björg magnúsdóttir nicht ganz mein typ - suhrkamp.de · björg magnúsdóttir nicht ganz mein...

36

Upload: vanduong

Post on 17-Sep-2018

215 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Björg Magnúsdótt ir

Nicht ganz mein TypRoman

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Insel Verlag

BJÖRG MAGNÚSDÓTTIR

RomanAus dem Isländischen von Tina Flecken

INSEL VERLAG

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Ekki ƥessi týpabei JPV útgáfa, Reykjavík. © Björg Magnúsdóttir 2013.

Der Verlag dankt dem The Icelandic Literature Centerfür die Förderung der Übersetzung:

miðstöð íslenskra bókmenntaicelandic literature center

Erste Auflage 2016insel taschenbuch 4446Deutsche Erstausgabe© Insel Verlag Berlin 2016Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch VerlagUmschlaggestaltung: ZERO Webeagentur, MünchenUmschlagabbildungen: FinePic®, MünchenSatz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in GermanyISBN 978-3-458-36146-6

LEIFSGATA. AUF DEM WEG NACH SELFOSS.

GEZWUNGENERMASSEN.

Warum mache ich das eigentlich? Warum fahre ich diesenBlödmann nach Selfoss? Kann mir das mal jemand erklären?Nein, das kann keiner.Weil er mich darumgebeten hat?Michangefleht hat und vor mir auf die Knie gefallen ist? Mal über-legen. Nein.Muss er sich von seiner im Sterben liegendenMut-ter verabschieden?Von seinerOmaoderUroma? EinAbschied,dramatischer als jede Hollywood-Schmonzette? Heiße Trä-nen strömen über bleiche Wangen, und ein Gefühl, als würdeeinem ein Fleischmesser ins offene Herz gerammt? Nein. Gehtes um Leben und Tod? Nein, keineswegs. Oder chauffiere ichihn etwa, weil ich es ihm angeboten habe? Weil ich ganz bei-läufig eingeworfen habe, dass ich ihn selbstverständlich kurzfahren könnte? Ja! Genau das habe ich gemacht, nachdemdie-ser Lackaffe heute Morgen in meiner Küche aus meiner Tassegetrunken hat. Ich habe ihm diese Gurkerei in die Provinz an-geboten. Freiwillig. Mag ich mich nicht? Warum bestrafe ichmich? Hasse ichmich dafür? Ja!Warum übernehme ich danndiese hochnotpeinliche Mission? Ich kann es nicht beantwor-ten. Weil er mir ein großzügiges Benzingeld offeriert hat undich nichts Besseres zu tun habe? Nein! Weil ein Maschinenge-wehr gegen eine hervorstehendeVene anmeiner linken Schlä-fe drückt, die kurz vorm Zerplatzen ist? Nein. Weil meine be-rufliche Zukunft von dieser Fahrt abhängt? Von wegen. Gibtes eine andere logische Erklärung dafür, dass ich meinenSonntag daran verschwende, den Mann nach Selfoss zu fah-ren? SELFOSS! Einen quasi Fremden. Der mir noch nicht mal

7

sympathisch ist. Und warum zum Teufel bleibt er so lange imBad?SchoneineViertelstunde. Ichmachemirgleich indieHo-se, lasse mir aber natürlich nichts anmerken.

»Und, alles in Ordnung?«Ich versuche,möglichst normal zu klingen. Freundlichund

gelassen, obwohl ich mir mit meinem Gutmenschentum, daseher an Gefallsucht erinnert, furchtbar auf die Nerven gehe.Wenn er mich kennen würde, könnte er hören, dass meineStimme unsicher klingt. Leicht gepresst und mindestens dreiTonlagen höher als unter normalen Umständen, wozu das hiernicht zählt. Verfluchter Mist!

»Äh … Ich weiß nicht«, dringt es mit halberstickter Stim-me aus dem Bad.

Ich spüre, dass irgendetwas nicht so ist, wie es sein sollte.Ein unangenehmer Gedanke beschleicht mich. Kommt diesesGeräusch von der Klobürste? Bitte nicht! Ein eiskaltes Gefühlfährt mir in den Magen. Es schwillt an, durchdringt meinengesamten Körper, und ich muss mich übergeben. Glaube ich.Falls das Geräusch von der Klobürste kommt, wird dieser Tagnoch schlimmer, als er jetzt schon ist.

»Wiemeinst du das, duweißt nicht?« Ich stehe jetzt ganzdicht an der Badezimmertür. Das Geräusch kommt eindeutigvon der Klobürste.

Ich schaffe das nicht. Resignation überkommt mich, undich streiche mir die Haare aus dem schwitzig-feuchten Ge-sicht. Dann wird mir ganz heiß, und ich reiße mir den Pullivom Leib. Stehe mit dem Pulli im Arm da und bearbeite ihn.Stelle mir vor, dass dieser Typ der Pulli ist und drehe ihmden Hals um.

»Äh, hattet ihr schon mal Probleme beim Abziehen?«Ich höre, dass er versucht, das ganz normal klingen zu

lassen.

8

»Nee, nicht dass ich wüsste.« Ich warte einen Momentund lasse ihn noch ein bisschen zappeln. »Hast du ein Pro-blem?«

Das sage ich natürlich entgegen besserenWissens, da manKlothemen in unserer WG mit höchster Vorsicht behandelnundsichgenauandieHausregelnhaltenmuss.Die eroffenbarmissachtet hat. Toilettengänge nur im Halbstundentakt undnicht zweimal kurz hintereinander abziehen.

»Na ja, nicht wirklich. Ich kann nur nicht abziehen«, sagter halb lachend.

Ich spüre den verächtlichen Ausdruck in meinemGesicht.Schade, dass er mich nicht sehen kann. Er sagt das, als sei esüberhaupt kein Ding. Höchstens ein bisschen lächerlich. Wobleibt sein Schamgefühl? Mir ist überhaupt nicht nach Lachenzumute.

Als er endlich die Badezimmertür öffnet, wird mir wie-der schmerzlich bewusst, wie mein nächster Fahrgast aussieht.Der zerknitterte Anzug von der Stange schmeichelt ihm eben-so wenig wie das halbzugeknöpfte, rotweinbespritzte Hemd.Die Mitesser der Vergangenheit haben tiefe Löcher in seineWangen gegraben, und er hat schon ziemlich viele Haare ver-loren, obwohl er noch keine dreißig ist. Charme gleich null, da-für reichlich Selbstbewusstsein. Das steigt offenbar imGleich-schritt mit dem zunehmenden Alter und der abnehmendenHaarmenge. Er hat ein aufgepumptes Ego, das er sich nichtleisten kann. Nur ist ihm das leider überhaupt nicht bewusst.Das Schlimmste ist allerdingsweder seine schlechte Haut, seinRiesenego, die Tatsache, dass er unsere Toilette verstopft hat,noch sein haarloser Kopf, sondern dass ich ihn nach Selfossfahren muss. Ich möchte nichts mit dem Mann zu tun haben,weder heute noch sonst wann. Der Typ geht mir schon seit lan-gem auf die Nerven, oder vielmehr seine Ansichten zu diver-

9

senThemen,die er regelmäßig in seinerRadiosendungheraus-posaunt oder auf einer vielgelesenen Website verbreitet. Die-ses Gewäsch hat Seltenheitswert. Der letzte Beitrag handeltedavon, dass der Treibhauseffekt erheblich überschätzt werde,der vorletzte von der Wichtigkeit des Privatautos – oder nein,des »Familienautos« – für jedermann, in dem davor ging esum die Abschaffung von »behinderten Parkplätzen«, wie erParkplätze für Behinderte nannte. »Die meisten, die auf be-hinderten Parkplätzen parken, können durchaus laufen, undman sollte ihnen keine Steuergelder in den Arsch schieben.«Das schrieb er wortwörtlich. Außerdem erklärte er seinen Le-sern,warumesnormal sei, dass Frauen niedrigereGehälter be-kommen als Männer, zumindest die Mütter. »Es ist nun maleine unumstößliche Tatsache, dass Arbeitgeber knapp kalku-lieren müssen. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: WürdenSie lieber einenMann einstellen, der ARBEITET, oder eine Frau,die ständig mit den Kindern telefoniert und ihren Sohn zumFußballtraining und ihre Tochter zur Geigenstunde bringt?Bleibt natürlich noch das Problem mit dem Stillen, denn Frau-en, die stillen,machen häufig Pausen bei der Arbeit. DerMannARBEITET ausschließlich und stillt nicht andauernd.« Ein wei-teres wortwörtliches Beispiel von diesem selbsternannten Gu-ru. Alles ganz logisch. Jedenfalls für ihn.

Es handelt sich also um den klassischen isländischenDummschwätzer, und ich frage mich, was er in diesem Hauszu suchen hat. Allerdings erinnere ich mich dunkel, dass Re-gina,meineMitbewohnerin und beste Freundin seit der Grund-schule, heuteMorgen inmeinZimmerkamundsagte, sie gehejetzt zurArbeit, aberda sei einMann in ihremZimmer, umdenichmich eventuell kümmern müsse. Ich wäre nie auf die Ideegekommen, dass dieserMann, der soeben unser Badezimmerverlässt, Marinó Hermann höchstpersönlich ist.

10

»Du kannst ja mal versuchen abzuziehen, wenn du vonunserem Road Trip zurück bist«, sagt er.

Wenn ich mit ihm chatten würde, hätte er garantiert einSmiley hinter »Road Trip« gesetzt. In Gedanken schnauze ichihnan, kannmichaber jetzt konkret zukeinerReaktiondurch-ringen. Was soll man dazu sagen? Unglaublich, wie die Tatsa-che, dass erunserKloverstopft hat, auf einmal zumeinemPro-blem geworden ist. Mit dem ich mich herumschlagen muss.Was für ein Schwachkopf ist der Typ eigentlich? Warum sageich nichts? Ich stehe einfach nur steif da.

»Kannst du das nichtmachen?«, entgegne ich leise, dabeiwäre ich gerne viel resoluter.

»Nee, ich hab schon alles probiert.«Er wird langsam unverschämt.»Ist ja nicht mein Problem, dass euer Klo kaputt ist!«Der Mann ist offensichtlich leicht erregbar, und ich will

ihn so schnell wie möglich loswerden.»Okay«, sage ich knapp, bekomme deshalb aber sofort

Gewissensbisse. »Sollen wir dann mal los?« Meine Stimmewird wieder butterweich.

»Ich warte ja nur auf dich«, erwidert er schroff.Ich fragemich, wie er diese dummdreiste Frechheit besit-

zen und dabei auch noch so taktlos sein kann. Jetzt wäre derperfekte Moment, ihm eine zu knallen.

11

HAUPTFILIALE DER BANK. SIEHT MAN ES MIR AN?

Ichwusste, dass es sich lohnenwürde, auszugehen, auchwennich heute diese Unterlagen fertigstellen muss. Attacke! Undder Fisch ist im Netz! Als hätte ich geahnt, dass er kommenwürde. Wobei ich auch lange genug in Clubs rumgehangenund auf ihn gewartet habe. Nächtelang – möglichst unauffäl-lig – suchend über die Tanzfläche geschaut und mir fast einenHalswirbel ausgerenkt habe, wenn ich meinte, ihn zu sehen,immer wieder enttäuscht wegen der vielen Doppelgänger, dieder Mann hat. Bis gestern. Ein wohliges Gefühl durchfährtmich, wenn ich daran zurückdenke. Er ist so souverän. Vonsich überzeugt. Ein Mann, der weiß, was er will. Es kribbeltin meinem Bauch und ein Stückchen tiefer. Ich kann zufriedenmit mir sein, scheißegal, dass ich heute arbeiten muss. Es istschon fast peinlich, wie oft ich die Vorgeschichte im Geisterekapituliere. Irgendwie hat es gefluppt. Ich bestellte geradezwei Schnäpse, als mir jemand auf die Schulter tippte undfragte, ob ich ihm ein Bier mitbringen könne. Eingroßes Carls-berg. Er. Mein Anmachspruchwar zwar ziemlich dämlich, aberwas spielt das jetzt für eine Rolle? Immerhin hat er bei mirübernachtet.

»Sag bloß, du hast gestern einen draufgemacht?« Derneugierige Tonfall lässt mich aufblicken.

Zum ersten Mal seit Monaten finde ich es nicht nervig,dass diese unausstehliche Kollegin versucht, mich in ein Ge-spräch zu verwickeln. Sie ist perfekt und erinnert an die Stre-berin, die Reese Witherspoon in Election gespielt hat. Stöckeltauf Absätzen herum, die der Durchschnittsgröße eines drei-

12

jährigen Kindes entsprechen. Äußerst eloquent und sehr forsch.DieHaare zu einemhohenPferdeschwanz amHinterkopf fest-getackert, der wie ein Wasserfall hinabfließt. Überall Haar-klammern, um alles an seinem Platz zu halten, bis auf denPferdeschwanz-Wasserfall, der ein bisschen unordentlich hin-abwallen darf. Ihre Verpflegung bewahrt sie in TupperdosenoderGefrierbeutelnmit Reißverschluss auf.Meistensmit wei-ßen Aufklebern mit Inhaltsbeschreibungen versehen. Ich ma-che keineWitze. Gerne Öko-Reispampe, vermutlich Gras ausdem eigenen Garten und zerrupfte Wurzeln von irgendwasLebendigem, über das ich nicht nachdenken möchte. Kurzumdie abstoßendste Mischung von Essen, oder besser gesagtNahrung, die ich je gesehen habe. Sie wärmt das Zeug immerin der Teeküche in der Mikrowelle auf undmartert uns mit ei-nem Geruch, der an feuchte Erde in Asien erinnert. Ich warzwar noch nie da, kann mir aber vorstellen, dass es in einerfinsterenGasse auf einemschwülen Straßenmarkt inBangkokgenauso riecht. Ihr Kleidungsstil ist abscheulich, gebügelteBlüschen in XS und darüber potthässliche bunte Westen. Im-mer Westen. Wer trägt denn heutzutage noch Westen? Grau-enhaft. Heute hat sie eine blassrosa Bluse und eine lila Häkel-weste an. Wozu gibt esWesten? Ihre schützen jedenfalls nichtvorWind undWetter, jedenfalls nicht diese locker gehäkelten.Sie bestellt dasZeuggarantiert bei irgendeinemOnlineshop inEngland,wobekanntermaßendie schlecht gekleidetstenMen-schen der Welt wohnen. Das Allerschlimmste ist jedoch dieVictoria’s Secret Love Spell-Plörre, mit der sie sich immer ein-sprüht. Auf der Arbeit. Sie begnügt sich nicht mit ein paarTröpfchen amMorgen, sondern besprüht sich ständig mit demZeug. Das Härteste ist, wenn sie ihre asiatische Feuchterdemampft und sich gleichzeitig einsprüht. Dann streikt meineNase. Einmal hat sie sogar mich angesprüht. Ganz schön eklig.

13

Wir standen imAufzugundmussten zueinemMeeting. Plötz-lich kriegt sie Panik, wühlt in ihrer Tasche, und ich dachtenoch, sie nimmt ein Beruhigungsmittel gegen Klaustrophobie.Aber nein, sie holt ein Plastikfläschchen mit dieser rosafar-benen Plörre heraus. Und sprüht wild drauf los. Ich stehe ah-nungslos hinter ihr und kriege das Zeug direkt ins Auge. Ichhätte sie am liebsten umgebracht. Seit diesem Vorfall bemühtsie sich, den Verbrauch einzuschränken, wenn sie mich sieht.Aber ich rieche es. Permanent. Ob sie amWochenende immerhier ist?

»Sieht man mir das etwa an?«, entgegne ich grinsend.Ich verstecke mich hinter meinem Sarkasmus und will

nicht zu viel durchblicken lassen. Zumindest nicht sofort. Da-bei brenne ich darauf, es jemandem zu erzählen. Sie registriertmeine stumme Aufforderung und fragt weiter.

»Nein, aber du hast noch die Schminke vongestern drauf«,erklärt sie, als hätte sie eine großartige Entdeckung in Astro-physik gemacht.

Das fällt ihr natürlich auf. Ich schnappe mir mein Handyund versuche, mich in der Rückseite zu spiegeln. Das ist zwarnicht unbedingt eine effektive Methode, um sein Aussehenzu checken, gibt aber immerhin eineAhnung vomGesamtein-druck. Merkt sie, wie aufgekratzt ich wegen der Geschichtebin? Zugegebenermaßen bin ich überall mit Wimperntuscheverschmiert. Aber wen interessiert das?Um solcheKleinigkei-ten kann ich mich nun wirklich nicht kümmern.

»Und?«Eine unbezähmbare Neugier brodelt in der Frage, die aus

ihremMund durch den Raum schießt. Jetzt ist der richtigeMo-ment, um die kleine, perfekte Reese Witherspoon ein bisschenleiden zu lassen. Ichfixiere sie eindringlich, hebe teilnahmslosdie Augenbrauen und tue so, als wollte ich mich abwenden

14

undweiterarbeiten. Ich spüre, wie sie zusammensackt. Mann,ist die neugierig!

»Sieht man mir das auch an?«, sage ich mit Betonung ander richtigen Stelle.Wir lachen beide über dasOffensichtliche:Ich bin mit einem Typen nach Hause gegangen.

»Kenne ich ihn?«Blitzschnell schwingt sie sich auf meinen Schreibtisch und

kommt mir unangenehm nah. Die locker gehäkelte Weste istnur zehn Zentimeter von mir entfernt, und ich kann einenhauchdünnen roten Glitzerfaden darin erkennen. Das ist dashässlichste Kleidungsstück, das ich je gesehen habe.

»Na ja, weiß nicht so genau«, antworte ich beiläufig.»Ist er Banker?«Anscheinend hat sie eine sorgfältig vorbereitete Fragelis-

te in ihre Hirnrinde einprogrammiert. Ich wette darauf, dassunsere Reese gut in Actionary ist. Vor allem aber gut organi-siert. Eine gut organisierte Raterin.

»Ja, aber nicht bei uns.«Ich behalte erst mal für mich, dass er eine ziemlich be-

kannte Radiosendung moderiert und regelmäßig Beiträge imInternet schreibt.

»Oh, là, là!«Ihre Zunge rotiert in ihremMund, und man kann ihr an-

sehen, dass dieses Fragespiel sie geradezu erregt. »Was istdenn eigentlich passiert?« Ihre Augen sind weit aufgerissen,und siewartet auf eineAntwort, die ich hinauszögere. »Komm,erzähl schon!« Ich höre einen Hauch von Verzweiflung in ih-rer Stimme, und gebe schließlich klein bei.

»Ich war gestern in der Stadt und stehe so an der Bar. Dakommt er und bittetmich, ihmein Bier mitzubringen.Und ichteste eine altbewährteMasche und sage zu ihm: ›Wow, du bistecht ein heißer Typ.‹ Und er hat bei mir übernachtet.«

15

Ich mache ein Siegeszeichen, flüstere »Treffer!« und krie-ge einen Lachanfall. Unsere Reese stimmt nicht mit ein.

»Machst du Witze? Funktioniert das etwa?« Sie strahltVerachtung aus. So schnell kann sich die Stimmung ändern.

»Was?«, blaffe ich zurück.»Dieser Anmachspruch. Der ist total lächerlich.«»Na ja, ist doch egal, immerhin ist er bei mir zuHause ge-

landet.«Ich gehe sofort in Verteidigungsposition und spreche min-

destens doppelt so schnell wie vorher. Sie ist bestimmt derTyp, der erst mit einem Mann ausgeht, wenn sie fünf Jahrelang am 14. Februar, oder wann auch immer dieser dämlicheLiebesfeiertag ist, eineValentinskarte von ihmbekommenhat.

»Meine Güte!«, sagt sie und schnappt nach Luft.»Ich verstehe nicht,warumdieserAnmachspruch schlech-

ter sein soll als irgendein anderer«, behaupte ich im Brusttonder Überzeugung.

»Es geht nicht um schlechter«, beeilt sie sich zu sagen. Siewechselt die Tonlage und wird eindringlich. »Aber ich per-sönlich würde einemMann, der so was zu mir sagt, eine run-terhauen.«

»Wäre es dir lieber, wenn er das Schildchen an deinemPulloverkragen rauszieht und sagt: ›Wusste ich doch! Madein Heaven‹?«

Jetzt ist es endlich so weit, dass Reese losprustet. Ich be-trachte sie, wie sie mit übergeschlagenen Beinen auf meinemSchreibtisch sitzt, in ihrer locker gehäkelten Weste mit demGlitzerfaden, und sich vor Lachen krümmt. Es ist Sonntag, undsie ist total aufgebrezelt. Warum macht sie das nur? Dabei istsie gar nicht so unattraktiv. Sie streicht sich über die Augenund tupft die Tränen ab. Ganz vorsichtig, umdas perfekte Au-gen-Make-up nicht zu ruinieren. Ich beschließe, der Anmach-

16

Diskussion den letzten Schliff zugeben. »Oder der Typ, der aufeine riesengroßeMädchenrunde zugeht und fragt: ›Seid ihr et-wa alleine hier, Mädels?‹« Sie kichert schon los, bevor ich denSatzbeendethabe.Wirklich leicht,Leutewiesie zumLachenzubringen.

»Habe ich jetzt überallWimperntusche?«, fragt sie schließ-lich japsend.

»Nein.«Wie immer funktioniert es hervorragend, durch das De-

klamieren von blöden Anmachsprüchen das Thema zuwech-seln.

»Und was hast du heute Morgen mit ihm gemacht?«Sie ist schon ganz rot im Gesicht, und ihre Nerven sind

bis zum Zerreißen gespannt. Es ist doch nicht normal, wiesie auf die Sache anspringt. Mir schießt durch den Kopf, dassich gar nicht weiß, ob sie jemals etwas mit einemMann hatte.Sie wohnt alleine. Ohne Katze, müsste aber eigentlich einehaben.

»Ich habe ihn inmeinerWohnung gelassen.MeineMitbe-wohnerin regelt das. Die kennt sich mit so was aus.«

Ich sehe ihr an, dass sie gerne noch etwas sagen würde,und warte einen Moment, aber es kommt nichts.

17

HAUPTVERKEHRSSTRASSE HRINGBRAUT. ER IST EIN IDIOT.

»Aber das kannst du doch nicht von allen ausländischen Mit-bürgern behaupten!«

Ich vermeide es, den Mann auf dem Beifahrersitz anzu-schauen. Meine Hände umkrallen das Lenkrad. Marinó Her-mann schafft es erstaunlich schnell, mich auf die Palme zubringen. In meinemKopf dreht sich alles. Ich kannmichwirk-lich nicht erinnern, schon mal mit so einem Schwachkopf ge-redet zu haben.

»Doch«, sagt er herablassend, und ich sehe seinen Ge-sichtsausdruck vor mir, obwohl ich den Blick nicht von derStraße abwende. Ich atme tief ein und versuche, mich zu ent-spannen. Bis zehn zu zählen. Was mir schwerfällt.

»Selbst wenn irgendein Pole in Island sowasmacht, kannstdu das nicht verallgemeinern.« Er lässt mich nicht ausreden.

»Warum nicht? Wie soll ich mir denn sonst ein Urteil bil-den?« Seine Stimme ist etwas lauter geworden.

»Musst du unbedingt eine ganze Gruppe von Menschenverurteilen, weil du über einen von ihnen irgendwelche Ge-schichten gehört hast?«

Warum ist das isländische Herbstwetter eigentlich soschrecklich? Alles grau und nass. Er lacht höhnisch, und ichmache weiter.

»Du willst ja wohl auch nicht mit den isländischen Wirt-schaftswikingern in England in einen Topf geschmissen wer-den, oder?« Ich rede viel zu laut. Bin viel zu aufgebracht. DieSache überfordert mich.

»Das ist etwas anderes.« Er redet mit mir, als hielte er

18

mich für blöde, und macht eine kurze Pause, bevor er wei-terspricht. »Ein Kollege von mir hat bei diesen Leuten einge-kauft.«

Obwohl ich immer noch nicht nach rechts schaue, seheich aus dem Augenwinkel, dass er eine andere Position ein-nimmt. Er verschränkt die Arme vor dem Brustkorb, lehntsich zurück und stellt die Rückenlehne noch weiter nach hin-ten.

»Sorry, aber das erscheint mir wirklich sehr unwahr-scheinlich. Du behauptest, ich könnte einfach ein paar exklu-sive Luxusartikel auf eine Einkaufsliste schreiben und sie ei-nem Typen geben, der die Sachen dann klaut und mir für dieHälfte dessen, was sie im Laden kosten, verkauft?«

»Das ist kein Service für jedermann.«Er redet mit mir wie mit einem kleinen Kind, das dum-

me Fragen stellt. Der Mann ist unerträglich. Ich verstehe im-mer noch nicht, wie er in meinem Wagen landen konnte.

»Und was hat dieser angebliche Kollege gekauft?«»Na, Kaviar zum Beispiel. Luxusartikel eben.«»Und wo wurde der geklaut?«»Im Hagkaup-Supermarkt in Garðabær.«»Aha«, sage ich, als würde es mich nicht interessieren. Er

redet weiter, und seine Stimme wird dabei immer lauter undaufgebrachter.

»Diese Leute kommen mit der vielen Freiheit hier in Is-land nicht klar. Sie flippen aus, klauen alles, was nicht niet-und nagelfest ist, und missbrauchen unser Sozialsystem.«

»Könntest du bitte aufhören, über ›diese Leute‹ zu reden.Das ist total abwertend. Du beschreibst das kriminelle Ver-halten einzelner, nicht ganzer Gesellschaftsgruppen.«

Er hält denMund. Stille. Ichwerde nichtsmehr sagen. Ichhalte das aus. Gleichgewicht des Schreckens. Jetzt kommt es

19

darauf an,waser alsNächstes sagt.Wennerweiterlabert, geheich ihmwomöglich an die Gurgel. Aber er schaltet einen Gangzurück.

»Und? Wohnt ihr beiden Prinzessinnen schon lange zu-sammen?«

Seine Stimme ist weich geworden und trieft vor Selbst-vertrauen. Ich höre zum ersten Mal einen Ton heraus, bei demich mir vorstellen kann, dass er auf Frauen anziehend wirkt.Aber ich kann es nicht fassen, dass er Regina und mich Prin-zessinnen genannt hat. Das ist einfach too much. Ich lasse einpaar Sekunden verstreichen und schaue weiter starr auf dieStraße. Lockere meinen Griff ums Lenkrad ein wenig.

»Ungefähr ein halbes Jahr.«Ich bringe es nicht fertig, ihmdie Gegenfrage nach seinen

häuslichen Verhältnissen zu stellen, weil ich keine Lust habe,in ein Fettnäpfchen zu treten. Es ist nämlich ziemlich wahr-scheinlich, dass er bei seinen Eltern wohnt. Wer würde dennfreiwillig eine Wohnung in Selfoss mieten?

»Sollen wir kurz anhalten und was essen? Ich lade dichein«, schlägt er großspurig vor.

Ich kann den Typen nicht ausstehen. Ein rassistischerSprücheklopfer, der mit seinen hirnrissigen Ansichten viel zuviel Einfluss hat. Na ja, Einfluss? Doch, mit dieser Radiosen-dung und diesen dämlichen Internetbeiträgen. Und jetzt hatMarinó Hermann auch noch Hunger. Nach den nächtlichenLeibesübungen. Bin ich froh, dass ich davon nicht aufgewachtbin.

»Tja, gute Frage.«Hoffentlich merkt er, dass ich nicht mehr Zeit als unbe-

dingt nötig mit ihm verbringen will. Meine zögerliche Reak-tion soll ihm signalisieren, dass ich keineswegs darauf erpichtbin, anzuhalten. Er merkt es nicht.

20

»Ich hab Bock auf was richtig Fettiges. Wie immer nachsolchen Nächten.«

Über welche Nächte spricht der Mann? Ich will mir dieAntwort lieber nicht ausmalen, zumal meine Schulfreundinwohl eine ziemlich wichtige Rolle darin gespielt hat.

»Warst du schonmal indemneuenHamburger-Ladendahinten…wieheißtdie Straßenochmal?Direkt beimEinkaufs-zentrum Glæsibær.«

»Grensásvegur?«, entgegne ich automatisch. Immer, wenndie Leute versuchen, sich an den Straßennamen zu erinnern,erwähnen sie das Einkaufszentrum.

»Ja!«»Nee, welchen Laden meinst du?«»Ich glaube, er heißt Burger – mit Stil.«Ich lache, ohne es zuwollen.Wer gibt einem isländischen

Hamburger-Laden denn bitte einen solchen Namen?»Falls es den Laden wirklich gibt, wird da garantiert Geld-

wäsche betrieben«, rutscht esmir heraus. KeineReaktion vomBeifahrersitz. Ob er einen Kater hat?

»Eigentlich hab ich keinen großen Hunger, kannst du dirnicht an der Tankstelle was zum Mitnehmen holen?«

»Sag mal, bist du immer so unfreundlich?«SeineSchleimerei schlägt abrupt inEmpörungum.Damit

habe ich nicht gerechnet.»Äh, nein … nein, ich wollte nicht …«MarinóHermann ist sichtlich genervt und läuft zuHoch-

touren auf.»Ichhabdich nurgefragt, obduwasessenwillst, unddich

nicht in ein Fünfsterne-Restaurant eingeladen«, motzt er. »Ichhabe nicht vor, dich anzubaggern, falls du das denkst. Wo ichdoch gerade erst mit deiner Freundin geschlafen habe! Zwei-mal!«

21

Dabei reckt er zwei Finger in die Luft und zeigt damit aufmich. Ich sehe sie aus dem Augenwinkel. Wurstfinger mit biszurNagelhaut abgekautenFingernägeln.AufdenFingernwach-sen dunkle Haare. Auf jedem ungefähr 8-10.

22

IM VORORT GRAFARHOLT. ABRECHNUNG.

EINE VON VIELEN.

»Und die findest du bequem?«ReginabefummeltmeineneuenSchuhe. SiehältdenPfen-

nigabsatz, der ungefähr sechs Zentimeter hoch ist, zwischenden Fingerspitzen.

»Ja«, lüge ich.»Inga! Echt jetzt?«»Ja, für solche Schuhe sind sie sehr bequem.«»Dumeinst, die bequemstenausdemSortimentderunbe-

quemen Schuhe sind im Vergleich zu dem ganzen anderenMist richtig bequem?« Regina lacht los. Ich lache mit, obwohlich das nicht witzig finde.

»Ja, das sind schließlich Schuhe fürs Büro. Ich kann jawohl selbst entscheiden, was ich anziehe.«

»Jetzt bleib mal locker. Ich sage ja gar nichts. Ich sehe die-sen Schuhen nur an, dass sie furchtbar unbequem sind.«

Sie begutachtet die Schuhe und dreht sie in den Händen.Es wäre mir lieber, sie würde sie nicht anfassen. Meine alteSchulfreundin, die ich allerdings in letzter Zeit nicht beson-ders oft getroffen habe, mosert weiter.

»Echt witzig, dass du es nicht zugeben willst. Ich möchteja nur wissen, warum du ausgerechnet die gekauft hast.«

»Ich finde sie superschick.«Das ist einer der Gründe, warum ich Regina nicht mehr

jeden Tag anrufe, so wie früher, als wir jünger waren. Sie istviel zudirekt undkenntmichzugut.MeineKommilitoninnenaus dem Jurastudium verstehen wenigstens, dass man im Bü-

23

ro unbedingt solche Schuhe tragen muss, auch wenn ihre Ge-sellschaft nicht so unterhaltsam ist wie die von Regina.

»Aber die sind total unbequem!«»Nein.«»Doch!«Regina zieht ihre ausgeleierten Socken aus, diemal schwarz

waren, und quetscht sich in meine neuen, glänzenden Chris-tian Louboutin-Stöckelschuhe. Ich muss mich schwer beherr-schen. Sie humpelt ein paar Schritte durchs Wohnzimmer undjammert vor »Schmerzen«. Am liebsten würde ich ihr die Schu-he von den Schweißfüßen reißen und in den sicheren Schutzdes braunen Pappkartons zurücklegen.

»Inga! Das ist doch ein Witz! Was machst du, wenn dichjemand überfällt?Wenn dich einer mit einemMesser verfolgt,kommst du nicht weit. Todschick, oder?«

Sie blinzelt mir zu. Manchmal ist sie unerträglich.»Wie kommst du denn jetzt darauf?«»Na, du bist doch Anwältin. Wird man da nicht ständig

überfallen?«Ich antworte nicht. Als sie die Schuhe wieder auszieht,

springe ich auf und greife nach ihnen. Vielleicht ein bisschenzu schnell.

»Ich habe keine Lustmehr, darüber zu reden, du hast dochkeine Ahnung von Mode. Und jetzt erzähl mir endlich vondiesem Typen!«, verlange ich streng.

»Ach nö, ich will die Geschichte nicht zweimal erzählen.Lass uns auf Bryndís warten. Wo bleibt die eigentlich?«

»Moment mal, ihr wohnt doch zusammen, oder?«, ent-gegne ich ziemlich scharf. Ich kann unpünktliche Menschennichtausstehen. Isländer sinddarinbesondersschlimm.Immerein paarMinuten zu spät. Manweiß schon, dass alles fünfMi-nuten später anfängt als angekündigt.

24

»Tja, ich weiß auch nicht, wo die sich rumtreibt. Ich bindirekt von der Arbeit hergekommen. Musste für Mittwochnoch was fertigstellen. Ich hab heute noch nichts von ihr ge-hört, aber sie wusste ja, dass wir uns treffenwollten. Sie ist be-stimmt noch mit Marinó zu Hause.« Beim letzten Satz grinstsie breit.

»Moment mal? Heißt er so?«»Jepp.«»Marinó? Und weiter?«»Marinó Hermann.« Ein selbstgefälliges Lächeln zieht

sich über Reginas Gesicht.»Meinst du etwa den Radiotypen?«»Jepp.«»Den Blogger?«»Jepp.«Ich weiß ja nicht, ob es klug ist, sich mit dieser landesbe-

kannten Persönlichkeit einzulassen. Würde ich wahrscheinlichnicht tun. Aber es geht mich ja nichts an, mit wem Regina dieNacht verbringt. Immer wenn meine alleinstehenden Freun-dinnen von ihrem Liebesleben erzählen, habe ich den krank-haften Drang, auch Single zu sein. Wobei der Drang noch grö-ßer wäre, wenn ich nicht einen Freund hätte, der mich für dieschönste und beste Frau auf der ganzen Welt hält.

»Aber was hat Bryndís mit dem zu tun?«»Ich bin gestern mit ihm nach Hause gegangen. Bezie-

hungsweise … er mit mir.« Regina wirkt ziemlich zufriedenmit dem Verlauf der Nacht.

»Undwarumhast dumir das noch nicht erzählt? Du sitzthier seit zwanzig Minuten und machst dich über meine Schu-he lustig«, sage ich und spüre, dass ich rot anlaufe.

»Du hast ja nicht gefragt!«, erwidert Regina gespielt be-leidigt.

25

»Man sollte seinen besten Freundinnen nicht die neustenNeuigkeiten aus der Nase ziehen müssen.«

»Stimmt.« Sie verdreht die Augen. »Aber du rufst uns jaauch nicht jeden Tag an.«

Regina hat recht. Seit es uns nach der Schule in unterschied-liche Richtungen verschlagen hat, ist unser Kontakt nicht mehrso eng. Was völlig normal ist. Trotzdem werden wir vier im-mer beste Freundinnen sein, selbst wennwir nicht täglichmit-einander sprechen. Außer Regina und Bryndís natürlich, denndie wohnen zusammen in der Innenstadt. Regina ist als Letz-te zu unserer Clique gestoßen. Sie wuchs im Örtchen Rif aufder Halbinsel Snæfellsnes auf, bis ihre Eltern sich trenntenund sie mit ihrem Vater nach Reykjavík ins Hlíðar-Viertelzog. Seit sie in der fünften Klasse auf unsere Schule kam, wa-ren wir vier unzertrennlich. In den letzten Jahren hatte ichdann eher andere – passendere –Gesellschaft. Ich bückemichabrupt, um ein langes Haar vom Boden zu pflücken, und se-he sofort, dass es von Regina ist. Statt das Haar aufzuheben,nehme ich eine Fluse vom Sofa und werfe sie aus dem Fens-ter.

»Du kennst ihn also?« Das Blitzen in Reginas Augen istein untrügliches Zeichen, dass sie verknallt ist. Sie macht essich auf dem Sofa bequem.

»Nein. Oder doch. Ich sehe seinen Namen ab und zu imInternet. Diese Radiosendungen höre ich mir nicht unbedingtan«, antworte ich schnell. »Falsche Zielgruppe.«

Siegrinst nochmehr.Eindeutigverknallt. Plötzlichverän-dert sich ihr Gesichtsausdruck.

»Hey, da fällt mir was ein! Ich hab den Schwiegervatergestern beim Feiern gesehen!«

»Schwiegervater? Welchen Schwiegervater?«, frage ichscharf und ziemlich neugierig.

26

»Deinen«, antwortet Regina, als müsste ich wissen, umwen es sich handelt.

»Meinen Schwiegervater!? Jetzt werd doch mal deutli-cher!«

»Deinen Schwiegervater Jóhann! Der hatte gut getankt.So gegen vier, fünf Uhr«, entgegnet sie lachend.

»Was?«»Ja!«»Echt?«»Ja!«»Das kann nicht sein. Unmöglich.«»Wieso unmöglich? Ich sage doch, dass ich ihn gesehen

habe! Und deine Schwiegermutter war nicht dabei.«»Nein?«»Nein, er war mit ein paar Mädels unterwegs.«»Was?«»Ja, wahrscheinlich seine Studentinnen oder so, unter-

richtet er nicht Jura?«»Doch.«Ich kann meine Verwunderung nicht verbergen. Es ist

höchst merkwürdig, dass mein zukünftiger Schwiegervaternachts mit seinen Studentinnen feiern geht. Das muss ein Miss-verständnis sein.

In diesemMoment drückt jemand gegen die unverschlos-seneHaustür, und ich höre,wie sie aufgestoßen unddannmitvoller Wucht wieder zugeschlagen wird. Ich springe auf undzupfe auf dem Weg in den Flur mein Kaschmirtop zurecht.Bryndís, die Dritte aus unserer unzertrennlichen Viererbande,ist eingetroffen.

»Du siehst aus, als wärst dugerade deinem eigenenMau-soleum entstiegen.«

Ich findemichwitzig, aber Bryndís reagiert nicht. Ich kann

27

gerade noch ihren Schal auffangen, bevor er auf den Bodenfällt. Regina und Bryndís sind so unordentlich! Ich kann dasnicht ausstehen. Bryndís ist zerzaust, mürrisch und hektisch.Als wäre sie stinksauer. Was sie auch ist.

»Möglicherweise, weil ich den schrecklichsten Tag mei-nes Lebens hinter mir habe!«, schreit sie fast. »Ist Reginada?«

»Ja, ich bin hier. Hast du mit Marinó Hermann ge-knutscht?«, ulkt Regina.

»Regina, ich bringe dichum!Auf der Stelle!«, brüllt Bryn-dís durchs ganze Wohnzimmer und lässt sich möglichst weitvon Regina entfernt auf einen Stuhl plumpsen, den ich geradeneu habe polstern lassen. In total abgefahrenem Türkisblau.Schweineteuer. Sie bemerken es natürlich genauso wenig wiealles andere in unserem Haus. Es wird totenstill, und die WG-Genossinnen starren sich durchs Wohnzimmer hinweg an. Ichhole Bryndís ein Glas Wasser. Niemand sagt etwas.

»Was ist denn eigentlich passiert?«, durchbreche ich dieStille. Niemand antwortet mir. Regina zuckt mit den Achseln.»Wollt ihr überhaupt nichts erzählen?«

Die beiden Frauen starren sich immer noch an, und kei-ne macht Anstalten, die Sache zu erläutern. Ein Teil von mirfreut sichdarüber,dassdieBeziehungzwischenmeinenSchul-freundinnen nicht immer reibungslos verläuft, seit sie zusam-mengezogen sind. Wenn sie von ihrem gemeinsamen Lebenerzählen, das aus der Ferne furchtbar aufregend wirkt, füh-le ich mich manchmal außen vor. Auf der anderen Seite desZauns ist das Gras immer grüner. Ich bin fast schadenfroh,wenn ich sehe, dass Bryndís wütend auf Regina ist.

»Mädels, nun erzählt schon!«, dränge ich, setze mich zuRegina aufs Sofa, schlage die Beine übereinander und streicheüber ihr Hosenbein. Jetzt geht es endlich los, und ich werde

28

mir bald ein Bild davon machen können, wie der Sonntag ab-gelaufen ist.

»Regina!«, sagt Bryndís, als wäre ihre Freundin ein sie-benjähriges Kind, das eine teure Ming-Vase in dreizehntau-send Stücke zerbrochen hat.

»Ja?«»Was für einen Schwachkopf hast du da angeschleppt?«

Bryndís betont jedesWort und spricht ganz langsam. »So wasist doch nicht normal!«

Ich kann kaum erwarten, wie es weitergeht. Das ist bes-ser als Kino.

»Wovon sprichst du?«, regt Regina sich sofort auf.»MarinóHermann! Klingelt dawas bei demNamen?Ne-

ben dem Wörterbucheintrag für das Wort ›Arschloch‹ ist einFoto von ihm abgebildet. Spinnst du? Hattest du Drogen ge-nommen?« Regina tut mir richtig leid, denn es ist wirklichnicht schön, Bryndís zum Opfer zu fallen, wenn sie in dieserStimmung ist.

»Jetztmachabermal ’nenPunkt.Hier spinnt niemandau-ßer dir! Warum spielst du dich plötzlich als Richterin übermein Leben auf und sagst mir, wen ich mit nach Hause brin-gen darf?« Die Worte sprudeln nur so aus Regina heraus.

Wo ist mein Popcorn?»Ich bin ja auch noch nicht fertig«, sagt Bryndís mit halb-

geschlossenenAugen. Ich sehe, dass ihreLider zittern. Siemachteine Kunstpause, bevor sie mit theatralischen Gesten fortfährt.Es ist göttlich, den beiden beim Streiten zuzuschauen.

»Erstens hat dieses Ekel unser Klo verstopft. Und zwei-tens ist er erst gegangen, nachdem ich angeboten habe, ihnzu fahren! Regina, weißt du, wo Marinó Hermann wohnt?«Bryndís wird immer lauter.

»Äh,wartemal, wohnt er nicht in Selfoss?«,werfe ich ein.

29

Meines Wissens tritt der Mann überwiegend als Sprachrohrfür Selfoss in Erscheinung, sobald die Kleinstadt in den Me-dien auftaucht.

»Woher weißt du das denn?«, fragt Regina und schautmich verwirrt an. Ich zucke beiläufig mit den Schultern undändere die Beinstellung.

»Stimmt genau, Inga.«Ich weiß, dass Bryndís, auch wenn sie wirklich sauer auf

den Typen ist, großen Spaß an der Geschichte hat.»Warum hast du ihn denn nach Hause gefahren? Hat er

dir Benzingeld gezahlt?«, amüsiert sich Regina über Bryndís’Gutherzigkeit.

»Du hast dich bestimmt auf Stundenbasis bezahlen las-sen, oder?«, sage ich. Regina lacht über meinen Witz und er-gänzt: »Hast du ihm eine Rechnung ausgestellt?« Wir fangenbeide an zu kichern.

Bryndís hat die Arme fest vor der Brust verschränkt undverzieht keine Miene.

»Nein! Er hat kein Benzingeld gezahlt, dieser unver-schämte Rüpel!«

»Hast du ihn denn danach gefragt, Bryndís?«Regina trifft genau ins Schwarze. Wir wissen beide, dass

Bryndís niemals Geld für eine solche Gefälligkeit verlangenwürde. Sie regt sich zwar immer furchtbar auf, wenn jemandnicht nach ihrer Pfeife tanzt, würde es ihm aber nie direktsagen.

»Ich weiß genau, wie armselig das klingt, aber ich hab esnicht fertiggebracht«, gibt Bryndís plötzlich ganz kleinlaut zu.

»Hast du dich etwa den ganzen Tag mit ihm rumgeschla-gen?«, frage ich mitleidig.

Dies ist ein weiteres Beispiel für eine Sache, die meinenJura-Freundinnen niemals passieren würde. Keine von uns

30

würde sich aufopfern, den Lover einer Mitbewohnerin nachSelfoss zu fahren, ohne sich dafür bezahlen zu lassen!

»Ja! Wisst ihr, wie lange man mit einem normalen PKW

nach Selfoss unterwegs ist?« Bryndís nimmt wieder Fahrtauf und ist immer noch wütend.

»Vielleicht vierzig …«»Okay. Und was glaubst du, wie lange man bis Selfoss

braucht, wenn das Auto unterwegs eine Panne hat? Was üb-rigens der Grund dafür ist, dass ich jetzt den Bus nehmenmusste.«

»Du willst uns doch wohl nicht erzählen, dass Bizzyschlappgemacht hat?«, wirft Regina amüsiert ein.

Wir nennenBryndís’WagenBizzy. Er ist gelb und schwarz.Wie eine Biene. Eine fleißige Biene. Busy eben.

»O Gott, ich fasse es nicht«, sage ich ernst und denke andie Millionen Male, die Bryndís’ Yaris schon kaputt war. Siegrinst.

»Und es war echt anstrengend. Wir waren natürlich übernichts einer Meinung.«

»Tja, genauwie ihr beide!«, sage ich, undwir müssen allelachen.

»Und noch was«, regt sich Bryndís weiter auf. »Er hatmich, beziehungsweise uns, Prinzessinnen genannt!«

»Nein!« Ichpruste los. »Wennes einWortgibt, das ich nie-mals für euch verwendenwürde –dann ist es Prinzessinnen.«

»Tja, das unterscheidet dich vonMarinó Hermann!« Bryn-dís schaut mich grinsend an.

Die beiden als Prinzessinnen zu bezeichnen ist wirklichdas Letzte, das einem in diesemMoment einfallen würde. Re-gina sitzt zusammengesunken auf demSofa, in einem schwar-zen, unförmigen Blazer und einer ebensolchen Hose, mitSchminke von gestern im Gesicht, das dunkle, leicht fettige

31

Haar zu einem wirren Knoten hochgesteckt und mit einemKissen mit aufgestickten kleinen Hündchen imArm. Bryndíssitzt steifmit verschränktenArmen aufmeinem frisch gepols-terten, türkisblauen Stuhl. Sie trägt Jeans, ein langes, weites T-Shirt und eine militärgrüne Jacke, die ich sie schon mehrmalsgebeten habe, wegzuschmeißen. Ihre dunkelblonden Haaresind zu einem unordentlichen, struppigen Pferdschwanz ge-bunden. Ich weiß, dass ich heute Abend ihre Haare vom Bo-den fegen muss.

»Sagmal, für was hält derMann sich eigentlich?Auf demWegaus der Stadt war er total eingeschnappt und hat bis weithinter die Stadtgrenze kein Wort mehr gesagt.«

»Ist dein Autoradio immer noch kaputt?«»Ja.«»Ihr habt euch also fast die ganze Zeit angeschwiegen?«,

frage ich nur, um mir die Situation in Bryndís’ Schrottkarrebildlich vor Augen zu führen. Meine Frage löst bei Regina ei-nen weiteren Lachanfall aus.

»Warum war er denn eingeschnappt?«, stößt sie zwischenden Lachsalven hervor.

»Du willst wissen, warum?«, entgegnet Bryndís auf ihretheatralische Art. »Weil ich mich geweigert habe, bei Burger –mit Stil einen Hamburger zu essen!«

»MeineGüte«, seufze ich.Warumbin ich eigentlichmanch-mal so muttihaft?

»Ein widerwärtiger Laden. Ich würde mir da noch nichtmal die Hände waschen. Er war jedenfalls total beleidigt!«

Ich spüre, dass Regina die Sache unangenehm ist. Mirwäre es auch unangenehm, wenn mein Lover Bryndís amnächsten Tag in irgendeinen Schmierschuppen einladen wür-de.Und ich ein paar Stunden später von ihr durchdenFleisch-wolf gedreht würde.

32

»Findest du ihn denn nicht heiß?«, fragt Regina, und ichversuche herauszuhören, ob ihre Stimme verzweifelt klingt.Beim Thema Männer ist sie nicht gerade die Selbstsicherste.

»Heiß! Das einzig Heiße an ihm sind die Flammen derHölle, in denen er verbrennen wird, wenn sich sein Daseinauf der ErdedemEnde zuneigt.Was hoffentlich bald ist.Wirk-lich, Regina, falls du vorhast, weiterhin Kontakt zu diesemMann zu halten, werde ich alles, ALLES tun, was in meinerMacht steht, um dich zu entmündigen.«

»Na, na…«, sage ich, während Regina bei dieser Ankün-digung ihrer Mitbewohnerin rot anläuft.

»Der Mann ist eine menschliche Tragödie auf zwei Bei-nen!«, zetert Bryndís. Das ist nichts Neues. Während unsererjahrelangen Freundschaft haben wir schon oft miterlebt, wiesie allemöglichenEreignisse überdramatisiert. DasKomischeist nur, dass sie diese aufgedrehte Seite an sich sonst nieman-dem zeigt.

»Du hast dich also minimal über den Typen aufgeregt?«Wir prusten alle los. Bis Regina schließlich zugibt, dass sie

schon seit längerem ein bisschen in Marinó Hermann ver-knallt ist.

»Ach, Mädels. Ich finde ihn echt süß. Er hat einfach Cha-rakter.«

»Findest du ihn immer noch süß, seit duweißt, dass er beiseinen Eltern in Selfoss wohnt und uns Prinzessinnen nennt?«

»Bryndís, darf ich dir trotz allem eine Frage stellen. Hat-test du auf dem Weg nach Selfoss dasselbe an wie jetzt?«, er-widert Regina.

»Was meinst du?«»Hast du in diesemT-Shirt vom Frauenlauf 1994mitmei-

nem Lover eine Spritztour nach Selfoss gemacht?«»Und in dieser schauderhaften Jacke, die ich dichwieder-

33

holt gebeten habe, wegzuschmeißen …?« Ich kann den Satznicht zu Ende bringen.

»Ja! Und ich bin stolz darauf. Unter uns gesagt, hatte ichauch noch die graue, ausgewaschene Jogginghose mit demausgeleierten Gummibund an, die wahrscheinlich im selbenJahr hergestellt wurde wie das T-Shirt vom Frauenlauf. Wisstihr, wie egal mir das ist?«

»Daran zweifle ich keine Sekunde«, sage ich wahrheits-gemäß.

»Nochwas zu deinem nicht-zukünftigen Ehemann, Regi-na …«, sagt Bryndís mit provozierender Stimme.

»Was?«, entgegnet Reginawie aus der Pistole geschossen.»Er hat abartige Ansichten über Gleichberechtigung, das

weißt du doch bestimmt, oder?«»Ach, ging eure Unterhaltung so weit?«Ich kann mich nur darüber wundern, wie Bryndís es im-

mer wieder schafft, jedes Gespräch auf das Thema Gleichbe-rechtigung zu bringen.

»Irgendwannfing er an, über die Bischöfin zu reden.Undwisst ihr was? Er hält es für eineAbsurdität, unddamit zitiereich ihn, dass eine Frau Bischöfin der isländischen Staatskircheist.« Bryndís grinst triumphierend.

Regina ist weniger amüsiert, weil sie weiß, dass es für ei-nen Mann, der etwas gegen Karrierefrauen hat, schwer wird,ihre Freundinnen von sich zu überzeugen.

»Und hatte er dafür irgendwelche Argumente?«, frageich halb lachend.

»Ja, und die waren höchst interessant. Er sagte, es sei wis-senschaftlich erwiesen, dass Frauen sich tief im Inneren wün-schen, Hausfrauen zu sein und Kinder großzuziehen.« Sielacht schallend.

»Ach du Scheiße!« Ich bin ehrlich geschockt.

34

»Allerdings!«, sagt Bryndís ironisch. »Ich habe ihn nachgenaueren Quellen für diese Behauptung gefragt, und er mein-te, er würde mir einen Link zu einem Artikel schicken.«

Wieder wird es ganz still.»Bryndís?«, sage ich ernst.»Ja.«»Bitte leite die Mail an uns weiter. Falls Marinó Hermann

recht hat, ziehe ich in Betracht, meinen Job als Anwältin an denNagel zu hängen und mich bei nächster Gelegenheit schwän-gern zu lassen.« Wir lachen alle.

Bryndís löst ihr Haargummi und schleudert den Kopfnach vorne. Es passiert, was ich mir schon ausgemalt habe:Sie schüttelt ihreHaaremit den Fingern auf. Dabei fallen min-destens drei einzelne Haare auf meinen Wohnzimmerboden.Ich starre auf die herunterschwebenden Haare. Eine halbeEwigkeit vergeht, bis sie denBoden erreicht haben.Als sie lan-den, höre ich den Aufprall in meinem Kopf. Die Mädels mer-ken nichts.Natürlich nicht. Ein unkontrollierbarerDrang, denBesen zu holen, überkommtmich. Ich bebe innerlich. Rede imGeiste ganz ruhig aufmich ein und befehlemir, zuwarten, bisdieMädelswegsind, bevor ichdieHaarewegfege.ZumGlückgelingt es mir, mich zu beherrschen.

»Habt ihr heute die Meldung über diesen Gestörten inAmerikagesehen?«, fragt Bryndís, während sie sich einen neu-en Pferdeschwanz bindet. Ich brauche ein paar Sekunden, umwieder zu mir zu kommen.

»Dagibt’s jawohlmehrere«,wirft Regina ein, die angefan-gen hat, an ihren Fingernägeln zu kauen.

»Da hat sich so ein Typ von den Republikanern oder derTea-Party-Bewegung über Vergewaltigungen geäußert.«

»Ja!« Ich weiß sofort, wovon sie redet.»Nein, was hat er gesagt?«, fragt Regina.

35

»Er will Abtreibungen bei Frauen, die vergewaltigt wur-den, gesetzlich verbieten lassen. Er geht nämlich davon aus,dass eine Frau, die ›wirklich‹ vergewaltigt wurde, auf keinenFall schwanger wird. Ihr Körper würde die Befruchtung desEis verhindern, das hätten irgendwelche Wissenschaftler be-wiesen.«

»Was für ein Schwachsinn.«»Also darf eine Frau, die nach einer Vergewaltigung

schwanger wird, nicht abtreiben, weil sie laut diesem Typengar nicht vergewaltigt wurde?«, fragt Regina.

»Ja, er zitiert irgendwelche Ärzte, die das behaupten.«»Na ja«, entgegnet Regina gereizt. »Diese Vergewalti-

gungsdebatte ist schon oft sehr speziell …«»WirkennendeineMeinung,Regina«, bremst sieBryndís.»Ist ja klar, dass die Beweisführung bei einer Straftat, die

meist imDunkeln hinter verschlossenen Türen und zwischenPersonen stattfindet, deren Urteilsvermögen durch Alkoholoder Drogen getrübt ist, nicht ganz einfach ist«, erkläre ich,und Bryndís stimmt mir sofort zu. »Das ist natürlich etwasganz anderes als bei einemMordfall, wodu eine Leiche als Be-weis für ein Verbrechen hast und dich darauf berufen kannst.Bei manchen Vergewaltigungen gibt es keine Beweise, vor al-lem nicht, wenn das Opfer stillhält und sich nicht traut, sichzu wehren.«

»Aber es ist doch wohl das Mindeste, dass man deutlichnein sagt und sichwehrt,wennmanvergewaltigt wird«, erwi-dert Regina aufgebracht.

»Das wäre natürlich am besten. Untersuchungen habenaber gezeigt, dass es immer Opfer gibt, die einfach stillhaltenoder betäubtwurden.Deshalbkannmanauch nicht ausschlie-ßen, dass eine Frau, die aus irgendwelchen Gründen nichtnein gesagt hat, vergewaltigt wurde.«

36

»Am besten man sagt laut und deutlich ja, oder?«, wirftBryndís grinsend ein.

»Gib mir ein Ja!«, albert Regina.»Glaubst du, du könntest mit solchen Fällen arbeiten?«,

fragt Bryndís mich dann mit ernstem Gesicht.»Ja«, antworte ich prompt, denn darüber habe ich bereits

nachgedacht. Ich möchte Richterin beim Obersten Gerichtshofwerden und weiß, dass ich dort auch mit Vergewaltigungsfäl-len zu tun haben werde.

»Aber noch mal zurück zu diesem Tea-Party-Typen, derbereitet doch nur den Weg für seine Parteigenossen.«

»Was meinst du?«, fragt Regina.»Na ja, das ist ein klassischer Schachzug. Einer vertritt

einevöllig schwachsinnigeTheorie, behauptet irgendeinenUn-sinnundbringt allegegensichauf.AberwennsoextremeStand-punkte an die Öffentlichkeit kommen, wirken andere plötz-lich weniger extrem.«

»Richtig, das gibt es natürlich bei allen Parteien«, stimmtBryndís mir zu.

»Unter uns gesagt, glaube ich manchmal, dass die Femi-nistinnen und die Jungen Konservativen diese Masche auchanwenden. Ihr wisst schon, eine extreme Position einnehmen,die Grenzen austesten, um etwas gemäßigteren Leuten denWeg zu bahnen.«

»Wie kannst du die Feministinnen und die Jungen Kon-servativen in einen Topf werfen?«, ruft Regina entsetzt undmacht ein so pikiertes Gesicht, dass wir laut losprusten. Wassie nicht davon abhält, fortzufahren.

»Apropos Feministinnen, es ist doch bescheuert, dassdie sich so über diese rosa und blauen Halstücher aufregen,die irgendeine Versicherung letztens allen sechsjährigen Kin-dern geschenkt hat. Das geht doch völlig in die falsche Rich-

37

tung. Die sollten doch keine Energie an so was verschwen-den.«

»Dumusst keineFeministin sein,wenndumöchtest, dassdeinekleineTochter auchmit blauenoder grünenSachen spie-len darf«, sagt Bryndís mit ruhiger Stimme.

»Das ist mir durchaus bewusst. Aber die Feministinnenregen sich darüber auf!«

»Es gibt auch sehr viele normaleLeute, die das für absurdhalten.«

»Den Feminismus?«»Nein, Regina«, sagt Bryndís und lacht über Reginas ab-

sichtliches Missverständnis. »Dass amerikanische Spielzeug-firmen festlegen, mit welchen Farben isländische Kinder zuspielen haben. Und dass Mädchenspielzeug immer mit Vater-Mutter-Kind-Spielen und klapperdürren Zahnstocherpuppenzu tun hat, während man sich mit Jungsspielzeug so richtigaustoben kann.«

»Jetzt pauschalisierst du aber!«»Im Ernst, so ist es doch. Guck dir mal die Spielzeugpro-

spekte an. Alles total geschlechterbezogen. Dagegen sind de-finitiv nicht nur Feministinnen. Und diese Halstücher – war-umbekommendieMädchen rosafarbeneunddie Jungs blaue?Wer hat das entschieden?«

»Ichweiß nicht, diese Diskussion ist doch absurd. Es gibtjedeMengeMarktforschungsstudien über die Lieblingsfarbenvon Mädchen und Jungen. Und Mädchen wollen immer rosaund Barbiepuppen und Jungs blau und Autos«, sagt Regina.

»Dann ist das eben eine Frage von Angebot undNachfra-ge. Die Nachfrage wäre bestimmt anders, wenn das Angebotanderswäre.Unddie Produzenten nicht so krankhaft an über-holten Rollenmustern festhalten würden.«

»Ich weiß nicht.«

38

»Sind wir uns denn darüber einig, dass man die Vielfaltfördern und diese permanente Gleichschaltung beenden soll-te?«

»Ich finde trotzdem, und hoffentlich beleidige ich dichdamit nicht, Bryndís, dass die Feministinnen bei diesem The-ma ruhig mal eine Pause einlegen könnten.«

»Hört, hört!«, tönt Bryndís grinsend.»Genau bei solchen Themen, bei denen sich anscheinend

alle einig sind, von wegen Vielfalt fördern und Horizont er-weitern, genau da müssten mal andere das Wort anführen.Auf überholte Rollenmuster hinweisen, deren Überwindungallen guttäte. Wie cool wäre es zum Beispiel, wenn die Frei-maurer oder irgendein Männerbund mal thematisieren wür-den, wie dämlich es ist, Mädchen immer zu sagen, sie sollenbravund süß sein?Genausodämlich,wie Jungen zu sagen, siedürfen laut und frech sein. Versteht ihr? Es ist extrem wich-tig, wer die Dinge ausspricht.«

39