archithese 4.12 - mischung / mix / mestizo
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Mix
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ModerneFormen im
kurvigen Design
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Leserdienst 121
architheseMischung – ein Glossar
Lothar Baumgarten im Museum Folkwang
Das Ende des Exotismus
Smiljan Radics Mestizo
Der Raum als Ort – Fusionen des Afrofuturismus
Im Zeitalter der Genveränderung
Postdigital Consciousness
Iris van Herpen: Hybrid Holism
Power, Progress, Petrolheads
Who’s afraid of the (Re)Mix?
Mary Katrantzou: Räume auf Frauen
Remix: Die Entdeckung des Neuen im Alten
Sottsas et. al.: Gegen das einheitliche Bild
Die Promenadenmischung der Architektur
Architektonische Bildregie von Prinz Charles
Provinz als Inspiration – Die Oberpfalz
the next ENTERprise: Kraft des Kindes
OMA Milstein Hall der Cornell University, Ithaca
SO – IL Kukje Gallery, Seoul
4.2012
Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
International thematic review for architecture
Mischung / Mix / Mestizo
4 archithese 4.2012
E D I T O R I A L
Mischung – Ein Heft für den Sommer
Für das vorliegende Heft gab es viele Quellen der Inspiration – und dennoch ist es
in seinem Ergebnis eine Überraschung. Auslöser für die Planung des Themas war
die Beobachtung einer fortschreitenden Homogenisierung in der Architektur, ins-
besondere im Wesen einzelner Projekte. Damit folgte die Entwicklung einer von
Greg Lynn formulierten Vision, dass nach den Zeiten von «complexity and contra-
diction», von Postmoderne und Dekonstruktivismus eine Phase einsetzen könnte,
die geschmeidiger, integraler ist, die biegsam (pliant) ist statt zu brechen.1 Das
war natürlich sehr beeinflusst von Gilles Deleuze und seinen Gedanken zur Falte
(Le Pli).
Greg Lynn wurde insbesondere von den Computer-affinen Architekten stu-
diert, und er ist noch heute Teil dieser Szene. Seine Analysen jedoch – hier verhält
es sich möglicherweise wie bei Marx – sind auch auf rationale und minimale
Denkrichtungen anzuwenden. Denn selbst in den konservativen und gemässigten
Strömungen stellt man eine zunehmend monothematische Herangehensweise
fest, wobei sich in manchen Fällen verschiedene Konzepte lose gruppieren, dabei
aber selten überlagern.
Greg Lynn sprach nicht von der Einheitlichkeit; er propagierte Unterschiede
und unabhängige Elemente in einem viskosen, zusammengehörigen Gesamtsys-
tem «wie Teigschichten» und Rosinenstücke beim Unterheben.2 Der Rückblick in
die Traditionsanalogie der Hausarbeit – er findet seine grössere Realität in der
offenen Struktur unserer heutigen vernetzten Welt, die rührt, mixt, tauscht, kaum
kontrollierbar, unablässlich, schlaflos über den gesamten Globus verteilt. Ein
Zustand, vor dem sich weder die Gesellschaft noch die Wirtschaft noch die
Architektur verschliessen kann; er ist bereits da, wie die Smartphones in der
Hosentasche.
Unabhängig von der Weltanalyse kann die Redaktion ein Plädoyer für das Mi -
schen nicht verheimlichen. Die Welt entstand aus Mischung, sie entwickelt sich
weiter durch Mischung, Ideen entstehen im Kopf aus der Mischung von Erfah-
rung, Wissen, Eindrücken; Menschen entstehen aus Mischung, und die Architek-
tur wie auch die Stadt sind in ihrem gebauten Zustand ebenfalls selten Werke
ohne Mischung. Für die Mischung benötigt es das eine wie das andere – den
Mainstream wie das Besondere (Vanilleeis wie Erdbeeren), das Naheliegende wie
das Absurde, das Bekannte wie das Unbekannte. Beim Mix ist beinahe alles
erlaubt.
Trotz Plädoyer und kulinarischen Metaphern: Tatsächliche Rezepte sind nicht
zu erwarten. Dafür ein Heft voller Freude, voller Energie, ein Heft der Architektur
für Reichtum und Offenheit – damit das Neue entstehen kann. Die Redaktion hatte
Spass, und Spass wünschen wir unseren Lesern.
Die Redaktion
P. S. Einige der Ideen des Heftes entstanden in der Sonne vor der Redaktion auf
und an den Möbelklassikern von Max Ernst Haefeli. Wir danken dem Hersteller
Embru.
Tanja Kalt, «Öl –
Ober fläche und
Licht», in: Ulrich
Bachmann, Farbe
und Licht. Materia-
lien zur Farb-Licht-
Lehre, Sulgen 2011,
S. 109.
1 Greg Lynn, «The Folded, The Pliant and the Supple», in: Folds, Bodies & Blobs – Collected Essays, Brüssel 2004, S.109–134.
2 Ebd.
10 archithese 4.2012
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
Ein unvernünftiges Ganzes
11
DIE MILSTEIN HALL DER CORNELL UNIVERSITY
VON OMA
Milstein Hall ist mehr als ein Neubau; sie ist
zugleich eine Reise zurück zu den akademi-
schen Wurzeln von Rem Koolhaas, der
als Student in Cornell seine Forschung an
Delirious New York begann. Für OMA handelt
es sich um den zweiten Campus-Eingriff
in den USA. Zehn Jahre nach der Intervention
inmitten Mies van der Rohes IIT-Campus
sind die Aussagen über den Umgang
mit historischer Bausubstanz bei Milstein
Hall noch pointierter ausgefallen.
Autor: André Bideau
«Heritage is becoming more and more the domi-
nant metaphor for our lives today.» So liess Rem
Koolhaas in seinem Beitrag zur Architekturbiennale
2010 vernehmen, um gleichzeitig mit Fragen wie
«Should China save Venice?» zu provozieren. Cro-
nocaos, die nach Venedig auch in New York ge-
zeigte Ausstellung, führte im Grunde genommen
den Junkspace-Diskurs fort. In diesem Essay von
2001 hatte Koolhaas das Verhältnis zwischen
Architekturproduktion und einer zum reinen öko-
nomischen Reflex verkommenen Identitäts- und
Urbanitätspolitik beschrieben. Das daraus entste-
hende inhaltliche Defizit mündet in eine bereits
1994 in The Generic City reflektierte Geschichts-
hörigkeit, durch die jegliches Verständnis von Kon-
textualität und Authentizität desavouiert werde.
Der im Cronocaos-Essay aufgegriffene Heritage-
Komplex ist mit einer besonders im angelsächsi-
schen Raum ausgeprägten Dynamik verknüpft,
orientiert sich dort die urban governance doch von
jeher an der Privatwirtschaft. So bildet auch die
Auseinandersetzung mit Publikumsbedürfnissen
und – vor allem in den USA – die Verwischung von
marktstrategischen Überlegungen und Identitäts-
politik im Städtebau eine Prämisse, die etwa im
Erfolg des New Urbanism zutage trat. Diese post-
moderne Symbiose bringt der Begriff heritage
industry zum Ausdruck, wogegen die im Deutschen
gebräuchlichen Bezeichnungen Museali sie rung und
Festivalisierung die wirtschaftliche Di mension von
Identität in Bezug auf die zeitgenössische Stadt nur
unzureichend erfassen.
Die von Architekten hergestellten Objekte und
Bilder speisen heute andere Kreisläufe als zu Be-
ginn der Post moderne. Als Akteur und Vertreter
1 Aussenansicht des
Nordflügels
(Foto: Iwan Baan)
36 archithese 4.2012
Autor: Hubertus Adam
Die Gemeinde Vitacura befindet sich im Norden des Bal-
lungsraums von Santiago de Chile. Entlang dem Rio Mapocho
ist hier nach Entwürfen von Teodoro Fernández zwischen
2005 und 2007 der Parque Las Américas entstanden, der von
einer Stadtautobahn und der Bicentenario Avenue begrenzt
wird. An der Nordostecke konnte Smiljan Radic das Restau-
rant Mestizo realisieren, bei dem zunächst an eine temporär
und ephemer wirkende Konstruktion gedacht war. Als die-
ser Gedanke der Gemeinde missfiel, änderte Radic sein Kon-
zept radikal. In Zusammenarbeit mit der Künstlerin Marcela
Correa entstand zwar eine erneut pavillonähnliche Struktur,
die aber mit dezidiert harten Materialien umgesetzt wurde.
Ein irritierendes, fast surrealistisch inszeniertes Element
bilden die unregelmässig platzierten und sieben bis elf Ton-
nen schweren Findlinge aus Granit, auf denen die Primär-
struktur des Restaurantbereichs ruht. Diese besteht aus ei-
nem sich in verschiedenen Winkeln verschneidenden System
aus schmalen, schwarz gestrichenen Stahlbetonträgern mit
hochrechteckigem Querschnitt. Das eigentliche, über der
Terrasse weit auskragende Dach ist aus parallelen Stahlträ-
gern gebildet, zwischen denen Glasplatten eingelassen
sind. Auf Rohren aufgewickelte Tuchstoren dienen im Inne-
ren als Sonnenschutz, während die Terrasse mit einem
Sonnenschutzsegel verschattet ist. Die robuste Rauheit der
STEIN, BALKEN, TUCHSmiljan Radic: Restaurant Mestizo, Santiago de Chile
Materialien, die deutlich sichtbaren handwerklichen Ferti-
gungsspuren und die offenkundig überdimen sionierte Kon-
struktion stehen in bewusstem Kontrast zu Tendenzen der
Immaterialisierung, welche für die Stahl-Glas-Architektur
der Moderne in der Nachfolge Mies van der Rohes bestim-
mend wurden.
Der Kontrast zwischen den hellen, nachts magisch illumi-
nierten Findlingen, die wie Teile des Parks gleichsam ins
Innere des Gebäudes gewandert sind, und der dunklen
Tragstruktur macht den eigentlichen Reiz des Gebäudes
aus. Als Referenz hat Radic selbst auf die Karyatiden verwie-
sen, welche das Vordach von Lubetkins Highpoint II (1938)
in London tragen. Die Kopien der Erechtheion-Karyatiden,
die fast wie eine Antizipation postmoderner Strategien wir-
ken, hatte Lubetkin seinerzeit gewählt, weil sie nicht als
tragende Elemente erscheinen, sondern sich als (Garten-)
Statuen visuell mit dem umgebenden Park verzahnen soll-
ten. Eine weitere Inspiration waren die Pavillonbauten von
Sverre Fehn, insbesondere der Nordische Pavillon für die
Biennale in Venedig (1958–1962); man kann aber auch an
Richard Neutras Versuche denken, die physische Grenze des
Hauses aufzulösen. Das Perkins House in Pasadena (1955)
steht paradigmatisch für die Entgrenzung des Hauses nach
aussen – und die Integration der Landschaft.
1, 2, 3, 4 5
37
1 Perkins House,
Richard Neutra,
1955, Pasadena,
Kalifornien
(aus: Barbara Lamprecht, Peter Gössel, Neutra. Complete Works, Köln 2000)
2 Highpoint,
Tecton, 1935,
Highgate, London
(Foto: © Julian Osley)
3 Norwegischer
Pavillon, Sverre
Fehn, 1958–1962,
Venedig (Foto: © Seier & Seier)
4 Das Mestizo
Restaurant
im Parque
Las Américas
(Fotos 4–8: Gonzalo Puga)
5 Eine der Stützen
im Bauprozess
6 Modellstudie zum
zweiten Projekt
7 Aussenansicht
8 Gastbereich
6
7
8
38 archithese 4.2012
DER RAUM ALS ORTFusionen des Afrofuturismus
Die Idee der «Fusion» gehört zur kulturell erfolgreichsten seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.
So verwendet die Wirtschaft den Begriff seit wenigen Jahrzehnten für den Zusammenschluss beziehungs-
weise die Verschmelzung von zwei oder mehreren Firmen zu einem einzigen grossen Unternehmen.
Auch konnte sich seit den Achtzigerjahren die Fusion Cuisine, hervorgegangen aus der California Cuisine,
zur international beliebtesten Küche im Zeitalter der Globalisierung etablieren. Last but not least ist von
der Fusion-Musik zu sprechen. Dieser Musikstil bildete sich ab Mitte der Sechzigerjahre aus und konnte
in den Siebzigern seine grössten künstlerischen und ökonomischen Triumphe feiern. Es war vor allem
eine Unterströmung der Fusion-Musik, die brisante Verbindungen zwischen Kunst, Technologie, Wissen-
schaft und politischer Emanzipation zu knüpfen verstand: der Afrofuturismus. Er katapultierte eine
afrikanisch inspirierte Ikonografie aus dem Archaischen ins Zeitalter der Raumfahrt – und ganz nebenbei
kommentierte er auf originelle wie produktive Art und Weise die Segregationsprozesse in der amerikani-
schen Gesellschaft und Stadt des 20. Jahrhunderts.
1
39
1 Miles Davis:
Bitches Brew (1970);
Cover Art von
Mati Klarwein
2 Herbie Hancock:
Crossings (1972);
Cover Art von
Robert Springett
3 Herbie Hancock:
Sextant (1973);
Cover Art von
Robert Springett
4 Herbie Hancock:
Thrust (1974);
Cover Art von
Robert Springett
Autor: Stephan Trüby
Von Mark Dery 1993 in seinem Essay «Black to the Future»
erstmals geprägt, meint der Begriff «Afrofuturismus» eine
vor allem in den USA verbreitete und mehr oder weniger
ernsthaft vertretene Auffassung, wonach das schwarze
Amerika eigentlich ausserirdischer Herkunft sei. Schwarze
US-Amerikaner entstammen dieser Lesart nach nicht Skla-
venschiffen, sondern Raumschiffen und UFO-Landungen.
Der Afrofuturismus ist das kulturelle Produkt einer Exklusi-
onserfahrung: Zwar hat sich die politische Situation der
Schwarzen in den USA durch Lyndon B. Johnsons Civil
Rights Act von 1964 spürbar verbessert – die Rassentren-
nung in öffentlichen Einrichtungen wie Restaurants, Kinos,
Hotels, Sportstadien, Bussen, Sanitäreinrichtungen etc. war
damit für illegal erklärt worden. Dennoch blieben faktisch
viele Diskriminierungsroutinen erhalten, teilweise bis heute.
Gerade die fünf bemannten Mondlandungsprogramme, die
spätestens mit Neil Armstrongs «riesigem Sprung für die
Menschheit» am 21. Juli 1969 ins Nervenleben der Weltbe-
völkerung traten, machten deutlich, dass die ostentative
Überlegenheit der USA mit den perfidesten Spielarten eines
White-Supremacy-Rassismus kompatibel ist: Die militä-
risch-technologische Hegemonie der Vereinigten Staaten ist
eine «weiss» codierte; unter den zwölf Menschen, die bis
1972 den Mond betraten, war kein einziger Schwarzer.
Während ein Teil der Menschheit feierte und sich ob des
Errungenen der eigenen Grösse vergewisserte, verhagelten
spekulativere, um nicht zu sagen: alternativ-wissenschaftli-
che Töne die Gesamtstimmung. Der Schweizer Schriftsteller
Erich von Däniken und andere Prä-Astronautiker kränkten
den terrestrischen Narzissmus, indem sie bestritten, dass
die Poiesis auf Erden stets dem Humanum zu verdanken sei.
Ausserirdische, so führte von Däniken in seinem 1968 er-
schienenen Weltbestseller Erinnerungen an die Zukunft
(engl. Titel: Chariots of the Gods) aus, hätten vor langer Zeit
die Erde besucht und dadurch die kulturelle Evolution der
Menschheit in andere Bahnen gelenkt. Ihrer technischen
Überlegenheit wegen seien diese Besucher aus dem All
für Götter gehalten worden. Vor dem Hintergrund dieser
Thesen interpretiert von Däniken die verschiedensten kultu-
rellen Artefakte als Beweise für ausserirdischen Tourismus.
Das ist natürlich alles leicht zu behaupten und ebenso
schwer zu beweisen wie zu widerlegen, fiel aber insbe-
sondere im schwarzen Amerika auf fruchtbaren Boden. Die
traditionelle Zukunftsmüdigkeit der afroamerikanischen
Literatur, die sich gerade auch in einer Distanz zum Science-
Fiction-Genre äusserte, konnte nunmehr janushaft ins
gleichzeitig Historische wie Futuristische gewendet wer-
den. Die Gedächtnisträger der «diasporischen Urszene»1, der
Entführung aus Afrika, entflohen mithilfe der Prä-Astronau-
tik dem gesellschaftlichen Jammertal und begannen als
zunehmend glamouröse Musiktechniker an der eigenen
Zukunftsvergangenheit zu schrauben.
Der Afrofuturismus und seine Bildpolitik
Die technologische Aufrüstung der afrodiasporischen Bild-
tradition wurde, bevor sie im relativen Mainstream der
Funk- und Disco-Musik der Siebzigerjahre ankommen sollte,
insbesondere auf den Covern von Fusion-Platten vorbereitet.
Vor allem Miles Davis (1926–1991) und Herbie Hancock (geb.
1940) sind hier zu erwähnen, ebenso deren «Hauskünstler»
Mati Klarwein und Robert Springett. Allesamt synchroni-
sierten sie, Kodwo Eshun zufolge, Vergangenheit, Gegen-
wart und Zukunft. Betrachtet man Klarweins Cover für
Miles Davis’ Album Bitches Brew (1970), so wird der Aus-
gangspunkt deutlich: Die Optik des gerne als «Initialzün-
dung» der Fusion-Musik bezeichneten Albums ist noch ganz
technikfrei – und wird von den Spätsurrealismen paradiesi-
scher Paare am Meer, afrikanischer Stammeskleidung, flam-
menden Blüten, Himmelsschlieren und Tag-Nacht-Gleichen
bestimmt. Einzig ein Kosmos voller Sterne weist die Rich-
tung auf Zukünftiges. Auch Robert Springetts Cover für Her-
bie Hancocks Alben Crossings (1972) und Sextant (1973) wer-
den noch dominiert von archaisch anmutenden Menschen
mit Holzbooten oder tanzenden Kriegern zwischen Stufen-
pyramide und frei flottierendem Amulett. Die Musik dieser
Alben, die durchweg radikal und experimentell ist, ein weit-
gehend elektrifiziertes Instrumentarium an neu artige Ef-
2 3 4
64 archithese 4.2012
REMIX_Die Entdeckung des Neuen im Alten
Die Wahrnehmung der sichtbaren Erscheinung der Welt gilt heutzutage als vollständig; die Erkundungen
bohren in die Tiefen vorhandenen Wissens. Damit geht ein stetiger Umbau unseres Verständnisses vom
Vorhandenen einher, der sich in der ästhetischen und architektonischen Evolution ebenfalls niederschlägt.
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Atelier Michael
Hirschbichler:
Theatrum Orbis
Terrarum
(© Atelier Michael Hirschbichler)
Autor: Michael Hirschbichler
Die Karte der Welt ist gezeichnet. Die Möglichkeit, neue
Welten aus dem Nichts zu erschaffen, schwindet mit rasan-
tem Tempo. Stile und Bewegungen formieren sich, verblas-
sen und gehen vobei, um bald darauf wiedererweckt zu wer-
den – während andere Inkarnationen, im Verborgenen
ruhend, unterdessen an die Oberfläche des kulturellen Be-
wusstseins drängen. Es stellt sich die Frage, wie angesichts
der Omnipräsenz des Bestehenden, bereits Erfundenen und
Entdeckten noch produktive und auf künftige Entdeckungen
gerichtete Bestrebungen möglich sind? REMIX Die Techni-
ken von Mix und Remix, die aus der Musik stammen und in
die verschiedensten Disziplinen Eingang finden, können auf
einer höheren Ebene als organisatorische Metastrategie zur
Kulturproduktion eingesetzt werden. Der Begriff Mix be-
schreibt eine Operation, bei der eine Reihe von Fragmenten
zu einer neuen Komposition zusammengeführt wird. Remix
bezieht sich auf eine alternative, veränderte Version eines
ursprünglichen Gebildes. Sowohl Mix als auch Remix sind
strukturelle Operationen, die dazu dienen, bestehendes Ma-
terial neu zu ordnen. Ihr Ziel besteht nicht darin zu erfinden,
sondern umzubilden und neu zu interpretieren, um auf diese
Weise Teile eines bestehenden kulturellen Universums in
neue Zustände zu überführen.
PROZESS Das Ergebnis des Remix ist ein neues Arrange-
ment, eine Transformation des Bestehenden. Es werden
nicht von Grund auf neue Gebilde geschaffen, sondern neue
Instanzen einer existierenden Anordnung durch die Strate-
gie des Remix zutage gefördert. Das Unbekannte und Neue
entfaltet sich in den Transformationen und Permutationen
des Bekannten. Der hierzu notwendige Prozess setzt sich
aus drei grundlegenden Schritten zusammen:
DEKONTEXTUALISIERUNG In einem ersten Schritt muss
eine Fragmentierung eines gegebenen Realitätsausschnit-
tes oder einer Reihe bislang intakter Gebilde vorgenommen
werden. Das Material des Remix wird aus seinem natürli-
chen Kontext herausgelöst. Dadurch werden bestimmte Zu-
sammenhänge und Beziehungsgefüge durchtrennt und ver-
schiedene Bedeutungen und Konnotationen ausser Kraft
gesetzt. Ein ursprünglich abgeschlossener Sinnzusammen-
hang gerät zu einem Fragment und existiert fortan in einem
ungenau umrissenen Schwebezustand, in dem er sich für
den Eintritt in eine neue Konfiguration frei hält. REKOMBI-
NATION Durch die Anwendung einer Reihe von Operatio-
nen werden Kombinationen ausgewählter Fragmente entwi-
ckelt. Neue Beziehungen und Sinnzusammenhänge eröffnen
sich, neue Bedeutungen und Qualitäten treten zutage. Frü-
here Kodierungen und Bedeutungsumfänge lösen sich, ver-
lieren ihre Verbindlichkeit, treten in den Hintergrund und
werden durch neue Inhalte überlagert. Die Kombination
unterschiedlicher Fragmente fügt sich zu einer neuen Kon-
stellation, wobei sich durch ein Zusammenspiel von domi-
nanten und ausfüllenden Elementen Bedeutungshierarchien
herausbilden. AMALGAMIERUNG Aufgrund der mannig-
faltigen Ursprünge der Fragmente besitzen Remix-Schöp-
fungen verschiedene Grade an Stabilität oder Instabilität,
Kohärenz oder Inkohärenz, Zusammenklang oder Spannung.
Je nach Art und Weise ihrer Dekontextualisierung und Re-
kombination sind einige stabiler als andere, abhängig von
der Stärke der sie zusammenbindenden Wechselbeziehun-
gen. Die Verschmelzung zu einer kohärenten Sinneinheit
(Amalgamierung) ist ein abschliessendes Verfahren, das die
Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten neu zusammen-
geführter Fragmente stärkt. Ziel hierbei ist, robuste neue
Entitäten zu entwickeln, die über eine blosse Anhäufung
separater Teile hinausgehen. TERRA COGNITA Dem Remix
liegt die schmerzliche Akzeptanz eines bereits bestehenden
willentlich gestalteten Territoriums zugrunde, das auf den
ersten Blick keine abenteuerlichen Entdeckungen mehr
zulässt. Die einst mysteriösen unbekannten Kontinente
wurden entdeckt, klassifiziert und in unser weltumspan-
nendes geografisches System eingeordnet. Unzählige For-
schungsreisen in eine Terra incognita haben im Laufe der
Zeit eine Welt des Bekannten geschaffen, wodurch jede Not-
wendigkeit zu deren Weiterführung hinfällig wurde. Wir
sehen uns daher mit dem Problem konfrontiert, dass wir,
sofern wir an Entdeckungen und Forschungsbestrebungen
festhalten wollen, einem schon kartografierten Territorium
gegenüberstehen. Unsere Expeditionen müssen sich fortan
innerhalb einer Terra cognita bewegen. REPETITION In
einer Welt des Bekannten folgen Ideologien, Stile und Bewe-
gungen in den verschiedenen Bereichen der Kulturproduk-
82 archithese 4.2012
KÖNIGLICHER PASTICHE Die architektonische Bildregie von Prinz Charles
Stets im Schatten der anerkannten Architekturdiskussion hat Prinz Charles mit der Prince’s Foundation
ein Vehikel etabliert, welches mittlerweile selbst in China pittoreske Mischungen aus gestern und heute
entstehen lässt und in diesem Kontext die europäische Kritik hinter sich lässt.
1 Bildvergleich
der Skyline von
London
(in: Charles Jencks, The Prince, The Architects and the new wave monarchy, London 1988, S. 1)
Autor: Florian Dreher
Als der Prince of Wales im Mai 1984 erstmals in der Höhle des
Löwen, im Royal Institute of British Architects RIBA, seine
legendäre Rede zur Lage der Baukultur1 hielt, avancierte er
mit seiner Schelte an die bauende Zunft über Nacht zum
ersten Kritiker des Commonwealth. In unregelmässigen Ab-
ständen tritt der Monarch seither an die Öffentlichkeit und
nimmt zu innerstädtischen Grossprojekten in London Stel-
lung. Dabei kritisiert er mit Freude stets die gleichen Par-
teien, die Hightech-Architekten und einige Vertreter der
Postmoderne, die in seinen Augen für den von ihm diagnos-
tizierten ästhetischen Verfall der Stadt verantwortlich sind.
Investoren, deren Beitrag zur Baukultur häufig zweifelhaft
ist, werden dabei gerne aussen vor gelassen. Die Anzahl
seiner bisherigen Reden zur Architektur hält sich auffallend
gering, aber ihre mediale Durchschlagskraft beweist den ge-
genteiligen Erfolg. Als Thronanwärter und öffentliche Person
ist er sich seiner Wirkung und der Bedeutung seiner Worte in
der Presse – vom Boulevardblatt bis zum Fachmagazin –
äusserst bewusst. Das Rollenverständnis des Prinzen ist
zwiespältig. Nach Verfassung der konstitutionellen Monar-
chie liegt den Mitgliedern des königlichen Hauses eine ak-
tive Beteiligung in der Politik fern. Dies führte mehrmals
dazu, dass nach hitzigen Debatten mit dem Prince of Wales
sein schärfster Kontrahent, der Londoner Architekt Lord
Richard Rogers of Riverside, den Monarchen an seine stille
Funktion ausserhalb des politischen Systems erinnerte.
Mit welch königlichem Potentat ist aber der Prinz ausge-
stattet, dass sogar das deutsche Feuilleton2 sich nach der
Wiedereinführung der Monarchie sehnt? Ruft die Polis nach
dem Prinzen?
Nach Kantorowicz’ Zwei-Körper-Theorie des Königs3, in
der Vereinigung eines weltlichen vergänglichen Leibes und
das eines Ewigen der Krone, lässt sich heute im Zeitalter der
Medien ein Kaleidoskop unbegrenzter Körperformationen
hinzufügen beziehungsweise feststellen. Es gesellen sich
neben dem politischen Körper die medialen Inszenierungen,
die des Familienvaters, des Künstlers und Designers, des
Ökobauers und Umweltschützers bis zum «einfachen Mann»
hinzu – was in den unterschiedlichen Reden und auch im
Sprachgebrauch des Monarchen zum Tragen kommt. So
zeigt sich des Prinzen Wortwahl in diversen Ausprägungen,
zwischen provokativ, volksnah, naiv bis zu kindlichem Witz.
Inwieweit ist es unter diesem Gesichtspunkt des königli-
chen Rollenspiels noch denkbar, von Authentizität des Indi-
viduums zu sprechen, wenn der Darsteller in der medialen
Verkörperung mehrerer Figuren, sein «wahres Selbst zu
sein» beansprucht?4 Ist diese Janusköpfigkeit auch ein Indiz
1
83
2 Illustration aus
Pugins Contrast:
Vergleich einer
«katholischen
Stadt» von 1440
mit ihrem Verfalls-
zustand im Jahr
1840
(aus: Gerda Breuer, «Ästhetik der schönen Genüg-samkeit oder Arts & Crafts als Lebens-form», in: Bauwelt Fundamente 112, Braunschweig/Wiesbaden 1998, S. 68)
für die Architekturauffassung seiner Majestät? Wie verhält
es sich mit den baulichen und gesellschaftlichen Leitbildern
des Monarchen?
Vision oder Erblindung
In seiner Publikation A Vision for Britain5 und der gleichna-
migen Ausstellung stellt der Prince of Wales sein Sehn-
suchtsbild nach Merry Old England der high-tech-architec-
ture Cool Britannias gegenüber. Um sein Anliegen zu ver -
deutlichen und den gewaltigen Zerstörungsakt durch die
moderne Architektur darzustellen, greift er zur simplen
Methode der bildlichen Gegenüberstellung eines romanti-
schen Stadtpanoramas (Abb. 1) von Canaletto und einer zeit-
genössischen Fotografie derselben Stadtsilhouette, geprägt
durch die Hochhäuser des Finanzsektors der City of London.
Bei Canaletto dominiert die gewaltige Kuppel von St. Paul’s
das Panorama und strahlt in ihrem Glanze über die ihr zu
Füssen liegende Bebauung entlang der Themse hinweg. In
der Fotografie hingegen wirkt die steinerne Manifestation
der klerikalen Macht in ihrer Bedeutung und Position ent-
rückt – das Kapital übernimmt unübersehbar die klare Vor-
machtstellung und Deutungshoheit ein.
In einem ähnlichen Konflikt agiert der zum Katholizismus
konvertierte Baumeister Augustus Welby Pugin, als er in
seinem Buch Contrasts von 1836 den Sittenverfall der Gesell-
schaft und den damit einhergehenden Verlust der mittel-
alterlichen Stadt durch die um sich greifende Industrialisie-
rung anprangert. Die moralische Erneuerung der Baukunst
erfolgt für Pugin aus dem katholischen Glauben und ist fest
an eine idealisierte Gotik-Rezeption (Gothic Revival) gebun-
den. Seine Gesellschaftskritik in Verbindung mit einem kla-
ren Baustilbekenntnis, einem religiösen Heilsversprechen
und einem glaubensfesten Patriotismus wandelt das vor-
herrschende romantische Mittelalter-Bild auf eine sozial-
ethische Ebene. Mit ihr als ideale Gesellschaftsform und der
Gotik als historischem Stil des Nordens, stemmt sich Pugins
codierte Version eines englischen Regionalstils gegen eine
fremdartige klassische Villenarchitektur des Südens. Zeigen
sich in Pugins Bestrebungen Parallelen zu Prinz Charles?
Versucht der Monarch gleichzeitig als angehendes Ober-
haupt der Kirche und moralische Autorität, mit seiner Kritik
und dem Verlust der Weltordnung durch die Enthierarchisie-
rung von St. Paul’s, an eine vergangene Gesellschaftsform
anzuknüpfen?
Mit seinen «Ten Principles» (Ort, Hierachie, Massstab,
Harmonie, Umschliessung, Materialität, Dekor, Kunst, Schrift-
züge, Licht und Gemeinschaft) hofft der Prince of Wales die
verloren gegangenen Werte einer traditionsorientierten und
2