tausendjähriger Vergangenheit lebendig. 603 Seine Schriften, die " zum Verworrensten und Unwissenschaftlichsten " 604 dessen gehören, was in Österreich und Deutschland zur Verbreitung der faschistischen Ideologie formuliert wurde, sind fortlaufend auf den Umschlagseiten der Wiener Volkskundezeitschrift angeboten. Er wird zum Mittelsmann zwischen Mythologie und Volkskunde.605 Er wird die Verbindungen zum nationalsozialistischen " Amt Rosenberg " herstellen.

597Petrowa, a.a.O., S. 16

598Sitzungsberichte der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, Jahrgang 1921 - 1922, Wien 1922, S. 3

599Sitzungsberichte der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, Jahrgang 1921 - 1922, Wien 1922, S. 4

600Wolfgang Jacobeit, Hannjost Lixfeld, Olaf Bockhorn, (Hrsg. ), Völkische Wissensenschaft, Gestalten und

Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994, S.

498

601Wiener Zeitschrift für Volkskunde, XXXVI. Jahrgang, Wien 1931, S. 55

602Karl von Spieß, Prähistorie und Mythos, Programm des k.k. Staats- Ober- Gymnasiums zu Wiener Neustadt, Wiener

Neustadt 1910, S. 27

603Karl von Spieß, Der Mythos als Grundlage der Bauernkunst, Programm des k.k. Staats- Ober- Gymnasiums zu

Wiener Neustadt, Wiener Neustadt 1911, S. 27

604Jacobeit, Völkische, S. 499

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Am 28.8.1921 wird Dr. Goldstern der Pass Nr. 3018 zum zweiten Mal vom polnischen Konsulat in Bern ausgestellt. Sie besucht dort wohl Professor Rudolf Zeller auf der Rückreise von Paris. Im Oktober meldet sie sich in Wien von einem Aufenthalt am Semmering zurück. Die Gegend ist eine beliebte Sommerfrische für wohlhabende Wiener, in der es auch in der Nachkriegszeit " genug zu essen " gibt.606 Vor dem Krieg galt sie als die " Österreichische Schweiz ".607 Jetzt ist es still geworden in den luxuriösen Grandhotels und Urlaubspalästen. Villen im englischen Landhausstil, neugotische Fabrikantenburgen, oberitalienische Renaissancelandsitze und phantastische Schweizerhäuser beginnen zu bröckeln. Die weltläufige Atmosphäre schwindet. Die Gesinnungen werden " kernhafter, spröder, kleinhorizontaler ". 608 In den Schutzhütten und Bergsteigerquartieren des Gebirges macht sich eine gefährliche politische Richtung bemerkbar. Im österreichischen Touristenklub und im Alpenverein werden Satzungsänderungen vorgenommen. Man will verhindern, daß die Mitgliedskarte als Dokument benutzt wird, " auf Grund dessen sich die galizischen Juden Einreise- und Aufenthaltsbewilligungen verschaffen. " 609 Es wird eine Neuregelung eingeführt, der zur Folge nur " Arier " Mitglieder werden können. 610

Mitte Juni des Jahres 1922 macht sich Frau Dr. Goldstern auf die Reise nach Turin. Von dort fährt sie auf einer großartig konstruierten Bahnstrecke in das Tal der reißenden, weiß gischtenden Doire Baltée, das von funkelnden Gletschern und den höchsten Gipfel Europas umgeben ist. Von Aosta ausgehend besucht sie in dreimonatigen Wanderungen die umliegenden Täler. 611 Der Ort befindet sich an seit der Antike wichtigen Alpenübergängen vom italienischen Piemont in das französische Savoyen und das schweizerische Wallis, das hier Valais heißt. Nur 45 Kilometer südlich, jenseits des kleinen Sankt Bernhard, liegt Bessans. Im Aostatal wird eine südfranzösische Mundart, die " langue valdotaine " gesprochen. Seit 1909 bemüht sich eine " Ligue Valdôtaine ", die Verdrängung dieser franko - provenzalischen Sprache durch das Italienische zu verhindern. 612 Ein verträumtes Tal am Fuß des Monte Glacier, aus dem Eugenie ein " steinernes Bügeleisen " holt, wird Champocher oder Camporciero genannt. Die Bergführer dort nennen sich Pietro Gérard und Luigi Rey.

605Jacobeit, Völkische, S. 497

606Hans Safrian, Hans Witek, Und keiner war dabei, Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien

1988, S. 171

607Walter Kos (Hrsg. ), Die Eroberung der Landschaft, Semmering, Rax, Schneeberg, Katalog zur

Niederösterreichischen Landesausstellung, Schloß Gloggnitz 1992, Wien 1992

608Kos, a.a.O., S. 598

609Helmuth Zebhauser, Maike Trentin - Meyer ( Hrsg. ), Zwischen Idylle und Tummelplatz, Katalog für das Alpine

Museum des Deutschen Alpenvereins in München, München 1996, S. 358

610Christine Klusacek, Kurt Stimmer, Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte 1918-1928, Wien 1984 S.

247

611Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 28. Jahrgang 1923, Heft 1, Wien 1923, S. 55

612Istituto Storico della Resistenza in Valle d' Aosta, Le Minoranze etniche europee di Fronte al Nazismo ed al

Fascismo, Atti del Convegno svoltosi ad Aosta il 3 e 4 Dicembre 1983, Aosta 1985, S. 8

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Der Fremdenverkehr ist stark. Das Aostatal wird von der gehobenen Gesellschaft zur sommerlichen Erholung bevorzugt. Hier lagen seit alten Zeiten die bevorzugten Jagdreviere der italienischen Könige. Noch immer gibt es in den Bergen Reitwege, Jagdhäuser und bewirtschaftete Berghütten, die dem feudalen Zeitvertreib Victor Emanuels III. und seines Hofstaates dienen. Eugenie Goldstern vermißt Bauernhäuser in den abgelegenen Seitentälern. Wie in Bessans leben die Menschen meistens in halb unterirdischen Stallwohnungen mit ihrem Vieh zusammen. Zwischen den steilen, bewaldeten Bergflanken des Val Gressoney haust die Bevölkerung noch in solchen höhlenartigen, im Untergrund eingesenkten Wohngruben. Zu ebener Erde steht eine plattengedeckte, aus wettergebräuntem Lärchenholz im Blockbau aufgeführte Scheune. Darunter liegt ein gemauertes Erd - Geschoß, das wirklich seinen Namen verdient. 613 Durch die gewölbte Haustüre in der Giebelfront kommen Leute und Tiere in das Innere. Auf der einen Seite geht es in das " Fiirhus ", die Küche. Gegenüber liegt der blitzblanke Wohnstall. Einträchtig sind " Chiebetti ", Kuhlager und Krippen mit dem " Litogade " vereint, wo die Tische, Bänke und Betten der menschlichen Bewohner stehen. 614

Ein Pfarrer beschreibt in der Barockzeit die Gegend, in welcher der Winter beinahe acht Monate dauert, in einem Gedicht als " sehr enges Tal, greulich mit Felsenberg umgeben und sehr rauher Luft daneben. " Das Klima sei wenig einladend :

Schnee, Eis und Hagel dauert dort, der Wind und Nebel brüllet fort. Drei Teil hin durch das ganze Jahrein rauher kalter Winter war.Kaum kommt hervor die schönste Blum,so ist schon fort des Sommers Ruhm.

Das östlichste Seitental am Fuße des Monte Rosa wurde bis zum 13. Jahrhundert aus dem Wallis besiedelt. Auf der obersten Stufe des Tales, das im Walserdütsch " Greschöney " 615 heißt, hat sich fast überall eine Mundart mit mittelhochdeutschen Anklängen erhalten. Statt des - s - wird ein eigenartiger sch - Laut gesprochen. Sogar Formen und Ausdrücke aus der althochdeutschen Vergangenheit sind noch lebendig. 616 Der übliche französische Dialekt wurde nie übernommen. 617 Das " Titsch " hat sich im " Augstall " genannten Aostatal zu einer eigenen Sprache entwickelt. Hochdeutsch wird nicht mehr verstanden. 618 Die alemannischen Bewohner verschiedener Täler haben kein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Schon jenseits des nächsten Bergrückens sind sie "

613Eugenie Goldstern, Eine volkskundliche Erkundungsreise im Aostatale (Piemont ). (Vorläufige Mitteilung ), Wiener

Zeitschrift für Volkskunde, 28. Jhg. Heft 1, Wien 1923, S. 56

614Zinsli, Walser, a.a.O., S. 99

615Alpin, Das Bergweltmagazin, Nürnberg Oktober 1995, S. 24

616Paul Zinsli, Die Walser, in : Paul Hugger, Handbuch der schweizerischen Volkskultur, Bd. II, Zürich 1992, S. 852

617Peter Zurrer, Differences de bilinguisme dans les communautes Walser de la Vallée d' Aoste, in : André - Louis

Sanguin ( Hrsg. ), Les Minorités ethniques en Europe, Paris 1993, S.141

618Johannes Führer, Aostatal, Die schönsten Tal- und Höhenwanderungen, München 1993, S. 132

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im ene fremde land. " 619 Sie begegnen einander mit Mißtrauen. 620 Sie müssen sich auf italienisch verständigen, weil ihnen das " Töitsu " oder " Tits " ihrer eigenen Stammesgenossen unverständlich ist. " laffu " kann sich auf die Achsel oder das Gesäß beziehen. " gsicht " kann auf das Licht oder das Gesicht hinweisen. " eschil " kann das Küchengeschirr oder den Esel meinen.

Die Gryscheneyer sind allenfalls an der hageren Gestalt, am roten Vollbart und an ihrer merkwürdigen Gangart, am " Walserschritt " als Zuwanderer zu erkennen. 621 Sie fertigen in Heimarbeit gedrechselte Suppenschüsseln, Weinbecher und Milchkannen, weil die Einnahmen aus der Landwirtschaft zu gering sind. Ihren Roggen schneiden sie mit der Sichel. Wegen der kalten und feuchten Witterung müssen sie das Getreide an freistehenden " Kornhisten " oder Lattengestellen vor ihren Häuser nachreifen und trocknen lassen. 622 Ende September dreschen sie, wie seit Jahrhunderten, mit einem Stock. Sie treiben ihre Tiere nicht nach Aosta zum Markt, sondern über die Bettaforca nach Zermatt. Durch den Viehverkauf auf entfernten Märkten kommen sie zu bescheidenen Geldmitteln, zu einer gewissen Handels- und Bewegungsfreiheit. Im Winter gehen sie als " Krämra " 623, als hausierende Tuchhändler in die Schweiz. Von dort bringen sie wieder verschiedenen Hausrat mit. Ihre Heimat heißt deshalb auch das " Krämertal ". Sie haben sich als wandernde Händler von Kupferkesseln und Zinnwaren, als Schornsteinfeger und Hersteller von Regenschirmen einen Namen gemacht. In der Fremde werden die " Kraxenträger " häufig als Bettler und Landstreicher diskriminiert. Ihre Sprache gilt als geheimnisvolles Rotwelsch. 624 Schon im 15. Jahrhundert wurden ihre Produkte als lästige Konkurrenz empfunden. Auf Betreiben der einheimischen zünftigen Hutmacher sprach die Kantonsverwaltung von Bern das Verbot aus, ihre Waren auf dem Markt feilzubieten.625

Pfarrer Knobal beschreibt ihre Lage in einem Reim :

Die Männer das Land lassen,ziehen durch viel fremde Straßen,hin und her mit schönsten Waren,der Gewinn allein ist sparen. 626

619Zürrer, a.a.O., Stw. " land "

620Zürrer, a.a.O., S. 52

621Hugger, Handbuch, Bd. II, S. 856

622Budmiger, Walser, a.a.O., S. 35

623Paolo Sibilla, La centralité du modele commercial dans la tradition economomique et culturelle de la minorité

Walser du Val d' Aoste, in : Sanguin, a.a.O., S. 267

624K. Bohnenberger, Allerlei Volkstümliches von den Ennetbirgischen Wallisern, in : Hanns Bächtold ( Hrsg. ),

Volkskundliche Untersuchungen von einem internationalen Kreise befreundeter Forscher Eduard - Hoffmann Krayer

dargebracht, Basel 1916, S. 38

625Sibilla, a.a.O., S. 270

626Paul Zinsli, Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Piemont, Erbe, Dasein, Wesen, Chur

1986, S. 406

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Ein Sprichwort sagt : " Die Gressoneyer haben eine wehmütige Natur, sie haben in der Fremde zu viel Heimweh. " 627

Über hochgelegene Pässe wie die Ranzola gelangt man in das benachbarte Ayastal. Die Oberbauern, die Bewohner des obersten Abschnittes, schwingen noch den einteiligen " Dreschbüww'il ", den Dreschprügel auf ihrer Tenne. Der Säkorb ist aus Weidenruten geflochten. Die Ziegen tragen hölzerne Halsbogen, an denen die Glocken befestigt werden. Zum Zusammenschieben der Fäden auf dem häuslichen Webstuhl wird ein Holzmesser verwendet. Das Weihwasserkesselchen ist aus Stein gehauen. Licht spendet ein Öllämpchen, das an römische Vorbilder erinnert. Es wird gehalten von einer geschnitzten Hand. Die Kinder tragen Holzschuhe. In Heimarbeit werden Pfefferbehälter und Weinschalen gedrechselt. Auch hier fristet eine deutsche Sprachminderheit ihr karges Dasein als hinterwäldlerisches Reliktvolk. Die Bergbauern konnten im Hochmittelalter über den damals noch eisfreien, mehr als 3300 Meter hohen Paß, der nach dem Walserheiligen Theodul benannt ist, Verbindung mit dem Mutterland halten.628 Seit der Übergang vergletschert ist, sind die Beziehungen spärlicher geworden. Die " Waltschen " sind in eine Ghettosituation geraten. Sie sitzen in ihren Walserkolonien ähnlich einsam und arm, wie Juden in den Städteln des Ostens.

Aus Bionaz, dem letzten Dorf des Valpelline zwischen großem St. Bernhard und Matterhorn kommt eine Fülle von Figuren, die das Leben in diesem Tal erfahrbar werden lassen. Aus Alpenrosenholz sind in einfachster Weise zehn verschiedene Hirten dargestellt. Männer, die sonst allein in weiten Höhen wirtschaften, sind zu einer Versammlung einberufen. Sie bilden Gruppen, wenden sich einander zu, treten in Beziehungen. Besonders ausdrucksvoll ist die Gestalt eines gekrümmten Alten. Ihnen gegenüber steht der hölzerne Carabiniere mit seinem Schwert. Es gibt fünf Kühe, drei Ziegen, Hühner, zwei Hunde. Das Ackern muß ohne Zugpferde oder Ochsen erledigt werden. Also wird ein Esel vor den Pflug gespannt. Ein Maultier trägt eine für diese Gegend typische Vorrichtung zur Befestigung von Mehlsäcken. Es ist zudem mit Lebensmitteln, allerlei Geräten und obendrein einer Wiege samt Kind bepackt.

Vor zwei Jahren, also kurz nach dem Ende des Krieges, wurde der Forscherin die Einreise in das Aostatal verwehrt. 629 Ihre Abreise steht in zeitlichem Zusammenhang mit umwälzenden politischen Veränderungen in Italien. Bereits im Vorjahr drohte Mussolini, den benachbarten, " entarteten und verdeutschten " schweizerischen Kanton Tessin zu annektieren. 630 Die neue Macht plant, eine massive Einwanderung aus dem Veneto und Kalabrien in das Aostatal zu organisieren. 631 Dadurch soll nicht nur der Landflucht begegnet werden. Es sollen politisch und national zuverlässigere Parteigänger in der Nähe wichtiger Pässe und strategischer Engstellen angesiedelt werden. Tagtäglich werden aus allen Provinzen blutige Übergriffe der Faschisten gemeldet. Politische Gegner werden nachts überfallen, geprügelt, unter Androhung von Gewalt öffentlich gedemütigt. Die " Fasci " verhaften, verhören, verbannen oder morden nach eigenem Ermessen. Präfektur und Polizei sympathisieren mit der menschenverachtenden Ideologie. 632 Der Faschismus ist zur Massenbewegung geworden. Die ländlichen Gebiete spielen dabei eine Vorreiterrolle. 633 Eine französisch und deutsch sprechende Ausländerin macht sich wieder einmal verdächtig in einem

627Peter Zürrer, Wörterbuch der Mundart von Gressoney, Mit einer Einführung in die Sprachsituation und einem

grammatischen Abriß, Frauen feld 1982, S. 126

628Führer, Aostatal, a.a.O., S. 132

629Archiv des Alpinen Museums, Bern, Brief an Rudolf Zeller vom 26.10.1920

630Klusacek, Dokumentation 1918-1928, a.a.O., S. 176

631Encyclopedie Larousse, stw. Aoste

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wirtschaftlich rückständigen Grenzgebiet, das obendrein dem Adel und der bürgerlichen Oberschicht als Vergnügungsstätte dient. Als im Oktober Mussolini durch einen Putsch zum Staatschef wird, beendet sie ihre letzte große Forschungsreise.

Basel

Eugenie Goldstern besucht im Jahre 1921 zum dritten Mal das Wallis. Dort begannen in der Vorkriegszeit ihre schweizerischen Studien. Zu Beginn des Jahres hält sie sich in Basel auf. 634 Die Stadt hat trotz ihrer Grenzlage zwischen dem kämpfenden Deutschland und Frankreich den Weltkrieg gut überstanden. Seit den Tagen des ersten Zionistenkongresses, der vor der Jahrundertwende dort stattfand, gibt es besondere Beziehungen zwischen dem Wiener und dem Basler Judentum. Damals konnte die Tagung wegen des Widerstandes der Behörden nicht in Österreich stattfinden. 635 Während sich deutsche Juden gegenüber der neuen Bewegung ablehnend verhielten, zeigten sich die Schweizer wohlwollend. An der Universität von Basel studierte Jenjas Bruder Philipp im Fach der organischen Chemie. 636 Er promovierte hier im Jahre 1892 und verließ die Hochschule nach dem Examen umgehend. 637 Er berät holländische, französische und rumänische Ölfirmen beim Bau ihrer Raffinerien und hat es zu beachtlichem Wohlstand gebracht.638

Eugenie Goldstern wohnt in Basel in der Missionstraße 18. Hausherr ist der Chemiker Prof. Dr. Eduard Hagenbach. 639 Der Junggeselle gehört dem Verein Zofingia, " einem lebhaften Kreis von Freunden " und dem Schweizer Alpenclub genauso an, wie die Professoren Rütimeyer und Hoffmann - Krayer. 640 Im nahen Missionshaus gibt es eine völkerkundliche Sammlung, die von Eugenie Goldstern mit einem Knochenschlitten aus dem Münstertal bedacht wird. 641 In die Missionsstraße mündet die Sozinstraße, wo im Haus Nummer 25 der Museumsvorstand Professor Rütimeyer wohnt. Er stammt aus einer Familie, die dreihundert Jahre lang protestantische

632Engelmann, a.a.O., S. 25

633Roger Engelmann, Provinzfaschismus in Italien, München 1992, S. 15

634Schweizerisches Alpines Museum, Archiv, Brief an Rudolf Zeller vom 16.2.1921 aus Basel

635Nadia Guth, Synagoge und Juden in Basel, Basel 1988, S. 52

636Lippa Goldstern, Ueber einige rein aromatische Aether und substituirte Phenole, welche bei der Einwirkung von

Phenol auf die entsprechenden Diazoverbindungen erhalten wurden, Inaugural - Dissertation zur Erlangung der

Doktorwürde einer Hohen phil. Facultät der Universität Basel, Karlsruhe 1892

637Universitätsbibliothek, Matrikel Universität Basel, sog. " Akademikerkatalog "

638Walter Goldstern, a.a.O., S. 27

639Adressbuch der Stadt Basel, Basel 1899, S. 87

640Staatsarchiv Basel, Leichenreden, Zur Erinnerung an Eduard Hagenbach, Basel 1930, S. 3

641Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 114

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Geistliche hervorbrachte. 642 Seine Mutter war Pfarrerstochter. Seine Reise von Suez zum Sinai vergleicht er im " Kirchenblatt für die reformierte Schweiz " Schritt für Schritt mit den passenden Bibelstellen. 643 Die Basler Mission ist weltberühmt. Sie bildet Zöglinge für die Tätigkeit in der ganzen Welt aus.

Das Missionshaus ist ein riesiger Bau im neugotischen Stil. In ihm weht der patriarchalische Geist des Pietismus. Die Zeit scheint stillzustehen. Eleven der vor beinahe hundert Jahren gegründeten Mission hausen in klösterlichen Zellen. In den Kontoren der Missionsinspektoren stehen noch die altväterlichen hohen Stehpulte. An den Wänden hängen vergilbte Bilder von früheren Missionspionieren. Im Erdgeschoß ist ein ethnographisches Museum eingerichtet. Zurückkehrende Missionsbeamte, Lehrer, Ärzte, oder Bibelschwestern haben Merkwürdiges aus Ostindien, China oder Westafrika mitgebracht. Eugenie Goldsterns Knochenschlitten steht neben Speeren, Schrumpfköpfen, Trommeln und Masken Der Fund aus dem Engadin gesellt sich zu solchen aus Agogo, Gyamangland, Malabar oder der Parochie Hongkong. 644

Mitte Februar 1921 kehrt Eugenie Goldstern nach Wien zurück. Das Volkskundemuseum ist mittlerweile von der Börse in das Schönbornpalais übersiedelt. Das barocke Gartenschlößchen in der Josephstadt erscheint als idealer Ausstellungsort für die umfangreiche " Kollektion Goldstern ". 284 Schaustücke aus dem Wallis und Graubünden gehen als Geschenk in den Besitz des Museums über. 645 Das Haus kommt durch die zunehme Inflation in Geldnöte. Die staatliche Subvention von 87.000 Kronen deckt gerade die Kosten für Heizung, Beleuchtung, Post und Restaurierungsarbeiten. 646 Bibliothekarin, Kanzleigehilfin, Museumsdiener und Hauswart drohen leer auszugehen. Eugenie Goldstern springt also in die Bresche. Am 15.6.1921 kündigt sie in einem Brief an den Verein eine nicht rückzahlbare Subvention in Höhe von 50.000 Kronen an. Zudem will sie ein zinsenfreies Darlehen " zur vorläufigen Deckung der Herstellungskosten der Bessaner Arbeit von 90.000 Kronen " gewähren. Sie betätigt sich als Rechnungsprüferin des Vereines und Museums für Volkskunde. Im Jahresabschluß ist schließlich ein " Druckkostenbeitrag " von 200.000 Kronen vermerkt.

Als im Juli die Zahlung der ersten Teilsumme in der Vereinsbilanz vermerkt wird, kostet ein Laib Brot in Wien 15 Kronen. 647 Die Lebenshaltungskosten haben sich beinahe verdoppelt. Eisenbahnen, Straßenbahnen, Telegraphen und Telephone werden bestreikt. Man befürchtet sogar den Ausstand der Kaffeehausangestellten. Als im Dezember die letzte Rate des Goldstern'schen Darlehens eingeht, hat sich der Brotpreis fast verfünffacht. Im darauffolgenden Jahr wird er sich in diesem Monat verfünfhundertfacht haben. Eugenie Goldstern stiftet der Wiener Volkskunde in der

642Werner Stöcklin, Der Basler Arzt Leopold Rütimeyer ( 1856 - 1932 ) und sein Beitrag zur Ethnologie, Inaugural -

Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität Basel, Basel 1961, S. 11

643Stöcklin, Rütimeyer, a.a.O., S. 24

644Basler Staatsarchiv, Topographischer Katalog, Zeitungsartikel, Missionsstr. 21, Basel o.J.

645Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Faszikel Volkskundemuseum Wien, Nr. 15 3224 -

1926, Tätigkeitsbericht des Vereines und Museums für Volkskunde für das Jahr 1921

646Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Faszikel AVA 15 3224 - 1926, Wien

Volkskundemuseum, Bundesministerium für Inneres und Unterricht 4.6.1921

647Christine Klusacek, Kurt Stimmer, Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte 1918 - 1928, Wien 1984, S.

249

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schwierigsten Nachkriegszeit eine Viertelmillion. Das Bundesministerium für Inneres und Unterricht veranschlagt zur selben Zeit für sieben große Landesmuseen und mehrere kleine Einrichtungen insgesamt 400.000 Kronen, " um diese Institute, insbesondere die in den ärmeren Ländern, überhaupt über Wasser zu halten... ". 648

Der Wert der staatlichen Subvention und des Vereinsvermögens schwindet zusehends. Andererseits sind Privatleute sind gezwungen, wegen der gewaltig steigenden Lebenshaltungskosten, volkskünstlerische Prachtstücke zu veräußern. Das Volkskundemuseum kann sich dank der Spende, die etwa einem Personaljahresetat entspricht, zu günstigen Preisen auf dem Antiquitätenmarkt bedienen. Noch im Juni werden enorme Anschaffungen für die Bibliothek getätigt. 649 Auch die Ausgaben für den Erwerb von Sammlungsgegenständen schnellen in auffällige Höhe. Dreihundert hervorragende, volkskundlich bedeutsame Werke aus dem Nachlaß des Erzherzogs Franz Ferdinand werden angekauft.

Arthur Haberlandt, Sohn des Vereinsgründers, abgerüstet als Leutnant eines Gebirgsartillerieregimentes 650, ist mittlerweile als Kustosadjunkt in den Dienst am neuen demokratischen Staat übernommen. 651 Er ist Beamter auf Lebenszeit mit entsprechender Besoldung. Er beschäftigt sich mit Verbindungen " zwischen Rassenpsychologie und Völkerpsychologie " 652. Er bemüht sich, durch ethnologisches Beweismaterial, rassistische Wahnvorstellungen zu begründen. Er stellt fest, daß die " Rassenphysiologie der Juden " noch heute charakterisiert sei durch den " Stempel der leiblichen und psychischen Nachkommenschaft jener orientalischen Volksgruppen " , (... ) " die ausnehmend im Geschlechtlichen wurzelnde, orgastisch ausschweifende Kulturbräuche schon im Altertum " aufweisen. 653 Er stellt im Judentum eine " rassenphysiologische Entartung speziell des weiblichen Geschlechtes " fest, die durch " eine Richtung der ausschweifenden Überschwenglichkeit des Geschlechtslebens " verursacht wird. 654

Sein Kollege in der Anthropologischen Gesellschaft, der Universitätsprofessor und Physiologe Robert Stigler 655 demonstriert in einem Lichtbildervortrag seine Lehre von der " sexuellen Applanation " 656, die sich aus einer " Verwischung der sekundären Geschlechtsmerkmale als einem

648Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Faszikel AVA 15 3224 - 1926, Wien

Volkskundemuseum, Bundesministerium für Inneres und Unterricht 4.6.1921

649Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, handschriftliche Bilanz 1921

650Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, N.S.D.A.P., Gauleitung Wien, Personalamt, 4.3.1942

651Wolfgang Jacobeit, Hannjost Lixfeld, Olaf Bockhorn, (Hrsg. ), Völkische Wissenschaft, Gestalten und Tendenzen

der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994, S. 505

652Sitzungsberichte der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, Jahrgang 1918 - 19, Wien 1919, Protokoll der

Monatsversammlung am 14. Mai 1919, S. 37

653Sitzungsberichte der Anthropolgischen Gesellschaft in Wien, Jahrgang 1919 - 1920, Wien 1920, S. 9

654Sitzungsberichte der Anthropolgischen Gesellschaft in Wien, Jahrgang 1919 - 1920, Wien 1920, S. 9

655Wer ist wer in Österreich, Wien 1953, S. 217

656Sitzungsberichte der Anthropolgischen Gesellschaft in Wien, Jahrgang 1919 - 1920, Wien 1920, S. 7

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Rassenübel " ergebe. Bei Jüdinnen finde sich mit auffallender Häufigkeit " eine Verwischung der psychischen Weiblichkeit und Auftreten als unweiblich bezeichneter Seeleneigenschaften, vor allem ein Zurücktreten der spezifisch weiblichen Instinkte, der weiblichen Passivität, der für Frauen typischen Hemmungen psychomotorischer Impulse (z.B. der Scheu vor öffentlichem Auftreten ), wodurch sich das Überwiegen der Jüdinnen unter den politischen Anführerinnen erklärt. " Infolgedessen fänden feministische Bestrebungen besonders häufig " bei der jüdischen Intelligenz lauten Widerhall. " Er geißelt unwidersprochen das " hemmungslose Streben nach persönlicher Geltung im öffentlichen Leben bei Jüdinnen. "

Auch der Museumgründer Hofrat Michael Haberlandt beteiligt sich an der antisemitischen Hetze, wenn er über " den Juden " schreibt : " Um so unbekümmerter und rücksichtsloser bringt er überall, wo er sich mit seinem ganz andersartigen Wesen und seinen nicht geringen intellektuellen Willenskräften festzusetzen und Einfluß zu gewinnen vermocht hat, seine Art in den von Europäern geformten und geschaffenen Kultursphären zur Geltung und verändert damit das europäische Kulturleben in oft sehr bedenklicher und verhängnisvoller Art. " 657 Haberlandt sieht im " Judenproblem " eine ungleich größere Gefahr, als im " Chinesen- und Negerproblem ". Er befürchtet, daß die Europäer als die " höchsten Kulturträger der Menschheit " durch die " Sendlinge des Orients " aus der Bahn geworfen werden. 658

Am 30.7.1921 wendet sich Eugenie Goldstern in einem Brief an ihren akademischen Lehrer und väterlichen Mentor Michael Haberlandt. Sie entschuldigt sich für die verspätete Zusendung fehlender Abschnitte des Münstertaler Manuskriptes. Sie beklagt ihre " gegenwärtige psychische Verfassung ". Es sei ihr so elend gegangen, daß sie sich " zum Schreiben absolut nicht aufraffen konnte. " 659 Eugenie Goldstern beklagt nicht eine zunehmend antisemitische Stimmung, die vor ihrer nächsten wissenschaftlichen Umgebung nicht haltmacht. Sie beklagt nicht die Feigheit eines angesehenen Gelehrten, der wider besseres Wissen dem landläufigen Rassismus nachgibt. Sie beklagt nicht, daß sie entscheidende Jahre ihres Lebens und ein kleines Vermögen für ein wissenschaftliches Anliegen eingesetzt hat, das jetzt von ihm verraten wird. Sie beklagt nicht den Mißbrauch ihres Vertrauens und ihres Einsatzes für das Volkskundemuseum. Sie entschuldigt sich für ihre " unglückselige Eigenschaft, alles im letzten Moment zu erledigen " und bedauert die Störung der Ferienruhe des verehrten Herrn Hofrates.

Crarne

In Wien müssen letzte Vorbereitungen für eine wichtige Veröffentlichung getroffen werden. Eugenie Goldstern wendet sie sich mit einer Briefkarte an Hofrat Michael Haberlandt wegen der Übersendung von Unterlagen zur Korrektur der Bessaner und Münstertaler Arbeit. Er könne die Lichtdrucktafeln den Kindern der Hausbesorgerin des Museums mitgeben. Sie " kommen täglich ins Sanatorium ". Wahrscheinlich kommen sie zum Essen in der Not der Nachkriegszeit. Als Monatsgehalt des Hauswarts wurden von der Direktion im April 5000 Kronen beantragt. 660 Im September reicht diese Summe nicht einmal mehr für drei Straßenbahnfahrten. Die Nichte von Frau Goldstern erinnert sich : " Fleisch war schon ein bißchen knapp. Mein Vater hat irgendwo Schweine

657Haberlandt Michael, Die Völker Europas und des Orients, Leipzig 1920, S. 136

658Haberlandt Michael, Die Völker, a.a.O., S. 136

659Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, Brief an Michael Haberlandt vom 30.7.1921

660Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeine Verwaltungsakten, Faszikel Volkskundemuseum 15 AB 1, Schreiben von

Michael Haberlandt an das Bundesministerium für Inneres und Unterricht, Wien 20.4.1922

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bekommen. Die hat er heimlich im Hof gehalten. Die wurden ganz laut, wissen Sie ! " Das Quieken und Rumoren bleibt natürlich nicht unbemerkt, aber der Klinikleiter stellt strikt die aus Hygienegründen sicher verbotene Tierhaltung in Abrede. " Und die Leute haben alle sehr gern das Schweinerne gegessen. "

Familie Cimaz in Bessans bekommt noch einmal Post aus Wien. Die Doktorarbeit ist erschienen, der Titel errungen. Albert bedauert sicher sehr, daß kein Besuch aus Österreich zu erwarten ist. 661 Im Jahr 1923 reist Eugenie Goldstern auf das Herrengut Crarne im Kreis Lipno westlich von Warschau. Aus der Gegend, in der sich heute ein großer Landschaftspark erstreckt, bringt sie drei " Tesseln " in das Wiener Museum. Ein Gutsaufseher wird in Polen " Karbowy ", Kerbenmacher genannt. Er kontrolliert auf Kerbstöcken die Anzahl der Getreidefuhren, die in einen Schober gebracht werden. Auch in Polen ist die wirtschaftliche Lage sehr schlecht. Die Inflation hat einen Höchststand erreicht. Die Bevölkerung verarmt. Ländliche Gegenden sind übervölkert. Die Industriezentren können die arbeitslosen Taglöhner nicht mehr aufnehmen. Überall brechen Streiks aus. 662 Offensichtlich bestehen noch Verbindungen der mittlerweile nach Wien abgewanderten Goldsterns nach Polen. In Krakau gibt Henryk Goldstern im Jahr 1928 Texte zur Gerichtsgesetzgebung über die Lohnarbeit und Arbeitsgerichtsurteile 663 in Polen heraus.

Aus dem bukowinischen Czernowitz, kommen drei Artikel der rutenischen Hausindustrie. Die winzige Universitätsstadt, in der einer einzige Straßenbahn verkehrt, liegt jetzt in Rumänien und nennt sich Cernauti. Im Stadtgebiet, nicht einmal am Rand von Czernowitz liegt ein kleines russisches Landstädtchen. Dichtgedrängt stehen strohgedeckte Hütten. Die Arme der Schöpfbrunnen ragen in den Himmel. Ringsum stehen Kukuruzfelder, erstreckt sich braune Heide. 664 Eugenie Goldstern hat in ihrer Arbeit über Bessans erwähnt, daß die Handschuhe in den französischen Alpen mit einem ähnlichen Gerät wie in Galizien hergestellt werden. 665 Sie ist also schon länger mit der ruthenischen Hausweberei vertraut. Ein holzgeschnitztes, ornamentiertes Essbesteck aus Messer, Gabel und Löffel wird inventarisiert. Rutenen heißen die Angehörigen der russischstämmigen Minderheit an den mit roten Buchenwäldern bestandenen Ausläufern der Waldkarpaten. Diese Ukrainer betreiben Landwirtschaft und Viehzucht, Waldarbeit und Flößerei. Daneben stellen sie Schnitzereien, Keramik, handgewebte Leinenstoffe und Teppiche her.

Über die Unternehmungen des Vorjahres im Aostatal erscheint eine zweiseitige " Vorläufige Mitteilung " in der Zeitschrift für Volkskunde. 666 Angekündigt wird eine ausführliche Darstellung mit Grundrissen und Abbildungen. Anhand der 200 Stück zählenden Sammlung sollen die Formen der " materiellen Kultur " in den hochalpinen Gebieten des Piemont beschrieben und Beziehungen zu Savoyen und Graubünden untersucht werden. Als besonders interessant wird dabei das figurale Kinderspielzeug hervorgehoben.

661Personnaz, a.a.O.

662Schoenfeld, a.a.O., S. 225

663National Union Catalog, a.a.O., Vol. 205, S. 92, freundliche Übersetzung des polnischen Titels durch Herrn Gewolf,

Bayerische Staatsbibliothek, München

664Pollack, a.a.O., S. 133

665Goldstern, Bessans, a.a.O., S. 49

666Goldstern, Aostatal, a.a.O., S. 55

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Im Jahre 1924 erfolgt die letzte Veröffentlichung " Alpine Spielzeugtiere. Ein Beitrag zur Erforschung des primitiven Spielzeuges " 667. Eugenie Goldstern stellt fest, daß es zwischen Spielzeugtieren verschiedener Länder und Epochen verblüffende Ähnlichkeiten gibt. Die Kinder von Jakuten, Lappen und Samojeden spielen genauso mit Astgabeln, Zweigstücken und Knochen, wie die kleinen Schweizer. 668 Aber auch neusteinzeitliche Tonfiguren aus Persien erinnern an Walliser Spielzeugkühe. Eine gemeinsame menschliche Sprache der Bilder und Formen wird denkbar. In einer Kapitelüberschrift ihrer Veröffentlichung weist Eugenie Goldstern auf " ethnographische und prähistorische Parallelen " hin. 669 Sie vergleicht aber nicht die Tonfiguren, Pfeilspitzen oder Steinbeile der Indianer von Chile, Ecuador oder Peru mit Funden aus Troja oder der jüngeren Steinzeit. 670 Ihr geht es nicht darum, Ureinwohner als rückständige Übereste aus Urzeiten bloßzustellen. Sie weist nach, daß eine urtümliche Gestaltung mitten in Europa bei keineswegs " primitiven " Völkern gebräuchlich ist.

Rodelschlitten mit Kufen aus Pferde- oder Ochsenschienbeinen finden sich in der Schweiz genauso wie in Bosnien oder im salzburgischen Mattsee. 671 Die buntgefärbten Engadiner Spinnrocken ähneln denen aus Schweden und Rußland. 672 Die Patzenegge aus Tannenzweigen gibt es im an die Schweiz grenzenden Obervintschgau genauso, wie im salzburgischen Lammertal. 673 Talglampen aus Stein kommen in Graubünden und im Wallis, wie auch in Südtirol vor. 674 Die Bräuche des Milchaustausches im Münstertal und im Kaukasus stehen in engem Zusammenhang. 675 Offensichtlich halten sich solche volkskundlichen Erscheinungen an keine nationalen Grenzen. Bislang verborgene Gemeinsamkeiten zwischen weit verstreuten Völkern werden sichtbar. Sie können nicht mehr sauber nach Staaten und Reichen getrennt werden, wenn ihre vielfältigen Beziehungen deutlich werden. Kulturen, die man bisher für eigenständig und unabhängig hielt, lassen gemeinsame Wurzeln erkennen. Es wird verständlich, welche Sprünge und Risse die für einheitlich gehaltene westliche Zivilisation durchziehen. Fortschritte laufen auch in Europa nicht gleichzeitig und stetig ab. Sie können nur errungen werden, wenn eine Vielzahl regionaler Eigenheiten in lebendige Verbindungen zueinander treten kann.

Aus zwei Orten im Aostatal kommen noch einmal " fünf Objekte ", drei aus Holz geschnitzte Kopfbänke und zwei Rasierzeugbehälter nach Wien. Die Zeit der ausgedehnten Erkundungsfahrten

667Eugenie Goldstern, Alpine Spielzeugtiere, Ein Beitrag zur Erforschung des primitiven Spielzeuges, Wiener

Zeitschrift für Volkskunde, 29. Jahrgang 1924, Heft 3 - 4, S. 45 ff

668Goldstern, Spielzeug, a.a.O., S. 62

669Goldstern, Spielzeugtiere, a.a.O., S. 62

670Arthur Haberlandt, Prähistorisch Ethnographische Parallelen, Dissertation zur Erlangung des philosophischen

Doktorgrades der Hohen philosophischen Fakultät der k.k. Universität Wien, Braunschweig 1912

671Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 109

672Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 106

673Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 93

674Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 92

675Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S. 89

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und aufwendigen Sammeltouren ist vorüber. Das Museum kauft nichts mehr an. Trotzdem lässt Eugenie Goldstern in den kommenden fünf Jahren den Kontakt zum Volkskundemuseum nie ganz abreißen. Vermutlich nach dem Ende ihrer Ferien bringt sie sich durch entsprechende Geschenke in Erinnerung. Die Resonanz ist enttäuschend. Es kommt zu keiner Ausstellung. Eine ausführlichere Rezension oder Kritik ihrer Schriften ist nirgends nachweisbar. Einzig die Lammertaler Arbeit wurde kurz besprochen. 676 Michael Haberlandt verfaßt einen merkwürdigen Nachtrag zur Abhandlung über das alpine Spielzeug. 677 Nur Professor Rütimeyer in Basel beschäftigt sich in seinem Buch zur " Urethnographie der Schweiz " mit den Erkenntnissen seiner Wiener Kollegin eingehender. 678 Professor Hoffmann-Krayer, der sich stets ausführlich mit den Veröffentlichungen seiner " österreichischen Freunde " 679 auseinandersetzt, würdigt die Dissertation lediglich mit einer halben Zeile.680

Im Jahr 1928 setzt sich ein Neffe von Eugenie Goldstern in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung mit Irrtümern auseinander. Norbert studiert in langen Versuchsreihen die psychologischen und physiologischen Ursachen von Fehlleistungen beim Beobachten und Einschätzen. Der Sohn ihres Bruders Philipp sucht am Beispiel der Ungenauigkeiten beim Ablesen von Geräten nach Fehlern, " die außerhalb der Meßapparatur liegen ".681 Beim Umgang mit Theodoliten, Mikroskopen, astronomischen, oder meterologischen Instrumenten wird oft festgestellt, daß die Genauigkeit der Leistungen nicht allein von der Feinheit der Meßwerkzeuge abhängt. Sie wird von andauernden, durch die menschliche Arbeit hervorgerufenen Fehlern begrenzt. Das Unterscheidungsvermögen läßt nach. Die Empfindlichkeit für Unterschiede verringert sich. Solche Mängel entspringen aus der Individualität des Beobachters. Sie werden durch Streß und Monotonie gesteigert, durch Erholung verringert. Zuweilen ist bereits der subjektive Nullpunkt unzulänglich festgelegt. Es lassen sich Gruppen feststellen, die gleiche persönliche Fehlererscheinungen aufweisen.

Eugenie Goldstern zieht sich zurück. Das Leben in dem bekannten Sanatorium enthebt die Mitglieder der sich verzweigenden Familie materieller Sorgen. 682 Die " Fango " bietet komfortable Wohnungen 683 und Zusammenhalt. Einladungen zur nachmittäglichen Jause, zum großen Mittagessen am Samstag werden gepflegt. Solche Familientreffen haben bei weltlichen Juden oft

676Rütimeyer, a.a.O., S. 148

677Michael Haberlandt, Zu den " Alpinen Spielzeugtieren ",Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 29. Jahrgang 1924, Heft

3 - 4, S. 97

678Rütimeyer, a.a.O., S. XIX

679Eduard Hoffmann-Krayer, Bücheranzeige zu Arthur Haberlandt, Volkskunst der Balkanländer, Schweizerisches

Archiv für Volkskunde, Bd. 23, Basel 1919, S. 119

680Eduard Hoffmann-Krayer, Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1921 und 1922, Berlin 1927, S. 15

681Norbert Goldstern, Die Bestgestaltung der Arbeit am Halbschattenpolarimeter, Ein Beitrag zur Psychotechnik des

Messens, Sonderdruck aus " Industrielle Psychotechnik ", 5. Jahrgang, Heft 7/8 und 10, Berlin 1928, S. 1

682Ernst Papanek, Die Kinder von Montmorency, Wien 1980, S. 47

683Walter Goldstern, a.a.O., S. 38

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die Bedeutung der religiösen Feiertage verdrängt. 684 Bruder Samuel verkehrt mit zahllosen Ärzten und hilfesuchenden Kranken. Immer wieder wenden sich russische Emigranten an ihn. Die Patienten kommen aus aller Herren Länder : ein sechzigjähriger Gutsbesitzer aus Rußland 685, ein fünfundsiebzigjähriger Erzbischof aus dem Süden 686, eine junge Diabetikerin aus Neurumänien. 687 Vornehme Araber bringen ihre Leibwächter mit, die sich vor dem Krankenzimmer postieren. 688 In der Nachkriegszeit wird eine große Zahl von Kriegsbeschädigten eingewiesen, die Heilung und Linderung von den schmerzhaften Folgen der verschiedensten Verletzungen erlangen. 689

In der Klinik arbeiten 35 Angestellte. 690 Vier " Schlammköche " sind damit beschäftigt, den in großen Fässern angelieferten Schlamm in einem dampfbeheizten, doppelwandigen Kupferkessel unter ständigem Umrühren mit breiten Holzspateln gleichmäßig zu erwärmen. 691 Kranke werden nach genauer ärztlicher Verordnung auf heißen Schlamm gebettet, mit der grauen Heilerde bestrichen. Sie werden sorgsam mit gewärmten Laken umhüllt, beobachtet und umhegt. Ihre heißen Stirnen werden trockengerieben. Ihre ungelenken, sanft durchwärmten Leiber werden alsdann gebraust, gebadet, geschickt frottiert. Ein Lohndiener, Extramädchen, Küchenleiterin und Chefköchin sorgen für das weitere Wohl. Es gibt eine eigene Wäscherei. In einer Großküche werden die Speisen für die Patienten, das Personal und die Familie zubereitet. Neben verschiedenen Diäten werden auch köstliche " Mehlspeisen ", Vanillikipferl und Torten angeboten. 692 Neffe Alex leitet als promovierter Chemiker das Labor. Schwester Lucie betreut die Diätpläne. Nichte Seraphine dient als Röntgenassistentin. 693 Nichte Kläre studiert Psychologie.

Nichte Lene ist Oberärztin. 1925 heiratet sie den aktiven Sozialisten und Pazifisten Ernst Papanek. 694 Der promovierte junge Lehrer ist in der Kinder- und Jugend- und Studentenbewegung tätig, arbeitet für die " Kinderfreunde ", die " Roten Falken", die " Arbeiterjugend ". 695 Er fungiert als Lehrer und Mitdirektor an der Landschule Harthof, einem alten schloßähnlichen Haus in einem

684Herweg, a.a.O., S. 151

685Samuel Goldstern, Bericht über 254 im Sanatorium der Wiener Kursanstalt (Fangosanatorium ) in den Jahren von

1906 - 1912 behandelte Diabetiker, Wiener Medizinische Wochenschrift, Sonderdruck, Wien 1914, S. 7

686Samuel Goldstern, Diabetiker, a.a.O., S. 8

687Samuel Goldstern, Ein Fall von Spontanhypoglykämie mit eleptiformen Anfällen, Sonderduck der Wiener

klinischen Wochenschrift, Nr. 46, Wien 1936, S. 1

688Brief von Frau Claire Wernert vom 9.4.1995, S. 4

689Goldstern, Fango, a.a.O., S. 51

690Österrreichisches Staatsarchiv, Akten zur Statistik, Faszikel St 2268, Blatt Nr. 192, 193

691Samuel Goldstern, B. Katunsky, Fango di Battaglia, Leitfaden für Ärzte, Wien 1933, S. 19

692Brief von Frau Claire Wernert vom 9.4.1995, S. 1

693Österreichisches Staatsarchiv, Paßantrag Seraphine Goldstern, Paßbehörde PolKoat Wien 25.4.1932

694Walter Goldstern, a.a.O., S. 38

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kleinen Ort bei Gloggnitz am Fuße des Schneebergs. 696 Er hält sich an die Prinzipien der " Bodenständigkeit " und " Anschaulichkeit ". 697 Die Kinder genießen einen vielfach verzweigten Arbeitsunterricht. Sie lernen Gartenbau, Viehhaltung und Handwerk. Die " primitive Technik " gehört zu ihren Unterrichtsgegenständen.698 Freiwillige dürfen im Gemüsegarten und beim Geflügel helfen. Besonders Tüchtige ziehen mit Rechen und Sensen im Morgengrauen zur Heuernte. Man unternimmt abenteuerliche Touren auf die Raxalpe am Eingang zum Höllental. Man begeistert sich für Volkslieder und Volkstänze. 699

Arthur Haberlandt übernimmt zu Beginn des Jahres 1924 die Direktion über das Volkskundemuseum von seinem Vater. 700 Die reichen Bestände, die Eugenie Goldstern dem Hause widmete, werden in " kleinen dunklen Räumen mehr deponiert als untergebracht oder gar aufgestellt, " die der Öffentlichkeit im allgemeinen nicht zugänglich sind. 701 Ihre Erwerbungen , " die zu den kostbarsten Vergleichsbeständen des Museums gehören " 702 landen unausgestellt im Depot. Die Sammlung, die zu den wohl " umfangreichsten französischen Kollektionen außerhalb Frankreichs " 703 gehört, bleibt verschlossen. 1926 setzt sich Haberlandt wissenschaftlich mit der " Volkstümlichen Kultur Europas " auseinander 704, ohne des Englischen oder des Französischen mächtig zu sein. 705 Er nutzt die von seiner Kollegin eingebrachten Bestände der Vergleichssammlung, ohne die Spezialistin zur Mitarbeit heranzuziehen.

Das Internationale Institut für intellektuelle Zusammenarbeit in Paris erkundigt sich 1926 im Auftrag des Völkerbundes nach den Beständen des Museums. Ausdrücklich wird dabei nach Spezialsammlungen und ihrer Herkunft gefragt.706 Museumsleitung und Vereinspräsident gehen in ihrer Auskunft mit keinem Wort auf das wertvolle französische Vergleichsmaterial ein, das Frau Dr.

695Papanek, Montmorency, a.a.O., S. 8

696Papanek, School Reform, a.a.O., S. 125

697Ernst Papanek, The Austrian School Reform, Its Bases, Principles and Development - The Twenty Years between

the Two World Wars, New York 1962, S. 53

698Wiener Stadt- und Landesarchiv, Schwarzwald - Archiv, Neue Freie Presse vom 28.9.1918

699Wiener Stadt- und Landesarchiv, Schwarzwald - Archiv, Erinnerungen von Maria Stejskal vom 29.6.1984

700Jacobeit, Völkische, a.a.O., S. 505

701Schmidt, Museum, a.a.O., S. 88

702Schmidt, Vergleichssammlungen, a.a.O., S. 61

703Schmidt, Vergleichssammlungen, a.a.O., S. 61

704Schmidt, Vergleichssammlungen, a.a.O., S. 61

705Österreichisches Staatsarchiv, Kriegsarchiv, Unterabteilungsgrundbuchblatt Nr. 102, Arthur Haberlandt

706Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, Questionnaire, Institut International de Cooperation

Intellectuelle, Paris 1926

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Goldstern dem Museum anvertraute. Die Kollegen in Paris entwickeln in einer Broschüre, die ungeschickterweise an " Monsieur le Dr. Haberditzel " adressiert ist, ihre Grundvorstellungen für eine verstärkte Kooperation. Sie wollen, daß man sich gegenseitig besser kennenlernt. Ein friedvoller internationaler geistiger Austausch soll zu einem Frieden zwischen den Völkern führen.707 Die Museen, die schon bisher ein wichtiges Mittel der Erziehung waren, sollen nun auch eine Annäherung der Nationen anstreben. Der Volkskunst käme bei diesem Bemühen um Völkerverständigung eine besondere Bedeutung zu. 708 Eine große Ausstellung und ein Kongreß sollen geplant werden.

Es ergeht keine Einladung an die treue Mitarbeiterin mit den vorzüglichen Französischkenntnissen, Verbindungen von Wien nach Paris zu knüpfen. Eugenie Goldstern bringt 1926 eine barocke bäuerliche Schnitzarbeit, eine farbig gefasste Pieta aus Zell am See in die Sammlung. Im folgenden Jahr stiftet sie eine andere originelle Holzfigur. Aus Südtirol hat sie eine Frauenskulptur mitgebracht, deren Unterleib aufgeklappt werden kann. In der Höhlung sind ein Knabe und ein Mädchen eingeschlossen. Allein die Qualität der Geschenke zeigt das ungebrochene Interesse und die Sympathie von Frau Goldstern für die Wiener Volkskunde. Die Pläne der Völkerbundkommission decken sich genau mit ihrem Forschungsansatz. Sie hat jahrelang in den verschiedensten Gegenden Europas nach Exponaten gesucht, bei denen sich Zweckmäßigkeit, Schönheit und Ausdruckskraft in mustergültiger Weise verbinden. Sie hat entfernte, fremde Lebensverhältnisse kennengelernt, verglichen, Gemeinsamkeiten festgestellt, Verbindungen gefunden.

Im Jahr 1928 findet der " Erste Internationale Volkskunstkongreß " in Prag statt, bei dem Arnold van Gennep als wissenschaftlicher Generalsekretär fungiert. 709 Er bemerkt genau, wie manche Kollegen der Zeitströmung nachgeben, wie die deutsche Volkskunde mit nationalsozialistischem Geist durchdrungen wird. 710 Die österreichische Volkskunstforschung wird in Prag von Arthur Haberlandt und Karl von Spieß vertreten. 711 Letzterer setzt sich schon vier Jahre vor dem " Anschluß ", ein Jahr nach dem Machtantritt Hitlers in Deutschland in einem in Berlin erscheinenden Buch ein für " zielbewußte Rassenpflege ". Er verficht einen kämpferischen Judenhaß : " Die Einwanderung von minderwertigen, rassenfremden Elementen, besonders aus dem Osten, muß unbedingt verhindert werden. Der Schaden, den solche ' Einwanderer ' nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Staaten angerichtet haben, ist in aller Gedächtnis. " 712 Die ostische Rasse erinnert " stark an mongolische Typen. " 713 Ihre Seele " zeigt die geringste Spannweite " 714 Sie hat einen breiten, schwerfälligen Leib, sowie schwarze, straffe und harte Haare.

707Société des Nations, Institut International de Coopération Intellectuelle, Cahiers des Relations Artistiques, I., La

Coopération Intellectuelle et les Beaux - Arts, Paris 1927, S. 9

708Société des Nations, Cahiers, a.a.O., S. 41

709Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 101

710Lévy Zumwalt, Enigma, a.a.O., S. 68

711Jacobeit, Völkische, a.a.O., S. 509

712Karl von Spieß, Deutsche Volkskunde als Erschließerin Deutscher Kultur, Berlin 1934, S. 232

713Spieß, Deutsche Volkskunde, a.a.O., S. 36

714Spieß, Deutsche Volkskunde, a.a.O., S. 42

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Frau Dr. Goldstern hat nach Erinnerung ihrer Nichte Claire blonde Haare, ist schlank und " gerne im Wienerwald " 715. Sie hat in der Fango keine Wohnung, sondern nur ein Zimmer im dritten Stockwerk. Aus den Fenstern sieht sie auf die Brünndlbadgasse und hinter der Stadtbahn am Währinger Gürtel die bewaldeten Höhen des Kahlenberges, den östlichsten Ausläufer der Alpen. Von der gegenüberliegenden Hauswand starren sieben stuckierte, schlangenumgürtete, auf Laub gebettete Medusenhäupter mit gerunzelter Stirn. " Sie hatte einen Freund, Schimanski, den sie täglich im Kaffee in Wien traf. Und sie war deprimiert - besuchte meine Mutter zum Thee am Nachmittag. Und wie andere Verwandte aß sie manchmal am Sonntag mit uns. " 716 Claire ist manchmal ein wenig eifersüchtig auf diese Frau, die herumsitzt und der Mutter die Zeit stiehlt. Sie sieht in ihr ein " Armitschkerl, eine kleine Person, die arm ist. " In den biographischen Anmerkungen der Familiengeschichte 717 ist vermerkt : " Sie war eine ziemlich schwache Persönlichkeit, unentschlossen, abhängig von anderen, fand ihr Leben sehr schwierig. " Ihre Nichte Claire urteilt heute anders : " Ich muß gestehen, daß mein Eindruck der folgende ist : die Brüder schätzten Tante Jenja nicht genügend. Sie fanden sie deprimiert, da sie unverheiratet war und keinen bezahlten Beruf hatte. " Sie kann sich noch an den Namen von Professor Haberlandt erinnern : " That name rings a bell. "

1928 werden " geschenkweise Zuwendungen " durch " D.E.Goldstern " 718 im Jahresbericht notiert. Die Registerbände wurden bisher in der gestochen genauen, manchmal spielerisch geschwungenen Schreibweise des Vaters Haberlandt geführt. Darin fallen mitunter nachträglich mit Nachdruck vermerkte Korrekturen des Sohnes auf. Zum ersten Mal werden die Geschenke Eugenie Goldsterns von ihm eingetragen. Die Schrift ist steil auffahrend, unausgeglichen, schwer lesbar. Zu entziffern ist : " Drei Spielzeugkühe aus Holz, einfach geschnitzt aus Lanersbach, Vordertux. " Im österreichischen Zillertal spielen die Kinder also mit den gleichen urtümlichen Figuren, wie im schweizerischen Wallis, oder im italienischen Aostatal. Auch die Tuxer Alpen erheben sich in Gletscherhöhen. Ein Lehrer im Hauptort des Tuxer Tales widmet dem Museum " durch Vermittlung von Dr. E. Goldstern " die Sammlungsstücke.

Im folgenden Jahr wird sie in der Mitgliederliste des Vereines für Volkskunde nicht mehr aufgeführt. Im Jahr 1930 lautet der knappe Eintrag im Inventar : " Drei Spielzeugtiere, Tannenästchen mit gekappten Ansatzsprossen als Füßen und Hörnern, Veldes in Krain. " Er ist die letzte Kunde über das wissenschaftliche Wirken der früher so eifrigen Sammlerin und Forscherin. Sie hat sogar in den Julischen Alpen Beispiele für die internationale Verbreitung dieser rührend einfachen Kinderfreuden finden können. Die Belegstücke kommen unter Verschluß. Im Museumsführer wird vermerkt, die Sammlung Goldstern sei " in teilweiser Neuaufstellung begriffen. "719 Die Räume sind nur gegen vorherige Anmeldung bei der Direktion zu besichtigen. Die Erwerbstätigkeit der Vergleichssammlung wird " so gut wie eingestellt ". 720

Im Herkunftsort der Spielzeugtiere, dem vielbesuchten Badeparadies, der herrlich gelegenen

715Wernert, a.a.O.

716Brief von Frau Claire Wernert an Frau Christl Goldstern

717Walter Goldstern, Die Familie, a.a.O., S. 35

718Jahresbericht

719Arthur Haberlandt, Führer durch das Museum für Volkskunde, Wien 1930, S. 54

720Schmidt, Vergleichssammlungen, a.a.O., S. 61

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Sommerfrische Veldes richtete der aus dem schweizer Kanton Bern stammende Heilkünstler und Naturarzt Arnold Rikli ein Sanatorium ein.721 Er hat durch seine " atmosphärischen " Kuren internationalen Ruf erreicht. Er wandte die von ihm eingeführte Licht - Lufttherapie an und " ersann das Bettdampfbad ". 722 Auf einer Insel im Veldeser See liegt nahe einem malerisch auf steilem Felsen gelegenen Schloß eine Marienwallfahrtskirche. Möglicherweise hat sich die Naturheilanstalt samt Kurpark, Kurhaus und Café über den Tod ihres Begründers im Jahre 1906 hinaus erhalten, sodaß Eugenie Goldstern wie schon im schwäbischen Binswangen die Segnungen der Alternativmedizin nutzen konnte.

" Zur Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichtes in der Nerventhätigkeit " 723 wird Hitze und Kälte angewandt. Der Körper wird gesonnt, abgewaschen, gebadet, in Umschläge gewickelt, abgeklatscht und mit dem " Trieftuch " abgerieben. Zur täglichen Bewegung in freier Luft bieten die vielen Hügel, Vorberge und Flußbetten der krainerischen Schweiz reiche Gelegenheit. Der fast dreitausend Meter hohe Triglav bildet die Wasserscheide zwischen Adria und Schwarzem Meer. Er ist ein Grenzstein zwischen deutscher, italienischer und slawischer Sprache. 724 Nach einem Aufstieg über die Baumgrenze überblickt man die reiche Vegetation der venezianischen Ebene bis zu den Bergen des Etschtales zwischen Vicenza und Verona. In der blauen Ferne des Südens über der unendlichen Wasserfläche der Adria sind die Apenninen zu erahnen. Aus der Zentralkette der Alpen ragen die Gletscher des Ankogel, des Sonnblick, des Glockner und des Venediger. Am entferntesten Ende blinken die Eisspitzen der Ötztaler Alpen, die schon an die Schweiz grenzen. Der gegenüberliegende Frammerkogel heißt jetzt Monte Pramaggiore. Udine, Piran, Pola und Fiume sind nicht mehr österreichisch. Der Tagliamento war hart umkämpft. Seleniza - Alpe Laibach und Agram gehören zu einem Königreich, das seit letztem Jahr " Jugoslawien " genannt wird.

Dollfuß

Anfang März 1933 führt der Staatsstreich des Bundeskanzlers Dollfuß zu einer austrofaschistischen Diktatur. Das Parlament wird aufgelöst. Österreich wird zum " Christlichen Ständestaat " mit unverkennbar antisemitischen Tendenzen. Eugenie Goldstern lebt bisher unbehelligt als polnische Staatsbürgerin mit ihrem in Bern ausgestellten Pass Nr. 3018.725 Wohl auf Anraten eines Verwandten, des Gemeinderates Ernst Papanek, bemüht sie sich rechtzeitig um die Einbürgerung in Österreich. Sie muß sich entscheiden zwischen dem polnischen Staat, in dem der Kriegsminister Pilsudski dikatorisch herrscht und dem autoritären Alpenstaat. Angesichts neuerlich um sich greifender judenfeindlicher Unruhen in Warschau, Wilno und Tschenstochau fällt ihr die Wahl nicht schwer. 726 Im Oktober 1933 verleiht ihr die Wiener Landesregierung das Heimatrecht und die

721Isidor Fischer, Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten fünfzig Jahre, Bd. II, München 1962,

S. 1301

722Der große Brockhaus, Bd. 15, Leipzig 1933, S. 744

723Arnold Rikli, Allgemeine Curregeln speziell angepasst den Koordinationsbücheln der Wasserheilanstalten

Mallnerbrunn am Veldeser See in Oberkrain und in Guardiella in Triest, Triest 1871, S. 43

724Arnold Rikli, Wegweiser zu den Umgebungen des Kurortes Veldes in Oberkrain, Triest 1862, S. 27

725Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldearchiv, Meldezettel Eugenie Goldstern, Wien 10.10.1921

726Schoenfeld, a.a.O., S. 237

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österreichische Bundesbürgerschaft. Ihr wird ein " Heimatschein " ausgestellt. 727

Die Zustellung der Reinschrift dieses Dokumentes erfolgt am 9.12.1933. Seit 24. November ist durch eine Verordnung der nunmehr durch keine Wahl gerechtfertigten Bundesregierung untersagt, Ausländern die Landesbürgerschaft zu verleihen. Frau Goldstern hat den Bescheid bereits vor, die Urkunde erst nach diesem Datum erhalten. Am 15.9.1934 legt das Bundeskanzleramt beim Bundesgerichtshof Beschwerde ein. Sie versucht die Zustellung der offiziellen Beglaubigung eines von ihr nicht bestrittenen Rechtsaktes zu verhindern, um mit dieser Spitzfindigkeit die Einbürgerung rückgängig machen zu können. 728 Der Wiener Magistrat soll " Erhebungen über das Verhältnis der Partei ", also Frau Goldsterns, zu Polen betreiben, um nachzuweisen, daß sie im entscheidenden Augenblick noch nicht aus dem " polnischen Staatsverbande entlassen war " und deshalb eine verbotene doppelte Staatsbürgerschaft erhalten hätte. 729 Der Bundesgerichtshof stellt schließlich das Verfahren ein, das Bundekanzleramt muß seine Beschwerde zurückziehen. 730

In der wissenschaftlichen Diskussion werden rassistische Anschauungen zum bevorzugten Thema. Arthur Haberlandt bespricht in der Volkskundezeitschrift Bücher zu " Volkscharakter und Rassenpsychologie " 731, zur "Rassenseele ",732 oder zur " Rasse in den Geisteswissenschaften. " 733 Er begrüßt dabei " den Gedanken, den rassischen Einschlag im Geschichtsleben der Völker " aufzuhellen. Der Nachfolger seines Doktorvaters auf der Lehrkanzel für Urgeschichte nimmt für ihn überzeugend Stellung " zu den Volksfragen und zwischenvölkischen Fragen des Judentums ". 734 Oswald Menghin ist langjähriges Mitglied in der Anthropologischen Gesellschaft und im Volkskundeverein. Früher beschäftigte er sich in der Volkskundezeitschrift mit Gründungsbildern von Wallfahrtsorten, mit Kreuzen und Bildstöcken in Südtirol. In seinem neuen Buch mit dem ebenso tragikomischen wie fürchterlichen Titel " Geist und Blut " legt er im Schlußkapitel " Die wissenschaftlichen Grundlagen der Judenfrage " dar. Er stellt den Holocaust zur Debatte, wenn er das Recht bejaht, " dem Judentume als Gesamtheit den Eintritt in die deutsche Volksgemeinschaft zu verwehren. " 735 Er ist Mitglied im rassenantisemitischen Bund " Deutsche Gemeinschaft "736 ,

727Eintrag in der Heimatrolle, Aktenzeichen L8/BA IX 9 190/33, Auskunft von Herrn Oberamtsrat Huemer, Referat 7,

Magistratsabteilung 61, Heimatscheine, Staatsbürgerschaftsevidenzen, Rathaus Wien

728Österreichisches Staatsarchiv, Bundeskanzleramt, Geschäftszahl 176.181 - 6/34, Goldstern Jenny, Einbürgerung,

Beschwerde an den Bundesgerichtshof, 17.9.1934

729Österreichisches Staatsarchiv, Bundeskanzleramt, Geschäftszahl 165,036 - 6/35, Goldstern Jenny, Einbürgerung,

1.2.1936,

730Österreichisches Staatsarchiv, Bundesgerichtshof, Aktenzeichen A 603/3/34, Wien 8.7.1935

7314 Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 36. Jahrgang, Wien 1931, S. 57 - 65

732Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 41. Jahrgang, Wien 1936, S. 107

733Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 38. Jahrgang, Wien 1933, S. 83

734Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 39. Jahrgang, Wien 1934, S. 74

735Oswald Menghin, Geist und Blut, Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, Wien 1934, S. 171

736Fragebogen vom 21.9.1938, Personalakt Otto Menghin, Universitätsarchiv Wien, Institut für Zeitgeschichte,

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der " Menschen besserer Blutmischung und höheren Geistes " fördert und Juden bekämpft. 737 Er wird 1935 Rektor der Wiener Universität. 738 Unter seiner Leitung wird die Hochschule ein freies Feld für antisemitisches Ausschreitungen. 739 Er vertritt in Kundgebungen und Ansprachen vor der Wiener Studentenschaft offen eine " völkische " 740 Einstellung. Er zählt zu den Wegbereitern des Gedankengutes der illegalen NSDAP in Österreich.741

Der Wiener Oberrabbiner Dr. David Feuchtwang tritt Menghins Anschauungen öffentlich entgegen und warnt : " Ein wahrer Taumel und Irrsin ergreift Männer und Völker; aber der Wahnsinn wird allgemach zu ruhiger Methode und kaltem System. Die Wissenschaft stellt sich in den Dienst dieses Vernichtungsfeldzuges und bedient sich unsauberer Mittel und vergifteter Waffen. Hier soll der Zweck die Mittel heiligen. Wir Juden Oesterreichs werden und wollen in tiefster Glaubenstreue und in Treue gegenüber unserer großen Geschichte allertreueste Osterreicher sein und bleiben. Ein Mann wie Menghin sollte aber wissen, daß so glänzend geschriebene Schriften, wie die seine, die so gefährliche wisenschaftlich unbeweisbare Thesen enthalten, vergiftend wirken können. Sie finden in den Massen vorbereiteten Boden. " 742

Es herrscht eine furchtbare Wirtschaftskrise. Die Jugend ist arbeitslos, unterernährt und ausgemergelt.743 Zehntausende verlieren auch noch die staatliche Notstandsunterstützung. Man sieht auf den Straßen Burschen und Mädchen auf dem kalten Pflastern knien, die mit erhobenen Händen betteln. Frau Goldsterns Schwager Ernst Papanek organisiert als Verbandsobmann der sozialistischen Arbeiterjugend nicht nur Obdach und warme Mahlzeiten für Notleidende. Er veranstaltet ein Sommerlager in Breitenstein am Semmering. Er richtet ein Schulungslager für junge Arbeitslose am Sonnblick in den Hohen Tauern ein. Im herrlichen Hochgebirge werden Gletschertouren, Kletterpartien und Firnwanderungen unternommen. Die Gegend liegt nahe beim Tennengau, der Eugenie Goldstern von ihren volkskundlichen Reisen bekannt ist. 744

Am kalten, dunklen Wintermorgen des 12.2.1934 erlischt in der Fangoklinik das Licht. Wegen des

München, Akt Fa 737/53

737Wolfgang Kosar, Deutsche Gemeinschaft, Seyss - Inquart und der Anschluß, Wien 1971, S. 30

738Die Zeit, Sudetendeutsches Tagblatt, Nr. 62 vom 15.3.1938, Institut für Zeitgeschichte, München,

Zeitungsausschnittarchiv

739Gerhard Botz u.a., Eine zerstörte Kultur, Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert,

Buchloe 1990, S. 281

740Hilde Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten, Reinbek 1989, S. 135

741Isabella Ackerl, Friedrich Weissensteiner, Österreichisches Personenlexikon, Wien 1992, S. 308

742Jüdische Wochenschrift, Die Wahrheit, 50. Jhg., Nr. 22, Wien 25.5.1934, S. 3

743Wiener Stadt- und Landesarchiv, Stenographenbureau des Wiener Gemeinderates, Stenographischer Bericht über die

öffentliche Sitzung des Gemeinderates der Bundeshauptstadt Wien vom 20.12.1933, Antrag des Gemeinderates

Papanek, S. 1194

744Ernst Papanek, Die Idee steht mir höher als das Leben, Ein Buch über Josef Gerl und seine Freunde, Sozialistischer

Jugendverband für die deutschen Gebiete der Tschechoslowakischen Republik, Karlsbad 1935, S. 22

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Generalstreiks gibt es keine Elektrizität. An diesem Montag tobt in Wien der " Februaraufstand ". Die nahe Nußdorfer Straße bietet einen beängstigenden Anblick. Die Stahlgitter der Läden sind versperrt. Die Straßenbahnzüge stehen still. Es herrscht fast kein Verkehr. Man sieht nur wenige, eilige Fußgänger. Alarmkommandowagen mit stahlhelmtragenden Polizisten rasen vorüber. An der Straßenkreuzung versperrt ein Stacheldrahtverhau die statdteinwärts führende Währinger Straße. Dahinter sind Mannschaften in voller Kampfausrüstung mit drei Maschinengewehren in Stellung gegangen.745 In der Ferne hört man Schüsse und die Explosionen von Handgranaten. Es wüten blutige Straßenkämpfe zwischen den klerikalfaschistischen Heimwehren und dem Republikanischem Schutzbund. 746 In der hereinbrechenden Abenddämmerung steigen Leuchtraketen über dem Kahlenberg in den Himmel. Ein dumpfes Dröhnen und Donnern erfüllt die Luft. Die Fensterscheiben klirren und zittern. In den Vororten wird Artillerie gegen die Wohnblöcke der Arbeiter eingesetzt. In der Nacht hört man man Schüsse und schrille Sirenentöne. Man sieht von weitem Scheinwerferlicht. Panzerautos fahren durch die Straßen und leuchten die Häuserfronten ab. Wo ein Fenster offen steht, wird hinaufgeschossen. 747

Der Bürgermeister von Wien wird arrestiert. Der Stadtschulrat Gloeckel wird in das Konzentrationslager in den Wöllersdorfer Steinbrüchen eingeliefert. 748 In den Straßen, bei den öffentlichen Gebäuden und Kirchen patroullieren Schutzkorpsleute. Vor dem Rathaus stehen Heimwehrposten. 749 Frau Dr. Goldsterns Nichte Helene ist verheiratet mit dem Sozialisten Ernst Papanek. Er war seit zwei Jahren Landtagsabgeordneter und Mitglied des Gemeinderates im " Roten Wien ".750 Er spielte in diesem Bürgerkrieg eine führende Rolle. Er wird zum Tode verurteilt, hält sich verborgen, flieht überstürzt in die Tschechoslowakei. Die Polizei setzt die Familie unter Druck. In der Fangoklinik finden Hausdurchsuchungen und Verhöre statt. 751 Auch in der folgenden Zeit finden die Nachstellungen kein Ende. Die beiden kleinen Söhne der Papaneks, Gustl und Georg, werden von " Polizei - Spionen " nach dem Verbleib ihres Vaters ausgehorcht. 752

Dr. Samuel Goldstern nimmt im Mai 1934 an einem Ärztekongress in Moskau teil. 753 Noch nach Jahrzehnten denkt er wehmütig an die " ursprüngliche Heimat. " Sicher unterhält er Beziehungen zu den früheren Landsleuten. Seine Tochter erinnert sich, daß die Eltern russisch sprechen, " wenn sie Geheimnisse miteinander haben. Die Mutter kommt aus dem ukrainischen Winniza. " Der Vater

745George Clare, Letzter Walzer, Frankfurt a.M 1984, S. 164

746Manés Sperber, Bis man mir Scherben auf die Augen legt, All das Vergangene, Wien 1977, S. 51

747Papanek, Die Idee, a.a.O., S. 64

748Ernst Papanek, School Reform, a.a.O., S. 85

749Papanek, Die Idee, a.a.O., S. 64

750Gedenktagekataster der Magistratsabteilung 9, Wien Wien 1990

751Walter Goldstern, a.a.O., S. 38

752Brief Hanna Papanek, 27.101996

753Samuel Goldstern, Behandlung des Rheumatismus mittels Transkutanbädern und Fieberprovokation, Vortrag,

gehalten am IV. Internationalen Kongreß der Liga zur Bekämpfung des Rheumatismus in Moskau, am 6.5.1934,

Sonderdruck aus der Wiener Medizinischen Wochenschrift, Nr. 15, Wien 1935

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trinkt den Tee auf russische Weise " aus dem Teller ". Am 31. Dezember hat er Geburtstag. Der ganze große Familienkreis wird eingeladen. " Es waren doch ziemlich viele in Wien. " Onkel Salomon,754 David und Sima sowie seine Frau Mascha stammen aus Odessa. 755 Onkel Naftali hat seine aus Samara an der Wolga stammende Gattin Josefine im englischen Whitechapel geheiratet. 756 Es gibt Punsch und Mehlspeisen. Man erzählt ausführlich " die Familiengeschichten ", denkt an frühere Zeiten, erinnert sich der in Rußland, in Rumänien und Polen zurückgebliebenen Familienmitglieder. Samuel plant für das nächste Jahr mit seiner Gattin und den Kindern eine Urlaubsfahrt in das schottische Aberdeen.757 Weit nach Mitternacht machen sich die Verwandten auf den Heimweg. David will nach Pötzleinsdorf, Naftali in die Heinzelmanngasse jenseits des Donaukanals, Salomon in die Wipplingerstraße im Ersten Bezirk. Spätabends fährt keine Straßenbahn mehr. Es werden Taxis gerufen. Die Verwandten umarmen und küssen sich zum Abschied. Claire schnappt eine kleine Randbemerkung auf, die ihr im Gedächtnis bleibt. " Der Chauffeur hat g'sagt : ' Müssen Russen sein, die sich soviel küssen ' und er hat natürlich Recht gehabt. "

Arthur Haberlandt stellt fest, daß die Volkskunde seiner Zeit " zum Bekenntnis der deutschen Volksgemeinschaft wird. " 758 Diese Art von Volkskunde könne die Rassenkunde " vor allem zur Feststellung der ' inneren Mitgift ', die dem Volksverband eigen ist " 759 nicht missen. Um den Wert nationalistischer Vorstellungen zu unterstreichen, zitiert er Friedrich Ludwig Jahn : "... nichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser luftiger Schemen wie weltflüchtige Zigeuner und Juden. " 760 Bereits ein Jahr vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich nimmt er an einem " Nordischen Wissenschaftlichen Kongreß " in Lübeck teil. 761 Die Veranstaltung steht unter dem Einfluß von Alfred Rosenberg, dem mystischen Künder germanisch rassischer Phrasen und Verfechter brauner Wahnideen. Haberlandt referiert über " Textilkunst bei Germanen und Indogermanen. " Er hält seinen Vortrag vor Vertretern des " SS - Ahnenerbes ", deren Chef Heinrich Himmler als " Reichskommissar zur Festigung des deutschen Volkstums " 762 Freimaurer, Zigeuner oder Juden zur Vorbereitung ihrer Vernichtung einer " volkskundlichen Bearbeitung " unterziehen läßt. 763 Bald

754Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeine Verwaltungsakten, Bundesministerium für Inners und Unterricht,

Optionsakt Salomon Goldstern, Wien 11.12.1920

755Walter Goldstern, a.a.O.

756Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeine Verwaltungsakten, Bundesministerium für Inners und Unterricht,

Optionsakt Naftali Hirz Goldstern, Wien 29.12.1920

757Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeine Verwaltungsakten, Paßantrag Nr. 633.832, Dr. Samuel Goldstern, Wien

22.3.1935

758Arthur Haberlandt, Die Idee der Nation in der Volkskunde, in : Nation und Staat, Deutsche Zeitschrift für das

europäische Minoritätenproblem, VII. Jahrgang, Wien Februar 1934, Heft 5, S. 302

759Jacobeit, Völkische, a.a.O., S. 510

760Arthur Haberlandt, Idee, a.a.O., S. 297

761Wolfgang Jacobeit, a.a.O., S. 211

762Hanna Arendt, Eichmann in Jerusalem, a.a.O., S. 261

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kann Haberlandt die Okkupation Österreichs " stürmisch " 764 begrüßen. Er wird mit Aufgaben im " Sonderstab Volkskunde " des " Reichsleiters Rosenberg " 765 betraut. Zweck dieser Organisation ist " die kulturpolitische Lenkung und Beherrschung der Völker Osteuropas. " Die " ursprünglich arische Volksüberlieferung " soll herausgearbeitet und der " germanische Kultureinfluß auf Rußland " belegt werden. 766

Im Volkskundemuseum sind vier von fünf Angestellten illegale Nationalsozialisten. 767 Sie gehören bereits seit dem Jahr 1933 der verbotenen NSDAP an. Das Haus gilt als " wahrhaftige Freistatt der volksdeutschen Jugendbewegung in Wien " 768 Die Nazis veranstalten hier ihre getarnten Liederabende und Schulungsvorträge. 769 Karl Spieß ist ein " alter völkischer Kämpfer ", der glaubt, im Besitze von Fähigkeiten zu sein, die es ihm erlauben, unfehlbar " das Arische " in der " blutgebundenen " Überlieferung der europäischen Kulturen zu erkennen. Seine " Marksteine der Volkskunst " werden in der nationalsozialistischen Bibliographie aufgeführt und vom " Beauftragten des Führers " für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP empfohlen. 770 Spieß erkennt sogar in den Weihnachtsplätzchen Spuren uralten germanischen Brauchtums. 771 Er kann im " Kampfbund für deutsche Kultur in Österreich " seine Lehren " einer nationalsozialistisch gesehenen Volkskunde " verbreiten.772 Diese völkische Dachorganisation wurde von Alfred Rosenberg gegründet. 773 Sie vereinigt Zeitgenossen, die besorgt sind, daß " die inneren Feindmächte " die Stammeswurzeln zerfressen, das Mark vergiften, die Wipfel überwuchern könnten. 774

763Heinar Kipphardt, Bruder Eichmann, a.a.O., S. 107

764Wolfgang Jacobeit, a.a.O., S. 510

765Wolfgang Jacobeit, a.a.O., S. 271

766Wolfgang Jacobeit, a.a.O., S. 270

767Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeine Verwaltungsakten, Faszikel Volkskundemuseum 15 AB 1, Ministerium

für innere und kulturelle Angelegenheiten, Wien 1.10.1938

768Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeine Verwaltungsakten, Faszikel Volkskundemuseum 15 AB 1, Schreiben von

Arthur Haberlandt an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, Wien 19.7.1938

769NSDAP, Gauleitung Wien, Hermann Luzny, Bestätigung vom 15.3.1939, Österreichisches Staatsarchiv, Gauakten

770Nationalsozialistische Bibliographie, 7. Heft, Nr. 39Juli 1937 München

771Völkischer Beobachter, 20.11.1938, Personalakt Karl Spieß, Universitätsarchiv Wien, Institut für Zeitgeschichte,

München, Akt Fa 737/55

772Gutachten vom 20.7.1938 der Philosophischen Fakultät der Friedrich - Wilhelms - Universität, Personalakt Karl

Spieß, Universitätsarchiv Wien, Institut für Zeitgeschichte, München, Akt Fa 737/55

773Lynn H. Nicholas, Der Raub der Europa, das Schicksal europäischer Kunstwerke im Dritten Reich, München 1995,

S. 16

774Francis L. Carsten, Faschismus in Österreich, Von Schönerer zu Hitler, München 1978, S. 209

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Im Volkskundemuseum werden jedes Jahr rund 200 Veranstaltungen jener " deutschvölkischen " Kreise abgehalten, die immer wieder durch Kundgebungen und Gewaltakte den österreichischen Staat erschüttern. Arier- und Frontkämpferbund, Turn-, Gesangs- und Trachtenvereine, chargierte " Deutsche Studentenschaft " und " Deutscher Klub " zählen zu diesem Umfeld genauso, wie die " Sturmtruppen der Nationalsozialisten ". 775 Sie bekämpfen das " System " durch Brückensprengungen, Bombenattentate, Brandstiftungen, Überfälle und Morde. 776 Der Deutsche Turnerbund arbeitet eng mit der SA zusammen. Seine " Wehrzüge " sind kaum von SA - Einheiten zu unterscheiden. 777 Die Mitgliederkartei der nationalsozialistischen Partei mit Namen und Anschriften der " Gruppe I " sowie schwarze Listen, auf denen ihre politischen Gegner verzeichnet sind, werden in den Räumen des Museums versteckt und bei polizeilichen Haussuchungen nicht entdeckt. 778

Am Wohnhaus von Eugenie Goldsterns Bruder Sima in der Nußdorfer Straße taucht die riesige Pappfigur eines deutschen Soldaten mit Stahlhelm auf. Der Mund des Kriegers ist weit geöffnet, als würde er Wutschreie gegen den Feind ausstoßen. Mit der erhobenen Rechten scheint er gerade eine Granate zu schleudern. Er wirbt für einen Film im Kolosseum - Kino, der an die tapfere deutschösterreichische Waffenbrüderschaft im letzten Weltkrieg erinnert. 779 Komödien und Musikfilme aus der Produktion des Propagandaministers Goebbels zeigen, wie angenehm, elegant und gut man im Reich des Führers lebt. Eugenie Goldstern wird durch Erzählungen ihres Neffen Walter eines Besseren belehrt. Der Diplomingenieur veröffentlicht im Jahr 1936 " Rechentafeln für Wärmetechniker " in einem Münchner Verlag.780 Jetzt flieht er vor der Nazityrannei nach Wien. 781

Österreich wird durch das Deutsche Reich wirtschaftlich isoliert und unter Druck gesetzt. Wegen der Devisenschwierigkeiten finden sich immer weniger ausländische Patienten für die Fangoklinik. Das zweite Stockwerk muß auf Dauer gesperrt bleiben. Die Bilanz schließt Jahr für Jahr negativ. Eugenie Goldsterns Bruder Samuel muß, um seinen Betrieb zu entschulden, und dringende Erneuerungen vornehmen zu können, zwei Häuser verkaufen. Seine Arbeit als Direktor leistet er unentgeltlich. Er klagt : " Es ist nicht möglich, daß ich mit meinen 72 Jahren, in welchem Alter viele ihr ruhiges Pensionistendasein genießen, von den Erträgnissen des Betriebes als Rente leben kann. Ich muß vielmehr darauf bedacht sein, durch neue Ideen und neue Wege der Reklame und Geschäftsführung den Stock an Patienten zu erhalten, welcher für den Fortbestand des Betriebes notwendig ist. Der so hart erungene Erfolg ist leider nicht groß und muß sich nur auf Erhaltung des Bestehenden beschränken. " 782

775Klusacek, Dokumentation 1918-1928, a.a.O., S. 229

776Bundeskanzleramt, Büro des Bundesministers für Sicherheitswesen, ( Hrsg. ), Das Braunbuch, Hakenkreuz gegen

Österreich, Wien 1933

777Carsten, Faschismus, a.a.O., S. 208

778NSDAP, Personal=Fragebogen Nr. 6260408, Ludwig Nepras, Bestätigung vom 22.7.1939 durch Direktor Reiter,

Österreichisches Staatsarchiv, Gauakten

779Clare, Letzter, a.a.O., S. 184

780National Union Catalog, a.a.O., Vol. 205, S. 92,

781Walter Goldstern, a.a.O., S. 24

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Ende des Jahres 1937 kursieren Gerüchte über einen bevorstehenden deutschen Einmarsch in Österreich. 783 " Im Herbst 1937 gab es in Wien kaum einen informierten Menschen, der an dem Sieg Hitlers über Österreich, dem nahen Anschluß ans Dritte Reich gezweifelt hätte. "784 In der Inneren Stadt kommt es immer wieder zu Straßenschlachten. Selbst in der der Vorstadt hört man am hellichten Tag Sprechchöre : " Deutschland erwache, Juda verrecke ". Nazis singen in Anspielung auf den Mord am Staatsoberhaupt Dollfuß : " Österreichs Juden seid bereit - mit dem Kanzler in die Ewigkeit ". 785 Vor der Synagoge in der Grünentorgasse im Alsergrund treffen sich 400 Teilnehmer einer Veranstaltung des Antisemitenbundes. Man fordert für jüdische Menschen den " Numerus Clausus für alle Berufe ". Man verlangt die " Entjudung der öffentlichen Ämter, der Armee, der Wirtschaft,der Ärzte- und Anwaltschaft ... "786

Österreich gilt als " offene Falle ". 787 Die Universität ist unter ihrem Rektor Oswald Menghin ein freies Feld für Nazikrawalle. Nationalsozialistische Studenten mit Uniformmützen, Schaftstiefeln, Braunhemd, Koppel und Schulterriemen vollziehen ungestört Eingangskontrollen. Jüdische Studenten werden gedemütigt und mit Schlagwaffen verprügelt. Der Professor Moritz Schlick setzt sich öffentlich mit dem " Mißbrauch der Erkenntnis " 788 in der faschistischen Ideologie, mit Rassenwahn und Kriegshetze auseinander. Er wird auf der " Philosophenstiege " der Hochschule von einem Rechtsradikalen erschossen. 789 Frau Dr. Goldsterns Nichte Claire hatte bei ihm Vorlesungen zur Erkenntnistheorie belegt. Sie erinnert sich : " In den Zwanziger und Dreissiger Jahren wurde der Antisemitismus stärker. " 790 " Aus ihren Sätzen ist der Schrecken jener Tage spürbar. " Man hat sich möglichst angepaßt, daß man nicht ..., daß es einem gut geht. " Noch heute, nach beinahe sechzig Jahren, hat sie Alpträume über diese Zeit der Verfolgung in Wien.Biographie Dr. Eugenie Goldstern

Anschluß

Benzin- und Rauchbomben werden in Synagogen geworfen. Über Nacht tauchen riesige Hakenkreuze und Naziparolen an den Häuserwänden auf. Banden Halbwüchsiger ziehen durch die Straßen und belästigen jeden, der in ihren Augen irgenwie jüdisch aussieht. 791 Sie skandieren : " Wer hat uns verraten ? Sozialdemokraten ! Wer macht uns wieder frei ? Die Hitlerpartei ! " Im

782Österreichisches Staatsarchiv, Verwaltungsakten, Statististik, Dr. Samuel Goldstern, Bericht über die BIlanz per

31.12.1936, Wien 1936

783Friedrich Torberg, Auch das war Wien, München 1984, S. 95

784Sperber, Scherben, a.a.O., S. 177

785mündlich mitgeteilt von Frau Anna Back am 6.9.1996

786Die Wahrheit, Jüdische Wochenschrift, Wien Nr. 50, 17. Dezember 1937, S. 5

787Sperber, Scherben, a.a.O., S. 186

788Moritz Schlick, Natur und Kultur, Wien 1952, S. 13

789Hilde Spiel, Die hellen und die finsteren Zeiten, Reinbek 1989, S. 13

790Claire Wernert, Brief vom 9.11.1994

791Clare, a.a.O., S. 201

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Januar 1938 werden Pläne für einen nationalsozialistischen Putsch aufgedeckt. 792 Das amerikanische Konsulat ist überfüllt mit Menschen, die sich in Sicherheit bringen und emigrieren wollen. Am 11.3.1938, einem herrlichen, blendend hell strahlenden Frühlingstag, erfolgt die Besetzung und Annektierung Österreichs durch Nazideutschland. Den Himmel über Wien verdüstern zahllose deutsche Bomber in militärischer Formation. Geschwader donnern unablässig im Tiefflug über die Dächer. 793 Die Nichte Claire erinnert sich : " It was scary ! " Die Grenzen werden für jüdische Reisende gesperrt. 794 Ab 23 Uhr ändert der Rundfunk sein Musikprogramm. Das Horst - Wessel - Lied und der Badenweiler Marsch dröhnen durch den Äther. Bevorstehende wichtige Verlautbarungen werden angekündigt. 795 Spät nach Mitternacht tönt das " Sieg Heil " in wilden, sich rhythmisch steigernden Schreichören durch die Straßen. 796 Hupende Lastwagen mit bewaffneten SA - Leuten jagen vorüber. Riesige Hakenkreuzfahnen werden geschwenkt.

Auf der Nußdorfer Straße zeigt sich ein gespenstisches Bild. 797 Jubelnde, heiser grölende, fanatisch tobende Massen ziehen mit Hakenkreuzarmbilden in die Stadt. Das tausendfache Geschrei schwillt an und fällt wie Flut und Ebbe. Männer und Frauen brüllen hysterisch den Namen ihres Führers. 798 Böllerschüsse mischen sich in das Tosen und Brausen der Heilrufe. Die Luft ist erfüllt von einem unablässigen, zackig wüsten Gekreische. Dazu gesellt sich der eherne Klang der Kirchenglocken.799 Es herrscht ein Rausch, eine unglaubliche Begeisterung. Bedrohlich gellend zeigt sich ein unbändiger Judenhaß mit Rufen wie " Nieder mit den Juden ! " und " Juda verrecke ! " 800 Es ereignet sich ein " Aufstand des Neids, der Mißgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht ... "801

Der folgende Tag, ein Samstag, ist kalt, aber sonnig und hell. Von den Dächern und Fenstern der Stadt hängen Hakenkreuzfahnen. Sie wurden von langer Hand vorbereitet oder hastig über Nacht geschneidert und gemalt. 802 Sie wehen an der Oper und zu Dutzenden auf dem Platz zwischen dem Naturhistorischen und dem Kunsthistorischen Museum. Selbst der " eiserne Mann " auf der Spitze

792Friedrich Torberg, Auch das war Wien, München 1984, S. 189

793Eva Brück, Im Schatten des Hakenkreuzes, Kindheit und Jugend : 1926 - 1949, Freiburg 1993, S. 67

794Torberg, a.a.O., S. 289

795Ausstellungskatalog Wien 1938, a.a.O., S. 142

7965 Sperber, Scherben, a.a.O., S. 198

797Clare, a.a.O., S. 220

798Ausstellungskatalog Wien 1938, Historisches Museum der Stadt Wien, 110. Sonderausstellung, Wissenschaftliche

Realisierung durch das Dokumentationsrachiv des österreichischen Widerstandes, 11.3. - 30.6.1988, Rathaus

Volkshalle, Wien 1988, S. 63,

799Neues Wiener Tagblatt, Wien 15.3.1938, Laufende Nummer 25889, S. 1

800Gedye George Eric Rowe, Die Bastionen fielen, Wien 1952, S. 282

801Carl Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir, Frankfurt a.M. 1966, S. 71

802Clare, Letzter, a.a.O., S. 226

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des Rathausturmes hält das neue Banner. 803 Jedermann trägt das Hakenkreuz am Aufschlag. Das Abzeichen ist für zehn Groschen an den Zeitungsständen erhältlich. Jeder starrt dem Anderen zuerst auf das Knopfloch.804 In den Schaufenstern steht das Bild des " Führers ". Die Säulen am Portikus des Loos - Hauses auf dem Michaelerplatz sind mit Tannengrün umwunden. Darüber prangt der Sinnspruch : " Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich ! " 805 In der Vorhalle, direkt gegenüber der Hofburg, ist eine Hitlerbüste samt Ehrenwache aufgestellt. Alle Vorübergehenden müssen ihr mit erhobener Rechter Achtung erweisen. Juden gehen dort nicht vorüber. Sie dürfen kein Hakenkreuz tragen. Sie dürfen nicht nach der neuen Art grüßen. Sie bemühen sich, auf der Straße weit vorauszuschauen, um die braun oder schwarz Uniformierten rechtzeitig umgehen zu können. Jeder Weg wird zum Hindernislauf, um den entwürdigenden Schikanen und eigenmächtigen Festnahmen der neuen Machthaber zu entgehen. 806

Nazis verschaffen sich gewaltsam Zugang in die Fangoheilanstalt. Die Hausbesorgerin Cäcilie Engleitner holt persönlich die Polizei. 807 Die Beamten haben sich innerhalb weniger Stunden aus den Beschützern von gestern in die Verfolger und Peiniger von morgen verwandelt. Sie tragen bereits die Abzeichen des neuen Regimes. Sie reissen alle Schubläden heraus, und werfen den Inhalt zu Boden. Sie durchwühlen Schlafzimmerschränke, Wäschetruhen und Geschirregale. Sie suchen die " versteckten Millionen ". Die gesamte Familie Goldstern wird arrestiert. 808 Versicherungsurkunden, Wertgegenstände und Geldbeträge werden von einem rasch ernannten kommissarischen Verwalter beschlagnahmt. 809 Ein altes Silberbesteck, Uhren und Goldringe, Sparbücher, Kleingeld und sämtliche Personaldokumente sind in den Händen dieses Mannes. In der Nacht fällt noch einmal Schnee. Deutsche Wehrmacht marschiert durch die Nußdorfer Straße.810

Überall kommt es zu Denunziationen, zu Diebstählen, Raub, Erpressungen, Plünderungen, Mißhandlungen und willkürlichen Verhaftungen. 811, 812 In der Nußdorferstraße werden die Fenster eines Schuhgeschäftes eingeschlagen. Das Innere wird verwüstet. 813 Lange vor der "

803Greta Andrén, Ein Brief Christi, Neuendettelsau 1958, S. 9

804Zuckmayer, a.a.O., S. 84

805Ausstellungskatalog Wien 1938, a.a.O., S. 102

806Max Knight, Bericht, Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv, MS 684/4

807Brief von Frau Claire Wernert vom 9.4.1995, S. 2

808Ernst Papanek, Out of the Fire, New York 1975, S. 36

809Österreichisches Staatsarchiv, St. 2268 Kt. 620, Schreiben des kommissarischen Verwalters Hartmuth Reichhold an

die Vermögensverkehrsstelle, Wien 9.9.1938

810Clare, Letzter, a.a.O.. S. 233

811Gedye, a.a.O., S. 290 ff

812Torberg, a.a.O., S. 362

813Hans Safrian, Hans Witek, Und keiner war dabei, Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien

1988, S. 171

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Reichskristallnacht " erfährt die jüdische Bevölkerung fortwährende Demütigungen und ausgeklügelte Schikanen. Sie wird jeden Gefühls persönlicher Sicherheit und des Glaubens an die Menschlichkeit beraubt. 814 Schaufenster in der Alserbachstraße werden von Braunhemden beschmiert. 815 Die Geschäftsinhaber werden gezwungen, für die höhnischen Aufschriften zu bezahlen. 816 Am Eingang des Schönbornparkes hinter dem Volkskundemuseum warnt ein Schild : " Juden betreten diese Parkanlage auf eigene Gefahr. " 817 Uniformierte SA-Männer und Parteigenossen in Zivil vertreiben jüdische Greise und Kinder wie Hunde aus dem Park. Juden wird der Zutritt zu Cafés verwehrt. Im Lebensmittelgeschäft mahnt ein Sinnspruch : " Trittst als Deutscher du hier ein, soll dein Gruß Heil Hitler sein. " 818 Die Nichte Claire erinnert sich : " Es war sehr arg. Wir sind Juden. " 819

Ohnmächtige Verlegenheit und ungläubiges Entsetzen herrschen angesichts der stetig zunehmenden Bedrohung. " Jeder hat sich Sorgen gemacht. Man hat halt nicht darüber gesprochen. " Man kann dem Personal in der Klinik nicht mehr vertrauen. Die Hausbesorgerin, die auch die Telefonzentrale bedient, legt eine gefährliche Neugierde an den Tag. Vom livrierten Portier weiß man politisch nicht " wo er steht. " Sogar der langjährigen Hausgehilfin und Kinderfrau, " unserer Mitzi ", muß man mit Vorsicht begegnen. Dr. Samuel Goldstern will sein Haus vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Er erwirkt eine bezirksgerichtlich beglaubigte " Amtsbestätigung ", daß die Fangoklinik während des Ersten Weltkrieges als Privatpflegestätte für kranke und verwundete Militärpersonen diente.820 Er hofft wohl, die neuen Machthaber von seiner Staatstreue zu überzeugen. Er muß sich einer " längeren Unterredung " mit einer kommissarischen Überwachungsperson unterziehen, die ihn zwingt, eine Erklärung zu unterschreiben, daß er bereit sei, " den Betrieb an einen Arier zu verkaufen ". 821 Gleichzeitig bemüht er sich bei Verwandten in Amerika um Hilfe für die Auswanderung seiner Kinder.822 Seine Tochter Claire erinnert sich : " Tante Jenja versuchte nicht, zu fliehen. " 823 " Ihr Haar war blond und vielleicht dachte sie, die Nazis würden sie nicht als eine Jüdin erkennen. " 824

814Safrian, Eichmann, a.a.O., S. 31

815Safrian, a.a.O., S. 84

816Safrian, a.a.O., S. 50

817Safrian, a.a.O., S. 77

818Ruth Klüger, weiter leben, Eine Jugend, Göttingen 1993, S. 16

819Wernert, a.a.O.

820Archiv Claire Wernert, Amtsbestätigung Wiener Allgemeines Krankenhaus, Direktion, beglaubigt von der

Geschäftstelle des Bezirks - Gerichtes Innere Stadt, Wien13.5.1938

821Österreichisches Staatsarchiv, St 2268 Kt. 620, Schreiben von Hartmuth Reichhold an die Vermögensverkehrsstelle,

Wien 10.8.1938

822Walter Goldstern, a.a.O., S. 53

823Claire Wernert, Brief vom 9.11.1994

824Brief von Frau Claire Wernert vom 9.4.1995, S. 5

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Am 10.5.1938 empfiehlt die N.S.D.A.P. Alsergrund, einen ihrer Parteigenossen als kommissarischen Leiter der Fangoklinik einzusetzen. Er ist Buchhaltungsbeamter der " Arischen Kreditorganisation ". Als Vorturner des Deutschen Turnerbundes " Friesen Alsergrund " hat er " indirekt sehr die Partei gefördert ". Am Tage des deutschen Einmarsches hatte er sich freiwillig zur SS gemeldet.825 Er drangsaliert die Mitglieder der Familie Goldstern nach Kräften, versucht ihnen persönliches Eigentum abzunehmen und - vergebens - sich schließlich zum Klinikbesitzer aufzuschwingen. Die Nichte Claire erinnert sich : " Der Gruber war ein Ekel. " Seinen Nachfolger würdigt der Ortsgruppenleiter " als in politischer, charakterieller (sic ! ) und fachlicher Hinsicht besonders geeignet. " Er hat sich bereits seit fünf Jahren als Sprengelkassier, Sprengelleiter, Kreisschulungsleiter und geschäftsführender Obmann der Ortsgruppe " Grillparzer " des Deutschen Schulvereines " Südmark " hervorgetan. 826

Am 1.April 1938 wird Dr. Alexander Goldstern, der Sohn des Klinikinhabers nachts von einem selbsternannten fünfköpfigen Tribunal verhört und bedroht. Die Runde will Aufschluß über die Vermögensverhältnisse der Familie. Im Hintergrund hält sich ein Parteigenosse, dessen Name ungenannt bleibt, der nur als " Herr Regierungsrat " angesprochen wird. 827 Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen Ärztekollegen, der in der nahen Mariannengasse 2 eine Praxis betreibt. 828 Dr. Alexander Goldstern wird schließlich verhaftet, verschleppt und mißhandelt. Er ist inhaftiert im " Konzentrationslager Dachau 3 K, Block 14, Stube 4 " 829. Später wird er nach Buchenwald gebracht. Er kommt am 25.1.1939 frei 830, nachdem seine Eltern gezwungen waren, ihr Sanatorium " für den Preis eines Spirituskochers " 831 zu verkaufen. Am 28.1.1939 wird aufgrund des Kaufvertrages vom 24.10.1938 das Eigentumsrecht an der Klinik je zur Hälfte " einverleibt für a ) Dr. Wilhelm Wozelka b) Dr. Hermann Stühlinger " 832 Letzterer gehört seit 1930 der N.S.D.A.P. an. Er hatte seine ärztliche Praxis im benachbarten Sanatorium " Goldenes Kreuz " aufgeben müssen, weil er im Jahre 1935 als Sanitätsreferent der damals noch verbotenen SA in Erscheinung getreten war. 833 In der Folgezeit arbeitet er als Chefarzt der " Legion ", 834 einer 30.000 Mitglieder zählenden, in Deutschland eingerichteten, straff geführten militärischen Kerntruppe zur Durchführung von Terroraktionen in

825Österrreichisches Staatsarchiv, Akten zur Statistik, Faszikel St 2268, Blatt Nr. 169, 170

826Österrreichisches Staatsarchiv, Akten zur Statistik, Faszikel St 2268, Blatt Nr. 177

827Alexander Goldstern, Bericht an die Familie vom 12.2.1939, Typoskript, S. 1

828Ärztliches Jahrbuch für Österreich 1935, Wien 1935, S.79

829Akt Nr. 942 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

830Alexander Goldstern, a.a.O., S. 40

831Papanek, a.a.O., S. 48

832Wiederhergestelltes Grundbuch über die Steuergemeinde Alsergrund, Wien 22.10. 1929, Grundbucheinlage 1586, S.

24

833Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Akt 8148/8, Bericht vom 25.4.1935

834Österrreichisches Staatsarchiv, Faszikel St 2268, Blatt Nr. 79

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Österreich. 835 27) Vom " Reichstatthalter " wird er am 16.7.1938 mit der Wahrnehmung der " Standesangelegenheiten der Ärzte und des übrigen Sanitätspersonals " betraut. 28) Er ist Personalreferent im Volksgesundheitsamt im Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten. Er ist also mit der Anwendung der Nürnberger Rassegesetze auf die österreichische Ärzteschaft befaßt.

Am 26. April 1938 stehen in der Wiener Ausgabe des " Völkischen Beobachter " die programmatischen Sätze : " Bis zum Jahre 1942 muß das jüdische Element in Wien ausgemerzt und zum Verschwinden gebracht worden sein. Kein Geschäft, kein Betrieb darf zu diesem Zeitpunkt mehr jüdisch geführt sein, kein Jude darf irgendwo mehr Gelegenheit zum Verdienen haben, und mit Ausnahme der Straßenzüge, in denen die alten Juden und Jüdinnen ihr Geld - dessen Ausfuhr unterbunden ist - verbrauchen und aufs Sterben warten, darf im Stadtbild nichts davon zu merken sein ... " 836 Am folgenden Tag erscheint ein behördlich beeidigter Sachverständiger, im September ein Schätzmeister, um den Wert der Fangoklinik festzustellen. 837 Kein " Nachtkastel ", kein " Stockerl ", keine " Ottoman " entgeht der Aufmerksamkeit des durch ein eingestempeltes Hakenkreuz über dem Briefkopf ausgewiesenen Zivilingenieurs. Im September versuchen die beiden Bewerber um die Arisierung bei der " Vermögensverkehrsstelle " den Kaufpreis von knapp 100.000 Reichsmark zu mindern. Sie weisen darauf hin, daß sich " der ganze Betrieb in einem charakteristisch jüdisch verwahrlosten Zustand befindet ". Der Bauzustand der Heilanstalt sei so schlecht, daß sie niedergerissen werden müßte. Obendrein solle das benachbarte Brünndlbad der jüdischen Bevölkerung für zwei Jahre zur Verfügung gestellt werden, um die restlichen Badeanstalten Wiens " judenfrei " zu bekommen. 838

Im August 1938 warten vor dem amerikanischen Generalkonsulat 3000 Menschen, unter ihnen auch die Nichte Claire, um ihren Visumantrag einzureichen. Sie stehen auch nachts gegenüber dem Stephansdom vor dem Haus am Stock im Eisenplatz 3. Sie werden bewacht von SA und Polizei. 839 Im Rathaus sind Schilder angebracht : " Juden ist die Benutzung der Aufzüge ausnahmslos verboten. " 840 In den Amtsräumen hängen Hitlerbilder. Um in die " Zentralstelle für jüdische Auswanderung " im ehemaligen Rothschild - Palais vorgelassen zu werden, muß man sich bereits um vier Uhr früh anstellen. Es gibt eine getrennte Abfertigung. Die Nichte Claire erinnert sich : " Die Juden waren auf der einen Seite. Und die Anderen waren auf der anderen Seite. " In der linken Warteschlange stehen kahlgeschorene, abgekämpfte " Dachauer ". Sie sind aus dem dortigen Konzentrationslager zurückgekommen und müssen das Land möglichst schnell verlassen. 841 Das französische Konsulat trägt seinerseits zur Diskriminierung der Juden bei. Diese sollen, um ihr Einreisegesuch einzureichen, nur zu besonderen Stunden erscheinen. Sie müssen in langen Reihen

835Erich Zöllner ( Hrsg. ), Revolutionäre Bewegungen in Österreich, Wien 1981, S. 157

836Gerhard Botz u.a., Eine zerstörte Kultur, Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert,

Buchloe 1990, S. 288

837Österrreichisches Staatsarchiv, Faszikel St 2268, Blatt Nr. 145 -155

838Österrreichisches Staatsarchiv, Faszikel St 2268, Blatt Nr. 87, 125

839Gedye, a.a.O., S. 331

840Gerhard Botz, Wien vom " Anschluß " zum Krieg, Nationalsozialistische Machtübernahme und politisch-soziale

Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/39, Wien, 1978, S. S. 350

841Safrian, Eichmann, a.a.O., S. 44

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auf den Straßen warten, wo die Feinde ihren Spott mit ihnen treiben. " Die Zeitungen brachten Photos von den wartenden Juden und erklärten deren Wunsch, Österreich zu verlassen, mit ihrem schlechten Gewissen und der jüdischen Feigheit. " 842

Dr. Samuel Goldstern erleidet am 22.8.1938 einen Herzinfarkt. 843 Im September wird die " Verdunklung " anläßlich einer Luftschutzübung genutzt, um gezielt Juden anzugreifen und zu verletzen. Im Oktober, wenn am Abend vor dem höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungstag, Gläubige die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen besuchen wollen, demonstrieren entfesselte Massen für eine Judenvertreibung. 844 Am Morgen des 10. November hört man überall Lärm, Klirren und Geschrei. In der ganzen Stadt stehen die Synagogen in Flammen. Die israelitischen Zeremonienhallen auf dem Zentralfriedhof sind gesprengt. 42 Bethäuser sind größtenteils restlos zerstört. Die Feuerwehr wird von den Brandstiftern selbst verständigt. Sie rückt zu insgesamt 21 Brandeinsätzen aus. Sie beschränkt sich auf die Sicherung der Nachbargebäude. Gebetbücher werden auf offener Straße angezündet. Thorarollen werden wie Teppiche ausgebreitet. Der Mob tanzt auf ihnen herum. 845 Es sammeln sich ungeheuere Menschenmassen an, die das Geschehen interessiert und zustimmend verfolgen. 846 Der Reichssender Wien berichtet in einer Direktübertragung von den judenfeindlichen Ausschreitungen. 847

Rollkommandos in Gruppen von vier bis sechs Mann führen bei jüdischen Familien Hausdurchsuchungen durch. Die SA - Leute und örtliche Parteiführer " beschlagnahmen " unter dem Vorwand nach Waffen zu fahnden, Bargeld, Wertgegenstände, Schmuck und Silbergeschirr. Sie haben den Auftrag, wohlhabende Juden aus größeren Wohnungen zu entfernen. 848 Während des großen Pogroms muß Samuel, der vierundsiebzigjährige, schwer herzkranke Bruder Eugenie Goldsterns innerhalb von zwei Stunden aus seiner eigenen Klinik ausziehen. Er kommt in der Pension Atlanta in der Währingerstraße 33 unter. Er befindet sich in einer verzweifelten, hilflosen Notlage. Sein gesamtes Vermögen liegt auf einem Sperrkonto, zu dem er keinen Zugriff hat. Beim Schalterbeamten seiner Bank hört er nur freundliche Vertröstungen. Allein die spärlichen Zinsen bleiben für seinen Lebensunterhalt. Um die sechs Personen seiner Familie, zu denen wohl auch seine Schwester Eugenie gehört, mit dem Nötigsten versorgen zu können, muß er Bargeld bei sechs verschiedenen Gläubigern ausleihen. 849

842Sperber, Scherben, a.a.O., S. 199

843Österrreichisches Staatsarchiv, Faszikel 7730, Ärztliches Zeugnis Dr. Otto Erlsbacher, 24.8.1938

844Israel Gutman ( Hrsg. ), Encyclopedia of the Holocaust, Bd. 4, New York 1990, S. 1564

845Jo Singer, Erlenisse in Wien und Theresienstadt, Aufgenommen von H.G. Adler, London Sommer 1958, Institut für

Zeitgeschichte, München, Archiv, ZS 2359, S. 1

846Der Führer des SD - Unterabschnittes Wien an den SD - Führer des SD - Oberabschnittes Donau, Wien 10.11.1938,

Institut für Zeitgeschichte, München, G 01 Eichmann - Prozess, Beweisdokumente 51 - 110, Nr . 71

847Norbert Feichtenschlager, Der Novemberpogrom 1938 in Wien, Zeitgeschichte, 21. Jahrgang, Jänner - Dezember,

1994 Wien, S. 369

848SS - Hauptsturmführer Polte, SD - Führer des SS - Oberabschnittes Donau, Wien, Schreiben vom 21. 11.1938 an

das Sicherheitshauptamt, Institut für Zeitgeschichte, München, G 01 Eichmann - Prozess, Beweisdokumente 51 -

110, Nr . 91

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Er wird trotz vorliegendem ärztlichem Zeugnis seiner schweren Erkrankung zu der im Palais Montenuovo residierenden Vermögensverkehrsstelle vorgeladen. Er muß persönlich bei der Behörde erscheinen und wird " behufs Angabe der Gründe meines Schuldenmachens " zur Rede gestellt. 850 Er überlebt die Erniedrigung zum rechtlosen Bittsteller, die Vernichtung seines Lebenswerkes, die Zerstörung der wirtschaftlichen Grundlage seiner Familie, die Vertreibung aus seinem Haus, nicht lange. Er stirbt sechs Tage nach dem Umzug in die Wohnung seines Schwagers Dr. Leopold Wermer in der Nußdorferstraße. 851 Die Inschrift auf dem Grabstein in der israelitischen Abteilung des Zentralfriedhofs lautet : Ein Leben freudvoller Arbeit, aufopfernder Güte, ohne Klage ertragenen Leids. Erich Fried stammt aus dem gleichen vorstädtischen Gemeindebezirk, wie die Familie Goldstern. Das frühe Gedicht des Nachbarn zeigt die Lage der Hinterbliebenen :

Am Judenfriedhof ist viel Land umbrochenund Sarg um Sarg kommt, und die Sonne scheint.Der Pfleger sagt : so geht es schon seit WochenEin Kind hascht Falter, und ein Alter weint.

Dumpf fällt der Vater in die Erde,ich werfe Lehm nach, feucht und kalt. Der Kantor singt. Es wiehern schwarze Pferde.Es riecht nach Sommeraufenthalt.

Die mir die Gärten meiner Stadt versagen,die Bank im staubigen Grün am Kai,sie haben mir den Vater totgeschlagen,daß ich ins Freie komm und Frühling seh. 852

Eugenie Goldstern wird von der perfekten Registratur des mörderischen Regimes dingfest gemacht. Steuerlisten und Adressenverzeichnisse des Wohnungsamtes dienen als Hilfsmittel auf der Suche nach jüdischen Menschen, die nicht ohnehin von der Kultusgemeinde erfaßt sind. Die persönlichen Daten werden jetzt nicht mehr von den Bürgern selbst auf zahllosen, unübersichtlichen " Meldzetteln " angegeben. Sie werden von Fachleuten in einem schneller zu überblickenden Karteisystem verzeichnet. Auf den Polizeirevieren sind diese Angaben, nach Häusern und Türnummern sortiert, den Verfolgern jederzeit zugänglich. 853 Am 15.5.1939 wird Eugenie Goldstern gemäß einem Runderlaß des Innenministeriums zwangsweise von der Magistratsabteilung 1 der " jüdische Zusatznamen Sara " 854 in denunziatorischer Absicht eingetragen. Unter der Rubrik " Abstammung ", die zuoberst auf der Karte im Melderegister vermerkt ist, wird ein großes rotes " J " eingestempelt. Die gleiche Brandmarkung wird auf der

849Österreichisches Staatsarchiv, Verzeichnis über das Vermögen von Juden, Nr. 7730, Dr. Samuel Goldstern, Anlage

S. 2 Begründung der Verschuldung, Wien 15.7.1938

850Österrreichisches Staatsarchiv, Akten zur Vermögensanmeldung, Faszikel 7730, Brief Dr. Samuel Goldstern vom

4.1.1939,

851Wiener Stadt- und Landesarchiv, Meldezettel vom 23.3.1939

852Erich Fried, Gründe, Gesammelte Gedichte, Herausgegeben von Klaus Wagenbach, Berlin o.J, S. 11

853Dokumentationsarchiv, Jüdische Schicksale, a.a.O., S. 278

854Eintrag in der Heimatrolle, Auskunft von Herrn Oberamtsrat Huemer, Referat 7, Rathaus

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Kennkarte und dem Reisepass vorgenommen. Im August führt die Ortsgruppe " Alserbach " der N.S.D.A.P. im neunten Gemeindebezirk " Judenerhebungen " durch. 855 Im Dezember erfolgt eine umfassende Feststellung aller " in Wien mit Lebensmittelkarten versehenen Juden " 856 aufgrund der Unterlagen der Lebensmittelkartenstelle. 857

Am 8.7.1939 meldet sich die Schwägerin Marie, Witwe von Dr. Samuel Goldstern von Wien nach Frankreich ab. 858 Ihre Kinder haben sich bereits in Sicherheit bringen können. Alexander lebt in Neuseeland. Isabella und Claire sind in Boston. Helene ist mit ihrer Familie in Enghien-les-Bains am Rande von Paris. 859 Frau Dr. Goldstern kann sich dennoch nicht zur Flucht entschließen. Sie will wahrscheinlich ihren Bruder Sima nicht im Stich lassen, der wegen seines Alters nicht mehr auswandern will und wenig Aussichten hat, als willkommene Arbeitskraft in einem fremden Land Aufnahme zu finden. Ernst Papanek, der im französischen Exil Heime einrichtet für Kinder, deren Eltern von den Nazis ermordet oder verjagt wurden, versucht zu verstehen : " Hat man ein bestimmtes Alter erreicht, dann ist einem der Ablauf der Jahreszeiten in Fleisch und Blut übergegangen. Dem Winter folgt ein neuer Frühling und dieser Optimismus ist auch eine Art Flucht. " 860 Manés Sperber, der selbst dem Naziterror entkommen konnte, versteht es, sich einzufühlen : " Solch vernunftwidriges Verhalten war wohl auch daraus zu erklären, daß fast jeder gar zu prompt die Augen vor allem verschließt, was seine Liebe zu einem Menschen, zu einem Volk, zu einer Stadt vermindern oder verhindern könnte. Nun, sie liebten Wien zu sehr, als daß sie die unleugbare Wahrheit hätten glauben mögen. Ihre Einbildungskraft versagte, sooft sie sich vorstellen sollten, daß sie anderswo heimisch werden, zu Hause sein könnten. " 861

Einen Monat nach dem Ende des deutschen Feldzuges werden zum ersten Mal jüdische Mitbürger aus Wien nach Polen deportiert. 862 Der stellvertretende Generalgouverneur Seyß - Inquart verkündet bei einer Ansprache vor Volksdeutschen in Lublin, die polnische Intelligenz solle " ausgemerzt " werden, die Mehrheit des polnischen Volkes liquidiert, " die Juden ebenfalls ausgemerzt werden. " 863 Die intellektuelle Kraft der Unterworfenen solle gebrochen werden. Es

855Botz Gerhard, Wohnungspolitik und Judendeportation in Wien 1938 bis 1945, Zur Funktion des Antisemitismus als

Ersatz nationalsozialistischer Sozialpolitik, in : Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität

Salzburg, Wien 1975, S. 160

856Botz, a.a.O., S. 606

857Josef Fraenkel, The Jews of Austria, Essays on their Life, History and Destruction, London 1967, S. 518

858Wiener Stadt- und Landesarchiv, K.K. Handelsgericht zu Wien, Abteilung Nr. VIII, Acten über die Gesellschafts-

Firma Fangoanstalt Dr. von Aufschnaiter und Dr. Goldstern, Aktenzeichen Ges. I, XI, 175, XXII,13 Amtliche

Anfrage über die gegenwärtige Wohnung der Marie Sara Goldstern vom 22.11-1940

859Wiener Stadt- und Landesarchiv, Todfallsaufnahme Dr. Samuel Goldstern vom 22.4.1939, Geschäftszahl 8 A 548/39

860Ernst Papanek, Die Kinder von Montmorency, Wien 1980, S. 95

861Sperber, Scherben, a.a.O., S. 215

862Kagan, a.a.O., S. S. 146

863Jochen August, " Sonderaktion Krakau ", Die Verhaftung der Krakauer Wissenschaftler am 6. November 1939,

Hamburg 1997, S. 51

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gibt einen allgemeinen Auftrag, die polnische Führungsschicht " unschädlich zu machen. " 864 Arthur Haberlandt unternimmt eine " dienstliche Inspektionsreise " 865 durch das besiegte Land, in dem gerade der Judenstern eingeführt wurde. Am 14.11.1939 trifft er in Krakau ein. In der Vorwoche waren die Professoren und Assistenten der dortigen Universität heimtückisch in eine Falle gelockt und verhaftet worden. Sie sollen in ein Konzentrationslager gebracht werden. Im November 1939 werden die Hochschulen geschlossen. Die deutsche Besatzungsmacht versucht, die polnische Wissenschaft und Kultur, das ganze Bildungswesen, zu vernichten. Überall sind die Universitätsmitarbeiter, sogar Sekundarschullehrer verhaftet, Lehrveranstaltungen untersagt. Es kommt zu ersten Massenerschießungen. 866 Haberlandt tritt als " Sachbearbeiter für Ethnographie und Kulturwissenschaft " in Krakau, Zakopane und Warschau auf. Er gehört zum Gefolge eines promovierten Kunsthistorikers und SS - Sturmbannführers 867 aus Wien, der mit einer Vollmacht von Generalfeldmarschall Göring versehen ist. 868 Dr. Kajetan Mühlmann, ein Schützling Seyß-Inquarts, hat Verbindungen zu Himmler aus seiner Zeit als Mitglied des illegalen Sicherheitsdienstes der SS. 869 Er hält sich im neu eroberten " Generalgouvernement " auf, um Plünderungen von Kunstschätzen und Kulturgütern mit wissenschaftlicher Sachkenntnis und Genauigkeit zu organisieren. 870

Haberlandt ist einer jener schwer unterscheidbaren Herren in Uniform, deren unerwünschte Besuche sich häufen. " Sie betreten ohne anzuklopfen die Zimmer, sagen nicht ' guten Morgen ', nehmen ihre MÜtzen nicht ab. " 871 Haberlandt durchstreift zusammen mit zwei anderen Professoren Universitätsinstitute, Bibliotheken, Museen und sogar zoologische Gärten auf der Suche nach Beutestücken. Daß wissenschaftliche Sammlungen unter dem Schutz der auch von Deutschland unterzeichneten Haager Konvention stehen, kümmert ihn nicht. Er beantragt die " Überstellung " einer privaten Keramiksammlung aus dem barocken Palais Potocki, dessen Längsseite jetzt am Adolf - Hitler - Platz liegt. 872 Im Warschauer Podwale Museum für Volkskunde, im

864August, a.a.O., S. 53

865Rahmenbericht an den Staatskommissar Dr. Mühlmann über die im Auftrage des Herrn Reichsminister für

Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung bez. des Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abt IV,

und des Herrn Sonderbeauftragten für Kunst und Wissenschaften beim Herrn Generalgouverneur durchgeführte

dienstliche Inspektionsreise vom 4.12.1939, Akt Nr. 3296c/2 im Dokumentationsarchiv des österreichischen

Widerstandes

866Katarzyna Jone, Christiane Rahn, Warschau / Krakau, Bielefeld 1992, S. 100,

867Bundesministerium für Inneres - Abtg. 2, 28.6.1952, Österreiches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Gauakt "

Mühlmann ", Nr. 15.550, fol. 47

868Schreiben von SS-Untersturmführer Prof.Dr. Paulsen an SS-Sturmbannführer Sievers aus Krakau vom 24.10.1939,

Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv NO.572 sowie Schreiben von SS-Hauptsturmführer Prof. Dr. Ing. Hans

Schleif an Sievers aus Berlin vom 6.1.1940, a.a.O., Archiv NO-369

869Kosar, Deutsche, a.a.O., S. 91

870Roxan, a.a.O., S. 67

871August, a.a.O., S. 90

872Karl Baedeker, Das Generalgouvernement, Reisehandbuch, Leipzig 1943, S. 95,

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Diözesanmuseum, im Narodowe Museum wird er ebenfalls fündig. Begehrlich registriert er die Sammlungen von Volkstrachten, bäuerlichen Töpfereien, Holz- und Lederarbeiten sowie eine " Speziallöffelsammlung ". Wie schon bei seiner militärischen Expedition auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg, geht er sogleich daran, Trophäen für sein Haus zu sichern : " Das Museum für Volkskunde in Wien meldet bei der Entscheidung über diese Sammlung seinen Erstanspruch für eine Zuteilung der volkskundlichen Gegenstände und der Speziallöffelsammlung in Bausch und Bogen an. " 873

Aus dem Krakauer Schloß, dem uralten Sitz der polnischen Könige und Nationalmuseum und dem Tatra-Museum in Zakopane soll umfangreiches Material in die Wiener Laudongasse geschafft werden. 874 Haberlandts Vater rühmte schon vor dem letzten Krieg die " rührige und anerkennenswerte Tätigkeit " seiner Fachkollegen in der Museumsmetropole an der Weichsel. 875 Der Sohn stellt anerkennend fest, daß hier keine " polnische Wirtschaft " herrscht. Er kommt in die monumentalen Säle der Residenz auf der Anhöhe des Wawel, um zu plündern. Er kommt in die zweitälteste Universität Mitteleuropas, um die reichen Bestände ihrer wertvollen Sammlungen auszurauben. Wie ein Spürhund durchsucht er gierig die ehrwürdigen Gebäude. Im kunsthistorischen Institut entdeckt er eine Kachelsammlung, die geeignet scheint, den Ansprüchen der Stellung zu genügen, " die Wien künftig vom Führer ausdrücklich zugewiesen worden ist. " 876 Er kommt in die graziösen Tuchhallen auf dem Marktplatz, die den Inbegriff mittelalterlichen Bürgerstolzes repräsentieren. Aus dem Saal zwischen Rathausturm und Marienkirche will er die gotische Verschalung und zwei gemalte Flachdecken wegschaffen. Im Kunstgewerbemuseum hat er es auf " Hinterglasbilder, Hirtenbecher der Goralen und Kleinigkeiten " abgesehen.877

Im Aostatal bemüht sich die italienische Diktatur, das Französische völlig auszulöschen. In den Schulen, den Grundbüchern, den Notariatsakten und auf den Ortstafeln soll nur noch die Sprache des " Duce " benutzt werden. 878 Bald wird wird der Faschismus die Grenzen überschreiten, um seine Ziele zu verfolgen. Am 11. Juni 1940 erklärt Mussolini der französischen Republik den Krieg. In Bessans hört man die Detonationen, als strategisch wichtige Brücken gesprengt werden. Aus dem

873Bericht von Arthur Haberlandt über den Zustand der erhaltenen Stücke aus der Ethnographischen Sammlung des

Narodowe- Museums in Warschau, 5.12.1939, Akt Nr. 3296c/2 im Dokumentationsarchiv des österreichischen

Widerstandes

874Berichte an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abt IV vom 27.11.1939, Betr. :

Sicherstellung von Sammlungsgut im Wartegau, II. Besonderer Teil, A. Volkskundliche Sammlungen, Akt Nr.

3296c/2 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

875Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XX. Jahrgang, Wien 1914, S. 179

876Berichte an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abt IV vom 27.11.1939, Betr. :

Sicherstellung von Sammlungsgut im Wartegau, II., Gutachten über die wissenschaftlichen Sammlungen Krakaus,

S. 5, Akt Nr. 3296c/2 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

877Berichte an das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abt IV vom 27.11.1939, Betr. :

Sicherstellung von Sammlungsgut im Wartegau, II. Besonderer Teil, A. Volkskundliche Sammlungen, Akt Nr.

3296c/2 im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

878Marc Lengerau, La minorité ethnique Valdôtaine de 1860 a nos jours : continuité et mutations, in : Sanguin, a.a.O.,

S. 210

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Wolkenhimmel dröhnen Flugzeugmotoren. 879 Man fürchtet ein Bombardement, will sich zuerst in die kleinen, höher gelegenen Weiler zurückziehen. Schließlich wird die gesamte Bevölkerung in das Departement Haute Loire evakuiert. Kälber, Kühe, Schweine und Geflügel müssen sich selbst überlassen werden. Nach dem französisch - italienischen Waffenstillstand vom 24. Juni kehren die Einwohner von Bessans in ihren Heimatort zurück, der jetzt von italienischen Truppen besetzt ist. Das verlassene Vieh irrt durch die Straßen. Die hungrigen, verwilderten Hunde haben einige Tiere angefallenen. Die Soldaten haben Beute gemacht. Faschistische " Schwarzhemden " patrouillieren mit aufgepflanzten Bajonnetten. In der Folgezeit formiert sich unter der einheimischen Bevölkerung Widerstand gegen die Besatzung. 880

Aus den in der Sommerszeit geöffneten Fenstern in Wien tönt eine Rundfunkübertragung. Es ertönt das frenetische Gebrüll einer riesigen Menschenmenge. Am 15. Juni 1940 weht die deutsche Kriegsflagge über Paris. Die Reichshauptstadt ist im Siegestaumel. Die unsägliche Freude scheint überzuquellen, die zivilisierte Welt auseinanderzubrechen. Hitler marschiert in Paris ein. Die Truppen der Wehrmacht paradieren auf dem Place de l' Etoile in Paris. Man hört " das Gestampfe der germanischen Horden, die von der Avenue de la Grande Armée durch den Triumphbogen auf die Champs Élysées marschieren. " 881 Mit der Niederlage Frankreichs und Italiens Kriegseintritt schwinden Eugenie Goldsterns Auswanderungsmöglichkeiten auf ein Mindestmaß. Sie ist keine berühmte Wissenschaftlerin, die mit Unterstützung durch das Ausland rechnen könnte. Als Fluchtziele bleiben nur noch Shanghai und einige mittel- und südamerikanische Länder. Sie müßten über Sibirien oder oder Japan angesteuert werden. 882 Um sich retten zu können, bräuchte man ausgezeichnete Verbindungen und viel Geld.

Der " Alsergrund " wird zum " jüdischen Wohnbezirk " erklärt. Er wird neben der Leopoldstadt und der angrenzenden Brigittenau zu einem offenen Ghetto, in dem die jüdische Bevölkerung aus den übrigen Stadtteilen zusammengetrieben wird. 883 Frau Dr. Goldstern lebt zuerst bei ihrem verwitweten älteren Bruder Sima im Haus in der Nußdorfer Straße 4A 884, der seinen Beruf als Zahnarzt nicht mehr ausüben darf. Im gleichen Haus wohnt der Schwager, der ebenfalls mit Berufsverbot belegte Internist Dr. Leopold Wermer. Er mußte seine Ordination auflösen, seine Angestellten und die Hausgehilfin kündigen. 885 Vor wenigen Jahren hielt er noch seine Vorträge in der Gesellschaft der Ärzte über die Heilung von Blutkrankheiten, Arzneimittelkunde, Toxikologie und Schmerzbekämpfung. 886 Im gleichen Gebäudeteil, der über die " dritte Stiege " zugänglich ist, wohnte bis zu seiner Ausreise nach Amerika am 4.7.1938 sein Sohn Heinz, ein promovierter Spitalarzt und Psychiater. Benachbart leben, erreichbar über die " Vierte Stiege " der Kellner Adolf

879Bessans, Jadis et Anjourd'hui, Nr. 24, Hiver 90 - 91, Mairie 73480 Bessans, S. 42 ff.

880Rosine Perrier, J' appartiens au silence, Maurienne, vallée rebelle et vallée martyre, Les La Ferme du Vochet, La

Fontaine de Siloé 1991

881August, a.a.O., S. 256

882Trahan, a.a.O., S. 63

883Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982, S. 321

884Brief von Frau Wernert vom 9.11.1994

885Österreichisches Staatsarchiv, Verzeichnis über das Vermögen von Juden, Nr. 33044, Wien 9.12.1938

886Isidor Fischer, Geschichte der Gesellschaft der Ärzte in Wien, Wien 1938, S, 297

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Finkelstein, der Kaufmann Fritz Sinaiberger, die Miedermacherin und Geschäftsinhaberin des Gassenladens für Seidenwaren Poldi Sinaiberger, sowie der Handelsvertreter Israel Tennenbaum.

Eigentümerin des Anwesens ist die Kommanditgesellschaft Roth & Cie, die einen Handel mit Bier und Wein in geschlossenen Flaschen und Gebinden betreibt. 887. Den Hauptanteil an dieser Gesellschaft besitzt der Kaufmann Abraham G. Hornstein, dessen Aufenthalt bereits seit Jahren unbekannt ist.888 Als kommissarischer Verwalter wird ein Sturmmann der Allgemeinen SS und Hauptscharführer der Waffen - SS 889 namens Max Teltschik jun. * 24.6.07 eingesetzt. 890 Er kennt das Haus möglicheise noch aus der Zeit, als seine Partei verboten war und geheime Treffen in einem Weinkeller eines Gesinnungsgenossen stattfanden. 891 Er vollzieht einen Runderlaß des Reichsarbeitsministeriums und des Reichsministerium des Inneren vom 4.5.1939, der die Vertreibung aus angestammten Häusern und die Einrichtung von eigenen " Judenwohnungen " verlangt. Es ist beabsichtigt, die Ausgestoßenen durch " das wachsame Auge der der gesamten Bevölkerung " kontrollieren zu lassen. 892 Die demütigende Überbelegung ist beabsichtigt : " Soweit erforderlich kann der den Juden zur Verfügung zu stellende Raum eingeengt werden, insbesondere durch Unterbringung mehrerer jüdischer Familien in von Juden bewohnten größeren Wohnungen. " 893

Es werden jüdische Menschen ohne Rücksicht auf Alter, Familienstand und Geschlecht zusammengepfercht, um sie leichter deportieren zu können. Einer ganzen Familie kann nur ein Zimmer zugewiesen werden. Es herrscht ein unvorstellbares Gedränge. Sogar der Flur und das Badezimmer müssen als Heimstatt dienen. Alle müssen sich die einzige Küche und die Toilette teilen. Trotzdem versucht man, das Leben möglichst erträglich zu gestalten und den spärlichen Wohnraum angenehm einzurichten. 894 Am 8.8.1939 weicht eine Hausgehilfin in der Waschküche in der Nußdorferstr. 4 abends Wäsche ein. Sie vergißt, den Wasserleitungshahn abzudrehen. Der Bottich läuft über. Das Wasser fließt bis in die frühen Morgenstunden aus der überfluteten Waschküche durch die Tür in das Stiegenhaus. Die Überschwemmung ergießt sich in eine Wohnung im darunterliegenden Stockwerk. Die Räume sind durchnässt. Es wird befürchtet, daß das Haus vom Einsturz bedroht sei. Polizei und Feuerpolizei schreiten ein. 895 Die Ursache des Mißgeschicks

887Lehmann 1938, a.a.O., S. 511

888Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrsstelle, Wien 8.5.1942, Firmenbuch Handelsgericht Wien Abt. 8, 132 HRA

10.622 - 63

889Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundesministerium für Inneres - Abtg. 2, Wien 5.9.1950

890Firmenbuch Exekutionsgericht 132 HRA, GZ. Ges. 47/186/34 25.10.1938

891Illegale SA = Brigade 6, Ein Schicksalsbeitrag aus der Kampfzeit der NSDAP in Österreich von 1933 bis zur

Machtergreifung 1938, Institut für Zeitgeschichte, München, S. 25

892R. Heydrich, Institut für Zeitgeschichte, München, G 01 Eichmann - Prozess, Beweisdokumente 51 - 110,

Dokument 1816 - PS

893Walk, Sonderrecht, a.a.O., S. 293

894Danneberg - Löw, a.a.O.

895Wiener Stadt- und Landesarchiv, Magistratsabteilung 236, Bez. 9, KG EZ 574, Bericht von Oberwachtmeister Held,

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könnte sein, daß die Waschfrau Louise Laschober völlig überfordert ist. Sie kann wohl die in dem übervölkerten Haus anfallenden Unmengen an schmutziger Wäsche nicht mehr bewältigen. Am 18. November 1940 soll in Wien der " Erbin " Marie Sara Goldstern ein Amtsschreiben an die Adresse in der Nußdorferstraße zugestellt werden. Sie wird aufgefordert, in einer Frist von 14 Tagen mit notariell beglaubigter Unterschrift die Löschung der ihr enteigneten Firma im Handelsregister anzumelden. Der ungeöffnete Brief wird mit dem Vermerk " Empf. ins Ausland verzogen " zu den Akten genommen. 896 Am 13.1.1941 wird die " amtswegige Löschung " der Fangoklinik zusammen mit der von 107 anderen Firmen verfügt. Die Kosten für die Veröffentlichung dieser Maßnahme im Zentralblatt, im Reichsanzeiger und im Völkischen Beobachter in Höhe von insgesamt 8 Reichsmark und 97 Reichspfennigen müssen also von der Justizkasse übernommen werden.

Anfang 1941 wird der Druck auf die jüdische Bevölkerung drastisch verstärkt. Ihr ist es verboten von öffentlichen Telefonzellen oder vom Zentralpostamt aus zu telefonieren. Eigene Telefonapparate sind längst requiriert worden. Der Kontakt zu den bereits geflüchteten Verwandten reisst ab. Das Entsetzen soll sich nicht in das Ausland mitteilen. Elektrogeräte, Schmuck, Pelze, Schreibmaschinen und Fahrräder müssen abgeliefert werden. Gerüchte kommen auf, " daß alle Juden nach Polen umgesiedelt werden. " 897 Man nimmt es nicht ernst. Es scheint zu unglaublich. Im Februar werden die ersten Staatenlosen, " unerwünschte Ausländer ", " Menschen ohne Paß " abtransportiert. Es folgen Unterstützungsempfänger der Israelitischen Kultusgemeinde und Personen, die nicht in einem kriegswichtigen Betrieb arbeiten. Woche für Woche, jeden Mittwoch rollen die Züge. Man macht sich Sorgen, spricht nicht darüber, sagt höchstens " Nein, noch nicht ... " 898 Jüdische Männer sollen in Umschulungslager nach Wolhynien oder Litauen verschleppt werden. Sie sollen dort Baracken bauen. " Es ist zum Verzweifeln. " 899

Am 6.5.1941 begeht der Schwager Dr. Leopold Wermer Selbstmord, um einer drohenden Deportation nach Lodz zuvorzukommen. 900 Am Ende des Jahres zieht Frau Goldstern in seine Wohnung. Im März 1942 übersiedelt ihr Bruder Sima mit Schwägerin Mascha in das Altersheim der Israelitischen Kultusgemeinde in der Seegasse 9. Dort wohnt auch die Schwester Teresa. Der alte Friedhof im Hinterhof bietet die einzige Möglichkeit, frische Luft und Sonne zu genießen. 901 Wie in einem schönen, großen Garten kann man dort spazierengehen. Das Haus ist überfüllt, weil zahllose Familien auseinandergerissen wurden. Anfangs ist noch zu hoffen, daß der Heimaufenthalt einen Schutz bietet. Ab dem Jahr 1942 kommen Ärzte und SS - Leute, um ihre Opfer auszuwählen. Zuerst werden nur gehfähige Personen deportiert. Schließlich werden sogar alte Menschen auf Tragbahren in die Lager geschafft. 902

53. Polizeirevier, 8.8.1939

896Wiener Stadt- und Landesarchiv, K.K. Handelsgericht, Brief Registergericht vom 31.10.1940

897Trahan, a.a.O., S. 114

898Trahan, a.a.O., S. 118

899Trahan, a.a.O., S. 51

900Brief von Frau Wernert vom 9.11.1994

901Klüger, a.a.O., S. 154

902Mündlich mitgeteilt von Frau Franzi Danneberg - Löw in Wien am 5.6.1996

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Ab 19. September 1941 muß Frau Dr. Goldstern den gelben Stern mit der schwarzen Aufschrift " Jude " sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest aufgenäht tragen. 903 Sie erhält dieses Kennzeichen von der Israelitischen Kultusgemeinde gegen Empfangsbestätigung zum Stückpreis von 10 Pfennigen. Sie wird bei der Übergabe darauf hingewiesen, daß " der Stoffrand beim Aufnähen eingeschlagen werden soll ", um zu vermeiden, daß der Flecken in der Wäsche ausreisst oder ausfranst. 904 In Wien werden die Denkmäler berühmter österreichischer Juden von den öffentlichen Plätzen entfernt.905 Eine unübersehbare Flut von gesetzlichen Verboten schränkt den Alltag der jüdischen Mitmenschen ein. Der Besuch von Bibliotheken ist ihnen verwehrt. Der Aufenthalt im " Kolosseum " ist wie der in allen anderen Kinos, Theatern, Konzerten, Kaffeehäusern und Restaurants verboten. Ein Ausflug in den Prater, den Lainzer Tiergarten, den Türkenschanzpark, nach Schönbrunn oder in den Wienerwald ist mit Haftstrafe bedroht. Nur zwischen 11 und 13 Uhr sowie zwischen 16 und 17 Uhr darf das Lebensnotwendigste eingekauft werden. Die Warteschlangen sind endlos.

Die Rationen werden laufend gekürzt. 906 Viele Mahlzeiten bestehen " aus nichts als Kartoffeln. " 907 Kartoffelknödel werden mit künstlichem Süßstoff oder Ersatzmarmelade verfeinert. Die gewöhnlichen Lebensmittelmarken wurden von der Hausmeisterin eingesammelt. Die neuen Bezugsscheine müssen in der " Zentralkartenstelle für Juden " in der Taborstraße abgeholt werden. 908 Auf ihnen ist mit roter Schrift fortlaufend der Vermerk " Jude " gedruckt. Felder für die Zuteilung von 200 Gramm Schweinefleisch oder 100 Gramm Butterschmalz sind als ungültig überstempelt. Paketsendungen aus dem Ausland werden von den Zuteilungen abgezogen. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, sogar das Tragen von " ledernen Hosen, Joppen, Dirndlkleidern, weißen Wadenstutzen und Tiroler Hüten " ist nach einem Ministerialerlaß strafbar. 909 Man versucht, keine Aufmerksamkeit zu erregen, sich still zu verhalten. Oft werden Leute auf der Straße angehalten, die kein Hakenkreuz tragen. " Sternträger " werden angestarrt " wie eine Mißgeburt ". 910 Der Blick wird ostentativ abgewandt, als wären sie nicht vorhanden. Sie sind gebrandmarkt, wie entsprungene Häftlinge. Sie selbst schauen einander scheu an, " wie man nach verräterischen Anzeichen von Lepra oder Pest Ausschau hält. " 911 Mit dem gelben Stern kann jeder Weg in der Öffentlichkeit zum Spießrutenlauf werden. 912 Eine Zeitgenossin zieht den Schluß : " Das Volk, die Volksseele war sehr böse. " 913 Ein schwedischer Pastor ist zutiefst betroffen von der allgemeinen Judenfeindschaft. Er

903Fraenkel, a.a.O., S. 516

904Aktennotiz am 8.9.1941, Eichmann - Prozess, Beweis - Dokument Nr. 1150, S. 2, Institut für Zeitgeschichte,

München

905Weinzierl, a.a.O., S. 35

906Hilberg, a.a.O., S. 112

907Trahan, a.a.O., S. 113

908Trahan, a.a.O., S. 81

909Klusacek, Dokumentation 1938-1945, a.a.O., S. 112

910Trahan, a.a.O., S. 85

911Trahan, a.a.O., S. 114

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spricht von einem regelrechten " Volkshaß ".914 Im April 1942 muß das Haus in der Nußdorferstraße durch Anbringung eines gelben Judensternes am Eingang gekennzeichnet werden. 915 Von der gegenüberliegenden Straßenbahnhaltestelle aus sind deutlich die Farben der Angst und des Todes wahrzunehmen. An der Haustüre hängen Zettel, auf denen die Bewohner ihre letzten Habseligkeiten zum Verkauf anbieten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 916 An der Wohnungstüre ist ein Stern auf weißem Papier angeklebt. Daneben hängt eine Namensliste. 917 Es ist bekannt, daß jeden Mittwoch Transporte mit tausend Personen abgehen. Man spricht nicht mehr darüber, sondern verrichtet die täglichen Arbeiten, als ob alles in Ordnung wäre. Die Schritte des Postboten auf der Treppe sind gefürchtet. 918 " Jeder Tag dreht sich um den kritischen Moment, die Ankunft des Briefträgers. Wenn er weitergeht, ohne die Verständigung gebracht zu haben, seufzt man erleichtert auf und weiß, daß das Leben noch einen Tag länger weitergeht. " 919

Der Sommer bringt eine " Transportwelle. " 920 Die Menschen in der Nußdorferstraße sitzen auf gepackten Koffern. Sie verkaufen die letzten Wertgegenstände, um ihr Überleben zu sichern. Man kann nicht wissen, wer abgeholt wird. Manchen halten es für klüger, nicht zuhause zu bleiben. Sie streifen durch die Nacht, um einer Razzia zu entgehen. Immer wieder werden neue Familien eingewiesen. Eugenie Goldstern wird eine Postkarte zugestellt. Sie soll sich freiwillig an einem bestimmten Tag mit 50 Kilo Handgepäck in einem der Lager im zweiten Wiener Gemeindebezirk einfinden, wenn sie nicht eine polizeiliche Vorführung riskieren will. 921 Sie muß sich ordnungsgemäß polizeilich abmelden, zwei Paßbilder vorlegen und eine Reiseerlaubnis beantragen. Sie erhält ein Merkblatt, auf dem ihr empfohlen wird, zwei paar Schuhe, Nähzeug, Taschenlampe mit Reservebatterie und Spirituskocher mit auf die Reise zu nehmen. 922 Ihre Kennkarte trägt neben ihrem Fingerabdruck und dem verräterischen " J " jetzt einen " Transportstempel ". 923 Sie darf Wien nicht mehr ohne besondere Genehmigung verlassen.

912Dokumentationsarchiv, Jüdische Schicksale, a.a.O., S. 272

913Dokumentationsarchiv, Jüdische Schicksale, a.a.O., S. 319

914Erika Weinzierl, Zu wenig Gerechte, Österreicher und Judenverfolgung, 1938 - 1945, Graz 1985, S. 115

915Fraenkel, a.a.O., S. 518

916Dokumentationsarchiv, Jüdische Schicksale, a.a.O., S. 636

917Dokumentationsarchiv, Jüdische Schicksale, a.a.O., S. 279

918Greta Andrén, Ein Brief Christi, Neuendettelsau 1958, S. 39

919Elisabeth W. Trahan, Geisterbeschwörung, EIne jüdische Jugend im Wien der Kriegsjahre, Wien 1996, S. 118

920Trahan, a.a.O., S. 141

921Dokumentationsarchiv, Jüdische Schicksale, a.a.O., S. 610

922Knight, a.a.O.

923Dokumentationsarchiv, Jüdische Schicksale, a.a.O., S. 506

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Eugenie Goldstern kann nicht untertauchen. Sie kann keine Lebensmittel ohne amtliche Bewilligung bekommen. Sie hat keinen eigenen Verdienst, mit dem sie sich durchschlagen, keinen großen Bekanntenkreis, der sie verstecken könnte. Ihr steht die " Kommissionierung " 924, die Begehung und Besichtigung ihrer Wohnung durch eine Kommission bevor. Sie muß ein genaues Verzeichnis ihres Besitzstandes anlegen, zu dem sicher der auf dem Sperrkonto hinterlegte Erlös der Fangoklinik gehört, weil die anderen Erben nur einen Betrag von jeweils zehn Reichsmark außer Landes bringen durften. Die Geheime Staatspolizei verlangt die Ausstellung einer " Sondervollmacht " die es ihr erlaubt, " die Schenkung all dieser Werte durchzuführen ". 925 Die " Aussiedlung " wird bezahlt mit dem Vermögen, das die Gestapo konfisziert hatte. 926 Der deponierte Erlös des Verkaufes der Fangoklinik dient also zur Selbstfinanzierung der Vernichtung. Der rechtmäßigen Eigentümerin wird erkärt, daß diese Zuwendung für ihren eigenen Bedarf benötigt werde. Sie müsse für die Unkosten der vorläufigen Unterbringung und Verpflegung aufkommen, wobei Überschüsse für Fürsorgezwecke 927 sowie für die " endgiltige Lösung des Judenproblems " bestimmt seien. 928 Sie muß ihre Lebensmittelkarten und ihre Wohnungsschlüssel " mit einer Tafel aus Pappendeckel versehen " abgeben, auf der ihr Name und Geburtsdatum vermerkt sind. 929

Nach neun Uhr abends werden in den Wiener Stiegenhäusern die Lichter gelöscht, die Haustore versperrt. Dann fürchtet man, auf der Straße das Rattern eines Motors zu hören, der die Ankunft " eines dieser bedrohlichen, nur zu gut bekannten gedeckten Lastautos " bedeutet. 930 Spät nachts wird geläutet. Stiefel trampeln die hölzernen Treppenstufen hinauf. SS - Scharführer mit Namenslisten und " Ausheber " begehren Einlaß in die Wohnungen. Sie wollen Papiere kontrollieren und den in das Lager zu überstellenden Personen " beim Packen helfen ". 931 Die schwarz uniformierten Schergen begehen immer wieder grausame Gewalttätigkeiten. 932 Seit mehr als zwei Jahren wird Eugenie Goldstern immer wieder in ihrem Haus in der Nußdorferstraße Zeugin von solchen " Umsiedelungsaktionen ". Sie erlebt schreckliche Szenen. Jetzt ist sie selbst betroffen. Sie wird mit anderen bleichen Menschen auf einen offenen Lastwagen verladen. Die Fahrt geht durch die kriegsbedingt völlig verdunkelte Stadt in ein Quartier jenseits des Donaukanals. In dem früheren Schulhaus sind die Fenster mit Brettern vernagelt. Hier führen die Männer mit dem Totenkopfabzeichen das Regiment. Immer wieder kommt es zu brutalen Übergriffen. 2000 Menschen werden von der Außenwelt streng abgesondert. Sie dürfen keine Verbindung nach draußen unterhalten. Jüdische Helfer und drei Krankenschwestern versehen einen Dienst, der ihnen von der Gestapo vorgeschrieben wird. Es gibt wenig zu essen. Alles ist jämmerlich schlecht

924Hilberg, a.a.O., S. 321

925Klusacek, Dokumentation 1938-1945, a.a.O., S. 258

926Claude Lanzmann, Shoah, Düsseldorf 1986, S. 8

927Hilberg, a.a.O., S. 328

928Aktennotiz des Leiters der Israelitischen Kultusgemeinde Wien am 2.2.1941, Eichmann - Prozess, Beweis -

Dokument Nr. 1147, S. 3, Institut für Zeitgeschichte, München

929Fraenkel, a.a.O., 5. 512

930Trahan, a.a.O., S. 176

931Safrian, Eichmann, a.a.O., S. 176

932Safrian, Eichmann, a.a.O., S. 177

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eingerichtet. Männer, Frauen und Kinder liegen auf dem bloßen Fußboden. Es wurden keine sanitären Maßnahmen getroffen. Es ist schmutzig. Die Inhaftierten werden von Läusen geplagt. 933 Sie müssen mehrere Tage auf den Abgang des Transportes warten.934

Der " Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg ", dem Arthur Haberlandt angehört,935 ist für solche Augenblicke geschaffen worden. Er ist " die offizielle NS - Beuteorganisation ". 936 Er soll Forschungsunterlagen und Kulturgüter, die " bisher im Besitz von Juden, nunmehr herrenlos oder von nicht einwandfrei zu klärender Herkunft " sind, sicherstellen. 937 Die " M -Aktion " fand bis Januar im Osten statt. Jetzt liegen die Einsatzleitungen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Die verlassenen Wohnungen werden von " Erfassungsbeamten " beschlagnahmt und versiegelt. Privatbibliotheken und anderes " Büchermaterial " wird für die " Hohe Schule ", die ideologische Lehranstalt der Partei konfisziert. 938 Nach einiger Zeit wird die verbliebene Habe in Sammellager geschafft. Zur Sortierung, möglicherweise Reparatur, Verpackung und Verladung werden " ausschließlich internierte Juden verwendet ", die aufs Schärfste von den Mitgliedern des Einsatzstabes überwacht werden. Wohnungseinrichtungen und Gebrauchsgegenstände werden den Verwaltungen zugeführt.

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933Jo Singer, a.a.O., S. 5

934Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (Hrsg. ), Erzählte Geschichte, Berichte von

Widerstandskämpfern und Verfolgten, Bd. 3, Jüdische Schicksale, Wien 1993, S. 496

935Wolfgang Jacobeit, a.a.O., S. 563

936David Roxan, Ken Wanstall, Der Kunstraub, Ein Kapitel aus den Tagen des Dritten Reiches, München 1966, S. 7

937Idee und Tat, Lehrstoff für die gesamte weltanschauliche Erziehung der NSDAP, 6. Folge, Berlin 1944, S. 62

938Hilberg, a.a.O., S. 412

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Freud Sigmund, Gesammelte Werke, Chronologisch geordnet, Bd. VIII, Werke aus den Jahren 1909 - 1913, Frankfurt am Main 1973Fried Erich, Gründe, Gesammelte Gedichte, Herausgegeben von Klaus Wagenbach, Berlin o.J.Führer Johannes, Aostatal, Die schönsten Tal- und Höhenwanderungen, München 1993Gagarin Marie Fürstin, Blond war der Weizen der Ukraine, Erinnerungen, Bergisch Gladbach 1991Gedye George Eric Rowe, Die Bastionen fielen, Wien 1952Generalstab des Heeres, 9. Abteilung, Militärgeographische Beschreibung von Polen ( mit Einzelangaben zum Nachschlagen ), Abgeschlossen am 1.7.1939, Berlin 1939Gennep Arnold van, De quelques rites de Passage en Savoie, Revue de l' histoire des religions, Paris, 1910Gennep Arnold van, Manuel de Folklore Francais Contemporain, Bd. III, Paris 1937Gennep Arnold van, Übergangsriten (Les rites de passage ), Frankfurt am Main 1986Gennep Kati van, Bibliographie des Oeuvres d' Arnold van Gennep/p, Paris 1964Gitermann Valentin , Geschichte Rußlands, Bd. III, Zürich 1949Gloger Zygmunt, Budownictwo Drzewne, I Wyroby z Drzewa, W Dawnej Polsce, Warszawa 1907, Bd. 1Goldstern Alexander, Bericht an die Familie vom 12.2.1939, Typoskript, S. 1Goldstern David, Zur Kenntnis des Brasilins, Inaugural - Dissertation der hohen philosophischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde, Bern 1903Goldstern Eugenie, Alpine Spielzeugtiere, Ein Beitrag zur Erforschung des primitiven Spielzeuges, Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 29. Jahrgang 1924, Heft 3 - 4Goldstern Eugenie, Beiträge zur Volkskunde des Lammertales mit besonderer Berücksichtigung von Abtenau (Tännengau ), in : Zeitschrift für österreichische Volkskunde, Wien 1918Goldstern Eugenie, Bessans, Vie d' un village de haute Maurienne, Traduction Francis Tracq et Melle Schaeffer, Challes-les- Eaux 1987Goldstern Eugenie, Eine volkskundliche Erkundungsreise im Aostatale (Piemont ). (Vorläufige Mitteilung ), Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 28. Jhg. Heft 1, Wien 1923Goldstern Eugenie, Hochgebirgsvolk in Savoyen und Graubünden, Ein Beitrag zur romanischen Volkskunde I. Bessans, Volkskundliche monographische Studie über eine savoyische Hochgebirgsgemeinde (Frankreich ) II. Beiträge zur Volkskunde des bündnerischen Münstertales (Schweiz ), Wien 1922Goldstern H. N. aus Lemberg ( Österreich ), Die Sehrinde, Eine rassen - anatomische Studie an Judenhirnen, Inaugural - Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen medizinischen Fakultät der Universität Bern, Bern 1915Goldstern Israel, Ein Bild aus der neuesten Judenmission, Herausgegeben vom Rheinisch = westfälischen Verein für Israel in Köln am Rhein, Köln 1885Goldstern Jenny, Twardowski, der polnische Faust, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVIII. Jahrgang, Wien 1912Goldstern Lippa, Ueber einige rein aromatische Aether und substituirte Phenole, welche bei der Einwirkung von Phenol auf die entsprechenden Diazoverbindungen erhalten wurden, Inaugural - Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde einer Hohen phil. Facultät der Universität Basel, Karlsruhe 1892Goldstern Norbert, Die Bestgestaltung der Arbeit am Halbschattenpolarimeter, Ein Beitrag zur Psychotechnik des Messens, Sonderdruck aus " Industrielle Psychotechnik ", 5. Jahrgang, Heft 7/8 und 10, Berlin 1928Goldstern Samuel, Behandlung des Rheumatismus mittels Transkutanbädern und Fieberprovokation, Vortrag, gehalten am IV. Internationalen Kongreß der Liga zur Bekämpfung des Rheumatismus in Moskau, am 6.5.1934, Sonderdruck aus der Wiener Medizinischen Wochenschrift, Nr. 15, Wien 1935Goldstern Samuel, Bericht über 254 im Sanatorium der Wiener Kursanstalt (Fangosanatorium ) in den Jahren von 1906 - 1912 behandelte Diabetiker, Wiener Medizinische Wochenschrift, Sonderdruck, Wien 1914

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Goldstern Samuel, Ein Fall von Spontanhypoglykämie mit eleptiformen Anfällen, Sonderduck der Wiener klinischen Wochenschrift, Nr. 46, Wien 1936Goldstern Samuel, B. Katunsky, Fango di Battaglia, Leitfaden für Ärzte, Wien 1933Goldstern Walter , Die Familie - Goldstern - The Family, Aldford, o.J.Gomulicki Wiktor, Warschau, München 1930Gorjki Maxim, Judenmassakre, aus dem Russischen übersetzt von Sonja Wermer, Wien 1904 Great Soviet Encyclopedia, A Translation of the Third Edition, Bd. 18, New York 1978Guggenheim - Grünberg Florence, Zürich, Eduard Hoffmann - Krayer und die jüdische Volkskunde, Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 60, Basel 1964, Universität Basel, Seminar für Volkskunde, Archiv, Aufruf des Schweizerischen Komitées für jüdische Volkskunde, Basel o.J.Guth Nadia, Synagoge und Juden in Basel, Basel 1988Gutman Israel ( Hrsg. ), Encyclopedia of the Holocaust, Bd. 4, New York 1990Haberlandt Arthur, Die Idee der Nation in der Volkskunde, in : Nation und Staat, Deutsche Zeitschrift für das europäische Minoritätenproblem, VII. Jahrgang, Wien Februar 1934, Heft 5Haberlandt Arthur, Führer durch das Museum für Volkskunde, Wien 1930Haberlandt Arthur, Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Volkskunde von Montenegro, Albanien und Serbien, Ergebnisse einer Forschungsreise in den von den k. und k. Truppen besetzten Gebieten, Wien 1917Haberlandt Arthur, Prähistorisches in der Volkskunst Osteuropas, Sonderdruck aus der Vierteljahrsschrift Werke der Volkskunst, Bd. I, H. II, Wien 1913Haberlandt Michael, Cultur im Alltag, Gesammelte Aufsätze, Wien 1900Haberlandt Michael, Dichtungen des Ostens, Die Abenteuer der zehn Prinzen, München 1923Haberlandt Michael, Die Kochkunst der Primitivvölker, Vortrag, gehalten den 27.9.1912, Vorträge des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, Wien 1913Haberlandt Michael, Über Frauenwaffen, Globus, Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Bd. LXIV, Nr. 12, Braunschweig 1893Haberlandt Michael, Völkerkunde, Berlin 1917 Haberlandt Michael, Zu den " Alpinen Spielzeugtieren ",Wiener Zeitschrift für Volkskunde, 29. Jahrgang 1924, Heft 3 - 4Hannß Christian, Neue Fremdenverkehrsentwicklung in den französischen Nordalpen, Tübingen 1984Hecksch Alexander von ( Hrsg. ), Illustrierter Führer auf der Donau von Regensburg bis Sulina, Revidirt und theilweise neu bearbeitet von Joseph Kahn, Wien, Pest, Leipzig, 1894Heindl Waltraut, Tichy Marina, " Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück ", Frauen an der Universität Wien (ab 1897 ), Wien 1990Herlihy Patricia, Odessa : a history, 1794 - 1914, Cambridge, Mass. 1986Herweg Rachel Monika , Die jüdische Mutter, Das verborgene Matriarchat, Darmstadt 1995Hilberg Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden, Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982Hinrichsen Adolf, Das literarische Deutschland, 1891Höfler Max, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVIII. Jahrgang, Wien 1912, S. 119Hoernes Moritz, Natur- und Urgeschichte des Menschen, Band II. Urgeschichte der Kultur, IV - VII, Wien 1909Hoernes Moritz, Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa, Von den Anfängen bis um 500 v. Chr., Wien 1915, Hoffmann-Krayer Eduard, Arnold van Gennep, Les Rites de Passage, Rezension in : Schweizerisches Archiv für Volkskunde, 14.Jhg., Basel 1910Hoffmann-Krayer Eduard, Bücheranzeige zu Arthur Haberlandt, Volkskunst der Balkanländer, Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 23, Basel 1919Hoffmann - Krayer Eduard, Customs of the World, Switzerland, S. 1120, London 1913Hoffmann-Krayer Eduard, Volkskundliche Bibliographie für die Jahre 1921 und 1922, Berlin 1927Hollingsworth Brian u.a., Das Handbuch der Lokomotiven, Herrsching 1990

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Holme Charles ( Hrsg. ), Peasant Art in Russia, London 1912Horodezky Samuel Abraham, Mystisch - religiöse Strömungen unter den Juden in Polen im 16. - 18. Jahrhundert, Leipzig 1914Horodezky Samuel Abraham, Religiöse Strömungen im Judentum, Mit besonderer Berücksichtigung des Chassidismus, Bern 1920, New York Public Library Reference Department, Dictionary Catalog of the Jewish Collecttion, Bd. 4, Boston Mass. 1960Humboldt Alexander von, Kosmos, für die Gegenwart bearbeitet von Hanno Beck, Stuttgart 1978Idee und Tat, Lehrstoff für die gesamte weltanschauliche Erziehung der NSDAP, 6. Folge, Berlin 1944Ikonnikov Nicolas, La Noblesse de Russie, Tome R 2, Paris 1962Index - Catalogue of the Library of Surgeon - General's Office, United States Army, Vol. V., Washington 1900Istituto Storico della Resistenza in Valle d' Aosta, Le Minoranze etniche europee di Fronte al Nazismo ed al Fascismo, Atti del Convegno svoltosi ad Aosta il 3 e 4 Dicembre 1983, Aosta 1985Jacobeit Wolfgang , Lixfeld Hannjost, Bockhorn Olaf, (Hrsg. ), Völkische Wissenschaft, Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 1994Jannoz B., Cerkwie drewniane w okolicach Lwowa, Ziemia, Nr. 41, 42, 43, 44,1911. Nr. 12, 20, 1912Jens Walter ( Hrsg. ), Kindlers Neues Litaratur Lexikon, Bd. 6, München 1989Jerábek Rudolf, Potiorek, General im Schatten von Sarajevo, Graz 1991Johnston Robert H., " New Mecca, New Babylon " Paris and the Russian Exiles, 1920 - 1945, Montreal 1988Jone Katarzyna, Rahn Christiane, Warschau / Krakau, Bielefeld 1992Jüdische Wochenschrift, Die Wahrheit, 50. Jhg., Nr. 22, Wien 25.5.1934Juschkewitsch Semjon, Ghetto, einzig autorisierte Übersetzung von Sonja Wermer, Wien 1903Kagan Joram, Poland's Jewish Heritage, New York 1992Kandinsky Wassily, Franz Marc (Hrsg. ), Der Blaue Reiter, München 1979Katz Jacob , Toward Modernity, The European Jewish Model, New York 1987Kayser Friedrich, Roloff Ernst M., Ägypten einst und jetzt, Freiburg i.B. 1908Kessler Otto, Die Ukraine, Beiträge zur Geschichte, Kultur und Volkswirtschaft, München 1916Klüger Ruth, weiter leben, Eine Jugend, Göttingen 1993Klusacek Christine, Stimmer Kurt, Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte 1918-1928, Wien 1984Knapp Charles u.a. ( Hrsg. ), Geographisches Lexikon der Schweiz, Bd I, Neuenburg 1902, Bd. II Neuenburg 1904, Bd. III, Neuenburg 1905, Bd. IV Neuenburg 1906, Bd. V Neuenburg 1908, Bd. VI Neuenburg 1910Knight Max, Bericht, Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv, MS 684/4Koch Karl, Die Krim und Odessa, Reise-Erinnerungen, Leipzig 1854Koepping Klaus - Peter, Adolf Bastian and the Psychic Unity of Mankind, The Foundations of Anthropolgy in Nineteenth Century Germany, Queensland 1983Kohut Adolph, Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit, Bd. II, Leipzig 1900Kos Walter (Hrsg. ), Die Eroberung der Landschaft, Semmering, Rax, Schneeberg, Katalog zur Niederösterreichischen Landesausstellung, Schloß Gloggnitz 1992Kosar Wolfgang, Deutsche Gemeinschaft, Seyss - Inquart und der Anschluß, Wien 1971Kraus Fritz ( Hrsg. ), Kosmos und Humanität, Alexander von Humboldts Werk in Auswahl, Bremen 1960Kuprin Alexander, Olessia und andere Novellen, Berlin 1911Lach Robert, Gesänge russischer Kriegsgefangener, Akademie der Wissenschafte in Wien, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, 205. Band, 2. Abhandlung, 66. Mitteilung der Phonogrammarchivs-Kommission, Mit einem Anhang von N.S. Trubetzkoj : Über die Struktur der

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mordwinischen Melodien, Wien 1933Lanzmann Claude, Shoah, Düsseldorf 1986Lengerau Marc, La minorité ethnique Valdôtaine de 1860 a nos jours : continuité et mutations, in : Sanguin Lepszy Leonard, Krakau, Leipzig 1906, Georg Brandes, Polen, Einzig autorisierte Übersetzung aus dem Dänischen von Adele Neustädter, München 1898Leskien August, Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Bd. 43, Leipzig 1889Lévy Zumwalt Rosemary, The Enigma of Arnold Van Gennep (1873 - 1957 ) : Master of French Folklore and Hermit of Bourg-la-Reine, Helsinki 1988Lipp Franz K., Erlesenes Volksgut der Alpenländer, vornehmlich des Salzkammergutes,Sammlung Edgar von Spiegl im Schloßmuseum Linz, vormals Engleithen bei Bad Ischl, Linz 1968, Kataloge des Oberösterreichischen Landesmuseums, Nr. 58, Nr. 8 der Volkskunde - AbteilungLössi Henri, Der Sprichwortschaftz des Engadins, Mit Einschluß der Sprichwörter des Münstertales sowie der in diesen beiden Talschaften gebräuchlichen Landwirtschafts- und Wetterregeln, Winterthur 1944Luther G., Die Neugestaltung des Hafens von Odessa, Braunschweig 1889Mahler Raphael , Hasidism and the Jewish Enlightenment, Their Confrontation in Galicia and Poland in the First Half of the Nineteenth Century, Philadelphia 1985Marcus Joseph, Social and Political History of the Jews in Poland, 1919 - 1939, Berlin 1983Mautner Konrad ( Hrsg. ), Alte Lieder und Weisen aus dem Steyermärkischen Salzkammergute, Auflage von 1919, Reprint Tutzing 1977Mautner Konrad, Steirisches Trachtenbuch, begonnen und begründet von Konrad Mautner, Graz 1935Mautner Konrad, Steyerisches Rasplwerk, Vierzeiler, Lieder und Gasslreime aus Goessl am Grundlsee, in Wort und Weise gesammelt, aufgeschrieben und mit Bildern versehen von Konrad Mautner, Wien 1910, Viktor Geramb ( Hrsg. ),Menghin Oswald, Geist und Blut, Grundsätzliches um Rasse, Sprache, Kultur und Volkstum, Wien 1934Moser Jonny, Die Judenverfolgung in Österreich 1938 - 1945, Wien 1966Neue deutsche Biographie, Bd. IX, Berlin 1972Neue Zürcher Zeitung und schweizerisches Handelsblatt, 141. Jhg., Nr. 1432, 1.9.1920, Erstes MittagsblattNicholas Lynn H., Der Raub der Europa, das Schicksal europäischer Kunstwerke im Dritten Reich, München 1995Niederer Arnold, Alpine Alltagskultur zwischen Beharrung und Wandel, Ausgewählte Arbeiten aus den Jahren 1956 bis 1991, Hrsg. v. Klaus Anderegg und Werner Bätzing, Bern 1993Niederer Arnold, Bemerkungen zu Louis Courthions " Peuple du Valais ", Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Bd. 67, Basel 1971Niederer Arnold, Kurzbericht von der Forschungsexpedition nach Bessans (Haute-Maurienne ), 9. bis 19. Oktober 1967, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie, Bd. XXIV, Gesamtserie Bd. 73, Heft 1, Wien 1970, Nowakowsky David , Gebete und Gesänge zum Eingang des Sabbath, für Cantor Solo und Chor mit und ohne Orgelbegleitung, für den israelitischen Tempel von Odessa, New York 1955Oechsli Heierli W., Urgeschichte Graubündens mit Einschluß der Römerzeit, Zürich 1903Öhlschläger Karl, Binswangen - lebendiges Zeugnis reicher Vergangenheit, Dillingen 1982Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch - Historische Klasse, Sitzungsberichte, 586. Band, Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde Nr. 20, Wien 1992Österreichische Akademie der Wissenschaften ( Hrsg. ), Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 - 1950, Bd. VI, Wien 19750' Kane Francoise, Gens de la terre, gens du discours. Terrain, méthode et reflexion dans l' etude d' une communautè de montagne et ses emigres, Basel 1982

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Papanek Ernst, Die Idee steht mir höher als das Leben, Ein Buch über Josef Gerl und seine Freunde, Sozialistischer Jugendverband für die deutschen Gebiete der Tschechoslowakischen Republik, Karlsbad 1935Papanek Ernst, The Austrian School Reform, Its Bases, Principles and Development - The Twenty Years between the Two World Wars, New York 1962Papanek Ernst, Die Kinder von Montmorency, Wien 1980Papanek Ernst, Out of the Fire, New York 1975Papashvily Helen und George, Die Küche in Rußland, Reinbek 1979Penzler Johannes ( Hrsg. ), Ritters geographisch - statistisches Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1906Perrier Rosine, J' appartiens au silence, Maurienne, vallée rebelle et vallée martyre, Les La Ferme du Vochet, La Fontaine de Siloé 1991Petrowa Jewgenija, Potter Jochen ( Hrsg. ), Russische Avantgarde und Volkskunst, Stuttgart 1993Ploetz Karl, Hauptdaten der Weltgeschichte, Würzburg 1963Pohl Dieter, Von der " Judenpolitik " zum Judenmord, Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements, 1939 - 1944, in : Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte, Frankfurt am MainPölt - Nordheim Klara, Innsbruck, Lieder und Gebete aus dem Sarntale, Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XIX. Jahrgang, Wien 1913Pollack Martin, Nach Galizien, Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen, Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina, Wien 1984Pollmann Bernhard, Chronik 1905, Tag für Tag in Wort und Bild, Dortmund 1992Prinz Joachim, Illustrierte Jüdische Geschichte, Berlin 1930Rado A., Führer durch die Sowjetunion, Berlin 1928Resultats du Recensements d' Odessa du 1 Décembre 1892, Odessa 1894Rikli Arnold, Allgemeine Curregeln speziell angepasst den Koordinationsbücheln der Wasserheilanstalten Mallnerbrunn am Veldeser See in Oberkrain und in Guardiella in Triest, Triest 1871Rikli Arnold, Wegweiser zu den Umgebungen des Kurortes Veldes in Oberkrain, Triest 1862Der große Brockhaus, Bd. 15, Leipzig 1933Rohner Jürg, Studien zum Wandel von Bevölkerung und Landwirtschaft im Unterengadin, Basler Beiträge zur Geographie, Heft 14, Basel 1972Roth Joseph, Werke Bd. 2, Das journalistische Werk 1924 - 1928, Köln 1990Roxan David, Wanstall Ken, Der Kunstraub, Ein Kapitel aus den Tagen des Dritten Reiches, München 1966Rozenblit Marsha L., Die Juden Wiens 1867 - 1914, Assimilation und Identität, Wien 1989Rübe Werner, Alexander von Humboldt, Anatomie eines Ruhmes, München 1988Rütimeyer Leopold, Über einige archaistische Gerätschaften und Gebräuche im Kanton Wallis und ihre prähistorischen und ethnographischen Parallelen, Sonderdruck aus dem Schweizerischen Archiv für Volkskunde, XX. Jahrgang, 1916Rütimeyer Leopold, Ur-Ethnographie der Schweiz, Ihre Relikte bis zur Gegenwart mit prähistorischen und ethnographischen Parallelen, Basel 1924Safrian, EichmannSafrian Hans, Witek Hans, Und keiner war dabei, Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 1988Sarasin Fritz, Prof. Leopold Rütimeyer, Dr. med. et phil. h.c., 1856 - 1932, Separatabdruck aus dem Basler Jahrbuch, Basel 1934Schiller Gertrud, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 2, Die Passion Christi, Gütersloh 1968Schmid Hans, Bündnerfahrten, Engadin und südliche Täler, Frauenfeld o.J.Schmid Hans, Wallis, Ein Wanderbuch, Frauenfeld 1926Schmidt Carl, Ludwig Rütimeyer als Gebirgsforscher, Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, 31. Jhg., 1895 - 1896, Bern 1896Schmidt Leopold, Das österreichische Museum für Volkskunde, Wien 1960

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Schmidt Leopold, Die europäischen Vergleichssammlungen im österreichischen Museum für Volkskunde, in : Wissenschaft und Weltbild, Zeitschrift für Grundfragen der Forschung, 14. Jahrgang, Heft 1, Wien März 1961Schmidt Leopold, Geschichte der österreichischen Volkskunde, Wien 1951Schmidt Leopold, Rudolf Trebitsch zum Gedächtnis, Zur Sonderausstellung des Österreichischen Museums für Volkskunde, unveröffentlichtes Typoskript, Wien 1956Schoenfeld Joachim, Jewish Life in Galicia under the Austro - Hungarian Empire and in the Reborn Poland, 1898 - 1939, Hoboken N.J. 1985, Schuster Rudolf, Sozial anstößig und moralisch minderwertig, Anti - Judaismus von den Anfängen bis zum Konzil von Nicaea, in : Entschluß, Spritualität . Jesuiten . Gemeinde, 42. Jhg., Nr. 7 - 8, Wien 1987Schwabacher Simon Leon, Das Werk der Erinnerung, Weiherede zur eröffnung des zum Andenken des Gottseligen Erzbischofs Dimitri von der Odessaer israelitischen Gemeinde gestifteten Waisenstpendiums, Odessa 1887Schwabacher Simeon Leon von, Der Sieg der Menschheits - Idee über den Nationalitäts - Begriff, Vorlesung zum Besten des Rothen Kreuzes, Odessa 1878Simeon Leon von Schwabacher, Denkschrift über Entstehung und Charakter der in den südlichen Provinzen Rußlands vorgefallenen Unruhen, Stuttgart 1882 Schwabacher Simeon Leon von, Drei Gespenster, Eine Zeitfrage, Stuttgart 1883Schwarz Werner Michael, Kino und Kinos in Wien, Eine Entwicklungsgeschichte bis 1934, Wien 1992 Schweizerisches Alpines Museum, Jahresbericht 1920, Bern 1921Selig Wolfram ( Hrsg. ), Synagogen und jüdische Friedhöfe in München, München 1988Sibilla Paolo, La centralité du modele commercial dans la tradition economomique et culturelle de la minorité Walser du Val d' Aoste, in : SanguinSimon Gertrud, Hintertreppen zum Elfenbeinturm, Höhere Mädchenbildung in Österreich, Anfänge und Entwicklungen, Wien 1993Singer Jo, Erlebnisse in Wien und Theresienstadt, Aufgenommen von H.G. Adler, London Sommer 1958, Institut für Zeitgeschichte, München, Archiv, ZS 2359 Sitzungsberichte der Anthropologischen Gesellschaft in Wien, Jahrgang 1921 - 1922, Wien 1922Société des Nations, Institut International de Coopération Intellectuelle, Cahiers des Relations Artistiques, I., La Coopération Intellectuelle et les Beaux - Arts, Paris 1927, Sperber Alice, Inaugural - Dissertation der philosophischen Fakultät der Universität Bern zur Erlangung der Doktorwürde, Charakteristik der Lothringer Märchensammlung von E. Cosquin, ( Paris 1887 ), Wien 1908, ÖZV XVII, 1911Sperber Alice, Über die seelischen Ursachen des Alterns, der Jugendlichkeit und der Schönheit, Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Bd. XI, Wien 1925, Sperber Alice, Zur Animalisierung von Gegenständen, Wörter und Sachen, Kulturhistorische Zeitschrift für Sprach- und Sachforschung, Bd. II, Heft 2, S. 192, Heidelberg 1911 Sperber Alice, Zur Bildung romanischer Kindernamen, Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, XXVII. Heft, Prinzipienfragen der romanischen Sprachwissenschaft, Meyer - Lübke gewidmet, Teil II, Halle a.S. 1911Sperber Manés, Bis man mir Scherben auf die Augen legt, All das Vergangene, Wien 1977Spiel Hilde, Die hellen und die finsteren Zeiten, Reinbek 1989Spieß Karl von, Der Mythos als Grundlage der Bauernkunst, Programm des k.k. Staats- Ober- Gymnasiums zu Wiener Neustadt, Wiener Neustadt 1911Spieß Karl von, Deutsche Volkskunde als Erschließerin Deutscher Kultur, Berlin 1934Spieß Karl von, Prähistorie und Mythos, Programm des k.k. Staats- Ober- Gymnasiums zu Wiener Neustadt, Wiener Neustadt 1910Stahl Weinberg Sydney , The World of of Our Mothers, The Lives of Jewish Immigrant Women, New York 1988

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Wiener Zeitschrift für Volkskunde, XXXVI. Jahrgang, Wien 1931Wiese Benno von, Deutsche Dichter der Romantik, Ihr Leben und Werk, Berlin 1983Zebhauser Helmuth, Trentin - Meyer Maike ( Hrsg. ), Zwischen Idylle und Tummelplatz, Katalog für das Alpine Museum des Deutschen Alpenvereins in München, München 1996Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XV. Jahrgang, Wien 1909Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XVII Jahrgang, Wien 1911 Zeitschrift für österreichische Volkskunde, XIX. Jahrgang, Wien 1913Zeller Rudolf , Ein Rundgang durch das Schweizerische Alpine Museum, Bern o.J.Zinsli Paul, Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Piemont, Erbe, Dasein, Wesen, Chur 1986Zinsli Paul, Die Walser, in : Paul Hugger, Handbuch der schweizerischen Volkskultur, Bd. II, Zürich 1992Zipperstein Steven J. , The Jews of Odessa, A Cultural History, 1794 - 1881, Stanford 1985Zöllner Erich ( Hrsg. ), Revolutionäre Bewegungen in Österreich, Wien 1981Zuckmayer Carl, Als wär's ein Stück von mir, Frankfurt a.M. 1966Zurrer Peter, Differences de bilinguisme dans les communautes Walser de la Vallée d' Aoste, in : André - Louis Sanguin ( Hrsg. ), Les Minorités ethniques en Europe, Paris 1993Zürrer Peter, Wörterbuch der Mundart von Gressoney, Mit einer Einführung in die Sprachsituation und einem grammatischen Abriß, Frauenfeld 1982

Archivalien

Exekutionsgericht Wien, Firmenbuch, HandelsregistereinträgeBezirksgericht Josephstadt, Grundbucheinlagen, Wiederhergestelltes Grundbuch über die Steuergemeinde AlsergrundStaatsarchiv Augsburg, Staatliches Gesundheitsamt WertingenArchiv des Schweizerischen Alpinen Museums, BernArchiv der der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg, Imatrikulationsbuch der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg, Sommersemester 1919Auszug aus dem Protokoll der Sitzung der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg vom 19. Mai 1919Protokoll der Doktorprüfung vom 16.6.1920 der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität FribourgInstitut für Zeitgeschichte, München,Kopien von Personalakten aus dem Universitätsarchiv Wien, NSDAP in Österreich, Beweisdokumente der Nürnberger Prozesse, Eichmann - Prozess,Auszüge aus den Memoiren von Albert Cimaz ( 1905 - 1983 ), brieflich mitgeteilt von Hélène und Léon Personnaz, Paris 7.5.1997Brief Hanna PapanekBrief von Familie Hedinger-Bass, Santa Maria 20.2.95Niederer Arnold, Brief vom 18.2.1995, Wernert, geb. Goldstern Claire, BriefeWiener Stadt- und Landesarchiv, Meldearchiv, Totenbücher, Todfallsaufnahmen, K.K. Handelsgericht, Schwarzwald - Archiv, Gedenktagekataster der Magistratsabteilung 9, Sten ographische Berichte über die öffentliche Sitzungen des Gemeinderates der Bundeshauptstadt WienÖsterreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Bundsministerium für Inneres und Unter richt, Volkskundemuseum, Statistik, Paßanträge, Optionsakten, Bundes kanzleramt, Bundesgerichtshof, Akten zur Vermögensanmeldung, N.S.D.A.P., Gauleitung Wien, Personalamt ,

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Kriegsarchiv, K. u. k. Kriegministerium, Orient - Abteilung, Landsturm - Evidenz - Blätter

Österreichisches Museum für Volkskunde, Archiv, Briefe von Eugenie Goldstern Rudolf Trebitsch, Beiträge zur baskischen Volkskunde, Erläuterungen zur baskischen sammlung des k.k. Museums für österreichische Volkskunde in Wien, Wien o.JÖMV - Inventar VII, Wien 1912 ,ÖMV - Inventar VIII, Wien 1912, ÖMV - Inventar IX, Wien 1913XVIII. Jahresbericht des Vereines für österreichische Volkskunde für das Jahr 1912, Wien 1913Österreichisches Museum für Volkskunde, DiapositivverzeichnisÖsterreichisches Museum für Volkskunde, BibliotheksinventarArchiv, Museum der Kulturen, Basel Staatsarchiv Basel, Leichenreden, Topographischer Katalog, ZeitungsausschnittsammmlungUniversitätsbibliothek, Matrikel Universität Basel, sog. " Akademikerkatalog "Alsergrunder Bezirksmuseum, Postkartensammlung Archiv Claire Wernert, New Hartford N.Y.Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien

Medien

Lapied Anne und Erik , Le Preé des Danses, VHS - Video, schwarzweiß 35 Min., Avallon 1993District de Haute Maurienne, Bessans, Jadis et Anjourd'hui, Nr. 15, Eté 86, Special Cassette,

Persönliche Gespräche

Francoise Cimaz, BessansAmbroisine Cimaz, Bessans 31.12.1996Erinnerungen von Herrn Karl Piller, Sulz, Sulzer Höhe, NiederösterreichErinnerungen von Herrn Joseph Reißler in 89432 Binswangen, Judengasse 1, notiert am 29.1.1996, mündlich mitgeteilt von Frau Anna Back am 6.9.1996, Wien, Mündlich mitgeteilt von Frau Franzi Danneberg - Löw in Wien am 5.6.1996, Arnold Niederer, telefonische Mitteilung vom 10.12.1996,

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Izbica

Am 14.6.1942 wird Eugenie Goldstern zusammen mit anderen Unglücklichen am hellichten Tag mit einem Lastwagen zum abgelegenen Wiener Aspangbahnhof gefahren. Die Straßenpassanten haben sich daran gewöhnt, daß Menschen auf diese Weise über die Ringstraße abtransporiert werden.. 939 Ein Fahrzeug nach dem anderen entlädt seine Fracht an verschreckten Opfern. Ein Zug mit gewöhnlichen Personenwagen dritter Klasse steht bereit. Er trägt die Nummer Da 38. Die Ziffer 17 hat 940 der letzte von sechs " Evakuierungstransporten ", die seit dem 9.4.1942 mit insgesamt 6000 Menschen nach Izbica941 in Ostpolen abgehen. Über das Ziel, eine dünn besiedelte Gegend am Fluße Wieprz 942 und den Fahrplan wird keine Auskunft erteilt. Es soll eine " Aussiedlung " 943 in kleine Kreisstädte im neu eroberten Generalgouvernement erfolgen. Als Begründung dient " die in Wien herrschende Wohnungsnot ".944 Für die Bewachung der Männer, Frauen und Kinder werden dreizehn Beamte samt Bewaffnung und Munition vom regulären Revierpersonal der Ordnungspolizei abgestellt. Erst nach sieben Stunden fährt der Zug ab, weil in jeden Waggon 60 bis 100 Menschen gepfercht werden. Jeder Deportierte erhält einen kleinen Papierbeutel mit zwei Semmeln, einem Stückchen Käse und etwa 50 Gramm Wurst. 945

Der Transport nimmt mit einer Höchstgeschwindigkeit von 40 Stundenkilometern über Nebenstrecken die Route über Brünn, Neiße, Oppeln, Tschenstochau, Kielce und Radom. Unterwegs müssen die Insassen aus dem Sonderzug in gedeckte Güterwagen umsteigen. Sie kommen in den Morgenstunden des vierten Tages in Lublin an. Dort werden 51 Menschen " ausgeladen ". Die restlichen 949 werden am 17.6.1942 um 9.15 Uhr in Sobibór dem Lagerkommandanten Stangl übergeben. Ihre Ermordung ist beschlossen und steht unmittelbar bevor. Die Wachmannschaft aus Wien ist empört. Der Leutnant der Schutzpolizei Josef Frischmann beschwert sich sogleich nach seiner Rückkehr beim Polizeipräsidenten. Seine Leute mußten statt in der zweiten in der dritten Wagenklasse reisen. Anstelle einer den Sommertemperaturen angemessenen Verpflegung sei man " mit schnellverderblichen, aufgeweichten Würsten ausgestattet " worden. 946

Izbica ist eine Kleinstadt südöstlich von Lublin an der Hauptstraße nach Lemberg. 947 Der Weg führt vom Bahnhof mehr als zwei Stunden lang über eine " größtenteils ordentliche, aber ungeteerte

939mündlich mitgeteilt von Frau Anna Back, Wien 6.9.1996

940Moser Jonny, Die Judenverfolgung in Österreich 1938 - 1945, Wien 1966, S. 43

941Eintrag auf der Meldekarte im Wiener Stadt- und Landesarchiv

942Dokumentationsarchiv, a.a.O., S. 499

943Moser, Judenverfolgung, a.a.O., S. 21

944Moser, Judenverfolgung, a.a.O., S. 19

945Jo Singer, a.a.O., S. 6

946Josef Frischmann, Erfahrungsbericht vom 20.6.1942, Betr. : Transportkommando für den Judentransport, Wien -

Aspangbahnhof nach Sobibor am 14.6.1942, Dokumentationarchiv für den österreichischen Widerstand

947Operationskarte Warschau, Maßstab 1 : 800.000, Berlin 1916

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Straße " durch waldreiches Hügelland.948 Schließlich windet er sich den schroffen Uferhang hinab in das breite, zum Teil vermoorte, nasse und sumpfige Tal. Am Fluß stehen Gerbereien, Mühlen und ein Sägewerk. 949 Die Ortschaft wurde bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts als Eigentum des polnischen Königs für Juden erbaut, die anderwärts vertrieben worden waren. Sie wird während der deutschen Besatzungszeit zum großen Ghetto. Auf einem waldigen Hügel am Eingang liegt der alte israelitische Friedhof. Auf der Südseite des Marktplatzes steht der Ziegelbau einer Synagoge. In der Umgebung befinden sich viele alte jüdische Häuser. Im Frühjahr des Jahres 1942 wird die gesamte ursprüngliche Einwohnerschaft als eine der ersten im Landkreis gewaltsam " umgesiedelt ". Sie wird in Sobibór vernichtet. Die " Versuchsvergasungen " dort wurden Ende April abgeschlossen 950, nachdem man schon in Auschwitz " gewisse Erfahrungen " gesammelt hatte. 951

Izbica wird zum Durchgangslager für die Deportierten aus dem Westen. 952 Viertausend werden beim jüdischen Friedhofs draußen an der Fabrycznastraße exekutiert und in Massengräbern verscharrt. 953 Einige Menschen werden zur Arbeit in einem Zwangslager ausgesucht. 954 An der Selektion beteiligen sich die Kreisverwaltung, insbesondere das Arbeitsamt und die deutschen Arbeitgeber. 955 Im Zuge der Auflösung der Ghettos im Distrikt Lublin kommen in der zweiten Jahreshälfte 1942 die Juden aus Izbica in das größte Lager im Distrikt, nach Majdanek. 956 Dort herrschen katastrophale Bedingungen. Die Menschen werden durch Sklavenarbeit, Mißhandlungen und Unterernährung zu Tode geschunden. Der " Lagerkomplex Alter Flughafen " in Lublin gehört zu einem Wirtschaftsverband, den der frühere Gauleiter von Wien und jetzige Brigadeführer Globocnik, aufgebaut hat. 957 Hier gibt es ein Textillager. In ihm arbeiten Tausende von Frauen aus Majdanek bei der Aussortierung und Verwertung der Bekleidung der ermordeten Juden. 958 Nicht Arbeitsfähige werden in den Gaskammern der Vernichtungslager Belzec und Sobibór ermordet. 959

948Baedeker, Generalgouvernement, a.a.O., S. 140

949Generalstab des Heeres, 9. Abteilung, Militärgeographische Beschreibung von Polen ( mit Einzelangaben zum

Nachschlagen ), Abgeschlossen am 1.7.1939, Berlin 1939, S. 199

950Dieter Pohl, Von der " Judenpolitik " zum Judenmord, Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements, 1939 - 1944,

in : Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte, Frankfurt am Main, S. 121

951Pohl, a.a.O., S. 126

952Andrzej Trzcin_ski, A Guide to Jewish Lublin and Surroundings, Lublin 1991, S. 55

953Joram Kagan, Poland's Jewish Heritage, New York 1992, S. 76

954Wolfgang Benz, Dimension des Völkermords, München 1991, S. 48

955Pohl, a.a.O., S. 142

956Benz, Dimension, a.a.O., S. 470

957Pohl, a.a.O., S. 160

958Pohl, a.a.O., S. 159

959Dokumentationsarchiv, a.a.O., S. 499

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Von den aus Wien Verschleppten sind keine Überlebenden bekannt. 960 " Reichsminister Generalgouverneur " Dr. Hans Frank verkündet in aller Öffentlichkeit die Nachricht vom vollzogenen Massenmord. Ohne Umschweife erklärt er bei einer Großkundgebung am 1. August in Lemberg : " Der Jude ist in diesem Land kein Problem mehr, sondern höchstens geeignet, uns artgemäß zu interessieren. "961

In der unmittelbaren Nachkriegszeit werden im Österreichischen Museum für Volkskunde im Zuge einer Neuaufstellung " endlich die kostbaren Bestände aus Hochsavoyen " gezeigt. " Die Leistungen von (... ) Goldstern und anderen Sammlern sollten endlich einmal auch den Besuchern vor Augen geführt werden. " 962 Der neue Leiter würdigt die " hervorragende Systematik " ihrer Sammlungen. 963 Im Oktober 1967 unternimmt ein Dutzend Studierender der Universität Zürich unter Leitung von Professor Arnold Niederer eine Forschungsexpedition nach Bessans, um den Zustand des Ortes mit dem von Eugenie Goldstern geschilderten zu vergleichen. Es wird festgestellt, daß noch 50 Prozent der Häuser Stallwohnungen aufweisen. 964 Die Bewohner " reden aber nicht darüber ".965 Es entsteht ein Film " Alltag und Sonntag in Bessans ". Die Einwohner bekommen fünf Exemplare der Abhandlung von Frau Goldstern. Später bilden sich studentische Arbeitsgruppen. 966 Francoise O' Kane verfaßt in der Folge eine Dissertation über die Leute von Bessans und die von dort nach Paris Ausgewanderten. Sie untersucht die Beziehungen der Emigranten zu ihrem Herkunftsort. Sie setzt sich dabei mit der von Eugenie Goldstern ausgeübten Methode der " teilnehmenden Beobachtung " theoretisch auseinander. 967

Im Jahre 1968 findet im Schloßmuseum Gobelsburg eine " Sonderausstellung Französische Volkskunst " statt. Gezeigt werden Kleinplastiken, bäuerliche und häusliche Geräte und religiöse Volkskunst aus Savoyen, die aus der Sammlung Goldstern stammen. 968 Die Nichte Claire besucht bei ihrer Europareise diese Ausstellung. 969 Sie hat Gelegenheit, " die in ihrer Geschlossenheit und Systematik einzigartige Reihe von Gegenständen " 970 zu bestaunen. Klaus Beitl, der die Ausstellung

960Benz, Dimension, a.a.D., , S. 72

961Pohl, a.a.O., S. 137

962Schmidt, Museum, a.a.O., S. 97

963Leopold Schmidt, Geschichte der österreichischen Volkskunde, Wien 1951, S. 120

964Niederer, Kurzbericht, a.a.O., S. 301

965Arnold Niederer, telefonische Mitteilung vom 10.12.1996

966Niederer Arnold, Kurzbericht von der Forschungsexpedition nach Bessans (Haute-Maurienne ), 9. bis 19. Oktober

1967, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Neue Serie, Bd. XXIV, Gesamtserie Bd. 73, Heft 1, Wien 1970, S.

301

967Brief von Arnold Niederer vom 18.2.1995

968Klaus Beitl, Katalog, Schloßmuseum Gobelsburg, Sonderausstellung Französische Volkskunst, Wien 1968

969Claire Wernert, Brief vom 9.11.1994

970Klaus Beitl, Bericht einer Dorfuntersuchung in Savoyen, Frankreich, Österreichische Zeitschrift für Volkskunde,

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als Kustos betreute, nimmt zwei Jahre später an einer Tagung in Chur teil, die sich mit der Hirtenkultur Graubündens beschäftigt. Er weist die Spezialisten der regionalen Forschung darauf hin, " daß zu dem anderthalb Dutzend einschlägiger schweizerischer Kollektionen zumindest noch eine weitere außerhalb der Landesgrenzen hinzukommt. " 971 Schon vor fünfzig Jahren hat Eugenie Goldstern den Grundstock der umfangreichen Wiener Graubünden - Sammlung gelegt. Sie hat Möbel und Hausgerät, Werkzeuge der Textilbearbeitung, Gegenstände aus dem Gebiet des Volksbrauchs, des Spieles und des Sports und Geräte aus dem Bereich der bäuerlichen Arbeit zusammengetragen. Sie sind für die moderne Volkskunde von solcher Bedeutung, daß ein ausführlicher Katalog in einer bündnerischen Fachzeitschrift veröffentlicht werden soll. 972

Die Monographie über Bessans wird in der gegenwärtigen geographischen 973 und volkskundlichen 974, 975, 976 Fachliteratur noch immer als wichtige Quelle benutzt und geschätzt. Eine ausführliche Untersuchung über die uralten Methoden der Heubringung stellt die Beobachtungen, Skizzen und Fotografien der Forscherin aus Wien dem weithin unveränderten Zustand in den Siebziger Jahren gegenüber. 977 Noch zu dieser Zeit wird das Heu mit der " Korda " zusammengebunden und auf die " Lietta " gepackt. Dieser einfache, maultierbespannte Schlitten besteht nur aus einem Dutzend selbstgefertigter Holzteile. Er holpert dank seiner elastischen Konstruktion im Sommer auf den " Leyvon " geheissenen geschnitzten Kufen, an zwei gebogenen Lenkstangen geführt, über die abschüssigen Almwiesen. Im Winter stemmt sich der Bauer schon einmal selbst in das Zugseil, um die Ladung unter das vorspringende Hausdach, wo auch die Mistbriketts lagern, zu schaffen. 978

Im Jahre 1987 erscheint die Übersetzung der Arbeit über Bessans ins Französische. 979 Das Werk wird zu einer wichtigen Stütze des regionalen Selbstbewußtseins. Viele Hochalpengegend werden

Neue Serie, Bd. XXIV, Gesamtserie Bd. 73, Heft 1, Wien 1970, S. 300

971Klaus Beitl, Zeugnisse zur Sachkultur ( Hirten- und Alpwesen ) Graubündens in der Sammlung des österreichischen

Museums für Volkskunde in Wien, Alpes Orientales VI, Acta sexti conventus de ethnographia alpium orientalium

tractantis, Tusciae ( Helvetia ) Ab 25.AD. V. 1970 redegit Robert Wildhaber, München 1972, S. 54

972Beitl, Zeugnisse, a.a.O., S. 57

973Hannß, a.a.O.

974Francoise 0' Kane, Gens de la terre, gens du discours. Terrain, méthode et reflexion dans l' etude d' une communautè

de montagne et ses emigres, Basel 1982

975Beitl Klaus, Isac Chiva, Wörter und Sachen, Österreichische und deutsche Beiträge zur Ethnographie und

Dialektologie Frankreichs, Wien 1982

976Zinsli, Walser, a.a.O., S. 99

977Francis Tracq, La fenaison à Bessans ( Haute Maurienne ), in : Le monde alpin et rhodanien, Revue régionale d'

ethnologie année 1973 - second trimestre, Nyons 1973

978Tracq, La fenaison, a.a.O., S. 31

979Tracq Francis, Schaeffer Melle, (Herausgeber und übersetzer ), Eugenie Goldstern : Bessans : vie d'un village de

Haute-Maurienne, Challes-les-Eaux 1987

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zunehmend von gigantischen, gesichtslosen Gebäudekomplexen geprägt. Älplerisch dekorierte Massenquartiere mit ihrem gleichförmigen touristischen Animationsbetrieb breiten sich aus. Um der Abwanderung und Überalterung der Bevölkerung zu steuern soll sich Bessans zum Wintersportort mausern. Ein Skilift und Langlaufloipen werden eingerichtet. Eine Immobiliengesellschaft aus Chambéry stampft eine Ferienwohnanalage mit 250 Betten aus dem Boden. 980 Jetzt ist eine Rückbesinnung auf charakteristische Überlieferungen von besonderem Wert. Leute aus Bessans, die längst in Paris, in Lyon oder Grenoble leben, haben noch immer lebhaftes Interesse an der Geschichte und Entwicklung ihres Heimatortes. Eine kleine Zeitschrift mit dem Titel " Bessans früher und heute " greift dankbar die Forschungsarbeit der Eugenie Goldstern auf. In einer Ausgabe wird ein Tag bei der Winterarbeit geschildert. Im örtlichen Dialekt unterhalten sich zwei alte Bauern über die halsbrecherische winterliche Talfahrt mit mächtigen Heubündeln im unwegsamen Gelände. In einem lebhaften fiktiven Dialog versetzen sich zurück in die gemeinsam erlebten Zeiten. Das Ereignis ist sogar auf einer Audiokassette dokumentiert. 981 Ausführlich wird das Schnüren der schweren Ladung erklärt. Als Anschauungsmaterial dienen die Zeichnungen und Aufnahmen von Eugenie Goldstern.

Die große Schlittenpartie am Neujahrstag, die von ihr beschrieben wurde, ist Gegenstand einer eigenen Untersuchung. 982 Die damaligen Teilnehmer erzählen, wie sie alljährlich schon vor Weihnachten begannen, mit Pfosten, Seilen und Schnee einen abschüssigen Kanal mitten durch den Ort anzulegen. Die ganze Jugend des Ortes beteiligte sich. Die Verteilung bestimmter Aufgaben wurde in einer scherzhaft feierlichen Urkunde festgelegt. Um die Geläufigkeit der Rodelbahn zu steigern, wurden Fässer am Fluß mit Wasser gefüllt und mit Schlitten nach oben geschleppt. Die Geschwindigkeit auf der Piste, die obendrein an einer Stelle im rechten Winkel abbiegt, konnte durch diese Eisbeimischung gewaltig gesteigert werden. Noch heute erinnern sich die damaligen Teilnehmer mit Wehmut an das liebevoll selbst organisierte Gemeinschaftsunternehmen. Es wurde im Jahre 1940 von der italienischen Besatzung verboten. Bei der Brandschatzung durch die deutschen Truppen, der zwei Drittel des Ortes zum Opfer fielen, verbrannten die meisten Schlitten. Seitdem ist die Tradition abgebrochen.

1988 wird auf einer wissenschaftlichen Tagung in Eisenstadt die Leistung von Eugenie Goldstern bei der " Erforschung der Volkskultur hochalpiner Bevölkerungen " 983 hervorgehoben. Ihr auf " Interdisziplinarität und Komparatistik " 984 gerichteter methodischer Ansatz sei noch immer zeitgemäß. Ihr Vorgehen in der Feldforschung, der persönlichen Beobachtung und Befragung an Ort und Stelle, wird gewürdigt. Es wird bedauert, daß große Teile des von ihr eingebrachten volkskundlichen Sammlungsbestände noch immer wegen Raummangels unausgestellt bleiben müßten. Allerdings seien in der gegenwärtigen Aufstellung des Museums in der Wiener Laudongasse auswahlweise Gegenstände aus ihrer Kollektion Beispielen aus Österreich zur Seite gestellt. Als Forschungsprojekt wird angeregt, der alten dorfmonographischen Studie über Bessans eine neue, interdisziplinär organisierte Untersuchung folgen zu lassen.Der Name " Eugenie Goldstern " ist in Bessans noch immer ein Begriff. Die große Zeit der Kohabitation von Mensch und Tier ist endgültig vergangen. An der Hauptstraße dient ein kleines

980Hannß. a. a. o., S. 53

981District de Haute Maurienne, Bessans, Jadis et Anjourd'hui, Nr. 15, Eté 86, Special Cassette

982Bessans, Jadis et Anjourd'hui, Nr. 15, Eté 86, S. 17 - 22

983Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch - Historische Klasse, Sitzungsberichte, 586. Band,

Mitteilungen des Instituts für Gegenwartsvolkskunde Nr. 20, Wien 1992, S. 115

984Akademie, Mitteilungen, a.a.O., S. 107

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altes Bauernhaus als Touristeninformationsbüro. Der Raum darunter ist als Heimatuseum hergerichtet. Eine Stallwohnung samt Kastenbetten, Schubkarren und Jaucherinne ist rekonstruiert. Der Herrgottswinkel erstrahlt im Halogenlicht. Führungen finden statt. Über den Futterkrippen ist ein Farbfernseher samt Videorecorder montiert. In einem kleinen Film erzählen alte Leute vom alltäglichen Leben und Wohnen in früheren Zeiten. Das Haus, in dem sich die von Eugenie Goldstern abgebildete 985 Stallwohnung befand, hat sich äußerlich verändert. Es ist nicht mehr schiefergedeckt, wurde aufgestockt, hat eine moderne Eingangstreppe, große Fenster. Es liegt in der Nachbarschaft des kleinen Cafés von Ambroisine Cimaz. Stallwohnungen werden verächtlich als " écurie ", als Saustall bezeichnet. Der einstige große Raum für Mensch und Tier ist jetzt dreigeteilt, zementverputzt, zentral geheizt. Er dient dem Bruder des Skilehrers Pascal Bison als Schreinerwerkstatt. Die frühere Sommerwohnung ist ein großes, Appartement. Über dem Doppelbett hängt eine große Reproduktion des Fotos, das Eugenie Goldstern ein Stockwerk tiefer von den Urahnen aufnahm.

Der Holzschnitzer zeigt in seinem Schaufenster gegenüber dem Touristenbüro, daß er sich noch immer auf die Herstellung hölzerner Salzbehälter in der Form lebensgroßer, gluckender Hühner versteht. Eugenie Goldstern sah in ihnen " den letzten Rest der ehemals für kultische Zwecke ähnlich gestalteten Salzgefäße " . 986 Sie sorgte sich vor achtzig Jahren, daß diese auch im nordrussischen Perm gebräuchliche Volkskunstwerke zum Kinderspielzeug herabsinken und verschwinden könnten. Folglich brachte sie ein schönes Exemplar in das Museum nach Wien. Der Weiler la Goulaz am Eingang zum Tal von Averole hat Stromanschluß. Eine Materialseilbahn führt hinauf zur Alpe la Buffaz. Hier wird im Sommer noch Almwirtschaft betrieben. Im höher gelegenen Vincendières gibt es im Winter keine Spuren menschlichen Wohnens. Kein Misthaufen dampft. Kein Rauch steigt aus den Kaminen, kein Licht brennt. Nur Schneehasen tummeln sich ungestört. l'Ecot ist von Bonneval auf präparierter Piste erreichbar. Hier stehen Ruinen alter Bauernhäuser. Ein mächtiger zentraler Stamm stützt einen Firstbalken, der schon das halbe Dach verloren hat. Sturzbalken bersten allmählich. Die Zwischendecken, die vormals Stall- und Sommerwohnungen schieden, sind durchgebrochen. Nur noch ihre Widerlager sind an den Wänden auszumachen. Innerhalb der Bruchsteinmauern wachsen Sträucher, bilden sich malerische Schneewehen. Einige Gebäude sind zu Ferienhäusern geworden, die von einem Dieselaggregat mit Strom verorgt werden. Vielfach werden hinter den ursprünglichen Natursteinmauern moderne Schnellbauwände errichtet. Ein alter hölzerner Lastschitten steht in der Scheune neben der Pistenraupe. Die verschneiten Dächer der steinernen Stadel oberhalb von Bessans werden mitunter noch von Skifahrern als Schanzen benutzt.

In Bessans ist man neugierig auf die österreichische Sammlung von alten Kulturzeugnissen der eigenen Heimat. Gerne würde man die Fotos aus dem Jahr 1914 studieren, um vertraute Winkel des Ortes oder gar Gesichter von Verwandten auszumachen. Im Sommer des Jahres 1997 wird im Volkskundemuseum in der Laudongasse die erste vollständige Werkschau der Eugenie Goldstern veranstaltet. Rechtzeitig zur Ausstellung ist ein wissenschaftlicher Katalog fertig geworden. Die Bestände aus Basel und Bern werden zusammen mit denen der Wiener Sammlungen gezeigt. Große Bildtransparente machen auf die reizvollen Ansichten der winzig kleinen Kinderspielsachen aufmerksam. Der Einfluß von Frau Goldsterns Zeitgenossen im Volkskundeverein, ihr wissenschaftliches Umfeld, wird an seinem tatsächlichen, bestens erhaltenen Ort gewürdigt. Rudolf Trebitschs Phonogrammaufnahmen sind zu hören. Unveröffentlichtes originales Fotomaterial ist zu sehen. Schauplätze in Österreich, Frankreich, Italien und der Schweiz werden durch große Fotografien belegt. Der Film läuft, den Professor Niederer in Bessans mit seinen Studenten gedreht hat. Ein Vergleich mit neueren französischen Produktionen ist möglich. Computerreproduktionen der Dokumente aus den verschiedenen Archiven informieren über die Lebensgeschichte. Die

985Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., Tafel IV

986Goldstern, Hochgebirgsvolk, a.a.O., S.63

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Eröffnung wird zum Medienereignis. Die Goldsterns aus Wien, Nichte Claire und die Papaneks aus Amerika sind eingeladen. Aus den verschiedenen europäischen Regionen, die von Eugenie Goldstern ethnologisch erforscht und dokumentiert wurden, sind Abordnungen vertreten. Trachten, Musik und Gesänge aus dem Lammertal, aus dem Aostatal, aus Savoyen und der Maurienne sind zu bewundern.

Literatur

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Archivalien

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Archiv der der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg, Protokoll der Doktorprüfung vom 16.6.1920 der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität FribourgWernert, geb. Goldstern Claire, BriefeWiener Stadt- und Landesarchiv, MeldearchivWiener Stadt- und Landesarchiv, Totenbücher, Todfallsaufnahmen