denkbilder abrakadabra
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Nr. 35 / Herbst 2014TRANSCRIPT
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Schläft ein Lied in allen Dingen,Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,Triffst du nur das Zauberwort.
Joseph v. Eichendorff
Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab,
muss man zu magischen Mitteln greifen,
um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten.
Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.
Max Weber
ABRAKADABRA
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DEUTSCHSCHWEIZER LITERATUR UND ERSTER WELTKRIEG
&%2.%3ONNERGROLLEN)24. SEPTEMBER – 30. NOVEMBER 2014WWW.STRAUHOF.CH
Lesen heisst durch fremde Hand träumen. Von wem stammt dieser Satz?
Die ersten drei, die uns die Lösung per Mail an [email protected] schreiben, erhalten einen Gratis- eintritt für das Literaturhaus (bitte Name/Adresse nicht vergessen!)
Eine Auswahl aus unserem Literatur-Programm im Herbst/Winter 2014:
Charles Lewinsky und sein für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman «Kastelau» Buchvernissage mit Simone Lappert Ein Abend mit Milena Moser Dialog zwischen Olga Grjasnowa und Lukas Bärfuss (ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert) Schwerpunkt Gastland Finnland mit Ulla-Lena Lundberg Die spoken word-Künstler Jürg Halter und Heike Fiedler Eine Hommage an den 2013 verstorbenen Schriftsteller Jürg Amann mit Silvio Blatter, Andreas Neeser, Hugo Ramnek und Hardy Ruoss
Besuchen Sie das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg: www.aargauer-literaturhaus.ch
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Essays Poesie in Zeiten des Replay — Philipp Auchter 5 Vom Zauber des Dadaismus — Ana Lupu 12 Die Magie zeigt sich im Verschwinden — Aurel Sieber 16 Unerhört — Fabian Schwitter 21
Poesie Rotat — Daniel Grohé 25 So etwas habe ich noch nie gefühlt, Marco — Dominik Holzer 29 Inspiration — David Ritzkowski 33 Vier Sprüche aus einem merkwürdigen Zauberkoffer — Emanuel Tandler 34 Febris — Michelle Steinbeck 37 Prosaminiaturen — Judith Keller 42 Wenn der Dattelkern fliegt — Meret Gut 44
DS Déesse Spuren einer verzauberten Welt — Maximilian Benz 49 Das Zauberhaus — Daniela Stauffacher 52 Medikamentennamen — filibusta & cybertacky86 56
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Philipp AuchterDer Zustand der Melancholie muss nicht als Vorbote einer Depression verstanden werden. Zwar kann er leicht in einer solchen enden. Die Melancholie entspricht jedoch viel-mehr einer Warteschlaufe. Im Modus des Replay will sie alles noch ein-mal überfliegen. Schwebend in einer Wolke aus Klang ruft sie einen geis-tigen Zustand hervor, in dem sich der Mensch von seiner Umwelt abhebt und in einem ästhetischen Raum um sich selber kreist. Leicht berührt dabei sein gedanklicher Körper die Gegenstände seiner Vergangenheit und Zukunft. Denn die Zukunft ist darin nur eine Abwandlung der Ver-gangenheit, ausgemalt in den Farben einer Zärtlichkeit, die der Geist in diesen Stunden für sich selber hegt.
In meiner Wiedergabeliste Top 25 Most Played ordnen sich die Lieder nach der Zahl ihres Erklungenseins.
Im Moment zählt der zweitoberste Titel 51, der oberste über 100 Wie-dergaben. Beide Lieder sind denkbar einfach. Sie bestehen aus Wiederho-lungen und Abstufungen der immer gleichen Harmonien: immer wieder da hinauf, immer wieder hierhin zu-rück. In einem der Lieder sagt zu-weilen ein österreichischer Junge einen Satz von Robert Burton auf: «Wir sind allesamt verrückt, nicht sporadisch, sondern immer» (Die Anatomie der Melancholie, 1621). Ich habe das Lied beim Schreiben gehört, auch beim Schreiben von Ab-schiedsbriefen. Ich habe es gehört, als ich meiner Liebsten in den Ar-men lag. Und ich werde es wieder hö-ren, wenn sich über das herbstliche Land allmählich der Winter neigt.
Wenn ich in den Spiegel schaue, beginnt die Frage Form anzuneh-men: Was ist es, das ich stets wie-
derholen will? Was will ich nur be-greifen? Weshalb lasse ich es nicht einfach los? In diesem Moment. Im letzten Moment. Wieder.
Der offene TrackDie Lieder, die ich so gerne im Re-play höre, gehen auf eine Entwick-lung in der elektronischen Mu-sik zurück. Ihnen gemeinsam ist die Affinität zur Wiederholung. In Klangsequenzen und Samples bil-det der Beat eine Struktur heraus, die sich mit den Mitteln der Variati-on und Transformation fortsetzt und in dieser Fortsetzung ihren Sinn für Anfang und Ende aufgibt. Der Mu-sikjournalist Ueli Bernays hat in einem bemerkenswerten NZZ-Ar-tikel, Das Ende der Schlüsse, über den ‹Track› in der Pop-Musik nach-
Poesie in Zeiten des ReplayWie die zeitgenössische Dichtung in der Musik eine Form findet und mit den Mitteln der Wiederholung zum Zauberspruch wird
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gedacht. Dabei spielt für ihn das Format der Wiedergabe eine zent-rale Rolle. Die Songs wurden näm-lich schon vor der eigentlichen Track-Kultur «in den Setlists von Radio und Party-DJs, in Mix-Tapes und Kassetten» zu PlayLists mon-tiert. «Später wurde die Mix-Kultur durch die Format-Radios und durch die Random-Repertoires digitaler Abspielgeräte gefestigt.»
Mit der zunehmenden Wiederhol-barkeit, so beobachtet Bernays, geht der Musik allmählich ihr narrativer Sinn verloren. Das kompositorische Moment besteht nunmehr darin, die Titel untereinander zu verbinden: «Typisch für all diese musikalischen Ketten ist, dass sie Unendlichkeit simulieren». Durch Überblendungs-techniken verliert der Schluss an Bedeutung und geht in grösseren Bögen auf. Der Song verliert seine narrative Logik und wird zum offe-nen Track. Darin gewinnt der ‹Fade Out› als strukturierendes Element an Bedeutung (vgl. Street Spirit von Radiohead). Er wird im Zuhörenden eine Sehnsucht auslösen: «als würde die ausgeblendete Musik in einer an-deren Welt, an einer anderen Party weiterklingen, um uns irgendwann nochmals zu begegnen, wieder zu erfreuen.»
Dass die Track-Struktur der elekt-ronischen Musik mit ihren Loops und Samples weitreichende Konsequen-zen für unsere Kultur mit sich bringt und bis in die Empfindung unserer Zeit hineinragt, zu dieser Einsicht gelangt Peter Weber schreibend in seinem Buch Die melodielosen Jahre. Weber horcht in lyrischer Prosa dem Soundtrack seiner Jugend nach und spürt in der poetischen Verdichtung seiner Gegenwart einen «Wechsel des rhythmischen Paradigmas» auf. Er umschreibt in Worten eine Ver-
änderung in der Musik, von der auch seine Sprache nicht verschont blieb:
TonuswechselMusik, Vorbotin, ganz gegen-wartshörig, ist das flinkste Re-agens, sie bindet Schwanen-des, verknüpft das Kommende im Moment, formt vor, was wir nachformulieren. Sie bil-det schnell und leicht, was wir schweren Körpers nachleben. Nerven kennen keine Parolen, nur Reize und Impulse. Eilen-de Musik legt die Beete vor, in die die Sprache fällt. In der vorauseilenden Musik wurden die Gleise für Wiederholung gelegt, bevor man davon wuß-te. Der Wechsel des rhythmi-schen Paradigmas bahnte sich in den achtziger Jahren an. Erst als Geräte zur Wiederho-lung verfügbar waren, setzte er sich durch: ein Tonuswech-sel, der auch das musische Ge-wand und das Sinngewebe der Sprache veränderte. (31)
Die Musik erscheint dabei eher als Symptom, als «flinkstes Reagens», einer tiefergreifenden Umwälzung im Denken. Die Monotonie der elektro-nischen Musik gibt den atemlosen Rhythmus einer Zeit wieder, der die Puste für die grossen Melodien aus-gegangen ist. An deren Stelle tritt die Repetition einzelner Versatz-stücke, isolierter Überbleibsel. Das Treibgut aus zerborstener Hochkul-tur dient an den Stränden des glo-balen Datenmeers zum Bau proviso-rischer Hütten und Kultstätten. Die fragliche Musik stammt aus den Jah-ren nach der Wende, «als die Luft laut mitrechnete und die Boxen Pa-radoxes sprachen: Fern! Jetzt! Fern! Jetzt! Fern! Jetzt!» (84). Alles Erzäh-lerische wurde «eingegrenzt durch
die strikten rhythmischen Gitterun-gen» einer elektronisch zerglieder-ten Zeit (87). Mit der zeitlichen Ver-knappung verschiebt sich Webers Sprachgefühl kritisch, doch das elektronische ‹Fracking› setzt auch ungeahnte Energien frei:
Geheiß und VerheißungMit der Ankunft des Mono-tonen und den so entstande-nen Druck- und Betonungs-verschiebungen in der Musik war ihm Deutsch nicht mehr geheuer. Die Sprache war um-stellt, im Innersten berührt, durchwummert, durchblitzt. Bebender Boden, diese tie-fen Töne in der Luft, überall didaktische Spitzen, Ausru-fezeichen, die bald Massen und Millionen zur Bewegung aufforderten. Die Frankfur-ter Wolkenkratzer schienen auf Quarzen zu tanzen, der Fernsehturm in Berlin war ein einziges Ausrufezeichen, die Sprache war befehlerisch verstellt, voller Aufforderun-gen. Vergiß! Vergiß! Vergiß! Vergiß! sagt jede Synkope zur Baßpauke. Die repetitive Mu-sik zwang der Sprache neue Plötzlichkeiten auf, schick-te Reize und Impulse ins In-nerste. (150)
Wenn der wummernde Subwoofer zum Herzschlag wird und jede Synk-ope «Vergiß!» in die Trance der tan-zenden Clubbesucher hineinspricht, dann überwältigt die Musik das Zeit-gefühl der Menschen. Ihr Impuls dringt tiefer als in die Gehörgänge – bricht bis in die Sprache ein.
Die Sprache, aus dem Geiste der Musik geboren, von Rhythmen ge-tragen und in der Lyrik als Gesang vernommen, musste selbstredend
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dem neuen Takt der Musik folgen. Sie hat sich im Sprechgesang neu ge-funden. ‹Rap› ist im Englischen pri-mär ein harter Schlag gegen etwas, ein Trommeln auf den Tisch, also ge-nuin instrumental, zielt auf die akus-tische Seite der Sprache ab. Aufbau-end auf Lauteffekten sucht der Rap seine Botschaft in Gleichklängen, in rhythmisch stringenten, möglichst komplexen Stab- und Endreimen. Diese neue Technik bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Bedeutung der Texte.
Das Ende der GeschichtenAuch im Poetry-Slam, in Nordame-rika aus dem Rap hervorgegangen, will der Dichter seinem Wort durch dessen Laut Gewicht verschaffen. In der wirksamen Präsentation weichen die stillen Erkenntnisse den grossen Behauptungen. Im Wettbewerb muss der Slam-Poet ankommen, muss ge-gen das Desinteresse, das gegen ihn besteht, die Stimme erheben. Er will Präsenz markieren. Jedoch ist die Erzeugung von Präsenz in ei-ner Welt der medialen Ablenkung ein hartes Geschäft. Die Konkur-renz operiert multimedial mit Bild und Ton und Text und vor allem mit Links, die über das eigene kultu-relle Artefakt hinausweisen. In die-sem Umfeld ersetzt die Stimulation langsame Bedeutungsformate, da sie Aufmerksamkeit wirksamer zu bin-den vermag: «Der sogenannte Sinn vollendeter und zeitloser Werke wird immer häufiger durch die Stimula-tion verketteter Suspense-Kaden-zen verdrängt. Ausserhalb solcher Track-Formen werden Zeitgenossen rasch nervös», so Ueli Bernays. Die gesellschaftliche Relevanz, welche die Literatur in einer veränderten
Aufmerksamkeitskultur eingebüsst hat, verschafft sich die Slam-Poetin wieder, indem sie das sprachliche Ereignis in ihr Zentrum stellt. Ihr Wort erklingt auf der Bühne durch ihren Körper und gewinnt dadurch eine physische Überlegenheit. Durch gesteigertes Tempo und eng getak-tete Pointen überflutet der Slam den Zuhörer mit seinen Reizen. Es ist die Übertragung der Clubmusik auf die Literatur:
Wenn deine Bewegung, dein KörperVom kleinen Zeh bis zum Scheitel zur Musik wird,Wenn deine Mimik, deine Gestik, deine Zeit nichts mehr zählt,Sondern nur noch den Beat fühlt,Wenn du mit Box und BodenVerschmilzt wie ein Stück Butter in der Kürbiscremesuppe,Wenn pure Energie durch deine Adern fließtIn jedes Glied bis in die Fingerkuppe,Wenn du die Kontrolle verlierst,Weil die nächste Bewegung von selber passiert,Wenn die Vibration im Boden,Der Bass im BauchDir die Fußsohlen rasiert,Wenn du die Serpentinen zwischen Kick und SnareOhne Bremsen, ohne Zweifel runterjagst,Wenn du nicht mehr denkst,Sondern nur noch bistUnd nicht mehr nach den Stunden fragst,Dann versprech ich dir das irdische NirvanaFür Agnostiker und auch für AtheistenDie Übungsekstase für Sonntagsexorzisten.
So spricht Moritz Kienemann in sei-nem Slam In Oktaven. Er greift die Ambiance des Technoclubs als Re-ferenzpunkt für das Lebensgefühl ei-ner Generation auf. Er versteht ihre ‹Melodielosigkeit› als eine absolu-te Metapher für den Verlust ihres Daseinsgrunds. Der Wunsch nach Selbstauflösung in der Trance, von der er spricht, reagiert auf das Ge-fühl, dass sich Geschichten über-haupt nicht mehr erzählen lassen: «Die Leute sagen immer, wir seien desillusioniert. Dabei ist doch auch das eine Illusion.» Eine Generation, die vergessen hat, «wofür und wo-gegen» sie eigentlich «noch kämp-fen soll», tragen die Füsse nicht auf Demonstrationen, sondern auf Partys. Dort singt sie «in Oktaven, wenn’s doch eigentlich nur um die Terz geht. Also verzeih mir, wenn ich dir sage, dass es uns einfach nur an Herz fehlt.» Dass der Endreim, «Terz geht» – «Herz fehlt», in rheto-rischer Hinsicht nicht gerade raffi-niert ist, spielt für den Poetry-Slam keine Rolle, denn der einzelne Reim (als Setzung einer Beziehung zwei-er Worte) soll sich ohnehin im Flow des Vortrags verlieren. Die ‹Terzlo-sigkeit› einer Generation steht so-mit in einer gewissen Korrespon-denz mit der ‹Verslosigkeit› ihrer Lyrik. Die Terz wäre ja eine erste Setzung zum Grundton: eine pri-märe Figur der melodiösen Entfal-tung. In den Oktaven aber stürzt die stringente Melodie des Versmasses über die offene Kaskade des Slams hinab und verliert in dessen freien Fall ihren Sinn – also im ursprüng-lichen Sinn des Wortes: ihre Rich-tung. Der Flow, das eigentliche Ziel des Poetry-Slams, muss daher nicht als zielgerichteter Strom, sondern als Sturzbach verstanden werden. Im Flow findet der Slam die Alternati-
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ve zur obsolet gewordenen Dichtung. Das bewusst gemachte Erlebnis des eigenen Bedeutungsverlusts entfal-tet eine kathartische Wirkung. Wir erfahren Sinn in der ausgestellten Sinnlosigkeit.
Im Lied Der Anfang ist nah be-schwören der Berliner Rapper Käptn Peng und seine Band Die Tentakel von Delphi einfach alles herauf: «alle erschienenen und unerschie-nenen Erscheinungen, Menschen, Tiere, Meinungen, Gefühle, Frakta-le, Zikaden, Mutanten, Schamanen, Fackelträger, Geistreisende und mikroenzyklopenjagende Weichor-ganismen». Ihnen allen sagt Peng «Hallo» und will mit ihnen tanzen. Daraus erwächst eine groteske Liste, die auf assoziativer Bedeutungsebe-ne operiert. Der Text erzählt nicht, er zählt. Im ‹stream of conscious-ness› kann der Zuhörer seine eige-nen Vernetzungen herstellen. Daraus ist keine Geschichte zu spinnen. Die Herausforderung besteht darin, aus dem Überfluss an Information, der im Strom der Gleichklänge die Ohr-muschel flutet, einzelne Versatzstü-cke überhaupt wahrzunehmen. Die angespannte Achtsamkeit auf die heraufbeschworenen Dinge, die mit den Bildern eines durch Stopptrick animierten Videoclips ephemere Verbindungen eingehen, ermöglicht dem Rezipienten eine sogartige Kon-zentration auf die eigene kognitive Leistung des Verstehens.
Hallo Schmerzen – hallo Verderben Hallo Zorn, hallo Tränen, hallo Scherben Hallo Vernichtung – hallo Sterben Hallo Vorfahr’n, hallo alle Erben Hallo Zeugung – hallo Verbeugung Hallo Potential, hallo Vergeudung Hallo Täuschung – hallo Beleuchtung
Hallo Verleugnung deiner eigenen Bedeutung Hallo Möglichkeit, hallo Stille Hallo Entwicklung, hallo freier Wille Hallo Hologramme – hallo Ball aus Licht Hallo, alles, was du siehst, besitzt du nicht Jeder, der in Liebe weint, jeder, der im Zorn lächelt Jeder – der ständig seine Form wechselt Hallo Entdeckung, dass Bewusstsein lediglich Raum ist Hallo realisier’n, dass Realität nur ein Traum istDass Realität nur ein Traum ist
Der ZauberspruchWenn der Bezug zur Realität sich ins Traumhafte verkehrt, dann träumt die Dichtung ihren ältesten Traum: kraft ihres Wortes eine eigene Wirk-lichkeit zu erschaffen. Sobald die Worte ihren Dienst an der ausser-sprachlichen Bezugswelt quittieren, beginnen sie, in ihrer eigenen Welt vorhanden zu sein. Sie erzeugen hier einen eigenen Sound und eine Kor-relation der Dinge, die sich nicht in der Referenz auf eine aussersprach-liche Realität erschöpft. Befreit von der Illusion, der aussersprachlichen Realität habhaft werden zu können, feiern die Worte den Verlust ihrer Referenzialität als kreativen Schöp-fungsakt. Sie beschwören eine Wort-welt, deren Artikulation schon zum eigentlichen Gegenstand ihrer Ver-lautbarung wird. In ihrem Erklin-gen erzeugen die Worte ihre Prä-senz performativ. Der Abgesang auf eine äussere, entzogene Wirklich-keit erwirkt den Freiraum, in dem neue Tänze getanzt, Zaubersprüche
gesprochen, Traumbilder geträumt werden.
Und zur gleichen Zeitauf dem goldnen Kamelgemäss den Bewegungen des Tieres sanft hin und her schwankendaber in festem und bequemem Reitersitz zwischen den goldnen Hügelnalso den Höckerndie Zügel edel und mutig und edelmütig angepackt und sodas Reittier handhabendwährend dem edlen Tier bei jedem Schrittalso bei jedem Tritt sacht die Füsse aufgingensich also gehen liessen (16)
So beginnt der Lyriker Michael Fehr einen majestätischen Satz in seinem Buch Kurz vor der Erlösung, der über mehrere Seiten hinweg das Bild ei-nes reitenden Königs in die Wüste malt. In seinem «gräulich kardinals-roten» Mantel reitet der König in ei-ner «tiefnächtiglich mattvioletten und mattgräulichen fahlen Wüste» dahin. Michael Fehr schöpft aus in-neren Bildern, aus Farben und Farb-kombinationen, deren Atmosphäre er bis in die feinsten Paronomasien der Worte nachspürt, um zu ergründen, wie Klänge und «Farben mit oder gegen oder unter einander in Akti-on geraten.» ‹Kurz vor der Erlösung› bezeichnet dabei jene Liminalität, auf deren Schwelle sich Worte in Ge-sang verwandeln. Im Gesang möch-te diese Poesie präsent werden. Ihre Bestimmung findet sie in der Stim-mung, die sie selber hervorruft. Kein Wunder, dass beinahe alle Figuren des Buches am Ende zum Gesang finden, wie der einsame Jäger auf seinem «anthrazitgräulichen und
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militärgrünlichen», schwankenden und verschneiten Hochstand:
dann merkwürdig hörendwie in der fernen Stadt die Glocken der Kathedrale hell anschlugenund klar und überdeutlichmerkwürdig präzise hörend das sonore Brummen in den Tiefen der Glockentöne und das soprane Summen in den Höhen der Glockentönedarauf selber eine seltsame Helligkeit und Heiterkeit undLeichtigkeit und Lichtigkeit spürenddarob sich rührendMut fassend gegen die bösebeengende Unsicherheit und gegen die bösebeklemmende Ängstlichkeit ankommendaus eingeengter Kehlemit eingeklemmter krächzender und unendlich leiser Stimmeaber immerhin mit Stimmeder magerehagerekargekahle fahle Jägermelodierte und modulierteHallelujaAlleluja (37)
Mit den Mitteln der Wiederholung und der Variation erzeugen die Wor-te einen Klangraum, in dessen Nach-hall sie sich ihrer Bedeutung sacht entheben. In der zeit- und besin-nungslosen Repetition erlangen sie endlich den Status von Zaubersprü-chen. Durch ihr Erklingen allein be-schwören sie eine Kraft herauf, die sich über eine logisch durchdrun-gene Welt hinwegzusetzen vermag. Dieser Vorgang ist der eigentlich
Literatur
Ueli Bernays: Das Ende der Schlüs-se. Neue Zürcher Zeitung, Freitag, 28. Februar 2014, Pop und Jazz, S. 47.
Michael Fehr: Kurz vor der Erlösung. edition spoken script. Luzern 2013.
Peter Weber: Die melodielosen Jah-re. Frankfurt a. M. 2007.
Youtube
»Käptn Peng & Die Tentakel von De-lphi – Der Anfang ist nah«, (2013)
»Moritz Kienemann ‹In Oktaven› @ Podi-um.Bar, Stadtheater Ulm (05.03.2011)«
berauschende Akt der Musik gewor-denen Dichtung. Magisch werden die Worte nicht in der Absicht, die Dingwelt zu verändern, sondern in der Möglichkeit, als Klangereignis eine Übermacht über die Wirklich-keit zu erlangen. In dieser subjekti-ven Erfahrung erweist sich die Spra-che endlich ein Stück weit losgelöst von ihrer alltäglichen Aufgabe, die Welt durch ihre Logik narrativ zu er-schliessen. Verbleibende Konturen einer vorstrukturierten Welt reizen die Phantasie zu ihrer Umschrei-bung, Umbesetzung, Umsortierung.
Als Klangteppich verweben die Worte das Gefüge der Zeit in neuen Mustern und erheben sich über die langweilige Welt der Menschen. Der-gestalt fliegend überwinden sie leicht Wüsten und Wälder und verknüpfen Nahes mit Entferntem. Sie gemah-nen den Reisenden dabei an jene Erfahrung der Melancholie, in de-
ren kreisenden Bewegung die Sehn-sucht nach einem Stillstand der Zeit geschrieben steht. Leicht möglich, dass der Reisende seine Sehnsucht mit jenen Zaubersprüchen stillt, de-ren Worte der Welt für einen Moment Einhalt gebieten.
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Ana Lupu«Nun ist’s nicht mehr der Gegen-stand, der die äußersten Enden sei-ner Flugbahn in der Iris vertauscht und sich fehlerhaft auf die Oberflä-che projiziert. Der Photograph hat ein neues Verfahren erfunden: er hält dem Raum das Bild, das des-sen Grenzen sprengt, entgegen und die Luft reißt’s mit gesenkter Stirn und geballten Händen in ihr Inners-tes um es zu verwahren.» So Tris-tan Tzara in dem von Walter Ben-jamin als Die Photographie von der Kehrseite aus dem Französischen übersetzten, 1922 erschienen Text. Dieses Zitat liefert einen Ansatz, um sich mit dem Gedicht abraka-dabrakadaver, französisch Carnage abracadabrant zu befassen [s. Sei-ten 14/15]. Die scheinbare Unge-genständlichkeit des vorliegenden Gedichts, wird beim Lesen dessel-ben erzeugt: Die aneinandergereih-
ten, unmittelbar aufgedrängten und rasch niedergeschriebenen Wörter sind wie Risse aus einem anderen Text. Von ihrem Ursprung losgelöst, finden die Wörter, die vom Einfall diktiert zu sein scheinen, zu einem Wortspiel, das ihre Gespaltenheit doppelt sichtbar macht. Indem sie voneinander differieren und sich stets einer Fixierung auf (unmögli-che) Bedeutung entziehen, sind sie umso mehr in der eigenen Schrift-lichkeit gefangen. Es entsteht eine Intimität zwischen Wort und Ding, die das Eine mit dem Anderen iden-tifizieren lässt. Der Reiz des Ästheti-schen wird durch den gewaltsamen, doch schöpferischen scheinbaren Zufall der Simultaneität dieser objets trouvés gesteigert. Wenn also in einer Inversion von Verhältnissen der Pho-tograph «dem Raum das Bild entge-genhält», dann widerspiegelt hier der
Text seine Unlesbarkeit, seine Me-dialität, wie etwa die readymades Marcel Duchamps, die, so Dietrich Mathy, von «keiner Gebrauchsmani-pulation veränderten Gebrauchsge-genständen» gegen Rationalität und Normativität revoltieren.
Kunst und Leben sind für den Dadaisten durch Umstülpen, Zer-setzen, Subversion und Verlachen sich selbst vorgelagert. Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Gesell-schaft und ihrem Kunstbegriff führt zu einer Vorstellung von Kunst, die im pathetischen Manifestton ihre negative Komponente findet. An-ti-Kunst wird zur Anti-Lyrik, einer, so Hauck, «parasitären [...] Kon-struktion eines kontingenten Ma-terials», dessen Textelemente laut Kieruj «auf den Raum der gegenwär-tigen Gleichzeitigkeit reduziert wer-
Vom Zauber des Dadaismus
Ein Gedicht Tristan Tzaras
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den» und wie Zufallsprodukte ohne zeitlichen Bezugsrahmen erscheinen. Wenn das Gedicht eine Partitur ei-ner experimentierenden Lebenshal-tung ist, dann sind Abrakadabra und Dada Wörter, die keinen program-matischen Sinn bergen (was im Fall «Dada» in Hulsenbecks und Tzaras Manifesten von 1916 bzw. 1918 deut-lich wird). Sowohl das vorliegende Gedicht, wie der Dadaismus insge-samt, üben eine Sprachkritik auch und gerade durch Mittel literarischer Polyphonie aus, die laut Mathy der «Dichtung eine Sphäre von Magie, von Zauber und Beschwörung» «ab-gewinnt». Ist abrakadabrakadaver ein Protest, so deutet der Ausdruck «carnage» aus dem französischen Original umso mehr auf eine Des-truktion, deren Ohnmacht im Me-dium der Sprache selbst vollzogen wird. Der Zauber besteht aber nicht allein im Bewusstsein eines mani-pulierten Sprachgebrauchs und dem Versuch, durch Demontage den Le-ser zu provozieren (vgl. Baudelaires Les Fleurs du Mal), sondern auch im Kultus, den die Kunstrichtung des Dadaismus durch öffentliches Vortragen ins Leben ruft: Die Text-produktion als kollektives Ereignis einer immer neu zu bestimmenden Raum-Zeitlichkeit. Henri Béhar schreibt in diesem Sinne im Vorwort der bei Flammarion 2011 erschie-nenen Werkausgabe Tzaras: «Rien n’est figé, tout évolue, se transforme, et la position de l’observateur inter-vient dans la perception du poème.»
Literatur
Tzara, Tristan. Carnage abracadabrant. In: Henri Béhar (Hg.): Poésies com-plètes. Tristan Tzara. Paris: 2011.
Tzara, Tristan. abrakadabrakadaver. Aus dem Französischen von Oskar Pastior. In: Karl Riha und Waltraud Wende-Ho-henberger (Hg.): Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: 1992.
Benjamin, Walter. Kleinere Ueberset-zungen. Tristan Tzara, D’Annunzio, Aragon, Proust, Léon Bloy, Adrienne Monnier, Saint-John Perse, Balzac, Jou-handeau. Frankfurt am Main: 1999.
Hauck, Johannes. Avantgardistische Lyrik in Frankreich zwischen 1900 und 1920. In: Hans Joachim Piechot-ta, Ralph Rainer Wuthenow et al. (Hg.): Formationen der literarischen Avantgar-de. Die literarische Moderne in Eu-ropa. Opladen: 1994; S. 188–204.
Kieruj, Mariusz. Zeitbewusstsein, Erin-nern und die Wiederkehr des Kultischen. Kontinuität und Bruch in der deutschen Avantgarde, 1910–1930. Frankfurt am Main; Bern: 1995. (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur; Bd. 39); S.80–95.
Mathy, Dietrich. Europäischer Dadaismus oder: Die nichtige Schönheit. In: Hans Jo-achim Piechotta, Ralph Rainer Wuthenow et al. (Hg.): Formationen der literarischen Avantgarde. Die literarische Moderne in Europa. Opladen: 1994; S. 102–123.
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Carnage abracadabrant
Tristan TzaraSe lever sous la manivelle de l’accordéon, orchestration, fluctuation calculation des résidus lents, malades – quelle gorge rigide, garagedes fouets sages et parallèles et la cavalcade classée sous l’accolade.
Roman policier, nez artificiel pour éclairage rose de jour de fête, pick-pockets, imperméable, ballons aux bords des lacs, biberons, soir deprintemps, les machines marchent pour le grand réveil qui loue lecarambolage dieu.
De Cambodge arrivé avec son bouledogue, parti 5 h 05 tuéminuit précis.
L’antenne tremble sous l’abat-jour, cuisine des sabbats météorolo-giques, bagages, soupe stellaire dans l’ouragan lueur solennelle.
Strident éclairage DO majeur, projections d’hélices et poudreblanche dans la bouteille clé de premier ordre garantie pour toutesles malles je m’amuse dans le triangle de fer.
Étiquette dans la pharmacie et confession de la jeune amoureuse :L’amertume des machines à coudre les nuages et des étoiles éteintesdans un verre d’eau des anges de carrousel bleu robinet pour lesinstincts et la baguette sonne sur les mensonges des colliers grelotset cadenas.
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Carnage abracadabrant
Tristan TzaraSe lever sous la manivelle de l’accordéon, orchestration, fluctuation calculation des résidus lents, malades – quelle gorge rigide, garagedes fouets sages et parallèles et la cavalcade classée sous l’accolade.
Roman policier, nez artificiel pour éclairage rose de jour de fête, pick-pockets, imperméable, ballons aux bords des lacs, biberons, soir deprintemps, les machines marchent pour le grand réveil qui loue lecarambolage dieu.
De Cambodge arrivé avec son bouledogue, parti 5 h 05 tuéminuit précis.
L’antenne tremble sous l’abat-jour, cuisine des sabbats météorolo-giques, bagages, soupe stellaire dans l’ouragan lueur solennelle.
Strident éclairage DO majeur, projections d’hélices et poudreblanche dans la bouteille clé de premier ordre garantie pour toutesles malles je m’amuse dans le triangle de fer.
Étiquette dans la pharmacie et confession de la jeune amoureuse :L’amertume des machines à coudre les nuages et des étoiles éteintesdans un verre d’eau des anges de carrousel bleu robinet pour lesinstincts et la baguette sonne sur les mensonges des colliers grelotset cadenas.
abrakadabrakadaver
Aus dem Französischen von Oskar Pastioraufgestanden unter kurbeln der akkordeone einer orchester-version einer kalkulation eines langsam kränkelnden boden-satzes – welch rückständig starre gurgel und garage klugerparalleler peitschen und dann kavalkade abgeheftet untereiner akkolade
ein kriminalroman, künstliche nase zwecks rosiger verklä-rung der feiertage picknicktaschen regenmäntel luftballonsan uferpromenaden schnuller abende im frühling, die ma-schinen sind im gang fürs große erwachen mein gott in derausgeliehenen karambolage
eingetroffen aus kambodscha mit eigener bulldogge, abge-reist um 5 uhr 5, kaltgemacht genau um mitternacht
die antenne zittert unterm lampenschirm, meteorologischehexenküche, eine bagage, stellare suppe im orkan ein feier-liches glänzen
schrill verklärung c-dur propellerprojektionen weißer puderin der flasche ein garantiert prima schlüssel für alle schwerenreisekoffer ich amüsiere mich im eisernen dreieck
etikette in apotheken und liebesgeständnisse eines jungenmädchens: bitterkeit von wolkennähmaschienen und ineinem glas wasser gelöschten sternen
die engel vom blauen ringelspiel ein hahn und ventil für die triebe
und das trommeln auf den lügen von halsketten handschellen hängeschlössern
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Aurel SieberDas Handwerk eines Taschenspielers besteht darin, seinem Publikum auf elegante Art und Weise einen Bären aufzubinden. Der Zuschauer seiner-seits will vom Zauberer sensationell getäuscht werden. Der Magier muss zaubern, eine Show bieten, die auch nach mehrmaligem Überdenken nicht recht verstanden werden kann. Hermann Burger, dessen Werk dank einer kürzlich erschienenen Gesamt-ausgabe wieder neu entdeckt werden kann, machte sich diesen Umstand nicht nur als Hobby-Zauberer, son-dern auch in seinem dichterischen Werk zunutze. Diabelli, Prestidigi-tateur. Eine Abschiedsvolte für Baron Kesselring ist der Abschiedsbrief ei-nes Zauberers an seinen Mäzen, in dessen Verlauf sich der Verfasser gleich selbst wegzaubern wird. Er spricht darin völlig offen über die Zauberei – so offen jedoch, dass der
Wissbegierige sich fühlen wird wie ein Durstiger, dem man «einen Feu-erwehrschlauch ins Gesicht hält» (Strässle 2009: 403). Folgende Be-richterstattung über eine Volte, einen Kunsthandgriff im Kartenspiel, gibt ein treffendes Beispiel für diesen Burgerschen Sprachschwall:
«Das Spiel wird linkshändig ge-halten, mit der Rechten teilt man es etwa in der Mitte, indem man die obere Hälfte, Paket eins, mit dem Daumen an der rückwärti-gen, mit dem Mittel und Gold-finger an der vorderen Seite er-fasst und hochhebt, um die vom Zuschauer gezogene Karte, und, bitte, den Zuschauer nicht zur Eile antreiben zu wollen, die Eile ist dann Ihre Sache, auf das Pa-ket zwei, legen zu lassen, worauf man die Hälften wieder zusam-menbringt, indessen unauffällig
den kleinen Finger der Linken zwischen die Pakete schiebt, die sogenannte Kleinfingersperre ein-schaltet – so weit, so gut; sobald, Herr Baron, die rechte Hand das ihrige auf das untere Spiel gelegt hat, lässt sie Teil Nummer eins los und ergreift klammheimlich Teil Nummer zwo, der in der glei-chen Weise mit dem Daumen an der rückwärtigen, mit dem Mittel und Goldfinger – immer wieder stossen wir aus die Paarung Mittel und Goldfinger – an der vorderen Schmalseite gehalten wird, worauf unter der Deckung der Rechten die linke Hand, das erste Paket seitlich herauszieht, bis es verti-kal an der rechten Längsseite des zweiten Paketes anliegt, während die Finger der rechten Hand den ihrerseits gehaltenen Teil Num-mer zwei etwas anheben, damit
Die Magie zeigt sich im Verschwinden
Hermann Burgers Diabelli, Prestidigitateur und die Unbestimmtheit präziser Sprache
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Literatur
Burger, Hermann (1979): Diabel-li. Erzählungen. Frankfurt a.M.
Burger, Hermann (1986): Die all-mähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poe-tik Vorlesung. Frankfurt a.M.
Iser, Wolfgang (1993): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungs-bedingung literarischer Texte. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik: The-orie und Praxis. München, S. 228–251.
Strässle, Thomas (2009): Nach-wort zu Schilten. In: Burger, Her-mann: Schilten. München.
Sterne, Laurence (1759–1767): The Life and Opinions of Tris-tram Shandy, Gentleman.
er über die Längskante des verti-kal stehenden ersten Paketes hin-weggleiten und selbiges glissan-do unter sich begraben kann, was dergestalt vor sich geht, dass man sich nun unten, weiland oben be-findliche erste Paket automatisch und lautlos ins Innere der linken Hand fällt. Wo, bitte, liegt Ihrer Meinung nach nun das gezogene Blatt?» (Burger, Diabelli: 57f.)
Burger spricht aus eigener Erfah-rung, wenn er bemerkt, dass die Auf-klärung eines Zaubertricks nur ein «enttäuschendes Aha-Erlebnis» aus-zulösen vermag (Burger 1986: 54). Denn um bei den Recherchen für Di-abelli nicht ständig auf Verschwie-genheit und Ablehnung zu stossen, sah er sich genötigt, den magischen Eid abzulegen. Nur so war es ihm möglich, an die Tricks der Zauberer heranzukommen. Die Enttäuschung des aufgedeckten Zaubertricks ist für ihn eine so «schale Aufklärung, wie wenn man das Wort ‹Prestidigi-tateur› im Fremdwörterduden nach-schaute» (Burger 1986: 54). Damit schlägt er die entscheidende Brü-cke zwischen der Zauberei und der Sprache. Hinter dem «Fremdwort-ungetüm» verbirgt sich bereits die Essenz von Burgers Poetik der Ver-schleierung. Wollte er über Zauberei schreiben, so musste er sein Hand-werk aus der Sicht eines Eingeweih-ten zwar glaubwürdig darstellen, aufgrund seines Eids aber immer kaschieren, worum es tatsächlich ging. Burger erkennt in dieser Poe-tik der Verwischung die Umkehrung von Wittgensteins berühmtem letzten Satz aus dem Tractatus: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen». Er spricht genau davon, worüber man nicht sprechen dürfte.
Obwohl der Fachterminus ‹Pres-tidigitateur› den Stand des Taschen-spielers, der auf schnelle Finger an-gewiesen ist, genau umschreibt, übt er aufgrund seiner Fremdartigkeit auf den Grossteil der Leserschaft genau den gegenteiligen Effekt ei-ner aufklärenden Bezeichnung aus. Burger nutzt diesen Umstand ge-zielt aus, indem er den Zauberer stets in seiner Fachsprache erzäh-len lässt und dabei ein dichtes Netz aus Fremdwörtern spinnt. Er stellt so auf sprachlicher Ebene nach, was der Prestidigitateur mit seinen Fingern vormacht: Er weist den Zu-schauer resp. den Leser als Laien aus und verwirrt ihn durch seine (sprachliche) Akrobatik. In seiner poetologischen Schrift Schreiben als Existenzform weitet Burger die Un-bestimmtheit, die dem Fremd wort anhaftet gar zum Prinzip seines Schaffens aus:
«Ich liebe das Fremdwort, den Fachterminus, weil in ihm die Be-ziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten weniger er-starrt ist. Es ist das dynamischere, das gleichsam motorisierte Wort» (Burger 1986: 102)
Sowohl die Zauberei als auch die Literatur erheben die in Verschlin-gungen geratene Kommunikation zwischen Zauberer und Publikum, zwischen Autor und Leserschaft zur Tugend. Weder in der einen noch in der anderen Disziplin ist es für das Glück des Rezipienten wichtig, dass er mit Gewissheit die Anatomie des Dargebotenen verstünde. Vielmehr ist es die ständige Verfolgung eines entschwundenen Sinnes, die zum Glück führt.
Freilich hält die Literatur im Un-terschied zur Zauberei keinerlei Auf-lösung bereit. Sie nimmt die Konsti-tuierung des Sinnes aus den Händen
eines erwählten Kreises und verteilt sie gerecht unter der Leserschaft. Literarische Texte haben als wich-tigstes Ziel ihr Gelesenwerden, nicht die Überbringung einer Wahrheit. Unbestimmtheit, die eine Interpre-tation provoziert, ist die «Basis ei-ner Textstruktur, in der der Leser immer schon mitgedacht ist» (Iser 1993: 248). Mit dem Einsatz einer überpräzisen Sprache bezweckt Bur-ger paradoxerweise keine minutiöse Darstellung eines Sachverhaltes, sondern schafft damit die Voraus-setzungen für die Beteiligung des Lesers am Text. Denn jemand muss in all die Leerstellen springen, die sich aufgrund der unstabilen Bezie-hungen zwischen Zeichen und Be-zeichnetem überall auftun. Mithin unterscheidet sich Literatur gerade durch diese offene Beteiligung von Texten anderer Gattungen: «The tru-est respect which you can pay to the reader‘s understanding, is to halve this matter amicably, and leave him something to imagine» (Laurence Sterne, Tristram Shandy: 1,36).
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Fabian SchwitterSehen und gesehen werden. Wäre diese Wendung in dieser Welt nicht so verkommen, würde sie das Wun-dervollste bezeugen, was es gibt. Es ist die Antithese zum biologisti-schen fressen und gefressen werden. Der Wolf und das Lamm, ein stroh-fressender Löwe – gäbe es da nicht noch die Schlange – bei Jesaja 65 am Ende: «Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.» So übersetzt Luther die absolute Hinwendung. Die Hinwen-dung Gottes zu den Menschen. Und wie sich die ersten beiden Menschen am Ende der Schöpfungsgeschichte als «Gegenüber» im Paradies begeg-nen. Bereits am Anfang – und noch vor diesen ersten Menschen – tritt alles in einem Dualismus auseinan-der. Die Schlange als Reminiszenz der Grenze? Die Vorwegnahme einer in sich verschlungenen, sich winden-
den Einheit, wie sie in den ersten Sätzen des Johannesevangeliums be-schrieben ist? Die listige Schlange, die immer schon wusste um jenes Auseinandertreten?
Gesehen haben und es sagen, ein-fach sagen. Sehen und sagen. Die Zeit spielt eine Rolle, aus Morgen und Abend, ihr in sich gekehrter Rhythmus. Das gegenläufige Inein-anderfliessen der chaotischen Grau-stufen, wüst und leer. Ein «Strudel» die Dämmerung – manchmal gewalt-sam und manchmal unmerklich. Und die Sprachtheorie, wie sie Walter Benjamin formuliert: Die «Identi-tät zwischen dem geistigen und dem sprachlichen Wesen» als «unbe-greifliche Paradoxie». – «Dennoch hat diese Paradoxie als Lösung ihre Stelle im Zentrum der Sprachthe-orie, bleibt aber Paradoxie und da unlösbar, wo sie am Anfang steht.» –
Der Name dieser Paradoxie: ɉɟɀɍɑ, mit seinem «Doppelsinn». Das Wort ɉɟɀɍɑ, wie es «im Anfang war», wie in der Sprache. – «Im Wort wurde geschaffen» und in der «Verbindung von Anschauung und Benennung» erfüllt sich die Schöpfung durch den ersten Menschen Adam. «Gott gibt den Tieren der Reihe nach ein Zei-chen, auf das hin sie vor den Men-schen zur Benennung treten.» Der Mensch sieht die Tiere und er sagt sie einfach, indem er ihnen ihren Namen gibt – den Namen, den sie tragen.
Darin besteht die Ebenbildlich-keit des Menschen zu Gott. In der Sprache sind sich Mensch und Gott gleich. In dieser wundersamen Ver-schlingung von sagen und sehen. So erscheint die creatio ex nihilo weit weniger wunderlich. – «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und
UnerhörtDie sagenhafte Magie des Sehens
«Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller
geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem
der Sprachtheorie, und wenn man diese
Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist
das Urproblem der Sprache ihre Magie.»
Walter Benjamin
«The greatest thing a human soul ever does in this world is to see something and to tell what it saw in a plain
way. [...] To see clearly is poetry, prophecy, and
religion – all in one.» John Ruskin
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die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es wer-de Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Fins-ternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.» – Sprechen, erkennen, benennen. Sa-gen, sehen, sagen. In der Sprache, das Sehen eingefasst im Medium, je-ner «Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung».
Die Sprache das Medium und da-rüber hinaus nichts, als wäre alles aus der Luft gegriffen – begriffen durch die Sprache und in ihr leben-dig. Der Hauch der Inspiration. – «Da machte Gott der Herr den Men-schen aus Erde und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase.» – Und das Erkennen als intuitive Evi-denz, so wie Adam die Tiere erkennt und benennt vor der Verstossung aus dem Paradies, vor dem Wissen um das Wesen der Dinge. – So, als ob Gott bereits gewusst hätte, was er schaffen würde, noch bevor er schuf. «Und Gott sprach: Es werde Licht.» Fortan ist Licht die Metapher für Erkenntnis und Wahrheit. Der erste Schöpfungsakt in der Sprache. Das
Sehen präfiguriert. – Weit wunder-licher: Als hätte Gott trotzdem erst erkennen können, was er geschaffen hatte, nachdem es gesagt war. «Und Gott sah» die Dinge nicht nur, er fällte auch ein Urteil über ihr We-sen. «Und Gott sah, dass das Licht gut war.» Gott sah, dass das Licht ist, was es ist. Er sah, dass die Din-
ge sind, was sie sind. So sind sie gut. – Wissen, was die Dinge sein sollen und ob sie sind. Die Dinge sagen, um sie hernach zu erkennen: «jede Spra-che teilt sich selbst mit. Oder genau-er: jede Sprache teilt sich in sich selbst». Und das So-Sein der Dinge, die «Identität» utopisch «zwischen
dem geistigen und dem sprachlichen Wesen».
Diese Paradoxie findet sich schon in der Formulierung des sechsten Tages, wo die absoluten Dinge sich gleichsam selbst übertreffen und das Absolute, das «selig in sich selbst ruht» und über jedes Gericht erha-ben ist, überbieten, als müsste Gott gleichsam noch deutlicher sehen: «Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.» Eine Ahnung davon, dass in der Sprache – und vielleicht nicht nur in der «Sprache des Menschen» – die Dinge doch «überbenannt» sein könnten? Die folgenschwere Ent-
fesselung des grausam richtenden Wortes vom «Guten und Bösen», wie Benjamin es beschreibt, ist angelegt. Das Urteil: «Dieses richtende Wort verstösst die ersten Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es ex-zitiert, zufolge einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner selbst als die
einzige, tiefste Schuld bestraft – und erwartet.» Ein zweites Mal, so die Vermutung, erfüllt sich die Schöp-fung durch den Menschen, diesmal jedoch auf tragische Weise.
Die «Traurigkeit der Natur» kün-det davon, wenn der Wind durch die Äste der Bäume weht und das Rau-
schen ein Raunen und Seufzen ist – «wo auch nur Pflanzen rauschen, klingt immer eine Klage mit.» – «Das Traurige fühlt sich so durch und durch erkannt vom Unerkenn-baren. Benannt zu sein – selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und Seliger ist – bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer.» – Wie der Mensch, als er «nackt» vor Gott stand, «bar», nachdem der Herr ge-rufen hatte: «Adam, wo bist du?» – Die «Sprachlosigkeit» als Unfähig-keit zu «erkennen».
Später wird erkennen dann ganz profan – im besten Fall – Liebe heis-sen und Zeugung bedeuten: «Und Adam erkannte seine Frau, und sie ward schwanger». Erst im Neu-en Testament kehrt das anfängliche Licht zurück, nachdem zwischen Genesis und Neuem Testament lan-ge davon gekündet worden war. – Bei Johannes: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im An-fang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dassel-be ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.» Die Hoffnung auf Erlösung und die
«Ein zweites Mal, so die Vermutung, erfüllt sich die Schöpfung
durch den Menschen, diesmal jedoch auf tragische Weise.»
«Später wird erkennen dann ganz profan – im besten Fall – Liebe
heissen und Zeugung bedeuten.»
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neuerliche Hinwendung, als ob se-hen und sagen dereinst überwunden würden. Aber noch einmal – viel-leicht als Omen erneuter Überbe-nennung, des allzu grossen Verspre-chens – der Aufschub: «Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hiess Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, er sollte zeugen von dem Licht.» – Das Sehen als Schei-tern. Die Verbindung zwischen Gott und den Menschen in der Sprache: «Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.» – Durch Gott gemacht, was sich durch den Men-schen erfüllt: die Schöpfung. Und die Sprache als Ahnung der Einheit in der Sprache. Endlich – «und er-wartet» – statt gerade, klar und deut-lich, genügsam selbstgenügsames Sehen erst – Blindheit vielleicht, die Blindheit der Liebe – helle Hörigkeit «bar» jeden Ansehens, Antwort noch vor dem Ruf – eben noch einmal jene «Unmittelbarkeit aller geistigen Mit-teilung» in der Sprache.
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Maximilian Benz
Lector, intende!Dunkel war es, intolerant, kriege-risch, zivilisatorisch rückständig – das Mittelalter. Man mag sich das Leben zu dieser Zeit gar nicht recht vorstellen. Entweder kalte und zugi-ge oder vom Rauch der Feuerstellen verqualmte Behausungen, in denen Menschen mit entweder schlechten oder gar keinen Zähnen mehr im Mund ungewürzte Speisen aßen, zum Beispiel feine Getreidegrütze. Die durchschnittliche Lebenser-wartung war genauso niedrig, wie die Lebensfreude gering war; neben Krankheit, Mangel und Not stand über allem eine (böse!) Kirche, die auf nichts anderes aus war, als die Menschen zu terrorisieren, um sich vor allem selbst zu bereichern. Wen wird es da überraschen, dass auch die geistigen Hervorbringungen des Mittelalters enttäuschen, ja meist gar
nicht der Rede wert sind? Exzepti-onelle Gestalten wie Thomas von Aquin machen den Kohl nicht fett, sondern bestätigen die traurige Re-gel. Vor den titanischen Leistungen antiker und moderner Denker – und das heisst immer auch: gemessen an ihnen – müssen mittelalterliche Entwürfe zwangsläufig und zurecht verlieren.
Mit kühl verachtendem Blick von der Gegenwart auf das Mittelalter zurück- oder mehr noch herabzu-schauen, ist natürlich nur eine Mög-lichkeit. Demgegenüber ist das Mit-telalter nicht nur für Verächter der Dentalhygiene eine erwägenswerte Alternative. Denn betrachtet man das Mittelalter mit den tränenfeuch-ten Augen der Kulturkritik, wird es erneut, nun aber unter anderem Vor-zeichen, zur Gegenwelt. Für den ge-
hetzten Menschen in einer globali-sierten Welt mag es eine Verheissung sein, dass die bekannte Welt einmal hinter dem nächsten Wald geendet hat. Und mehr noch: Zeit war da-mals nicht nur nicht Geld, sondern im Überfluss vorhanden. Wie toll der Sternenhimmel geleuchtet ha-ben muss im Mittelalter – und zwar über allen! Ach und weh, das wird man derzeit wohl nur noch in Mon-tana erfahren können. Der Weg in die Moderne ist, wie man seit Max Weber weiss, der einer allmähli-chen Entzauberung der Welt im Zuge fortschreitender Intellektuali-sierung und Rationalisierung. Sol-len wir das ernsthaft richtig finden? Wohl kaum – und umso mehr drängt sich der Gedanke auf, dass man es im Mittelalter eben auch hätte nett und vielleicht ja sogar besser haben
Spuren einer verzauberten Welt
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können; in zahlreichen Städten wird an Wochenenden in Form von voll-kommen realitätsnahen Mittelalter-märkten der empirische Beweis da-für erbracht.
Dunkel war es, geheimnisvoll, ma-gisch, eine Welt voller Götter und Dämonen, in der Vergangenheit, Ge-genwart und Zukunft in einem nicht-linearen Verhältnis standen, in der ein ausgeprägtes Analogiedenken vorlag und in der die performative Kraft der Sprache, eingebunden in einen grossen kosmischen Zusam-menhang, geglaubte und vielleicht ja auch erfahrene Wirklichkeit war. Man denke nur an die magischen Praktiken, die mit Sprechakten ein-hergehen (was dem Literaturwis-senschaftler freilich doppelte Freu-de macht). Exzeptionelles Zeugnis hierfür sind, Abrakadabra, die so-genannten Merseburger Zaubersprü-che. Der kürzere der beiden Zau-bersprüche sei hier originellerweise vollständig zitiert, da man sich (und dieses ‹man› schliesst auch posther-meneutische Präsenzliebhaber ein, siehe unten) sonst gerne auf den län-geren, besser verständlichen Spruch stützt:
«Eiris sazun Idisi,sazun hera duoder.suma hapt heptidun,suma heri lezidun.suma clubodunumbi cuoniouuidi:insprinc haptbandun, inuar uigandun. H.»
Auf eine mythologische Szene der Vergangenheit, in der die Idisen – wer auch immer das sein mag – mit einem Kriegsgeschehen in Verbin-dung gebracht werden und dabei – wie und wen auch immer – hemmten, zurückhielten oder fesselten, folgt eine Beschwörung, die imperativisch auf die Gegenwart bezogen ist. Die-se Abfolge von narrativer Miniatur
(‹historiola›) und Beschwörung (‹in-cantatio›) lässt sich auch in anderen Zaubersprüchen erkennen; im vorlie-genden Fall diente der Spruch wahr-
scheinlich dazu, Geiseln zu befreien. Das ist natürlich ungemein praktisch und ich bin mir sicher, dass sich das EDA, hätte es diesen Zauberspruch gekannt, einigen Ärger hätte vom Hals halten können. (Nota: Man braucht mehr Altgermanisten, auch im Aussendepartement.)
Ob es wohl dieser praktische Nut-zen war, der im 10. Jahrhundert einen Fuldaer Mönch die beiden Zaubersprüche in einer Sakramen-tarhandschrift nachtragen liess? Es ist natürlich nicht einfach einzu-sehen, welches konkrete Interesse ein Mönch an einem Lösezauber für Kriegsgefangene haben sollte. Auch was den zweiten Zauberspruch be-trifft, der im Fall eines Reitunfalls die Heilung des Pferdes verspricht, fielen einem leicht ein paar andere Probleme ein, die einen Mönch im 10. Jahrhundert umgetrieben haben dürften. Vielleicht war der Mönch aber auch mit seiner Tätigkeit als Schreiber unzufrieden und wollte einfach nur den Abt ärgern, indem er solch heidnischen Unsinn nieder-schrieb. Monatelang bei ungünstigen Lichtverhältnissen in unbequemer Haltung enorm langweilige Texte aufzuschreiben, kann den Un- und Übermut eines Mönches wecken; er war doch auch nur ein Mensch! Der Zauber der Zaubersprüche wäre so allerdings ein wenig entzaubert und deshalb ist es vielleicht doch besser, dass wir nichts über die Motivatio-nen des Mönches wissen.
Denn es gehört zu den Widersprü-chen unserer modernen Existenz, dass wir uns von vormodernen Zau-bersprüchen gerne verzaubern las-
sen; so wird es niemanden überra-schen, dass es kein Geringerer als Hans Ulrich Gumbrecht war, der ihnen in David Wellberys Neuer Geschichte der deutschen Literatur sieben Seiten widmete. Yeah. Und auch sonst lassen sich in der Ge-genwart allerhand magische Prakti-
ken finden. Wer hat sich nicht schon einmal in auswegloser Lage En-gelkarten ziehen lassen, ein defek-tes elektronisches Gerät liebe- und hoffnungsvoll gestreichelt oder sei-ner Kräuterhexe für die Pferdesalbe gedankt, die alle Knieschmerzen lin-derte? Zu weit darf das freilich heut-zutage nicht mehr gehen. Die Natur des Menschen ist eben immer sei-ne Kultur und im Zweifelsfall einer «benrenki» (Knochenverrenkung) suchen wir dann doch lieber den Or-thopäden auf. Den Zauber holen wir uns auf anderem Wege. Und ist es nicht wirklich Zauber genug, wenn
«Das Mittelalter ist nicht nur für Verächter der Dentalhygiene eine
erwägenswerte Alternative.»
«Es gehört zu den Widersprüchen
unserer modernen
Existenz, dass wir uns von
vormodernen Zaubersprüchen gerne verzaubern
lassen.»
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DB35_Final.indb 50 09.10.14 19:36
wir mit eingegipstem Bein nicht al-leine aus dem Spital humpeln müs-sen oder, um es vielleicht noch ein bisschen zauberhafter enden zu las-sen und zumindest ein wenig die Nähe von Zauber und Kitsch in un-seren Zeiten anzudeuten, wenn wir mit der Aussicht auf ein bequemes Bett spätnachts zu zweit trotz aller menschengemachter Beleuchtung in den Sternenhimmel blicken und trotz aller Vermessung der Welt und des Weltalls ganz tief spüren, dass die Sterne, so nah und doch so fern, nur für uns leuchten?
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R
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Maximilian Benz ist Oberassistent am Lehrstuhl von Christian Kiening. Er arbei-tet zurzeit an seiner Habilitationsschrift mit dem Arbeitstitel Arbeit an der lateini-schen Tradition. Innovationen volkssprach-lichen Erzählens im 13. Jahrhundert. In diesem Semester hält er das Seminar Glosse, Bibeldichtung, Zauberspruch. Die Medialität althochdeutscher Literatur.
DB35_Final.indb 51 09.10.14 19:36
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Daniela Stauffacher«Abrakadabra!» Die Tür gleitet auf und wir hinein.
Nein, natürlich nicht. Seit Max Weber will dieser beliebte Klassiker einfach nicht mehr so richtig hinhau-en. Wir haben einen Schlüssel. Die-ser schnurrt immerhin behaglich im Schloss, und mit einem kurzen, ent-schiedenen Klicken wird uns Einlass gewährt. Es summt ein Staubsauger gleichmässig vor sich hin, es blicken gleichgültig die denkmalgeschützten roten Wände auf uns herab. Da ste-hen wir nun, meine treue Begleiterin mit ihren andächtigen Augen und ich mit meinem silbernen Schlüssel, und sind peinlich berührt. Wir schauen einer Dame zu, wie sie sich zurecht-macht – und das macht man nun mal nicht. Durch das Schlüsselloch zu spähen, während ein reizendes Ge-schöpf in den samtenen Tiefen sei-
nes Boudoirs verweilt, mag noch dem süssen Gelüst nach Entzauberung huldigen; der kalten Neugier statt-zugeben und zu beobachten, wie eine Frau ihren Lippenstift trotz des ru-ckelnden Trams makellos aufzutra-gen vermag, ist bereits gottlos. Nein, wir wollen es nicht wissen, wir lassen ihr Geheimnis Geheimnis sein und wenden uns vom Reinigungspersonal ab, das mit beflissener Hingabe die Spuren des letzten Abends aus dem Antlitz des Theaterfoyers saugt.
Da stehen wir nun, weder bestellt noch abgeholt, und es beschleicht mich der leise Verdacht, dass das Ganze keine allzu gute Idee gewe-sen ist. Wir hatten uns aufgemacht, um jenes Haus zu ergründen, das zeitweise unsere zweite Universität ist, deren Pforten sich öffnen, wenn
sich jene etwas weiter oben an der Rämistrasse schliessen. Unser Ar-tikel sollte ein geschickt inszenier-tes Selfie werden, das Theater im Vordergrund und wir – gewisser-massen als diskretes Inventar – im Hintergrund, auch im Bild, ja, aber so, dass es eigentlich gar niemand merkt. Nun tummeln wir uns am heiterhellen Nachmittag halb läs-sig, halb beschämt im Foyer herum und fühlen uns fürchterlich fehl am Platz; gar nicht mehr inventarisch, sondern eher wie einer, der einem Japaner just in dem Moment vors Ob-jektiv läuft, als er seine Angetrau-te vor dem Grossmünster auf seinen Mikrochip ziehen will. Und während die Sekunden gemächlich vor sich hin plätschern, stellt sich allmählich die Gewissheit ein, dass wir es hier nicht mit einem Gemeinplatz zu tun
Das ZauberhausDie vierte Wand gab’s schon lange vor Avatar. Und wer meint, gezaubert werde nur im Zirkus, war noch nie im Theater. Ein Streifzug durch den grössten Zauberkasten der Stadt.
DB35_Final.indb 52 09.10.14 19:36
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haben; dies ist nicht die Wartehal-le eines Bahnhofs, nicht die Garde-robe eines überfüllten Restaurants. Wir stehen im Vorraum eines enor-men Zauberkastens. Gleich hier hin-ter den grossen Flügeltüren wird seit dem Ende des letzten Jahrhunderts unaufhörlich Welt konstruiert und komprimiert, umgeformt und einge-
rahmt, nachgeahmt und abgeschafft, totgesagt und ausgelacht. Hier leben Menschen, die wurden nie geboren, hier stirbt der Gleiche an fünf Tagen in Folge. Hier darf man klatschen, wenn einer weint. Hier flüstern Stim-men ohne Gesicht. Hier steht alles auf dem Spiel, und es geht um nichts.
Gerade als meine Begleiterin an-fängt, an ihrer Jacke zu nesteln, und die Ahnung sich breitmacht, dass es nun besser sei, wieder zu gehen, kommt ein blonder Jemand aus dem Kassenraum geschossen. Er habe uns bereits erwartet, ruft er uns schon von Weitem zu, und ein paar rosa Hemdsärmel fuchteln durch die
Luft. «Tatsächlich?» Aber natürlich, meint er auf Wienerisch, schöne Frauen erwarte er immer. «Na, bra-vo!» Was er denn für uns tun könne, fragt er. Wir erklären. Er legt seine blonde Stirn in Falten und nickt et-was ungläubig. Als das Wort Selfie fällt, blitzt eine Reihe weisser Zäh-ne und er fängt wieder aufgeregt an
zu fuchteln. Er wolle auch aufs Bild, lacht er, komplimentiert die schönen Augen der Begleiterin und mich in sein Kassenbüro. Alexander – der Gute heisst so – weiss viel über alles Mögliche. Das Publikum kennt er, im Gegensatz zu vielen anderen, höchst-persönlich. An ihm komme schliess-lich keiner vorbei. Kunst sei für ihn Kapital, meint er ernst und setzt mit einem Lachen nach: «Und Krise ist immer!» Am meisten bedauert er, dass damals in den Sechzigerjahren der geplante Abbruch und Umbau des Pfauens nicht realisiert wurde. Jörn Utzon, der Architekt des Syd-ney Opera House, hatte den Wett-bewerb für den Neubau des Hauses gewonnen. Doch die dazu benötig-ten 80 Millionen Franken sprengten das Budget und die Stimmbürger der Stadt Zürich entschieden sich 1975 für einen kostengünstigeren Umbau für 19,7 Millionen durch Schwarz +
«Den Weltuntergang will man schliesslich auch nicht in der zweiten Reihe miterleben.»
DB35_Final.indb 53 09.10.14 19:36
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Gutmann. Alexander findet «die Lait total deppe rt», die das entschieden haben. Jetzt hocke man auf einem historistischen Bau fest, und das gebe es doch in der Stadt schon zur Genüge. Aber er wolle ja nicht her-umjammern wie die Katze auf dem heissen Blechdach, im Gesamtbild mache sich das schlecht. Auf un-sere Frage, welchen Platz er einem Studenten denn empfehlen könne, nickt er vielversprechend und führt uns aus der Kasse heraus. Im Stech-schritt durchschreitet er das Foyer, Treppe rauf, dann rechts, dann links, nochmals links, und zieht eine kleine Holztür auf. Loge, gut und günstig. Da sehe man was fürs Geld und sitze nicht zuhinterst. «Den Weltunter-gang will man schliesslich auch nicht in der zweiten Reihe miterleben», meint er lässig und zwinkert. Nur auf die Technik müsse man aufpassen und er deu-tet zur Seite. «Da nützen sonst die schönsten Sterbeszenen nichts, wenn sie hinterm Scheinwerfer g’schehn.»
Ohne dass wir es gemerkt haben, hat uns Alexander an den Ort ge-bracht, der gerade eben noch so un-endlich weit entfernt hinter den still-schweigenden Flügeltüren gewesen war. Und jetzt sind wir hier. In der Höhle des Löwen, im Herzen des Zauberhauses. Der rote Samt pul-siert träge vor sich hin, die Bretter bedeuten bedächtig ihre Welt. Hier drin wurde noch gespielt, als 1944 in Deutschland die letzten Theater geschlossen wurden. Hier drin wur-den Der gute Mensch von Sezuan und Galileo Galilei uraufgeführt. Hier drin wurden Dürrenmatt und Frisch institutionalisiert. Hier drin hat die Jelinek... «Ja servus, ihr zwei!», brüllt Alexander plötzlich und winkt von der Loge herab auf die Bühne. Zwei sitzen dort unten,
kläglich gescheitert beim Versuch, als Teil des Inventars durchzuge-hen. Alexander beugt sich zu uns herüber und flüstert: «Die warten auf... Ach, was weiss ich denn, auf wen die warten. Die hocken immer da rum. Kommt, ich stell aich vor!» Auf Irrwegen gelangen wir in kür-zester Zeit von der Loge hinab auf die Bühne, wo die zwei sitzen. Sie hat einen Namen, der klingt wie Ros-marin, und ist Schauspielerin, er ist russischer Regisseur und hat noch keinen Namen. Und Alexander ist verschwunden.
Rosmarin ref lektiert gerne im
Spiegel, der Regisseur gerne im Geiste. Ansonsten sind die beiden eher schweigsam. Dies dafür beson-ders laut und aufdringlich. Meine Begleiterin wirft mir einen bangen Blick zu, der sagt: «Ich möchte jetzt gehen!» Dann, plötzlich und mit ei-nem Augenaufschlag, der ein zent-nerschweres Lid die Schwerkraft überwinden liesse, sagt Rosmarin: «Meine Mutter starb an einer Be-merkung.» Schweigen. Dann er, die Beine werden übers Kreuz geschla-gen, Blick in die Ferne gerichtet, die Stimme kühl und etwas zu hoch:
«So weiss ich wohl, welche Musik und Kunst ich n i c h t haben möch-te, nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen und zu ei-nem Augenblicke starken und hohen Gefühls e m p o r t r e i b e n möch-te, – jene Menschen des Alltags der Seele, die am Abende nicht Siegern auf Triumphwägen gleichen, son-dern müden Maulthieren, an denen
das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat.»
«Das ist von Brecht», sagt sie und schlägt bedeutsam die Lider nieder.
«Das ist doch Chabis!», sagt eine Stimme auf Berndeutsch hinter uns. Wir drehen uns um. Vor uns im Zu-schauerraum steht ein Mann, et-was dick, etwas klein, etwas wie ein Hausmeister oder ein Muggel. Er bedeutet uns mitzukommen, und wir leisten nur zu gerne Folge. Er murmelt etwas vor sich hin, immer wieder den gleichen Satz: « Machen Sie kein sentimentales Theater, Stu-
der. Machen Sie kein senti-mentales Theater. Äuä!» Wir versuchen Schritt zu halten, während er in Richtung Flü-geltüren stapft, hinter denen das Foyer vorzimmert. Hinter
uns schallt es von der Bühne «Nach Moskau!» und wir sehen gerade noch Rosmarins rechten Arm am linken Bühnenrand verschwinden. Studer bleibt stehen.
«Der da», Studer nickt in Richtung der leeren Bühne, «wollte die vier-te Wand unbedingt aufrechterhal-ten ! das hat mir natürlich gepasst. Kommt nämlich selten vor, dass das einer hier will. Als ehemaliger Mau-rer spüre ich den Mangel solch feh-lender Wände natürlich sehr. Also hab ich sie gebaut. Alle viere. Eine schicke Sache war das. Alles mit Holz verkleidet. Nussbaum, und so weiter. Und dann kommt der, und sagt, man höre die Schauspieler hin-ter der Wand nicht mehr. Die müs-se weg. Und das merkt der Affe drei Stunden vor der Premiere.»
Was mit der Wand denn gemacht wurde, frage ich.
«Verheizt haben sie sie. Für den Robert Walser von letzter Saison. Einfach so hingestellt und keiner wusste, was es mit dieser elenden
«Da fragt man sich schon, was das ganze Theater denn eigentlich soll.»
DB35_Final.indb 54 09.10.14 19:36
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HERBSTSEMESTER 2014
— 55 —
Wand auf sich hatte. In der Pres-se hat man sich mokiert. Da fragt man sich schon, was das ganze The-ater denn eigentlich soll.» Studer scheucht uns durch die Flügeltü-ren, und mit einem Knall kracht sie zu. Studer ist auf der anderen Seite geblieben, sein Schimpfen wird all-mählich leiser.
Alleine stehen wir im Schauspiel-haus. Keiner da. Gar keiner. Nicht einmal wir. Die ganze Geschichte ein fauler Zauber. Ist nämlich Som-merpause. Auch Zauberer fahren in den Urlaub. Einen Schlüssel hat
man uns nie gegeben. Seit Goethe vertraut man den Lehrlingen nicht mehr. Unsere Reportage spielt dort, wo es weder Publikum noch Thea-ter gibt: Draussen vor der Tür. Oder eher: Drinnen im Kopf. Wir pressen die Nase an die kühlen Scheiben. Einzig das beschlagene Glas ist un-ser Zeuge, als ich flüstere:
«Hat der alte HexenmeisterSich doch einmal wegbegeben!Und nun sollen seine GeisterAuch nach meinem Willen leben.»
Meine Begleiterin schaut andächtig und sagt bestimmt: «Abrakadabra!» Die Tür gleitet auf und wir treten hi-naus auf die Strasse.
Daniela Stauffacher ist Botschaf-terin des Zürcher Schauspielhau-ses und Kontaktperson für Theater Campus.
DB35_Final.indb 55 09.10.14 19:36
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Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber Namen von Medikamenten haben auf mich eine sehr irritierende Wirkung, die zwischen Befriedigung und Wi-derwillen mäandriert. Der Witz an Medikamentennamen ist der, dass sie fast immer wie etwas tönen, aber nie ganz. Namen wie ‹Dafalgan› zum Beispiel. ‹Dafalgan› tönt wie ‹Amal-gam›, hat damit aber nichts zu tun. Dafalgan hat den Inhaltsstoff Para-cetamol. Aus der gleichen Familie gibt es noch das Präparat Perfalg-an und Titralgan. Nun könnte man meinen, dass -algan etwas bedeu-tet, was mit dem Wirkstoff Parace-tamol in Verbindung steht. Stimmt aber nicht. ‹Algan› hat etymologisch überhaupt nichts zu tun mit dem ge-meinten Wirkstoff und ist auch kei-ne Ableitung aus einer chemischen Formel oder so ähnlich. Des Weite-ren hat der Präfix Daf- überhaupt keinen eruierbaren Sinn. Man darf also ruhig davon ausgehen, dass der
Name ‹Dafalgan› komplett frei er-funden ist, vermutlich ohne irgendei-ne Überlegung, einfach so ins Blaue hinaus. Das Beunruhigende an die-ser Vorstellung ist nun: warum gera-de ‹Dafalgan›? Diese Frage bleibt im Raum stehen und hat auf mich die beschriebene Wirkung einer nicht recht einlösbaren Befriedigung. Man kann nun spekulieren, besonders wichtig bei so einem Namen sei, dass er nach möglichst nichts klingen soll, was es schon gibt. Das Problem ist aber, dass ‹Dafalgan› sehr wohl nach etwas klingt: nämlich nach ‹Amalgam›, mit dem es aber rein gar nichts zu tun hat, ausser dass die-ses auch in der Chemie beheimatet ist. ‹Amalgam› hat übrigens eine Be-deutung: Es ist eine Entlehnung des griechischen Wortes ɊȽɉȽɈɟɑ, und das heisst ‹weich›. Vielleicht kann ich mit diesem schwachen Trost doch noch ruhig schlafen. Sonst brauch ich am Ende noch ein Dafalgan.
MedikamentennamenEtwa Mitte Dezember des Jahres 2011 schrieb filibusta an cybertacky86 mitten in der Nacht eine Nachricht:
DB35_Final.indb 56 09.10.14 19:36
— 57 —
Ein äusserst fein gezogener Gedan-ke hast du mir da beschert. Ich will nur noch angefügt haben, dass Me-dikamentennamen meiner Meinung nach in der Regel nicht etwas an-deres anklingen lassen, sondern viel eher einen Verweis auf die ei-gene Zugehörigkeit sind: Sie zeigen, dass sie ein Medikament betiteln (es ist die reine Tautologie: Medikamen-tennamen klingen nach Medikamen-tennamen). Dieser Effekt ergibt sich in der Regel genau aus dem von dir beschriebenen Wechselspiel eines Klangs, von dem man nicht so recht weiss, wonach er klingen soll, und der bei zweitem, fundierten Hin-schauen auch gar nie wirklich Sinn ergibt. Es liegt somit eine Verweh-rung von Sinn im doppelten Sinne vor: Der Unwissende lernt nichts und der Gelehrte versteht nichts.
Ich will mir allerdings im Tiefen ziemlich sicher darüber sein, dass gerade scheinbare Wortstämme wie
-algan nicht aus dem Blauen ge-schöpft wurden, sondern eine ver-borgene, nicht zu verstehende Be-ziehung zu dem Wirkstoff besitzen, die ebenso ungeklärt bleiben muss wie das Wirken des Wirkstoffes sel-ber. Medikamentennamen sind mo-derne Zaubersprüche, die man in der Apotheke sagen muss, um Heilung zu erlangen. Man darf sie allerdings keinesfalls verstehen, da sie sonst in den Kreis der Kognition eintre-ten und aus dem Kreis des Glau-bens austreten würden. Dies hätte zur Folge, dass sie mindestens die halbe Heilkraft einbüssten.
Mein inniger Rat deshalb an dich: Beschäftige dich nicht mit solchem Tand, sonst wird die Quittung zwei-erlei sein: Zum einen wirst du dich nicht mehr oder nur gemindert mit-hilfe von Medikamenten heilen kön-nen und zum anderen wird die anste-hende Arbeit nie fertig werden.
Darauf ergab sich am nächsten Morgen folgende Replik:
DB35_Final.indb 57 09.10.14 19:36
— 58 —
Illustrationsverzeichnis
Seiten 6 | 9 Oliver Leonardo Maag
Seiten 15 | 17 | 19 | 20 | 23 | 51Nora Salgo und Mo Müller
Seite 29 Linda Walter
Seite 32 Luc Marrel
Seite 35Lisa Gerig
Seite 38 Isabel Krek
Seite 53 Denkmalpflege Zürich
DB35_Final.indb 58 09.10.14 19:36
Was soll das Theater?
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Impressum
Redaktion Philipp Auchter, Nadia Brügger,
Daniel Grohé, Maaike Kellenberger,Esther Laurencikova, Ana Lupu,
Aurel Sieber, Luca Thanei,Thomas Wismer
LeitungPhilipp Auchter
Korrektorat Nadia Brügger
Kommunikation Aurel Sieber
Finanzen Luca Thanei
LayoutAlex Spoerndli
UmschlagLaura Frey
DruckSautercopy Zürich
Auflage500. Erscheint zweimal jährlich
im Frühjahr und Herbst
ISSN2235-7807
AdresseDeutsches Seminar
Schönberggasse 9CH-8001 Zürich
Online-Archiv www.denkbilder.uzh.ch
Die Zeitschrift ist Mitglied beim Verband Schweizer Jugendpresse
DB35_Final.indb 103 09.10.14 19:36