archithese 6.10 - zufall / randomness

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archithese Eine Suche in Kunst, Leben und Architektur Wie das Neue in die Welt kommt Sou Fujimoto From convergence to emergence 27 Gedanken zum Thema Serendipity Die Karriere des Aleatorischen raumlaborberlin The curse of the surge towards authenticity weichlbauer / ortis Plädoyer für eine nicht-totalitäre Ästhetik Brutalism as found Philippe Schmit Villa Vauban Stefan Zwicky Restaurant uniTurm Karl Moser Special Interview Gigon / Guyer 6.2010 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Zufall Randomness

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Page 1: archithese 6.10 - Zufall / Randomness

ZZEITLOS Wenn ein Teppich nicht nur schmuckes Accessoire, sondern modernes Design ist. Wenn seine Ästhetik Räume durchflutetund ein Gefühl von stiller Intimität schafft. Dann steht gewiss der Name TISCA TIARA dahinter. Mit aussergewöhnlichen Materialien undfaszinierenden Strukturen. Für Teppich- und Stoffkreationen von bleibender Schönheit. www.tisca.ch TTHE TOTAL TEXTILE COMPANY

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architheseEine Suche in Kunst, Leben und Architektur

Wie das Neue in die Welt kommt

Sou Fujimoto

From convergence to emergence

27 Gedanken zum Thema Serendipity

Die Karriere des Aleatorischen

raumlaborberlin

The curse of the surge towards authenticity

weichlbauer / ortis

Plädoyer für eine nicht-totalitäre Ästhetik

Brutalism as found

Philippe Schmit Villa Vauban

Stefan Zwicky Restaurant uniTurm

Karl Moser Special

Interview Gigon / Guyer

6.2010

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Zufall

Randomness

Leserdienst 103

Page 2: archithese 6.10 - Zufall / Randomness

4 archithese 6.2010

E D I T O R I A L

Zufall

«Allein durch Unbestimmtheit, Zufall und Unfall lässt sich die Zukunft erkennen».

Enric Ruiz Geli, Cloud 9

Wer das Jahresprogramm der archithese für 2010 sorgfältig studierte, wird fest-

stellen, dass sich das vorliegende Heft als Ersatz für das angekündigte Heft über

Emigration eingeschlichen hat. Der Zufall wollte es – und wurde sogleich zum Thema.

Anfänglich motiviert durch die zunehmende Kultivierung einer zufälligen Ästhe-

tik, wie im VitraHaus von Herzog & de Meuron beispielhaft vorgeführt, stellte sich

heraus, dass der Zufall grundlegendste Konzepte des architektonischen Entwer-

fens berührt – denn Inspiration und Einfall sind letztlich nicht vorhersehbare und

dem Kontingenzgedanken folgend auf Zufälligkeit beruhende Ereignisse. Selbst

die klassizistisch-deterministische Entwurfshaltung ist in ihrer Ablehnung eine

vermeintlich ordnende Reaktion auf die Zufälligkeit der Welt. Diese, ihr Entstehen

wie auch das umgebende Universum werden spätestens seit dem Aufkommen der

Quantenphysik als vom Zufall bestimmt verstanden. Während jedoch in der Kunst

des 20. Jahrhunderts der Zufall zum entscheidenden Werkzeug avancierte, haftete

dem Zufall in der Architektur lange der Makel des Unkontrollierten, Vagen und allzu

Spontanen an. Der Dekonstruktivismus schliesslich ikonisierte just diese Eigen-

schaften, zeigte jedoch gleichsam die Herausforderung auf, den Zufall im langwie-

rigen Prozess des Bauens zu erhalten. Heutzutage wird der Zufall in der Architektur

vor allem dort vermutet, wo sich nicht auf den ersten Blick eine übergeordnete

Struktur erkennen lässt und diskrete Kräfte, manchmal die des Computers, walten.

Dass sich der Zufall nicht leicht bestimmen lässt, zeigt auch die im Heft vorge-

stellte Vielfalt verwandter oder ursprünglicher Begriffe: Kontingenz, Serendipität,

Stochastik, Aleatorik, randomness, accident und hazard. Sie unterstreicht die Reich-

haltigkeit des Zufalls und seiner Bedeutung für unser Leben, unsere Zukunft und für

das Entstehen sowie die Weiterentwicklung von Architektur. Der Zufall – er steht

für das Werdende in unserer Welt, für die Offenheit, sich auf das Neue einzulassen.

Ausserdem im Heft: Ein Special zu Karl Moser (1860 –1934), dem das Kunsthaus

Zürich eine umfangreiche Retrospektive widmet (Karl Moser – Architektur und

Kunst, 17.12.2010 – 27.02.2011). Die Beiträge über Moser entstanden in Kooperation

mit dem Institut gta der ETH Zürich.

Hingewiesen sei überdies auf die aktuelle Ausstellung des Schweizerischen

Architekturmuseums S AM in Basel: Im Raum und aus der Zeit. Anna Viebrock

– Bühnenbild als Architektur (04.12.2010 – 06.03.2011). Auch hier wird das Thema

des Zufalls behandelt.

Redaktion

Jackson Pollock:

P. P. S., Ausschnitt.

Metropolitan

Museum of Art

(Foto:Christian Gänshirt)

Page 4: archithese 6.10 - Zufall / Randomness

14 archithese 6.2010

A R C H I T E K T U R A K T U E L L

Zwischen Villa und Park

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PHILIPPE SCHMIT ARCHITECTS: VILLA VAUBAN –

MUSÉE D’ART DE LA VILLE DE LUXEMBOURG

Das in einer neobarocken Villa ansässige

Kunstmuseum der Stadt Luxemburg wurde

mit einem rückwärtigen Anbau grosszügig

erweitert. Das Projekt inszeniert auf ge-

schickte Weise die Schnittstelle zwischen

dem Garten der Villa und dem anschliessen-

den öffentlichen Park.

Der 11. Mai 1867 bedeutete einen wesentlichen Ein-

schnitt für die neuzeitliche Geschichte des Gross-

herzogtums Luxemburg: Gemäss dem Londoner

Vertrag wurde der Staat in die ewige Neutralität ent-

lassen – und das bedeutete für die Stadt den Abzug

der preussischen Garnison und die Schleifung der

über Jahrhunderte gewachsenen Festung, aufgrund

der Luxemburg zum «Gibraltar des Nordens» avan-

ciert war (vgl. archithese 4’2009). Besonders stark

befestigt war die nicht von tief eingeschnittenen

Fluss tälern umgebene Westseite der Stadt. Hier kam

der durch den Pariser Parc des Buttes-Chaumont

bekannte französische Landschaftsarchitekt Édou-

ard André zum Zuge, der – anschliessend an den

die Kernstadt begrenzenden Boulevard du Prince

Henri – im Bereich des früheren Festungsglacis

zwischen 1871 und 1878 einen Park im englischen

Stil anlegte – mit ondulierender Wegeführung und

langen Sichtachsen.

Wie Einsprengsel wurden in diesen öffentlichen

Anlagen einzelne Privatvillen errichtet – so die Villa

Vauban, welche von der die Parkanlage in west-

östlicher Richtung querenden Avenue Emile Reuter

aus erschlossen wird; die Gestaltung des Gartens

übernahm ebenfalls André.

Den Namen bezog die Villa vom Fort Vauban,

über dessen geschleiften Substruktionen sie errichtet

worden war. Zwar hatte der französische Festungs-

baumeister selbst Teile der Festung Luxemburg er-

richtet, doch das Fort Vauban war erst 1739 unter

österreichischer Herrschaft erbaut worden. In einer

Auktion des Jahres 1868 hatten der Handschuh-

macher Gabriel Mayer und dessen Frau Stéphanie

Levy das Grundstück erworben und 1871– 1873

durch den französischen Architekten Jean-François

Eydt eine zweigeschossige Villa in der Formenspra-

che des Neobarock errichten lassen. Schon 1874

wurden allerdings Park und Grundstück an den

aus Lothringen stammenden, im Hüttenwesen reich

gewordenen Baron Charles Joseph de Gargan und

dessen Gattin Emilie Pescatore – Tochter des luxem-

burgischen Montanunternehmers Pierre-Antoine

Pescatore – verkauft. Die Villa blieb im Besitz der

Familie, bis 1940 die NS-Besatzungsmacht das

Grundstück beschlagnahmte. Nach der Rücküber-

tragung versteigerten die Erben der Familie de Gar-

gan zunächst das Mobiliar und dann Grundstück

und Haus selbst. Am 20. Januar 1949 wurde die

Stadt Luxemburg neue Eigentümerin des Anwesens.

Doch die Idee, hier eine städtische Kunstgalerie

einzurichten, scheiterte zu einer Zeit, da die Commu-

nauté Européenne du Charbon et de l’Acier – Vorläu-

ferorganisation der EU – in Luxemburg Platzbedarf

3

4

1 Hauptansicht der Villa

mit rückwärtigem Anbau

(Fotos: Lukas Roth)

2 Ansicht Parkseite

3 Situation und Grundriss

Erdgeschoss

4 Grundriss Untergeschoss

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50 archithese 6.2010

Sou Fujimoto: Kinderzentrum für psychiatrische Reha-bilitierung, Hokkaido 2006

FEINJUSTIERTER ZUFALL

Page 7: archithese 6.10 - Zufall / Randomness

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Text: Hannes Mayer

Das Kinderzentrum war der letzte einer Reihe von Bauten

für eine psychiatrische Einrichtung auf Fujimotos nordjapa-

nischer Heimatinsel Hokkaido. 24 doppelgeschossige Wür -

fel lassen in loser Anordnung und keinem übergeordneten

System folgend eine Abfolge von offenen Innenräumen

entstehen, die lediglich durch Fensterelemente in Gebäu-

dehöhe vom Aussenraum abgetrennt sind. Gearbeitet und

geschlafen wird in den geschlossenen Kuben, während das

Leben, Mahlzeiten und Aufenthalt in den grosszügigeren

Freibereichen stattfinden und von dort in die dichteren Zwi-

schenzonen einsickern. Drei schlichte Holzemporen erschlies -

sen den oberen Stock der Würfel.

Das Kinderzentrum ist ein Zeichen der Skepsis Fujimotos

gegenüber starr-totalitären Gitter- und Ordnungssystemen

auf Basis kartesischer Koordinaten und linearer Notation.

Stattdessen ist es die klare Umsetzung eines zumindest

während der Entwurfsphase dynamischen Ökosystems im

ursprünglichen Sinne, eines Haushalts, dessen einzelne

Bestandteile miteinander in Beziehung stehen, voneinan-

der abhängig sind und in vielen Iterationen einer Balance

entgegenstreben. Obwohl, wie schon im Tokyo Apartment,

die Grundformen elementar sind, erhält das Projekt seine

Spannung aus der Entstehungsphase. Unterstützt durch die

detail- und gewichtslose Gestaltung der Wandflächen und

der, angesichts der Raumhöhe, bescheidenen Wandmasse

lösen sich die geschlossenen Volumen beim Umherwandeln

in Winkel und Wände auf, die wie abstrakte Elemente einer

Theaterbühne parallele Handlungen begrenzen.

Unmöglich ist es, diese Zustände in einem Wort zu be-

schreiben, und dennoch herrscht weder Chaos noch Unord-

nung. Es ist ein Projekt von minimalistischer Anmut, des-

sen Grundspannung dadurch erzeugt wird, dass der eigene

menschliche Körper und die Wahrnehmung sich stetig neu

in Beziehung zu den umliegenden Baukörpern setzen, der

graduellen Kompression und Expansion eines Raumkontinu-

ums ausgesetzt sind. Bei Erschöpfung bieten die «festen»

Volumina Zuflucht.

1 Aus Zufall wird

diskrete Ordnung –

Sou Fujimoto:

Entwurfsmodell

(Sou FujimotoArchitects)

2 Ansicht

von Westen

(Fotos 2–4:Daici Ano)

3 + 4 Blick in den

Essbereich

5 + 6 Grundrisse

Erd- und Ober-

geschoss

0 1 5 10

N

Page 8: archithese 6.10 - Zufall / Randomness

60 archithese 6.2010

The curse of the surge towards authenticity Architects are forever battling it out in

the field of international competitions and their designs are increasingly selected

for their promotional marketing value. The expectation, that good Architecture de livers

beacons of idiosyncratic sincerity has inextricably bound the image of the celebrity

Architect to the force of his works’ impact. With Architecture as the vehicle for the

Archi tect’s ego, originality has turned into a key measure of authenticity. Creating

something verifiably unique or verifiably ‘me’, has long become since a central

ambition in the design process. Architects nervously guard their unbuilt or unpublished

new designs as if awaiting a patent and willing to sue each other for plagiarism.

FORM FOLLOWS FAME

Text: Fenna Haakma Wagenaar / Photos: Charlie Koolhaas

In 1999 star Architects Jacques Herzog and Rem Koolhaas,

both weary of this never ending competitive playing field,

tired of their own stardom expectations, sick of always being

on the same competition shortlist and always second guess-

ing what the other one would do, decided to work together. It

was Jacques who convinced Ian Schrager that this collabora-

tion could turn his new Manhattan Hotel into something more

unique and unexpected than anything done before. What

followed I remember as a ridiculously unpredictable design

process, which resulted in an extremely awkward project,

mocking the sensibilities typical of an Architect – honesty,

simplicity, lightness and elegance.

“Protect us from what we want”, seemed Jacques and Rem’s

collective motto and the Architects rejected an insane amount

of proposals; too Mies, too beautiful, too SMLXL, too sexy, NO

blobs, too expensive, too big, too Manhattan, too Herzog & de

Meuron, too OMA, too Architecture, you know we don’t want

Architecture. The design team, of which I was part, confused

by the Architects’ increasingly scatterbrained instructions,

decided to just fool around. It was an incredible messy zone

in the tidy Herzog & de Meuron office. We did everything to

lose control of all our own preconceptions, set models on fire,

played cadavre exquis with rejected schemes, made pictures

of our spaghetti dinners, turned old models upside down and

let glue dissolve styrofoam models. One day we sprayed a

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66 archithese 6.2010

Für eine nicht-totalitäre Ästhetik Im Umgang mit dem Zufall

in der Architektur lassen sich zwei Ansätze beobachten:

Der eine ist bestrebt, durch strenge Ordnung, Geometrie und Wieder-

holung den Zufall im Ausdruck zu unterdrücken, der andere

bezieht sich auf Vorgefundenes und schafft daraus ein Einzelwerk.

MIT DEM ZUFALL ENTWERFEN

Text: Christian Gänshirt

Die Welt ist alles, was der Fall ist. Aber was ist der Fall?

Vieles scheint tatsächlich Zufall zu sein, und zwar zu-

nächst einmal im negativen Sinn – wie Vorfall, Abfall, Unfall,

Überfall, Verfall, Zerfall. Hasard, das französische Wort für

Zufall, bedeutet zugleich Unglück; der deutsche Begriff wie -

derum ist eine Lehnübersetzung des lateinischen accidens,

was in vielen europäischen Sprachen Unfall heisst. Seiner

Definition nach bezeichnet das Wort Zufall «diejenigen Er-

eignisse, die sich weder als gesetzmässige Folge eines ob-

jektiven Kausalzusammenhangs noch als intendierte Folge

subjektiv-rationaler Planung erklären lassen» (Jörg Hardy).

Subjektiv-rationale Planung, das Entwerfen also, und Zufall

werden in dieser Definition als Gegensätze vorgestellt.

Stimmt das? Auf den ersten Blick scheinen Zufall und

Architektur tatsächlich Widersprüche zu sein. Das Zufäl-

lige gilt als das Formlose, Ungeformte. Es steht im Gegen-

satz zur kunstvollen, unter grossem Aufwand erarbeiteten

und hergestellten architektonischen Form. Vergleicht man

indessen die Ergebnisse eines Architekturwettbewerbs,

stellt sich nicht selten die Frage, welche Zufälle wohl zu den

höchst unterschiedlichen Entwürfen geführt haben mögen.

Auch wenn alle Teilnehmer versuchen, dieselbe Aufgabe

zu lösen, und bestimmte Lösungsansätze sich regelmässig

wiederholen, wird bei Wettbewerben meist ein breites

Spektrum verschiedener Lösungen eingereicht. Ist das

glückliche Entwerfen letzten Endes etwa doch dem Zufall

zuzuschreiben? Eingang in die Architektur fand der Zufall so -

1

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2

4

zusagen an höchster Stelle – durch den griechischen Architek-

ten Kallimachos, der, wie Vitruv berichtet, im Vorübergehen

auf dem Grab eines Mädchens einen mit einem Ziegelstein

abgedeckten Korb bemerkte, der zufällig auf eine Bären-

klauwurzel gesetzt war, «und, bezaubert von der Art und

Neuigkeit der Form, schuf er nach diesem Vorbild die Säulen

bei den Korinthern […]» (Vitruv IV, 1, 9 –10, nach der Überset-

zung von Curt Fensterbusch). Dieser Bericht kann als eine

Parabel über das architektonische Entwerfen gelesen wer-

den. Dies versteht sich hier nicht als eine genialische creatio

ex nihilo, auch nicht als das Realisieren vorgegebener, pla-

tonisch reiner Ideen. Vitruv vermittelt hier eine Auffassung

des Entwerfens als eine Tätigkeit in zwei Schritten: erstens

das Erkennen und zweitens das schöpferische Übertragen

von strukturellen Zusammenhängen aus dem Bereich des

Todes (Grab, Korb mit Grabbeigaben) in das Leben (Akan-

thusblätter, Architektur). Vorraussetzung sind die hohe ge-

stalterische Kompetenz, die Vitruv Kallimachos zuschreibt,

und dessen Fähigkeit, sich von einer zufällig vorgefundenen

Situation bezaubern zu lassen. Doch statt sich die Strategie

des schöpferischen Übertragens zu eigen zu machen, hat die

Nachwelt das von Kallimachos entworfene Kapitell zum Sym-

bol erhoben und endlos wiederholt.

Grenzen des Entwerfens

Alle Versuche, das Entwerfen in Methoden zu fassen, sind

daran gescheitert, dass der Moment des glücklichen Einfalls,

der oft zum entscheidenden Qualitätssprung in einem Ent-

1 Kallimachos,

aus: Roland Fréart

1650: Parallèle

de l’architecture

antique avec la mo-

derne. Paris, 1650,

zitiert nach Laugier

1753, S. 83

2 Tristesse nicht

nur im Herbst:

Bauten von

David Chipperfield

(links im Bild) und

Hilmer & Sattler am

Potsdamer Platz

(Fotos 2 – 4: Carsten Krohn)

3 Max Dudler:

«Grim» Zentrum

Berlin

4 «Entwerfen hat

weniger mit Erfin-

den als mit dem

Neukombinieren

von gespeicherten

architektonischen

Erinnerungen zu

tun» (Hilmer & Satt-

ler); Ritz Carlton

von Hilmer & Sattler

(links im Bild) und

Gebäude von

Hans Kollhoff am

Potsdamer Platz

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72 archithese 6.2010

Text: Florian Dreher

Woran mag es liegen, dass der New Brutalism auf so viel

Unverständnis stösst? In Fachkreisen gilt er seit jeher als

Insidertipp, und in der allgemeinen Wahrnehmung tritt stets

grosse Skepsis gepaart mit völliger Ablehnung zutage. Der

New Brutalism verträgt sich anscheinend nicht mit Jeder-

manns Geschmack und schlägt hart aufs Gemüt. Betrachtet

man seine theoretische und baugeschichtliche Entwicklung,

mag darin der Keim der Verwirrung sowie der Schlüssel zur

Erkenntnis enthalten sein.

New Brutalism versus New Empiricism

Wenn wir mit der Begriffsherleitung anfangen, so stolpern

wir bereits zu Beginn über unterschiedliche Definitionen, die

New Brutalism as found Seit einigen Jahren geniesst der New Brutalism eine differenzierte

mediale Präsenz: latente Faszination in den Fachblättern und verzerrter Abgesang in den Massen-

medien. Sein Comeback steht aber nicht im Zusammenhang mit den aktuellen Auseinander-

setzungen zur Nachkriegsmoderne, noch liegt es an seiner gestiegenen Popularität, bezeichnet

doch der New Brutalism den Wendepunkt in der Nachkriegsmoderne und Grossbritanniens

Wiedereinstieg in die internationale Architekturdiskussion. Das Augenmerk richtet sich vielmehr

auf die anhaltenden Abrissdiskussionen, so über Alison und Peter Smithsons Robin Hood

Gardens oder Andrew Derbyshires Castle Market in Sheffield.

FUNDSTÜCKE DES ALLTÄGLICHEN

sich über die Jahre hinweg mehr oder weniger verfestigt ha-

ben oder zum Mythos aufstiegen. Alison und Peter Smithson

verwenden den Begriff 1953 erstmals in Zusammenhang mit

ihrem nicht realisierten Entwurf für ein Haus in Soho. In die-

sem Entwurf manifestieren sich die Grundgedanken eines

New Brutalism, und wäre es gebaut worden, so ein Kommen-

tar der Architekten, wäre es das erste Haus in England in des-

sen Sinn geworden. Die Gesamterscheinung sollte im Inneren

wie im Äusseren einer gewünschten «Lagerhausästhetik»

mit gewöhnlichen, rohen Backsteinmauerwerken und klar

sichtbaren Betonträgerstrukturen entsprechen, gepaart mit

einer Aufhebung der traditionellen Raumdisposition, die sich

nun nach den sozialen Erfordernissen einer zeitgemässen

Wohnumwelt orientieren möge. Es mag Reyner Banhams

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1 Independent

Group, Group Six

(Henderson, Pao-

lozzi, Smithsons),

Installation Patio

and Pavilion,

Ausstellung This is

Tomorrow, London,

1956 (Abb. 1 – 3 aus: David Robbins, The Independet Group: Postwar Britain and the Aesthetics of Plenty, Cambridge /Massachusetts /London 1990)

2

3

Verdienst gewesen sein, dass er 1955 mit seinem Artikel

«The New Brutalism» in der Architectural Review die Ideen

und Ansätze einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte

und damit den Begriff medial lancierte. Er opportunierte mit

seinem Artikel gegen die damaligen Postulate eines New

Empiricism – Skandinaviens romantischer Beitrag zu einer

pittoresken Moderne –, und positionierte den New Brutalism

als legitimen bzw. wahren Vertreter seiner Zeit. Dem Kanon

legte er eine ethische Haltung zugrunde und fasste diesen

mit der Sichtbarkeit und Ablesbarkeit von Grundriss und

Konstruktion («image») sowie der Materialauswahl nach «as

found»-Qualitäten zusammen. In seiner späteren Publikation

New Brutalism: Ethics or Aesthetics? von 1966 zieht er dann

jedoch neue, anderweitige Traditionslinien zur Begriffsent-

wicklung auf. Unter der Herausgeberschaft von Jürgen Joedi-

cke erschien eine deutsche Fassung des Banham-Klassikers

Brutalismus in der Architektur. Banham verfolgt darin die

Spur nach Skandinavien und kommt auf einen Brief von Hans

Asplund an Eric de Maré zu sprechen, welcher behauptet,

dass er 1950 beim Besuch eines Kollegen diesen als «Neobru-

talisten» bezeichnete. Danach soll sich der Begriff nach Gross-

britannien ausgebreitet haben und von jungen Londoner

Architekten vereinnahmt worden sein.

Die Smithsons hingegen widersprachen 1966 Banhams

Sicht in ihrer Buchbesprechung von Banhams Bumper Book

on Brutalism im Architects Journal. Demnach bezieht sich

der Begriff, basierend auf einer Kritik über die Unité in

Marseille, auf die grobe Materialbeschaffenheit eines bé-

ton brut im Sinne Le Corbusiers. Sollten aber die Smithsons

für ihre Argumentation erst zu diesem Zeitpunkt auf ein

Verdikt Le Corbusiers der Zwanzigerjahre zurückgreifen ha-

ben müssen?

Im Lauf der Zeit hat sich dennoch die letztere Interpreta-

tion durchgesetzt – wahrscheinlich auch deshalb, weil die

Bezüge der Heroischen Moderne (Alison Smithson) eines

Mies van der Rohe oder Le Corbusier im Werk der Smithsons

so offenkundig nachzuweisen sind. Man denke an Entwürfe

wie für Golden Lane Estate mit einer Revision der Unité oder

an das Economist Group Building mit seiner Verneigung vor

der Mies’schen Interpretation eines modernen Klassizismus.

2 Eduardo Paolozzi,

Real gold, 1949

3 Eduardo Paolozzi,

Dr. Pepper, 1948