aussagepsychologische fragestellungen im straf- und familienrecht

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Aussagepsychologische Fragestellungen im Straf- und Familienrecht

PD Dr. Dipl.-Psych. Petra Retz-Junginger Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie

Universität des Saarlandes

Aussagepsychologische Fragestellungen

§  spielen eine Rolle §  im Strafrecht §  im Familienrecht §  im Zivilrecht §  bei der Opferentschädigung

§  „Wer hat welche Rolle?“ §  am Beispiel des „Kachelmann-

Prozesses“

Prof. Luise Greuel Sachverständige

Verteidiger

Opferzeugin

Journalistin

Angeklagter

Nebenklage- vertretung

Strafverteidiger Johann Schwenn

§  „Wer mit der Zeit geht, hält den sexuellen Missbrauch für die Pest unserer Tage. Da mögen die fallenden Zahlen der Kriminalstatistik sagen, was sie wollen: gegen den Glauben an den Missbrauch scheint kein Kraut gewachsen. Dass dieser Glaube inzwischen auch jene erfasst hat, die es von Amts wegen besser wissen sollten, ist im Verfahren gegen Jörg Kachelmann zu besichtigen. Dort kämpft die Staatsanwaltschaft für die Verurteilung des Angeklagten Seite an Seite mit Alice Schwarzer, die sich zuvor mit der Bild-Zeitung verbündet hat.“

Strafverteidiger Johann Schwenn

§  „Im Wirken eines neuen Anwalttypus, dem wiederum meist weiblichen Opferanwalt, begegnet uns eine zu Zeiten von Karl Peters noch unbekannte Fehler-quelle von schwer einzuschätzender Gefährlichkeit.“ (Stichwort Akteneinsicht)

§  „Die trostlose Perspektive, angesichts der Mittellosigkeit vieler einschlägiger Beschuldigter von Aufträgen der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts abhängig zu sein, scheint verbreitet zu einer mehr oder minder bewussten Tendenz zu führen, diese Auftraggeber nicht allzu oft zu enttäuschen.“

Historisches

§  Erste Überlegungen zur Beurteilung der

Glaubwürdigkeit von Zeugen wurden im 19. Jahrhundert systematisch angestellt

§  TARDIEU (1857, Pathologe u. Gerichtsmediziner) befasste sich mit misshandelten Kindern

Geschichte der Aussagepsychologie

Empirische Arbeiten von §  William Stern („Psychologie der Aussage“,

1902) §  Undeutsch (z.B. 1954) §  Arntzen (z.B. 1983) §  Steller und Köhnken (z.B. 1989) §  Greuel, Offe, Fabian, Wetzels, Fabian, Offe &

Stadler (1998) §  Volbert (2004)

Wann wird ein aussagepsychologisches Gutachten notwendig?

§  Die Würdigung von Aussagen nicht nur erwachsener Zeugen, sondern auch kindlicher oder jugendlicher Zeugen gehört zum Wesen richterlicher Rechtsfindung und ist daher grundsätzlich dem Tatrichter anvertraut.

Wann wird ein aussagepsychologisches Gutachten notwendig?

§  Die Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens ist dann geboten, wenn der Sachverhalt oder die Person des Zeugen solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel aufkommen, ob die Sachkunde des Gerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit ausreicht.

Welche “Besonderheiten” erfordern ein aussagepsychologisches Gutachten?

§  Die Opferzeugen sind §  sehr junge Kinder §  Kinder oder Jugendliche mit

Entwicklungsdefiziten oder Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit

Welche “Besonderheiten” erfordern ein aussagepsychologisches Gutachten?

§  Die Opferzeugen sind erwachsene Zeugen mit intellektuellen Leistungsdefiziten oder klinisch relevanten Besonderheiten im Erleben und Verhalten §  intelligenzgeminderte Personen §  Personen mit einer Suchtproblematik §  Personen mit psychischen oder

psychosomatischen Störungsbildern

Welche “Besonderheiten” erfordern ein aussagepsychologisches Gutachten?

§  Bei zeitlich weit zurückliegenden Erinnerungssachverhalten

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie Gedächtnispsychologie

◆ Bei der Beurteilung forensischer Aussagen ist relevant: – das Langzeitgedächtnis – das episodische Gedächtnis (auf

spezifische Ereignisse + Erfahrungen aus unserem Leben bezogen)

– die aktive Reproduktion

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie Gedächtnispsychologie

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie Gedächtnispsychologie

Vergessenskurven bei verschiedenen Gedächtnismaterialien (siehe Greuel et al. 1998)

Untersuchungsergebnisse §  210 aussagepsychologische Gutachten

im Zeitraum 2000-2009 zur Fragestellung sexueller Missbrauch §  Alter bei Begutachtung: M=14,42 Jahre (SD 5,89) Minimalwert 2 Jahre, Maximalwert 38 Jahre) §  IQ: M=94,0 (SD 15,8) §  Zeitintervall zwischen Tat und Begutachtung:

M=5,44 Jahre (SD 6,2 Jahre) Median 3,0 Jahre §  Häufigkeit von Übergriffen: M=2,11 (SD 10,7)

(Minimalwert 1, Maximalwert 150)

Untersuchungsergebnisse §  40 aussagepsychologische Gutachten im

Zeitraum 2012 und 2013 §  Alter bei Tat: 11,3 Jahre (SD=8,1) §  Alter bei Begutachtung: M=15,9 Jahre

(SD=9,3) §  Zeitintervall zwischen Tat und Anzeige: 3,5

Jahre (SD=4,6) §  Zeitintervall zwischen Tat und Begutachtung:

4,6 Jahre (SD=4,85)

Mindeststandards (BHG-Urteil vom 30.07.1999)

§ Hypothesen geleitetes Vorgehen § Nullhypothese

» Unwahrheitshypothese als Ausgangspunkt » bis die gesammelten Fakten mit der Negation

nicht mehr vereinbar sind §  Bildung/Prüfung von Alternativhypothesen § Die festgelegten Mindeststandards ent-

sprechen den Erkenntnissen der aussage-psychologischen Forschung und Literatur

Aussagepsychologische Begutachtung Untersuchungsabschnitte

1. •  Aussagetüchtigkeit

2. •  Aussagequalität (Aussageanalyse,

Realkennzeichen)

3. •  Aussagevalidität (z.B. Kompetenz-

analyse, Aussagegenese, -motivation)

Untersuchungsabschnitt 1: Aussagetüchtigkeit Was ist Aussagetüchtigkeit?

§  Aussagetüchtigkeit ist die Fähigkeit §  einen Sachverhalt zuverlässig wahrzunehmen §  ihn im Gedächtnis zu bewahren §  über ausreichendes Sprachverständnis und

sprachliche Möglichkeiten zu verfügen für die Befragung und die Schilderung

§  ausreichend über Kontrollmöglichkeiten gegenüber Suggestiveinflüssen zu verfügen

§  Erlebtes von Phantasie zu unterscheiden

Untersuchungsabschnitt 1: Aussagetüchtigkeit Beeinträchtigungen

§  Aussagetüchtigkeit kann durch § entwicklungsbedingte § persönlichkeitsbedingte § psychopathologische Faktoren beeinträchtigt sein

Untersuchungsabschnitt 1: Aussagetüchtigkeit Beeinträchtigungen

§  Beeinträchtigung der Funktion der Sinnesorgane

§  Niedriges Lebensalter §  Intelligenzminderung §  Psychosen §  Einfluss psychotroper Substanzen §  Hirnorganische Störungen und Epilepsien §  (Persönlichkeitsstörungen)

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität

§  Aussage als Leistungsprodukt !! (“Undeutsch-Hypothese”)

§  Einteilung von Qualitätsmerkmalen (sog. Realkennzeichen) in §  Allgemeine Qualitätsmerkmale

» bezogen auf den Aussageinhalt » bezogen auf die Aussageweise

§  Spezielle Qualiätsmerkmale § Motivationsbezogene Qualitätsmerkmale §  Aussageübergreifende Qualitätsmerkmale

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität Allgemeine Qualitätsmerkmale

§  Aussageinhalt § Detailreichtum §  Anschaulichkeit §  Strukturgleichheit §  Logische Konsistenz § Deliktspezifität

§  Aussageweise § Gefühlsbeteiligung § Unstrukturiertheit § Ungesteuertheit

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität z.B. Detaillierungsgrad

§  Vielfältige Details im Sinne von Orts-, Personen- und

Handlungsbeschreibungen sowohl auf das inkriminierte Geschehen bezogen als auch Details zum Beziehungs- und Handlungsumfeld

§  Abhängig von

§  der Komplexität des Sachverhalts §  der Länge des Erinnerungsintervalls §  dem habituellen Ausdrucksstil §  dem Lebensalter §  der intellektuellen Begabung

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität Spezielle Qualitätsmerkmale

§  Raum-zeitl. Verknüpfungen §  Interaktionen §  Gesprächen §  Komplikationen §  phänomenorientierter

Wahrnehmung unver-standener Elemente

§  Erleben phänomenaler Kausalität

§  eigenpsychischem Erleben §  Wirklichkeitskontrolle

§  multimodaler Wahrnehmung §  psychischem Erleben beim

Beschuldigten §  nebensächlichen Details §  originellen Details §  Aspekten der

Beziehungsentwicklung zwischen den Beteiligten

§  indirekten Handlungs-bezügen

Schilderung von:

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität z.B. raum-zeitliche Verknüpfungen

§  Vielfältige Verflechtungen des inkriminierten

Geschehens mit veränderlichen situativen Umständen aus dem Lebensumfeld des Zeugen und Beschuldigten

§  Auch geeignet zur Prüfung der Möglichkeit einer fälschlichen Personenübertragung

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität Motivationsbezogene Qualitätsmerkmale

§  spontanen Aussageverbesserungen §  Einwänden gegen die Richtigkeit der

Aussage §  Selbstbelastungen §  Entlastungen des Beschuldigten §  Eingeständnis von Erinnerungslücken

Vorbringen von:

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität Aussageübergreifende Qualitätsmerkmale

§  Präzisierbarkeit der Aussage §  Konstanz der Aussage

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität z.B. (differenzierte) Konstanz der Aussage

§  Ein komplexer Sachverhalt wird über längere Erinnerungszeiträume in nicht rigider Konstanz berichtet

§  Konstanz ist zu fordern bei der Schilderung/ Benennung (Beispiele) §  des zentralen Kerngeschehens §  der eigenen Rolle bzw. Aktivität §  der unmittelbar beteiligten Personen §  der fraglichen Tatörtlichkeiten §  von unmittelbar handlungsrelevanten

Gegenständen

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität z.B. (differenzierte) Konstanz der Aussage

§  Psychologisch erwartbare Inkonstanzen §  Schilderung des peripheren Geschehens §  Zuordnung von Nebenhandlungen zum

Kerngeschehen §  Angaben zur Reihenfolge mehrere Sequenzen §  Schätzungen (Datierung, Häufigkeit) §  Seitenverhältnisse/Positionswechsel §  Angaben über Wortlaut oder Sinngehalt von

Gesprächen §  Angaben über unangenehme Empfindungen

Untersuchungsabschnitt 2: Aussagequalität

§  Realkennzeichen (RK) sind nicht im Sinne einer Checkliste anzuwenden

§  Gewichtung der Realkennzeichen § Mindestanforderung

» Logische Konsistenz der Aussage » Detaillierungsgrad der Aussage » Konstanz der Aussage

§  Mindestumfang der Aussage ist erforderlich §  RK diskriminieren einen Erfahrungsbericht von

einer bewussten Falschaussage

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie Gedächtnispsychologie

Ereignis Aussage

Zeit

Vergessen

Reorganisation

Verdrängung

Kontamination

Ergänzungen

Verzerrungen

Suggerierte Aussagen/Scheinerinnerungen

§  Der Zeuge ist nicht um Täuschung bemüht §  Eine zuverlässige empirische Datenbasis

hierzu auf der Merkmalsebene fehlt §  Die Konstanzprüfung liefert wichtige

Informationen §  Wichtige Informationen hierzu durch:

§  Rekonstruktion der Aussageentstehung §  Erfassung der Formen der Einflussnahme §  Erfassung möglicher suggestiv wirksamer

Bedingungen

Suggestion und Scheinerinnerungen

§  Werden begünstigt durch §  geringes Lebensalter §  eine schwache Gedächtnisspur §  die Einflussnahme einer Autorität §  wenn ein Erklärungswunsch vorliegt und Hoffnung

auf Problemlösung damit verbunden ist §  gegebene Plausibilität §  Ermunterung darüber nachzudenken, zu sprechen

und/oder es zu visualisieren

Untersuchungsabschnitt 3: Aussagevalidität

§  Kompetenzanalyse Kann der Zeuge ohne Erfahrungs-hintergrund eine Aussage dieser Qualität produzieren?

§  Berücksichtigung der Aussagegenese und -entwicklung

§  Erfassung der Aussagemotivation

Aussagepsychologische Begutachtung Ergebnisse und Fehler

Der geschilderte Sachverhalt ist

GA-Ergebnis: Erfahrungshintergrund

kann angenommen werden

GA-Ergebnis: Erfahrungshintergrund

kann nicht angenommen werden

erlebnisfundiert

richtig

FALSCH NEGATIV

nicht

erlebnisfundiert

falsch positiv

richtig

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie Untersuchungsergebnisse

◆  Gutachtenergebnis

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie Untersuchungsergebnisse

◆  Konstanz

..es wäre so schön!!!

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