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Benediktbeurer Gesprächeder Allianz Umweltstiftung 2011
„Die Stadt von morgen wird durch den gebaut, der sie neu zu denken wagt.“
Disk
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I M P R E S S U M
Be n e Di ktBe U r e r G e S p r äch e De r All iAnz U mwe ltSti f tU nGBand 15
herausgeber
Allianz Umweltstiftung
Maria-Theresia-Straße 4a
81675 München
Telefon: 089/41 07 33 - 6
Telefax: 089/41 07 33 - 70
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Susanne Luberstetter
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Pitopia
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Susanne Hampel
litho
Oestreicher + Wagner
Medientechnik GmbH
lektorat
Dr. Karl-Heinz Ludwig
Druck
Mediengruppe Universal
München 2011
r e f e r e nte n
Prof. Dipl.-Ing. Albert Speer
AS & P – Albert Speer & Partner GmbH
Hedderichstraße 108 - 110
60596 Frankfurt am Main
Dr. Dieter Salomon
Oberbürgermeister
Stadt Freiburg
Rathausplatz 2 - 4
79098 Freiburg
Prof. Dr. Harald Welzer
Kulturwissenschaftliches Institut
Goethestraße 31
45128 Essen
Peter Gaffert
Oberbürgermeister
Stadt Wernigerode
Marktplatz 1
38855 Wernigerode
mODe r AtiOn
Dr. Lutz Spandau
Vorstand
Allianz Umweltstiftung
Maria-Theresia-Straße 4a
81675 München
7 3
1
Pater Karl Geißinger,
Rektor des Zentrums für Umwelt
und Kultur im Kloster Benediktbeuern,
Benediktbeuern
Prof. Dr. h.c. Dieter Stolte,
Vorsitzender des Kuratoriums der
Allianz Umweltstiftung,
München
Dr. Lutz Spandau,
Vorstand der Allianz Umweltstiftung,
München
Prof. Albert Speer,
Architekt, Albert Speer & Partner,
Frankfurt
Dr. Dieter Salomon,
Oberbürgermeister der Stadt Freiburg
im Breisgau,
Freiburg
Prof. Dr. Harald Welzer,
Direktor des Center for Interdisciplinary
Memory Research am Kulturwissen-
schaftlichen Institut Essen
und Professor für Sozialpsychologie
an der Universität St. Gallen,
Essen
Diskussion des Tagungsthemas
Impressum
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DI E BE N E DI KTBE U R E R G E S P R ÄCH E DE R ALL IANZ
U MWE LTSTI F TU NG
am 06. Mai 2011 hatten zum Thema: „Die Stadt von morgen
wird durch den gebaut, der sie neu zu denken wagt.“
I N H A L T
3
Die Benediktbeurer Gespräche.
Alljährlich treffen sich auf Einladung der
Allianz Umweltstiftung streitbare und neu-
gierige Geister im Kloster Benediktbeuern.
Die Benediktbeurer Gespräche sollen
den Blick weiten für die Fragestellungen
von morgen.
Leitmotiv der Benediktbeurer Gespräche ist,
die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu
fördern, starre Konfrontationen aufzulösen
und die umweltpolitischen Diskussionen zu
versachlichen.
Mit ihrer Streitkultur haben sich die Be ne-
diktbeurer Gespräche zu einem Forum des
kontinuierlichen Neu-, Anders- und Weiter-
denkens entwickelt. Damit tragen sie dazu
bei, den Boden für eine nachhaltige Zu kunft
zu bereiten, denn die kann „in Zeiten, in
denen es keine linearen Handlungsanweisun-
gen mehr gibt, nur im kontinu ierlichen
gesellschaftlichen Lernprozess entstehen“,
so Dr. Lutz Spandau, Vorstand der Allianz
Umweltstiftung.
„Die Stadt von morgen wird durch den gebaut,
der sie neu zu denken wagt.“ war das Thema
der fünfzehnten Benediktbeurer Gespräche
am 06. Mai 2011.
Die Referate und aus ihnen resultierende
Schlussfolgerungen werden mit diesem
Band der Schriftenreihe „Benediktbeurer
Gespräche der Allianz Umweltstiftung“
publiziert.
„Mitwirken an einem lebenswerten Dasein
in der Zukunft.“ Diese Maxime für Schutz,
Pflege und Entwicklung von Natur und
Umwelt hat die Allianz Umweltstiftung in
ihrer Satzung verankert. Anlässlich ihres
100-jährigen Jubiläums im Jahr 1990 über-
nahm die Allianz mit Gründung der Um welt-
stiftung in einem neuen Bereich gesell -
schaftliche Verantwortung.
Bei allen Projekten bindet die Allianz
Umweltstiftung den wirtschaftenden
Menschen ein. Dabei ist das wesentliche
Ziel aller Förderprojekte der Schutz des
Naturhaus haltes unter Berücksichtigung
der wirtschaftlichen Entwicklung.
Ökologisch und ökonomisch, sozial und
kulturell – jedes Projekt leistet auf seine Art
einen Beitrag zur praktischen Umsetzung
eines aktuellen Zukunftsthemas. Denn immer
geht es um die Idee des „Sustainable De -
vel opment“, die beispielhafte Realisierung
nachhaltigen Wirtschaftens – also um die
Förderung einer dauerhaft umweltgerechten
Entwicklung, die auch künftigen Generatio-
nen ein lebenswertes Dasein ermöglichen
soll.
Ausgehend von der Überzeugung, dass
grundlegende Umweltfragen nur im gesell-
schaftlichen Konsens zu lösen sind, hat die
Allianz Umweltstiftung ein unabhängiges
Diskussionsforum geschaffen.
D I E A L L I A N Z U M W E L T S T I F T U N G
DI E ALL IANZ U MWE LTSTI F TU NG:
Aktiv für Mensch und Umwelt.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren,
in meiner Eigenschaft als Leiter des Zent-
rums für Umwelt und Kultur danke ich Ihnen
allen, dass Sie heute hierher gekommen
sind, und heiße Sie ganz herzlich willkom-
men zu den traditionell von der Allianz
Umweltstiftung ausgerichteten Benediktbeurer
Gesprächen. Sie sind ein Zeichen unserer
engen Verbundenheit und Partnerschaft, die
sich im Laufe der letzten 15 Jahre bei vielen
gemeinsamen Aktivitäten bewährt hat.
„Die Stadt von morgen wird durch den
gebaut, der sie neu zu denken wagt“, lautet
das Motto der diesjährigen Tagung. Es weist
darauf hin, dass unsere moderne Welt
einem besonders raschen Wandel unterwor-
fen zu sein scheint. Zum ersten Mal in der
Geschichte der Menschheit leben mehr
Menschen in Städten als auf dem Land.
Dieser Trend wird sich fortsetzen – vor allem
in China, Indien und den Ländern Afrikas.
Ganz neue Metropolen und Megastädte
werden entstehen. So wird das Leben in der
Stadt immer stärker das Leben der Menschen
prägen.
Es ist nicht nur wichtig, sondern auch
ungemein spannend, sich vorzustellen und
darüber zu diskutieren, wie diese Städte
denn aussehen könnten, ja wie sie aussehen
sollten. Hier sind neue Ideen, kreative
Entwürfe und mutige Impulse gefragt,
denn es gibt gewaltige Probleme zu lösen.
Dabei geht es um Fragen der Infrastruktur,
der Wasser- und Energieversorgung, des
Verkehrs, der Sicherheit, des Katastrophen-
schutzes, der Versorgung der Menschen auch
in Krisensituationen, des Umweltschutzes
und vieles mehr. Ich meine, dass die Planer
solcher Megastädte gut daran täten, nicht
nur nach technischen Lösungen zu suchen,
sondern stets zugleich auch an die nicht
rein materiellen Bedürfnisse der Menschen
zu denken, also an das, was eine Stadt im
Grunde erst lebens- und liebenswert macht.
Das Leben von immer mehr Menschen
wird heute bestimmt von den Folgen der
Globalisierung, der zunehmenden Mobili-
tät, des Konsums und der sich rasant
entwickelnden Kommunikationsmittel.
Letztere führen dazu, dass wir uns zuneh-
mend in einer virtuellen Welt bewegen.
Wir sind ständig von Menschen umgeben
und begegnen einander doch nicht
wirklich.
B E G r ü S S U N G P A T E r K A r L G E I S S I N G E r
„DI E STADT VON MORG E N WI R D DU RCH DE N G E BAUT,
DE R S I E N E U ZU DE N KE N WAGT.“
Begrüßung durch Pater Karl Geißinger, Rektor des Zentrums
für Umwelt und Kultur im Kloster Benediktbeuern.
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wird? Wie lässt sich ein gesunder Orga-
nismus schaffen, der wachsen kann, ohne
zu wuchern und sich selbst zu zerstören?
Wie kann man neue Städte denken, wo
Menschen unterschiedlicher Kulturen und
Religionen willkommen sind und Arme und
Reiche miteinander leben können? Ist es
möglich, Gemeinwesen zu entwickeln, die
zur Heimat werden können auch für
entwurzelte Menschen, die offen sind für
Flüchtlinge, Vertriebene oder Gestrandete,
Orte, in denen Menschen nicht ausgegrenzt
werden und nicht in Gettos leben müssen,
Städte mit Herz also?
Müssen solche Städte Utopien bleiben? Ich
bin sehr gespannt, welche Entwürfe, welche
Impulse, welche Ideen und Fragen heute
im Laufe dieser Benediktbeurer Gespräche
vorgestellt und diskutiert werden.
Nochmals herzlichen Dank Ihnen, die Sie
hierher gekommen sind, und der Allianz
Umweltstiftung für die Wahl dieses Themas.
Ich wünsche Ihnen allen fruchtbare Diskus-
sionen und einen spannenden Tag.
Die menschlichen Grundbedürfnisse –
zum Beispiel nach einem Zuhause, nach
Geborgenheit, nach Heimat, nach Beziehun-
gen mit anderen Menschen, nach Gemein-
schaft, nach einem Lebensumfeld, das wir
selbst gestalten und mit bestimmen können –
all diese Bedürfnisse sind bei der Planung
der neuen Städte zu berücksichtigen.
Werfen wir einen Blick auf das, was die
Großstädte unserer Welt heute für viele
Menschen – für die, die in ihnen leben, und
für die, die sie als Touristen besuchen –
attraktiv macht. Viele dieser Großstädte,
sogar wenn sie nur allzu oft auch furchtbare
Elendsviertel haben oder von trostlosen
Trabantenstädten umgeben sind, vor allem
aber, wenn es sich um gewachsene, nicht
einfach auf dem Reißbrett entworfene
und aus dem Boden gestampfte Städte
handelt, haben ein Zentrum, eine Mitte, ein
Herz. Was sie so anziehend macht, können
prachtvolle Bauwerke sein – sei es ein
Schloss, eine Burg oder ein Dom – vielleicht
auch besondere Grünanlagen wie Gärten
oder Parks: In jedem Falle sind es Orte, die
Geschichte atmen, die einen besonderen
Charme, eine bezaubernde Ästhetik oder
eine Atmosphäre haben, die einen gefangen
nimmt. Solche Städte besitzen ihre eigene
Identität oder vermitteln die des Landes,
in dem sie liegen. Kurz, es sind Städte mit
einem Herz, die mehr bieten als bloß
Wohnungen, Arbeitsplätze und Einkaufs-
zentren.
Für die Planer der Megastädte der Zukunft
stellen daher gerade solche Fragen die
größte Herausforderung dar: Wo wird das
lebendige Herz der neuen Stadt sein? Wie
kann man diese so gestalten, dass sie zum
Biotop, zum Lebensraum für Menschen
B E G r ü S S U N G P A T E r K A r L G E I S S I N G E r
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Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie herzlich zu den diesjährigen
Benediktbeurer Gesprächen der Allianz
Umweltstiftung. Sie erinnern sich vielleicht:
Im letzten Jahr haben wir an dieser Stelle den
20. Geburtstag der Allianz Umweltstiftung
gefeiert. Aber auch in diesem Jahr gibt es
ein Jubiläum: Die Benediktbeurer Gespräche
der Allianz Umweltstiftung finden nun
bereits zum 15. Mal statt!
Anlässlich ihres 20. Geburtstages hat die
Allianz Umweltstiftung eine Weiterentwick-
lung ihrer bisherigen Förderkonzeption
diskutiert. Ein Expertengremium erörterte in
diesem Zusammenhang vor allem die Mög-
lichkeit der Einbeziehung aktueller Probleme
und gesellschaftlich relevanter Fragen aus
dem Umweltbereich.
Ergebnis dieser Strategiegespräche war
sowohl die Aktualisierung bisheriger als auch
die Festlegung neuer Förderschwerpunkte der
Allianz Umweltstiftung in den Bereichen
Umwelt- und Klimaschutz,
Leben in der Stadt,
nachhaltige Regionalentwicklung,
Biodiversität und
Umweltkommunikation.
Mit diesen Schwerpunkten ihrer Förder-
tätigkeit sieht sich die Stiftung auf einem
guten Weg, auch in Zukunft wichtige Beiträge
zur Lösung gesellschaftlich relevanter Pro-
bleme leisten zu können. Schließlich fühlt
sie sich nach wie vor gleichermaßen verant-
wortlich für Natur und Umwelt in ihrer
Vielfalt wie für Mensch und Gesellschaft in
unserer zunehmend globalisierten Welt.
Ein zentrales Zukunftsthema ist die fort-
schreitende Verstädterung, die enorme
Zunahme sogenannter Megacities an Zahl
und Größe. Nicht zuletzt aus diesem Grund
wurde der Förderbereich „Leben in der
Stadt“ in das Programm der Stiftung aufge-
nommen. Die Wahl des Themas der dies-
jährigen Benediktbeurer Gespräche – „Die
Stadt von morgen wird durch den gebaut,
der sie neu zu denken wagt“ – ist Ausdruck
dieser neuen Konzeption.
B E G r ü S S U N G P r o F . D r . H . c . D I E T E r S T o L T E
„DI E STADT VON MORG E N WI R D DU RCH DE N G E BAUT,
DE R S I E N E U ZU DE N KE N WAGT.“
Begrüßung durch Prof. Dr. h. c. Dieter Stolte, Vorsitzender des
Kuratoriums der Allianz Umweltstiftung.
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Gebäude. Im Wüstensand vor den Toren
Abu Dhabis entsteht unter Federführung
des Büros des britischen Stararchitekten
Norman Foster die ökologische Musterstadt
Masdar, die ganz ohne die Verwendung
fossiler Brennstoffe auskommen soll. „Die
Stadt“, schreibt Hanno Reuterberg in seinem
bemerkenswerten Artikel „Die andere
Revolution“ in der ZEIT vom 24.02.2011,
„will die Welt nicht allein durch Forschung
und Technik retten, sie möchte den Men-
schen auch neue Gewohnheiten nahe-
bringen. […]
Während in Deutschland Moderne und
Tradition gern gegeneinander ausgespielt
werden, finden sie hier mit erstaunlicher
Selbstverständlichkeit zusammen. […]
Die Zukunft ist nicht futuristisch. Sie lernt
aus der Geschichte.“
Anders in Südkorea. In der Nähe von
Seoul wird mit einem Mammutprojekt die
„Stadt der Städte“ gebaut, ein modernes
Utopia auf dem Wattenmeer durch Auf-
schüttung von Erdreich abgerungenem Land:
New Songdo City. Aber auch in China setzt
man noch auf städtebauliche Gigantomanie,
wie die Millionenstadt Chongqing zeigt,
in der Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden
schießen und Zehntausende von Wander-
arbeitern ihr Glück suchen.
Es fällt allerdings schwer zu glauben,
dass die Zukunft der Menschheit von einem
Leben in Städten geprägt sein soll, die
komplett auf dem Reißbrett entstanden
sind.
B E G r ü S S U N G P r o F . D r . H . c . D I E T E r S T o L T E
Die Menschheit wächst und damit auch der
Hunger nach Bildungs- und Aufstiegschancen.
Immer mehr Menschen zieht es in die
Städte. Megacities wirken wie gesellschaft-
liche Magneten. Von ihnen erwarten die
Menschen Lösungen für ihre Probleme – oft
nicht ahnend, dass sie die alten nur gegen
neue eintauschen.
Seit 2007 leben auf unserem Globus mehr
Menschen in Städten als in ländlichen
Gebieten. UN-Prognosen zufolge wird sich
die Verstädterung fortsetzen. Gleichzeitig
verschieben sich die demographischen
Gewichte: Während die Bevölkerung in fast
allen Industriestaaten schrumpft, wächst sie
in Schwellen- und Entwicklungsländern.
Dieser Trend bedeutet weltweit eine große
Herausforderung für Politiker und Städte-
planer. Kofi Annan, der ehemalige UN-Gene-
ralsekretär, hat sogar von einem „Jahrtausend
der Städte“ gesprochen. Zunehmend ent-
scheiden sich die Menschen gegen ein Leben
auf dem Land und für ein Leben in der Stadt:
Sie ziehen dorthin, wo sie sich Wohlstand
und eine bessere Zukunft erhoffen.
Unter welchen Voraussetzungen sind
diese Hoffnungen berechtigt? Wie müssen
die neuen Städte aussehen, damit sie sich
erfüllen?
Die Ballungszentren – schon heute gibt
es mehr als 130 Städte mit über drei
Millionen Einwohnern – verbrauchen etwa
80 Prozent der weltweit verfügbaren Ressour-
cen. Städte wie New York, London, Oslo,
Vancouver oder München arbeiten bereits
an Plänen zum Bau kombinierter Wohn- und
Arbeitsviertel, zur Reduzierung des Verkehrs
und zur Errichtung energieoptimierter
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Wie der chinesische Politiker Deng Xiaoping
einmal gesagt hat, kommt es stets darauf
an, die Wahrheit in den Tatsachen zu suchen.
Dies sollten auch wir tun bei der Beschäfti-
gung mit den Fragen, die sich uns stellen,
wenn wir über das Thema unserer heutigen
Veranstaltung diskutieren:
Wie werden wir in den „Städten der
Zukunft“ wohnen, leben und arbeiten?
Welche ökonomischen, ökologischen und
sozialen Gesichtspunkte werden bei der
Entwicklung und Gestaltung der Städte
eine Rolle spielen?
Wie lässt sich die zunehmende Verstädte-
rung steuern, damit die „Stadt der Zukunft“
gestaltbar bleibt?
Welche Folgen hat der demographische
Wandel für die Städte?
Wie kann man Städte vor Katastrophen
schützen?
Auf diese und viele andere essentielle
Fragen gilt es Antworten zu finden. Allerdings
wird wohl keine Antwort umfassend oder
gar endgültig sein können. Aber wir können –
gleichsam Mosaiksteine aneinanderfügend –
allmählich ein Bild von der Stadt der Zukunft
entstehen lassen. Und wenn uns das heute
noch nicht gelingt, dann vielleicht morgen …
oder übermorgen.
Ich freue mich, in unserem Kreis hervor-
ragende Fachleute begrüßen zu können, die
uns die vielfältigen Aspekte unseres neuen,
hochaktuellen Themas erläutern werden:
Was eine Stadt im eigentlichen Sinne
ausmacht, ist schließlich ihr ureigener,
mindestens über Jahrzehnte, meist sogar
über Jahrhunderte gewachsener Charakter
und ihre Geschichte, die nicht nur im
Stadtbild, sondern auch in der Vielfalt ihrer
Bewohner zum Ausdruck kommt.
Vielen Großstädten droht heute eine
soziale Spaltung. Und das gilt nicht nur für
die Megacities Afrikas, Asiens und Süd-
amerikas mit ihren unkontrolliert wuchern-
den Slums. Auch in Europa gilt es zu
verhindern, dass die Städte zunehmend in
ein lebendiges Zentrum und eine trostlose
Peripherie zerfallen. Es ist eine wichtige
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die
Infrastruktur einer Stadt entsprechend den
Bedürfnissen ihrer Bewohner entwickelt.
Dafür aber bedarf es neuer Mobilitäts-
konzepte, bei denen es nicht nur darum
gehen darf, möglichst viel Mobilität zu
ermöglichen, sondern auch um die Frage
gehen muss, wieviel Mobilität mit welchen
Verkehrsmitteln eine moderne Stadt über-
haupt braucht.
Städte verursachen massive Umwelt-
probleme: Sie breiten sich immer weiter aus,
verbrauchen enorme Mengen an Wasser und
Nahrungsmitteln, verpesten die Luft und
produzieren Unmengen Müll. Städte produ-
zieren einen sehr großen Teil der weltweiten
Gesamtemission von Treibhausgasen und
sind damit wesentlich mitverantwortlich für
den Klimawandel.
B E G r ü S S U N G P r o F . D r . H . c . D I E T E r S T o L T E
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diese stetig weiterentwickeln. In diesem
Sinne möchte ich den Salesianern Don
Boscos für die langjährige Zusammenarbeit
danken und gleichzeitig zusichern, dass
wir sie auch in Zukunft tatkräftig unterstüt-
zen werden.
Meine Damen und Herren, ich wünsche
uns allen ergiebige und interessante
Benediktbeurer Gespräche 2011 mit leben-
digen Diskussionen.
Ich darf jetzt den Vorstand unserer
Umweltstiftung, Herrn Dr. Spandau, bitten,
in seiner bewährten Art die Leitung
der Benediktbeurer Gespräche 2011 zu
übernehmen.
Herr Professor Albert Speer, international
renommierter Architekt und Stadtplaner
mit Projekten u.a. in Dschidda, Shanghai
und Moskau,
Herr Dr. Dieter Salomon, Oberbürger-
meister von Freiburg im Breisgau,
Bündnis 90/Die Grünen,
Prof. Dr. Harald Welzer vom Kulturwissen-
schaftlichen Institut Essen,
Herr Gerhard Matzig, im Feuilleton
der Süddeutschen Zeitung zuständig für
Architektur und Stadtplanung, hat gestern
aus gesundheitlichen Gründen leider
absagen müssen. Herr Dr. Spandau hat
jedoch buchstäblich in letzter Minute
eine interessante Lösung gefunden, die
er Ihnen später vorstellen wird.
Meine Damen und Herren, an einem Ort
wie diesem, wo manch einer wohl eher
erwarten würde, in sich gekehrten Mönchen
in dunklen Kutten zu begegnen, haben die
Salesianer Don Boscos mit dem Zentrum für
Umwelt und Kultur eine weltoffene Institution
geschaffen. Hier wird in der geistigen Aus-
einandersetzung mit Fragen der Regionalität,
Umweltbildung und Nachhaltigkeit sowie
Kunst und Kultur die Einsicht in die unauf-
lösliche Vernetzung des Menschen mit der
Schöpfung vermittelt – und dies nicht auf
belehrende Weise, sondern stets getreu dem
Motto des Klosters mit „Freude am Leben“.
Mit den 15. Benediktbeurer Gesprächen
zeigen die Allianz Umweltstiftung und das
Zentrum für Umwelt und Kultur, dass sie
kontinuierlich an ihren Zielen arbeiten und
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Meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Wir sollten uns alle Gedanken über die
Zukunft machen, weil wir den Rest unseres
Lebens in ihr werden verbringen müssen“,
hat der amerikanische Erfinder und Philosoph
Charles F. Kettering einmal gesagt.
Wer gäbe ihm nicht recht? Wer besäße
nicht gerne eine Kristallkugel, die schon
früh zeigt, was auf einen zukommt?
Zum Beispiel wie unsere Städte in 15 oder
20 Jahren aussehen. Schließlich werden
die meisten von uns einmal in ihnen leben
müssen.
Das Jahr 2007 war ein Wendepunkt in
der Geschichte der Menschheit: Einem
Bericht von UN-HABITAT, dem Programm
der Vereinten Nationen für menschliche
Siedlungen zufolge, lebten vor vier Jahren
zum ersten Mal mehr Menschen in Städten
als auf dem Land. In Zukunft, so die Prog-
nose, wird der größte Teil der Weltbevölke-
rung in riesigen Stadtgebieten wohnen,
die meisten davon zusammengepfercht und
übereinandergestapelt in Megastädten, die
zusammen mit ihren wild wuchernden
Vorstädten oft mehr als zehn Millionen Ein-
wohner zählen. Dies ist ein neues Phäno-
men. Noch vor 200 Jahren hat der durch-
schnittliche Erdenbürger im Laufe seines
Lebens vielleicht 200 bis 300 Leute
getroffen. Heute dagegen lebt und arbeitet
zum Beispiel jeder Bewohner von New
York City in einem Umkreis von weniger
als einem Kilometer mit 20.000 Menschen
zusammen. Wir haben uns zum Homo
urbanus entwickelt.
Inzwischen gibt es auf der Welt 400 Städte
mit mehr als einer Million Einwohnern und
20 Städte mit über zehn Millionen. Die
Zahl der Menschen, die in Städten leben, hat
sich seit 1950 vervierfacht. Im Jahr 2030
werden voraussichtlich mehr als 60 Prozent
der Erdbevölkerung in Städten leben. Bis
zum Jahr 2050 könnten es 75 Prozent sein.
Die Städte sind verantwortlich für 75 Prozent
des weltweiten Energieverbrauchs und für
80 Prozent der CO2-Emissionen.
Die am schnellsten wachsenden Städte
liegen in Indien, China und im südlichen
Afrika.
E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U
„DI E STADT VON MORG E N WI R D DU RCH DE N G E BAUT,
DE R S I E N E U ZU DE N KE N WAGT.“
Einführung von Dr. Lutz Spandau, Vorstand der Allianz
Umweltstiftung, München.
1 6
sowie Freizeit- und Einkaufszentren auf
der grünen Wiese wucherten die Städte an
ihren Rändern ins Umland. Die bereits 1933
verabschiedete „Charta von Athen“ des
einflussreichen schweizerisch-französischen
Architekten Le Corbusier, mit der dieser
die Schaffung lebenswerter Wohn- und
Arbeitsgebiete durch Trennung der verschie-
denen städtischen Funktionsbereiche pro-
pagierte, hatte diese Entwicklung begünstigt,
die in den 70er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts mit dem Ideal der autogerech-
ten Stadt ihren Höhepunkt erreichte. Wohnen
im Grünen außerhalb der Stadt war so zum
Trend geworden.
Die Folgen dieser sogenannten Suburbani-
sierung sind unübersehbar: hoher Flächen-
verbrauch, ständig steigendes Verkehrs-
aufkommen, zunehmende Umweltbelastung
und sterbende Innenstädte. Heute versucht
man diesen Fehlentwicklungen mit den
neuen Leitbildern Ökologie und Nachhaltig-
keit zu begegnen, wie sie sich in den 80er
und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts heraus-
gebildet haben. Wieder sind die Städteplaner
gefordert.
Bislang ist von wirklichen Verbesserungen
nur wenig zu spüren. Noch immer sprechen
Experten von der aufgelösten Stadt und
vermelden ein zunehmendes Wachstum der
Städte. Längst ist sogar von Stadt- und
Metropolregionen die Rede.
Wird sich diese Entwicklung umkehren
lassen? Oder werden wir die Definition des
Begriffes Stadt neu überdenken müssen? Wie
sieht in Zeiten weiter wuchernder Städte
und zunehmender Ressourcenknappheit die
Stadt der Zukunft aus?
Schätzungsweise einer von drei Stadt-
bewohnern, insgesamt also rund eine Mil-
liarde Menschen, lebt in Slums aus schlecht
gebauten Hütten oder Häusern mit unzu-
reichender Trinkwasserversorgung und pre-
kärer Sicherheitslage.
Gleichzeitig herrscht in vielen Städten –
oder Stadtteilen – nie dagewesener Wohl-
stand mit scheinbar grenzenlosem Konsum
einer vom Individualismus geprägten
Gesellschaft. Niemand wird ernsthaft glau-
ben, dass sich der Trend zur Verstädterung
aufhalten oder gar umkehren ließe. Es
kann daher nur darum gehen, die Urbani-
sierung nachhaltig zu gestalten.
Es versteht sich von selbst, dass die Städte
der reichen, technologisch hochentwickelten
Regionen der Welt dabei eine Vorreiterrolle
übernehmen sollten. Wenn eine ökologisch
verträgliche, nachhaltige Urbanisierung über-
haupt möglich ist, dann sind sie es, die
zeigen könnten, wie es konkret funktionie-
ren kann. Die Städte Mitteleuropas mit ihren
komplexen, manchmal auch chaotischen
Strukturen müssten als eine Art „Labor“
dienen, um durch beispielhafte Architektur
und eine weitsichtige Verkehrspolitik ein-
schließlich neuer Mobilitätskonzepte auch
anderswo die Entwicklung der Städte positiv
zu beeinflussen.
Dabei scheint es mir wichtig, dass wir
uns vom traditionellen Bild der Stadt verab-
schieden. Die „richtige“ Stadt, wie wir
sie uns noch immer vorstellen, ist ein bau-
lich verdichteter Raum innerhalb eindeutiger
Grenzen. Einen solchen klar abgegrenzten
Raum, der einmal als eindeutiges Kriterium
für Urbanität gegolten hat, gibt es heute nur
noch selten, denn mit Gewerbegebieten
E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U
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In der Süddeutschen Zeitung vom 9. Dezem-
ber 2010 schrieb Gerhard Matzig unter der
Überschrift „Kathedralen für das Übermor-
genland“ über Prof. Speer: „Albert Speer und
seine Partner sind so etwas wie das grüne
Gewissen der Branche. Erst vor kurzem
haben sie ein Manifest für nachhaltige Stadt-
planung in Buchform veröffentlicht.“ Weiter
heißt es: „Der deutschen Ingenieurskunst,
der man hierzulande eher misstraut, bietet
man anderswo gerade dort Baugrund an, wo
es um anspruchvolle und zukunftsweisende
Architektur geht. Wenn sich die Konzepte
von Albert Speer und Partner z.B. in Katar als
tragfähig erweisen sollten, wird man dies
vielleicht sogar in Stuttgart zur Kenntnis
nehmen.“
Für Professor Speer rührt ein Hauptproblem
der europäischen Städte – besonders der
im zweiten Weltkrieg stark zerstörten – von
den von Le Corbusier geprägten Planungs-
prinzipien der „funktionalen Stadt“. Sie
hatten dazu geführt, dass in den 50er und
60er Jahren an den Stadträndern und somit
weit entfernt von den Innenstädten, wo die
Menschen arbeiteten und einkauften,
Hoch- und Reihenhaussiedlungen errichtet
wurden. Das Entstehen solcher Schlafstädte
in den Außenbezirken war eng verbunden
mit damaligen gesellschaftlichen Idealen, die
längst ihre Gültigkeit verloren haben, da
inzwischen auch auf dem Gebiet der Städte-
planung ein Paradigmenwechsel stattgefunden
hat. Wie sich nämlich zeigte, hat das Pendeln
zwischen Wohnstätte und Arbeitsplatz öko-
nomisch wie ökologisch erhebliche negative
Folgen. So kostet die individuelle Mobilität
jeden Haushalt im Durchschnitt mehr als
zwölf Prozent seines Nettoeinkommens – von
den Umweltschäden infolge des hohen
Spritverbrauchs und des damit verbundenen
CO2-Ausstoßes ganz zu schweigen.
In einer sich ständig verändernden Welt
ist es notwendig, das „Modell Stadt“
fortzuentwickeln. Dabei gilt es, die Balance
zu finden zwischen Wirtschaftswachstum
und Nachhaltigkeit, zwischen baulicher
Expansion und Bewahrung des historischen
Erbes, zwischen einem sprunghaften
Anstieg des Flächenverbrauchs und neuen
Formen des Zusammenlebens, zwischen
gestiegenen Ansprüchen in Bezug auf die
individuelle Mobilität und den Kapazitäts-
grenzen der Verkehrswege, zwischen den
Generationen und zwischen den sich immer
stärker spaltenden sozialen Gruppen.
Die Zukunft der Stadt wird also vor allem
davon abhängen, ob es gelingt, zu einem
tragfähigen Ausgleich zu kommen zwischen
diesen und vielen anderen unterschiedlichen
ökonomischen und ökologischen Interessen
und Bedürfnissen immer komplexer werden-
der Gesellschaften.
Ob und – wenn ja – wie dies gehen kann,
wollen wir mit unseren Experten disku-
tieren.
Wir begrüßen Herrn Prof. Albert Speer,
ehemaliger Inhaber des Lehrstuhls für Stadt-
und Regionalplanung in Kaiserslautern und
Gastprofessor an der ETH Zürich.
Das Büro Albert Speer & Partner in Frank-
furt am Main beschäftigt mehr als 120
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an
Projekten in Ägypten, Aserbaidschan, China,
Katar, Russland, der Türkei und auch in
Deutschland arbeiten.
Prof. Speer hat zahlreiche internationale
Auszeichnungen erhalten und Preise
gewonnen.
E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U
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Stadtentwicklungspläne,
Leitpläne einschließlich Verkehrspläne,
Lärmminderungspläne, Pläne zur
Entwicklung der Wirtschaft und des
Wohnungsbaus, Jugendhilfepläne,
Kulturentwicklungspläne und Klima-
schutzprogramme,
Flächennutzungspläne,
Bebauungspläne, Projekt- und Erschlie-
ßungspläne sowie
städtebauliche Rahmenpläne,
um nur einige wenige zu nennen.
Herr Oberbürgermeister Dr. Salomon,
vermag eine Stadtverwaltung angesichts
einer solchen Flut von Regulierungs-
vorgaben den Bedürfnissen ihrer Bürger
überhaupt noch gerecht zu werden? Ist
es angesichts dieser Lage nicht unausweich-
lich, dass die Bürger selbst aktiv Leitvor-
stellungen für die Entwicklung ihrer Städte
diskutieren und entwerfen nach dem
Motto „Lebst du nur oder machst du schon
mit?“ Ist es vor diesem Hintergrund nicht
alles andere als ermutigend, dass „Wut-
bürger“ zum Wort des Jahres ernannt
wurde? Wie lässt sich eine Stadt unter
solchen Bedingungen in und mit unserer
heutigen Gesellschaft noch entwickeln?
Kurz: Haben unsere Städte überhaupt
noch eine Zukunft? Wir freuen uns,
von Ihnen mehr über diese Probleme zu
hören – und hoffentlich auch von den
Möglichkeiten, sie zu lösen – und begrüßen
Sie herzlich hier in Benediktbeuern.
Heute, so Prof. Speer, soll die Stadt der
Zukunft dem Wunsch der Menschen gerecht
werden, am selben Ort zu wohnen und
zu arbeiten. Ihrem Bedürfnis, mit dem Nach-
barn auf dem Markt einen Schwatz halten
zu können, anstatt auf mehrspurigen Straßen
aneinander vorbeizurauschen, soll wieder
stärker entsprochen werden.
Wir wollen die vier K’s – Kultur, Konsum,
Kita und Kontakte – wieder mitten in der
Stadt.
Lieber Herr Prof. Speer, ist die Stadt der
Zukunft ein Dorf? Wir freuen uns über Ihre
Teilnahme an den Benediktbeurer Gesprä-
chen und begrüßen Sie herzlich.
Machen wir uns nun auf den Weg in die
wundersame Öko-Stadt Freiburg im Breisgau:
Hier regieren die Grünen, Häuser drehen
sich schon seit Jahren zur Sonne und die
Menschen sind volkstümlich grün. In Freiburg
erreichten die Grünen bei der Landtagswahl
am 27. März dieses Jahres 43 Prozent. Regiert
wird die Stadt seit 2002 von dem grünen
Oberbürgermeister Dr. Dieter Salomon.
Vor seiner Wahl zum Oberbürgermeister
war Dr. Salomon Abgeordneter im Landtag
von Baden-Württemberg und Vorsitzender
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Salomon ist Pragmatiker. Manche sehen
in ihm gar einen grünen Technokraten.
Vielleicht muss man Technokrat sein,
um überhaupt noch den Überblick behalten
zu können über die zahlreichen, bei der
Entwicklung unserer Städte zu berücksich-
tigenden behördlichen Vorgaben und ver-
waltungstechnischen Instrumente als
da sind:
2 0
Er fordert ein Ende der aus seiner Sicht
unsäglichen Kombination aus Expertokratie
und Politik. Expertokratie bedeutet für
ihn, dass technokratische Planer festlegen,
was notwendig ist, dies dann an die Politiker
weitergeben, welche es nun ihrerseits auf
gesetzgeberischem Wege durchdrücken und
dann staunen, dass die Leute nicht wollen,
was ihnen da vor die Nase gesetzt wird.
Dies provoziert natürlich die Frage, wie
heute überhaupt noch Projekte realisierbar
sein sollen. Können Bürgerinnen und Bürger
wirklich die Experten ersetzen? Lässt sich
unter solchen Bedingungen die Stadt von
morgen überhaupt entwickeln? Wie könnte
die Planung und Entwicklung unserer Städte
durch ein Zusammenspiel von Experten,
Verwaltung und Bürgern gelingen?
Wir freuen uns, mit Ihnen darüber diskutieren
zu können und begrüßen Sie, Herr Prof.
Welzer, herzlich hier bei den Benediktbeurer
Gesprächen.
Wie Herr Prof. Stolte bereits erwähnte,
hat Herr Matzig seine Teilnahme an unserer
Veranstaltung kurzfristig abgesagt: Einer
Kehlkopfentzündung wegen kann er heute
leider nicht kommen. Ich habe also die
Aufgabe, Ihnen – nach dem Vorbild Hannibals,
der bei der Überquerung der Alpen gesagt
haben soll: „Entweder wir finden einen Weg
oder wir bauen einen“ – spätestens bis zum
Beginn der Diskussion eine Lösung zu
präsentieren. Und ich verspreche Ihnen: Ich
werde eine finden.
Sinngemäß vertritt Herr Matzig in verschie-
denen Beiträgen in der Süddeutschen Zeitung
folgende Thesen: „Wenn wir heute über
die Stadt von morgen diskutieren, geht es
Unsere Volksvertreter seien überfordert
und zu sehr mit ihrem Kampf ums politische
Überleben beschäftigt. Da die Kaste der
Politiker für Idealisten und Visionäre keinen
Platz mehr habe, müsse der Anstoß von
außen kommen, von einer neuen außerparla-
mentarischen Opposition – einer Art netz-
unterstützten APO 2.0, meinte der Soziologe
und Sozialpsychologe Prof. Dr. Harald
Welzer auf der Utopia-Konferenz im Sep-
tember 2010.
Prof. Welzer lehrt Sozialpsychologie an
der Universität Witten/Herdecke und leitet
am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen
das Zentrum für interdisziplinäre Gedächtnis-
forschung. Prof. Welzer forscht, um Fragen
zu beantworten – brisante und aktuelle
Fragen. Letztendlich, sagt er, betreibe er ein
Laboratorium der Gegenwart und der
Zukunft.
Prof. Welzer sieht, dass die Bürger unserer
Republik in verschiedenen Bereichen
dagegen zu protestieren beginnen, dass ihnen
Entscheidungen aufoktroyiert werden, die
mitzutragen sie nicht bereit ist. Zu der bei
Planungsprozessen üblichen Moderation, die
oft zum Ziel hat „den Bürger mitzunehmen“,
bemerkte er in einem Interview über die
Auseinandersetzung um das Projekt „Stutt-
gart 21“ in der taz vom 23. Oktober 2010
kritisch: „Ich zum Beispiel will von niemanden
mitgenommen werden. Bürger wollen Dinge
beurteilen und Folgen von Entscheidungen
für ihre eigene Gegenwart und Zukunft
abschätzen, das ist mehr als legitim. Die
Schlussfolgerung daraus ist, dass man sie von
Anfang an partizipieren lassen muss.“
E I N F ü H r U N G D r . L U T Z S P A N D A U
2 1
nicht nur um München, Garmisch und
Olympia, es geht nicht nur um den Stuttgarter
Bahnhof, den Wiederaufbau des Berliner
Stadtschlosses, die Hamburger Elbphilhar-
monie oder die Dresdener Waldschlösschen-
Brücke, und es geht auch nicht nur um
Hochhäuser und Windkraftanlagen.
Es geht um weit mehr: Es geht um Revolte,
Bürgerbegehren und die Renaissance des
Außerparlamentarischen – und damit um
einen allmählich fast gespenstisch anmutenden
modernen Widerspruchsgeist, der einer
neuen Verdrossenheit entspringt.
Was hat sich geändert? Warum stoßen
Innovationen und Visionen heute auf soviel
Ablehnung? Warum misstraut man dem
Machbaren, dem Wandel, dem Neuen?
Es ist kaum zu bezweifeln, dass Fragen
der Nachhaltigkeit inzwischen nahezu alle
anderen Themen verdrängen. Wenn wir
wegen dieser grundsätzlichen Bedenken aber
jeglicher Euphorie für andere Dinge verlustig
gehen, werden wir kaum in der Lage sein,
Lösungen für die Probleme der Zukunft zu
finden – nicht einmal für die, die wir selbst
im Glauben an die Zukunft verursacht
haben.“
Ich denke, wir dürfen uns auf ebenso
spannende wie kontroverse Diskussions-
beiträge freuen. Lassen Sie uns keine
Zeit verlieren, lassen Sie uns einsteigen in
die Benediktbeurer Gespräche der Allianz
Umweltstiftung zum Thema „Die Stadt
von morgen wird durch den gebaut, der
sie neu zu denken wagt“.
2 3V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r
nologien abgelesen werden kann, ist
ein wesentliches Thema. Eben zu diesen
Umbrüchen gehört auch das Thema des
heutigen Tages: neu denken. Genauso gehört
aber auch die Geschichte, die Vergangenheit
dazu, also das, was die Menschen früher
gedacht haben. Eine der großen Herausforde-
rungen der heutigen Epoche ist, dass man
diese beiden Teile, Vergangenheit und sich
rasant wandelnde Gegenwart, zusammen
„denken“ muss.
Beginnen möchte ich mit einem Zitat aus
einem Aufsatz des bekannten deutschen
Hirnforschers Prof. Dr. Wolf Singer mit dem
Titel „Die Architektur des Gehirns als Modell
für komplexe Stadtstrukturen?“ Ich habe
mich des Öfteren mit Prof. Singer, der in
Frankfurt forscht, über dieses Thema unter-
halten. Er sagt, dass beide Systeme, das
Gehirn und die Stadt, aus einer Vielzahl eng
miteinander verknüpfter Komponenten
bestehen, die in hoch dynamischer Weise
miteinander interagieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
zunächst möchte ich mich herzlich für die
heutige Einladung bedanken. Ich bedanke
mich bei Pater Geißinger, der in seiner
Begrüßungsansprache bereits ganz Wesent-
liches zum Thema gesagt hat, bei meinem
Freund und Weggenossen Dieter Stolte und
bei Herrn Dr. Spandau, der das Thema
weit geöffnet hat, so dass es für mich nicht
leicht werden wird, diese Bandbreite von
Aspekten in den mir zur Verfügung stehen-
den 20 Minuten aufzugreifen. Es kann mir
nicht umfassend gelingen, weil „die Stadt“
als Thema einfach zu groß und zu vielschich-
tig ist. Wie Sie bereits wissen, sind mein
Büro und ich in vielen Ländern dieser Erde
tätig und wir konnten dabei viele unter-
schiedliche Erfahrungen sammeln. Wegen
der begrenzten Vortragszeit kann ich leider
nur einzelne Stücke dieses über Jahrzehnte
angehäuften Schatzes erörtern und nicht
über die vielfältigen Entwicklungen reden,
die aktuell in der ganzen Welt stattfinden.
Ich werde mich daher auf einige wenige,
wesentliche Bereiche konzentrieren.
Bei dem bisher Gesagten wurde eines
bereits ganz klar: Die Menschheit befindet
sich in einer Phase rasanten Umbruchs.
Die Geschwindigkeit selber, mit der sich
die Welt heute verändert und die beispiels-
weise an der rasanten Entwicklung der
Kommunikations- und Informationstech-
„DI E STADT VON MORG E N WI R D DU RCH DE N G E BAUT,
DE R S I E N E U ZU DE N KE N WAGT.“
Vortrag von Prof. Albert Speer, Architekt, Albert Speer & Partner,
Frankfurt.
2 4
Ich habe einmal den Begriff der „intel-
ligenten Stadt“ geprägt. Damit meine ich,
dass wir in unseren Siedlungen mit allen
zur Verfügung stehenden Ressourcen intelli-
gent und den sich verändernden Situationen
angepasst, also flexibel umgehen. Dabei
müssen wir sowohl Chancen und Möglich-
keiten als auch die Probleme, die in den
nächsten Jahrzehnten auf uns zukommen,
wegen der langen Reaktionszeiten bei der
Veränderung gebauter Strukturen früh-
zeitig erkennen. Ich denke, dass wir dies
bislang bei weitem nicht intelligent genug
tun. Dies gilt für die Städte überall auf
der Welt.
Ich bin der Überzeugung, dass wir alle
beim Umgang mit den Themen „Klimawandel“
und „nachhaltiges Wirtschaften“ nicht konse-
quent genug sind, und das nicht, weil wir
es nicht könnten, sondern weil unsere
Organisationsstrukturen es nicht hinreichend
fordern oder womöglich gar nicht zulassen.
Die Veränderung unserer Lebensbedingungen,
die Anpassung unserer Lebensweise an die
Rahmenbedingungen der heutigen Welt durch
effizientere Nutzung von Energiereserven
und Ressourcen beginnt mit der Städtepla-
nung und wirkt sich von dort ausgehend auf
alle anderen Bereiche aus. Hier könnte sehr
viel mehr getan werden, als wir heute tun.
Dafür, dass dies nicht geschieht, gibt es viele
Gründe.
Um mehr tun zu können, brauchen wir
ein neues Denken in Gesellschafts- und Wirt-
schaftspolitik. Die Entwicklungsdynamik in
Wirtschaft und Wissenschaft dank weltweiter
Kooperation, ermöglicht durch den Einsatz
immer schnellerer, den ganzen Globus
umspannender Kommunikationsmittel, eröff-
net ungeheure Chancen. Wenn ich mich
Beide Systeme seien das Ergebnis eines
Entwicklungsprozesses, der im Wesentlichen
auf Prinzipien der Selbstorganisation beruht.
Weder Stadt noch Gehirn entstünden nach
einem bis in die Einzelheiten ausgearbeiteten
Plan. Beide Systeme wachsen und ihr Wachs-
tum werde im Wesentlichen von lokalen
Interaktionen koordiniert. Es scheine, als ob
sich komplexe Systeme – wenn ihre konstitu-
ierenden Elemente eine kritische Zahl
überschreiten – nach immer gleichen Prinzi-
pien selbst organisierten und damit Stabilität
erlangten.
Dieses Doppelbild liefert auf die Stadt
bezogen eine wunderschöne und treffende
Zusammenfassung unserer Problematik:
Die Stadt ist ein lebendiger, sich ständig ver-
ändernder Organismus, der nicht bis in alle
Einzelheiten planbar ist. Die Rolle der
Stadtplaner ist daher auch nur ein Faktor
unter vielen anderen. Ich habe schon immer
behauptet, dass die Bedeutung von Planung
und Architektur in unserer Gesellschaft
und in den Medien im Vergleich zu ihrem
tatsächlichen Einfluss auf die Entwicklung
unserer Lebensumstände maßlos über-
schätzt wird.
Planung und Architektur haben – wenn
man sie in der Gesamtheit der Faktoren ein-
ordnet, die im Entwicklungsprozess der
Stadt eine Rolle spielen – vielleicht einen
Anteil von fünf Prozent. Planung ist
eben nur die Beratung zu Prozessen und
Entscheidungen, die dann unter dem Einfluss
von Wirtschaft, Politik und anderen gesell-
schaftlichen Kräften umgesetzt werden.
Insofern sind Planer als Dienstleister aber
durchaus auch wichtig, und das nicht
nur für die bauliche Zukunft unserer Städte.
Sie beeinflussen im Erfolgsfall auch die
Lebensweise der Bewohner.
V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r
2 5
keit und Flexibilität er mit Hilfe dieses
Werkzeugs ein Problem lösen kann. Das hat
große Vorteile, aber eben auch einen unge-
heueren Nachteil: Die hohe Geschwindigkeit
und die Beliebigkeit der Planänderungen
zwingen nicht mehr zum fundierten Nach-
denken. Alles wird austauschbar. Es funktio-
niert sehr einfach, aber die Resultate
erscheinen oft viel weniger durchdacht. Mehr
Technik bedeutet bei allen Möglichkeiten
also nicht in jedem Fall „neues Denken“.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der
erhofften Energie- und Ressourceneinsparung
durch neue Technik: Die oft als Lösung der
Umweltprobleme angeführte Entkoppelung
von Verbrauch und Produktion durch
technologischen Fortschritt findet tatsächlich
statt. Die Einsparungen werden allerdings
durch steigenden Konsum aufgefressen und
oft sogar überkompensiert. Und selbst wenn
wir nur unsere liebgewonnenen Standards
halten, wird das Wohlstandsstreben von bald
neun Milliarden Erdbewohnern auch trotz
noch so großem technischen Fortschritt das
System an den Anschlag bringen. Wirklich
nachhaltig kann deshalb nur ein Lebensstil
ohne Konsumzuwachs sein, bei dem das Wohl-
ergehen des Einzelnen auf anderen als
materiellen Werten fußt.
Zu den modernen Fehlentwicklungen
gehört auch, dass wir viel zu schnell – und
das kennzeichnet zu einem Gutteil die Archi-
tekturgeschichte der Neuzeit – der Meinung
waren, wir müssten uns um die Historie
und den Charakter einer Stadt überhaupt
keine Gedanken mehr machen. Die Architek-
tur präge einen neuen Menschen und der
neue Mensch lebe in einer anderen, technik-
orientierten Welt ohne Geschichte.
beispielsweise mit unseren Kollegen in China
über eine wichtige Detailfrage im Zusam-
menhang mit einem Projekt in Shanghai aus-
tausche, ist dies in Sekundenschnelle getan.
Die Technologien, die dies ermöglichen, sind
also gewiss ein großer Segen – aber sie
haben auch einen entscheidenden Nachteil:
Sie lassen uns nicht mehr genügend Zeit, um
über die wesentlichen Dinge nachzudenken.
Eigentlich geht alles zu einfach. Wir werden
nicht schnell, sondern hastig.
Ich selbst kann mit diesen Techniken
kaum umgehen. Ich habe nicht einmal ein
Handy – und komme so hervorragend
zurecht. Allerdings nur deshalb, weil es
hinter mir genug Menschen gibt, die
mit diesen Medien umgehen können. Mir
aber schafft die Abstinenz eine gewisse
Freiheit.
Vor vielen Jahren, als es noch keine
Computer gab, hatte ich mir angewöhnt,
an den Wochenenden durch das Büro zu
gehen und zu einzelnen Projekten für deren
jeweilige Bearbeiter schriftliche Anmer-
kungen zu hinterlassen. Diese wurden von
meinen Mitarbeitern „Liebesbriefe“ genannt.
Wer am Montag auf seinem Schreibtisch
keine Notiz vorfand war traurig, weil ich
mich offenbar um sein Projekt nicht geküm-
mert hatte. Auf diese Weise entstand eine
Zusammenarbeit, die auch optisch nachvoll-
ziehbar war.
Heute gehe ich am Wochenende nicht
mehr ins Büro, denn ich finde dort die Arbeits-
stände nicht mehr physisch vor. Die Schreib-
tische sind leer, die gesamte Arbeit versteckt
sich im Computer. Wenn ich heute zu
einem Mitarbeiter gehe und mit ihm am Bild-
schirm ein Thema diskutiere, bin ich immer
wieder erstaunt, mit welcher Geschwindig-
2 6
Kühlung mittels Durchlüftung der Straßen
und Beschattung von Gebäuden wieder-
zubeleben, um deren Aufheizen unter der
Wüstensonne zu verhindern. Diese Prinzipien
haben wir vor 35 Jahren in unserer Diplo-
matenstadt von Riad in Saudi Arabien auch
schon erfolgreich angewandt, obgleich schon
damals und noch bis heute aufwändig klima-
tisierte Glaspaläste in die Wüste gebaut
wurden.
Ich möchte betonen, dass „neues Denken“
auch beinhalten muss, dass wir die Bevölke-
rung an der Entwicklung unserer Städte
beteiligen. Wir müssen die Dinge mit den
Menschen gemeinsam erarbeiten und sie
nicht erst nachträglich über Entscheidungen
informieren, die über ihre Köpfe hinweg
getroffenen wurden. Bei zwei unserer Pro-
jekte in Köln und in München haben wir mit
ernst genommener Partizipation viel erreicht.
Das Projekt „Stuttgart 21“ hingegen ist aus
meiner Sicht das erschreckendste Misslingen
einer Planung in den letzten Jahren. Es
darf einfach nicht sein, dass man trotz
Einhaltung aller vorgeschriebener formeller
Beteiligungsverfahren erst nach 15 Jahren
Planung anfängt, ernsthaft mit der Bevölke-
rung über Sinn und Nutzen eines solchen
Vorhabens ins Gespräch zu kommen.
Ich habe einmal den – zugegeben – wohl
etwas utopischen und rein rechtlich leider
kaum praktikablen Vorschlag gemacht,
dass man in Deutschland bei großen städte-
baulich relevanten Maßnahmen die Suche
nach einem Konsens über ein Projekt
gesetzlich auf höchstens fünf Jahre begren-
zen sollte. Reicht dieser Zeitraum nicht aus,
ist das Projekt abzubrechen. Alles andere
ist den Menschen nicht zumutbar.
Heute haben wir gelernt, dass in einer
Welt, in der die Anforderungen an die Archi-
tektur immer ähnlicher werden – eine Küche
in China hat die gleiche Größenordnung
und Ausstattung wie eine Küche in Europa
oder den USA – Charakter und Flair einer
Stadt für das urbane Leben künftig eine
viel größere Rolle spielen werden als die
Architektur. Ich versuche bei unseren Pro-
jekten stets, die Besonderheit und Einmalig-
keit einer Stadt, die sich aus Kultur, Land-
schaft und Klima sowie den unterschiedlichen
gesellschaftlichen, religiösen und wirtschaft-
lichen Faktoren ergibt, in den Mittelpunkt
unserer Planungen zu stellen.
Wir sind in China nicht zuletzt deshalb
erfolgreich, weil wir als eines der ersten aus-
ländischen Architekturbüros die chinesische
Stadtgeschichte studiert haben. Dabei
entdeckten wir Prinzipien, die so modern
und nachhaltig sind, dass wir sie zur Grund-
lage neuer Entwürfe machten. Auch die
für ihre enorme Lernfähigkeit bekannten
Chinesen berücksichtigen sie bei ihren
eigenen Arbeiten heute wieder viel stärker
als dies noch vor wenigen Jahren der Fall
war. Ich bin fest davon überzeugt, dass
wir unsere Denkfaulheit und unser blindes
Vertrauen in die modernen Technologien
überwinden und zum Nachdenken zurück-
kehren sollten.
In unser neues Nachdenken müssen
auch die aus dem Studium der Geschichte
gewonnenen Erfahrungen einfließen.
Von Prof. Stolte wurde bereits die Modell-
stadt Masdar in Abu Dhabi erwähnt. Dort
wird nicht nur versucht, eine hypermoderne,
mustergültige neue Stadt ohne CO2-Emis-
sionen zu bauen. Es wird auch versucht,
uralte arabische Methoden der natürlichen
V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r
2 9
Stadt München und den Münchner Vereinen
FC Bayern und TSV 1860 ein auf ein Drei-
vierteljahr angesetztes Verfahren entwickelt
und dabei 28 Standorte untersucht. Am
Ende blieben zunächst zwei Standorte übrig
und wir erreichten einen fast einstimmigen
Beschluss des Stadtrates für Freimann, wo
das Stadion dann auch gebaut wurde. Wir
haben der Stadt München geraten, nicht zu
warten, bis kritische Bürgerinitiativen –
die es bei jedem Großvorhaben gibt – einen
Bürgerentscheid fordern, sondern selber eine
Abstimmung durchzuführen. Dazu gehörte
selbstverständlich auch eine Art Wahlkampf,
an dessen Organisation wir beteiligt waren.
Zum allgemeinen Erstaunen waren dabei
über 65 Prozent aller abgegebenen Stimmen
für den Standort – bei einer Rekord-Wahl-
beteiligung von fast 40 Prozent. Damit war
die Diskussion beendet.
Wie dieses Beispiel zeigt, muss der Bau
eines Stadions – und dabei geht es ja nicht
allein um die Arena, sondern auch um neue
Autobahn- und U-Bahn-Anschlüsse, die
Verlegung von Industriearealen und vieles
andere mehr – nach allen demokratischen
Regeln der administrativen Kunst gesteuert
werden, um alle Verfahrens-Hürden zu
nehmen. Und das ist uns bei der Allianz
Arena innerhalb von nur zwei Jahren gelun-
gen – unter Einhaltung sämtlicher juristischer
und gesellschaftlicher Regeln. Nach gerade
einmal vier Jahren Bauzeit war das Stadion
fertig. Warum ist das gelungen? Weil Deutsch-
land im Jahr darauf die Fußball-Weltmeister-
schaft ausgerichtet hat. Dies beweist,
dass es sehr wohl möglich ist, ein derart
großes Projekt unter Einbeziehung aller
relevanten Gruppen in so kurzer Zeit zu rea-
lisieren. An den notwendigen Fähigkeiten
dafür fehlt es nicht. Wir setzen sie nur meist
nicht ein.
In diesem Zusammenhang hört man –
auch von Politikern – immer wieder, dass
die Bürger daran schuld seien, dass Pro-
jekte lange verschleppt werden. Ich bin da
vollkommen anderer Meinung: Schuld
sind unsere komplexen, die Bevölkerung
nur minimal einbeziehenden Beteiligungs-
verfahren. Man müsste sie ganz anders
aufziehen. Bürgerentscheide aber – das
vorweg – sind dabei alleine auch nicht aus-
reichend, obwohl uns das einige gesell-
schaftliche Kräfte glauben machen wollen.
Stadtentwicklung ist in der Regel zu kom-
plex, um auf eine Ja/Nein-Entscheidung
reduziert zu werden.
Bei unserem Masterplan für Köln haben
wir das Prinzip der Partizipation beispiel-
haft und sehr ernsthaft angewendet. Bei der
Planung für die gesamte Innenstadt wurden
sämtliche relevanten gesellschaftlichen
Gruppen über ein Jahr in den Arbeitsprozess
eingebunden. Am Ende hatten wir einen
stabilen Konsens für unsere Vision zur
„Kölner Innenstadt“ für die nächsten 20 bis
30 Jahre erreicht, die nun allmählich umge-
setzt wird. Die Länge unserer Genehmigungs-
verfahren liegt also nicht an der Beteili-
gung der Bürger, sondern an der mangelnden
Effizienz unserer Verwaltungen und politi-
schen Strukturen begründet. Wenn die
Verfahren von Anfang an besser organisiert
und strukturiert werden, funktioniert
es auch.
Ein weiteres positives Beispiel ist die
Allianz Arena in München. Der Bau eines
neuen Fußballstadions für München war
zunächst heiß umstritten. Der Oberbürger-
meister und die Stadtverwaltung waren
überzeugt, außer dem Olympiastadion gäbe
es überhaupt keinen geeigneten Standort.
Wir haben dann für die Suche nach alter-
nativen Möglichkeiten gemeinsam mit der
V o r T r A G P r o F . A L B E r T S P E E r
3 1V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N
Unsere Demokratie ist im Vergleich mit
dem chinesischen System sicherlich sehr
langsam. Wenn wir unseren bisherigen
Umgang mit der Atomkraft jetzt im gesell-
schaftlichen Konsens korrigieren, ist
unser System sogar ein – ich sage das mit
aller Vorsicht – fehlerfreundliches System.
Zumindest wird demokratisch entschie-
den, in welche Richtung es gehen soll.
Zurück zu Freiburg. Die Stadt hat
220.000 Einwohner. Shanghai hingegen
hat so viele Einwohner wie ganz Nord-
rhein-Westfalen. Es drängt sich die Frage
auf, was die beiden Städte eigentlich
miteinander gemein haben. Kann man sie
überhaupt miteinander vergleichen?
Dennoch gibt es etwas, das alle Städte
der Welt gemeinsam haben: den hohen
CO2-Ausstoß. Zusammen produzieren
sie 80 Prozent aller CO2-Emissionen.
Will man für dieses Problem eine Lösung
finden, dann muss sie aus den Städten
kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich, dass ich Ihnen heute eini-
ges über die Stadt Freiburg erzählen und dies
dann in den Kontext des Tagungsthemas
stellen kann. Vor einigen Wochen habe ich
Herrn Dr. Spandau gefragt, worüber ich
denn in Benediktbeuern referieren solle.
Dr. Spandau meinte daraufhin, ich solle ein-
fach erzählen, wie ich mir das Freiburg der
Zukunft vorstelle.
Und jetzt spricht Dr. Spandau hier von
Megacities in Asien und Afrika, von globalen
Entwicklungen im Städtebau. Was hat das
alles mit dem kleinen Freiburg zu tun?
Prof. Speer habe ich im letzten Herbst in
Shanghai getroffen, wo wir mit chinesischen
Städteplanern über deren Vorstellung von
den Städten der Zukunft diskutieren durften.
Der Unterschied zwischen China und
Freiburg – oder Deutschland – ist groß.
Dort gibt es vielleicht auch Wutbürger,
aber diese dürfen sich nicht artikulieren.
Dort gibt es keine Zivilgesellschaft.
Bürgerbeteiligung sieht dort – überspitzt
formuliert – folgendermaßen aus: Morgens
klopft jemand an die Tür und teilt mit,
dass man bis zum Abend ausziehen muss,
weil ein neues Stadtviertel errichtet
wird.
„DI E STADT VON MORG E N WI R D DU RCH DE N G E BAUT,
DE R S I E N E U ZU DE N KE N WAGT.“
Vortrag von Dr. Dieter Salomon, Oberbürgermeister der Stadt
Freiburg im Breisgau.
3 2
Nicht nur unsere Staatsform, die Demo-
kratie – ich erinnere an die griechische Polis
der Antike – hat sich in Städten entwickelt.
Später, im Mittelalter, waren vor allem die
weitgehend unabhängigen Städte fortschritt-
lich und wohlhabend. Sie kennen den
Spruch: Stadtluft macht frei – und zwar
innerhalb der Stadtmauern und nicht außer-
halb. Oder denken Sie an die oberitalieni-
schen Städte der Renaissance und an die
der Hanse im Norden, die von Landesherren
unabhängig Handel trieben. Schon früher
waren Probleme, die in Städten entstanden,
immer nur durch Anstrengungen der Städte
selbst lösbar.
Städte sind sehr unterschiedlich. Auch
wenn bei Ihren Einführungsworten, lieber
Herr Dr. Spandau, ein leicht ironischer
Unterton nicht zu überhören war: Freiburg
ist nicht das kleine gallische Dorf. Dass
bei der letzten Landtagswahl 43 Prozent
Grün gewählt haben, heißt ja nicht, dass die
Stadt deshalb anders ist als andere. Wir sind
eine kleine Großstadt. Wir stehen an der
34. Stelle der Liste der größten Städte
Deutschlands. Als ich 2002 gewählt wurde,
standen wir an der 40. Stelle. Wir sind also
gewachsen, während andere geschrumpft
sind. In Westeuropa stehen wir grundsätz-
lich vor dem Problem, dass die meisten
Städte schrumpfen. Im Rest der Welt hin-
gegen wachsen sie.
Die Bevölkerung Europas schrumpft.
Die europäischen Städte werden also nicht
maßlos wachsen. Die Städte werden wohl
auch in der Zukunft ähnlich aussehen
wie heute. Aber sie müssen sich verändern.
Wir müssen innerhalb des Bestehenden
umbauen. Um dies bewerkstelligen zu
können, brauchen wir Visionen.
Ich hatte die Gelegenheit, beim Klima-
Gipfel in Kopenhagen dabeizusein, denn
im Rahmen der Veranstaltung gab es
auch ein Treffen von Bürgermeistern. Auf
einer Podiumsveranstaltung habe ich Arnold
Schwarzenegger erlebt, den ehemaligen
Gouverneur von Kalifornien. Er sagte –
noch bevor der Gipfel gescheitert war –,
er könne sich nicht vorstellen, dass sich
194 Nationen auf einen gemeinsamen Plan
würden einigen können. Darauf könne
man lange warten. Aber auch wenn es nicht
ginge, müsse man es zumindest versuchen.
Dazu müsse man allerdings von unten
beginnen, in den Städten, in den Regionen.
Darauf gab es heftigen Beifall – kein Wunder,
schließlich saßen viele Bürgermeister im
Publikum.
Ich bin in verschiedenen Gremien tätig,
darunter auch in weltweiten Städtenetzen
für Nachhaltigkeit. Unter anderem bin
ich im Vorstand von ICLEI (International
Council for Local Environmental Initiatives),
dem Internationalen Rat für kommunale
Umweltinitiativen. Wir alle haben schon in
der Schule die Regel gelernt: Du darfst nicht
abschreiben. Wer es dennoch tut, wird
bestraft. Bei der Stadtentwicklung gilt sie
nicht. Hier darf man sich hemmungslos bei
dem bedienen, was andere besser machen
als man selbst. Man muss nur darauf achten,
dass das, was andere vorgedacht und viel-
leicht sogar schon umgesetzt haben, auch
auf die eigenen Probleme übertragbar ist. Das
ist der Wettbewerb um die besten Lösungen.
Deshalb müssen die Lösungen aus den
Städten heraus kommen – auch wenn sie
im einzelnen sehr unterschiedlich sein
können. Städte waren immer schon Keim-
zellen für Fortschritt und Umgestaltung.
V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N
3 5V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N
Verwaltungsbereiche Energie, Verkehr,
Bauen und Soziales zusammenführt.
Wie in vielen anderen Städten ist auch in
Freiburg eine Tendenz zur Reurbanisierung
zu beobachten. Immer mehr Menschen,
die in den 60er und 70er Jahren in die
Vororte – in die sogenannten Speckgürtel –
gezogen sind, kehren im fortgeschrittenen
Alter in die Innenstädte zurück, also
dorthin, wo es eine urbane Infrastruktur
mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Theatern,
Kinos, Ärzten, Krankenhäusern, Volkshoch-
schulen usw. gibt.
Freiburg ist eine Stadt, die in den letzten
Jahren ständig gewachsen ist. Zuerst hat sich
der Osten der Bundesrepublik stark entvöl-
kert, dann teilweise der Norden. Aber auch
wir im Süden und Südwesten werden nur
noch wenige Jahre wachsen. Der demogra-
phische Wandel wird für uns die nächste
Herausforderung sein. Wie werden Lösungen
finden müssen für die Probleme, die sich
daraus ergeben, dass die Menschen immer
älter und der Anteil der Alten an der Bevöl-
kerung immer größer wird. Zugleich werden
wir einen Umbau unserer Städte bewerk-
stelligen müssen.
Freiburg ist – auch wenn es 2010 von
der Deutschen Umwelthilfe zur „Bundes-
hauptstadt des Klimaschutzes“ gewählt
wurde – kein Öko-Disneyland. Vielleicht
sind wir durch unsere ökologische Ausrich-
tung in einer etwas besseren Lage als
andere Städte, aber auch wir befinden uns
in einem Umgestaltungsprozess, der noch
viele Jahre in Anspruch nehmen wird.
Wir haben den großen Vorteil – und das
mag mit den 43 Prozent für die Grünen
zusammenhängen –, dass unserer Bürger
bereit sind, diesen Wandel mitzugehen.
Was aber ist eine Vision? Helmut Schmidt
hat einmal gesagt: Wer Visionen hat, soll
zum Arzt gehen. Das würde ich so nicht
unterschreiben. Gewiss, viele Ideen haben
mit der Wirklichkeit nichts zu tun und
lassen sich auch nicht verwirklichen. Aber
es gibt nicht nur negative, sondern auch
positive Visionen.
Alexander Mitscherlich, der große Frank-
furter Soziologe, hat in den 60er Jahren des
vorigen Jahrhunderts ein Buch geschrieben
über „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“.
Darin ging er davon aus, dass die Architektur
die Menschen prägt, und dass die Städte die
Menschen krank machen – eine Horrorvision.
Dem stelle ich eine positive Vision gegen-
über wie die von Prof. Speer, die auch jeder
Oberbürgermeister haben sollte, der seine
Stadt voranbringen möchte. Sie geht aus von
der Erkenntnis, dass es der Mensch selbst
ist, der die Städte gestaltet und prägt.
Ausgangspunkt kann also nicht die Architek-
tur sein. Sie darf nicht zum Selbstzweck
werden, sondern muss dem Ziel dienen, den
Menschen ein Stadtleben – Wohnen, Arbeiten,
Einkaufen und Freizeitgestaltung – zu ermög-
lichen, das sie eben nicht krank macht.
Eine – wenn nicht die – Hauptforderung
für die Entwicklung aller Städte heißt: Sie
müssen nachhaltig werden. Während der
letzten drei Tage fand in Stuttgart die Haupt-
versammlung des Deutschen Städtetages
statt, in deren Rahmen ich ein Forum mit
dem Titel „Die Zukunft der Stadt ist nach-
haltig“ leiten durfte.
Dabei ging es um das Thema integrierte
Stadtentwicklung, also darum, dass es allein
schon aus Gründen des Klimaschutzes einer
Politik bedarf, welche die unterschiedlichen
3 6
ohne ständig in die Fläche zu wachsen.
Darüber wurde mit großer Bürgerbeteiligung
diskutiert. Als ich ins Amt kam, wurde eine
Arbeitsgruppe gebildet, die diese Diskussion
so lange moderiert hat, bis von 200 hoch-
umstrittenen Flächen nur noch drei oder vier
strittig waren. Alle anderen wurden ein-
stimmig akzeptiert. Seither gibt es über diesen
Flächennutzungsplan keinen Streit mehr,
denn alle Beteiligten haben von Anfang an
mitgesprochen.
Ein solches Vorgehen ist also möglich,
aber es ist sehr aufwendig. Andererseits ist
es ein gangbarer Weg, um aus Wutbürgern
Mutbürger zu machen.
Man muss den Bürgern die Möglichkeit
geben, Dinge in die eigene Hand zu nehmen,
wobei die Verwaltung diesen Prozess
natürlich steuern muss. Christian Ude, der
alte und neue Präsident des Deutschen
Städtetages, hat gesagt: Man muss die Bürger
ernst nehmen und ihnen Gelegenheit geben,
sich zu äußern und sich einzubringen.
Aber man darf auch in unserer repräsenta-
tiven Demokratie das Kind nicht mit dem
Bade ausschütten und den demokratisch
gewählten ehrenamtlichen Gemeinderäten,
die sich jahrelang intensiv mit bestimmten
Problembereichen beschäftigt haben, die
Verantwortung nehmen.
Man muss ihnen sagen: Ihr müsst am
Ende den Bürgern gegenüber verantworten,
was Ihr beschließt. Dafür seid Ihr gewählt
und dafür müsst Ihr geradestehen.
Vor 20 Jahren, auf der ersten Umwelt-
konferenz in Rio, wurden die Themen
Klimaschutz und Nachhaltigkeit entdeckt.
Der Begriff Nachhaltigkeit – englisch:
In einer demokratischen Gesellschaft ist
Bürgerbeteiligung schließlich Voraussetzung
für gesellschaftlichen Wandel. Unser Image
als „Green City“ und die jährlich 25.000
Besucher aus aller Welt, welche die beiden
neuen, integriert gebauten Stadtteile besich-
tigen, bestätigen uns jedenfalls in unserer
Politik.
In den 60er Jahren herrschte in Freiburg
Wohnungsnot. In der Folge wurden neue
Stadtviertel aus Hochhäusern auf die grüne
Wiese gebaut – ohne jegliche Infrastruktur,
Verkehrsanbindung oder öffentlichen
Nahverkehr. Es gab keine Kindergärten,
keine Schulen, keine Kirchen, keine Ein-
kaufsmöglichkeiten. Da durften wir uns
nicht wundern, dass wir zehn Jahre später
die größten sozialen Probleme hatten.
30 bis 40 Jahre danach haben wir ver-
sucht, es besser zu machen, indem wir von
Anfang an die Infrastruktur mit aufgebaut
haben.
Was das Thema Bürgerbeteiligung und
Stadtteilentwicklungsplan angeht, so wer-
den wir uns, Herr Prof. Speer, demnächst
den Masterplan von Köln ansehen. Dazu
wird unser Baubürgermeister mit dem
Bauausschuss nach Köln fahren. Verwal-
tungsfachleute aus verschiedenen Ämtern
werden in Workshops gemeinsam mit
der Bürgerschaft diskutieren, wie sich der
betreffende Stadtteil in den nächsten
10 bis 15 Jahren entwickeln soll. Bürger-
beteiligung bedeutet, die Menschen
mitzunehmen. Die zentrale Frage unseres
Flächennutzungsplans als Drehbuch für
die nächsten ein bis zwei Jahrzehnte ist,
wie wir unsere Stadt entwickeln können,
V o r T r A G D r . D I E T E r S A L o M o N
3 7
weltwirtschaft, sah sich irgendwann
zu dem Einwurf veranlasst: „Ich muss hier
festhalten: Freiburg ist nicht Deutschland.“
Worauf ich erwidert habe: „Sie haben völlig
recht, Frau Müller. Aber ich würde auch
nie behaupten, dass am Freiburger Wesen die
Welt genesen soll.“
Es kommt nicht auf Freiburg an. Son-
dern es kommt darauf an, dass wir uns
alle gemeinsam über die Zukunft der
Städte unterhalten müssen, denn wir haben
Probleme zu lösen, die allen gemeinsam
sind. So unterschiedlich die Städte und so
verschieden die Wege zu ihrer Lösung daher
auch sein mögen: Am Ende werden die
Lösungen wohl doch ganz ähnlich aussehen
müssen.
sustainability – stammt ursprünglich aus
der Forstwirtschaft. Er besagt, dass man im
Prinzip nicht mehr verbrauchen darf als
nachwächst. Jede Generation sollte so
handeln, dass ihre Kinder und Enkel über
ihre Lebensbedingungen selbst entscheiden
können. Ein solches Verhalten hat nicht
nur eine große ökologische, sondern auch
eine ökonomische, finanzpolitische und
soziale Komponente. Auch Städte funktionie-
ren nur, wenn der soziale Zusammenhalt
gewährleistet ist. Wenn eine Stadt sozial
auseinander bricht oder in sogenannte
„gated communities“ – eine Art Gettos der
Reichen – zerfällt, wie es in vielen Städten
Südamerikas der Fall ist, dann funktioniert
sie nicht.
Das soziale Miteinander in westeuro-
päischen Städten kann ich mir nur mit den
„drei T“ vorstellen, den drei Schlüsselbe-
griffen Technologie, Talent and Toleranz, die
dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaft-
ler und Stadtsoziologen Richard Florida
zufolge die Zukunftschancen eines jeden
städtischen Gemeinwesens kennzeichnen.
„Technologie“ steht dabei für die für zukunfts-
trächtige Berufe zur Verfügung stehende
Technik, „Talent“ für eine möglichst große
Zahl kreativer Menschen, und „Toleranz“ für
ein hohes Maß an ethnischer, kultureller und
sozialer Vielfalt und einer offenen und freien
Atmosphäre.
Vorige Woche war ich zu einer Sitzung
der von Klaus Töpfer geleiteten Ethik-
kommission eingeladen. Bei dieser Gelegen-
heit habe ich von Freiburg und Südbaden
erzählt und von den Menschen, die dort
manchmal etwas anders denken als anders-
wo. Hildegard Müller, die Vorsitzende des
Bundesverbandes der Energie- und Um-
3 8
DI E BE N E DI KTBE U R E R G E S P R ÄCH E
DE R ALL IANZ U MWE LTSTI F TU NG 2011
3 9
„DI E STADT VON MORG E N WI R D
DU RCH DE N G E BAUT, DE R S I E N E U
ZU DE N KE N WAGT.“
4 0
DI E BE N E DI KTBE U R E R G E S P R ÄCH E
DE R ALL IANZ U MWE LTSTI F TU NG 2011
4 1
„DI E STADT VON MORG E N WI R D
DU RCH DE N G E BAUT, DE R S I E N E U
ZU DE N KE N WAGT.“
4 3
Ich hatte das Welzersche Theorem ent-
deckt: Das Gute schrumpft proportional zur
Ausdehnung der Arbeitszeit. Eine Katastrophe:
Jeder dieser Leute arbeitet jetzt nicht mehr
acht Stunden am Falschen, sondern 16 Stun-
den oder noch mehr. Nicht mehr fünf Tage
die Woche, sondern sieben. Diese Kostüm-
frauen und Laptopmänner, die Sparpotentiale
aufspüren, Optimierungsstrategien entwickeln,
Kommunikation verbessern, haben dafür
die doppelte Zeit zur Verfügung! Und die,
die für die Bearbeitung der dabei entstehen-
den Kollateralkatastrophen zuständig sind,
auch! Da die Menge derjenigen, die mit aller
Anstrengung immer alles in die falsche
Richtung optimieren, ohnehin um ein viel-
faches größer ist als die derjenigen, die gern
zwischendurch mal innehalten, um nach-
zudenken, wird der Überhang an Zeit, die
für Unsinn aufgewendet wird, immer größer,
während der Sinn immer kleiner wird:
man denkt ja nicht mehr, wenn man länger
denkt. Dies hängt zusammen mit dem Pro-
blem des Nicht-Innehaltenkönnens.
Meine verehrten Damen und Herren,
ich kann unmittelbar anknüpfen an das,
was Herr Dr. Salomon und Herr Prof. Speer
gesagt haben. Herr Prof. Speer sprach von
der Problematik der Schnelligkeit. Dazu eine
kleine Anekdote, an der mir diese besonders
deutlich geworden ist:
Bei einem Flug von München nach Düs-
seldorf stieg ich spätabends ins Flugzeug, zu
einer Zeit, zu der man normalerweise ein
Buch liest oder Fernsehnachrichten schaut.
Die Kabine war wie üblich voll mit Laptop-
männern, und die klappten, sobald die
Anschnallzeichen erloschen waren, eben ihre
Bildschirme hoch und fingen an, Excel-
Tabellen auszufüllen, E-Mails zu beantworten,
Angebote zu schreiben, Berechnungen vor-
zunehmen, Vermerke zu verfassen, Formulare
zu entwerfen, also alles das zu tun, was
sie auch dann machen, wenn sie woanders
sind als im Flugzeug: im Büro, in Warte-
lounges, in Cafes, in Meetings und so weiter.
Dieselbe Sorte Leute hat früher ohne Laptops,
Smart Phones, Meetings usw. bis 17 oder
18 Uhr in ihren hässlichen Büros gesessen und
dann Feierabend gemacht. Damals, so wurde
mir mit einem Mal klar, hatten sie einfach
viel weniger Zeit, die falschen Dinge zu tun.
V o r T r A G P r o F . D r . H A r A L D W E L Z E r
„DI E STADT VON MORG E N WI R D DU RCH DE N G E BAUT,
DE R S I E N E U ZU DE N KE N WAGT.“
Vortrag von Prof. Dr. Harald Welzer, Direktor des Center for
Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen
Institut Essen und Professor für Sozialpsychologie an der
Universität St. Gallen.
4 4
Weder bei den Informationen, die wir
über die Medien bekommen, noch bei unserer
eigenen Beschäftigung mit Zukunftsproblemen
gibt es noch einen Moment der Reflexion.
Wir werden ständig mit Informationen über-
flutet, ohne dass wir uns die Gelegenheit
gäben, sie zu verarbeiten.
Damit kommen wir zum Kern der Pro-
blematik, die sich – zumindest aus meiner
Sicht – aus der Entwicklung der Städte und
– sogar noch weiter gefasst – der modernen
Gesellschaften insgesamt ergibt. Beides
ist ja eng miteinander verknüpft. Fukushima
zeigt uns – abgesehen von den erwähnten
die Medien betreffenden Aspekten – noch
etwas, was mich sehr nachdenklich gemacht
hat. Diese Katastrophe hat sich in der dritt-
größten Wirtschaftsmacht der Erde ereignet,
in einem Land, das kaum über eigene
Bodenschätze verfügt. Das zeigt uns, dass
wir ein System entwickelt haben, in dem es
möglich ist, zur drittgrößten Wirtschafts-
macht aufzusteigen, ohne die dafür notwen-
digen natürlichen Ressourcen zu besitzen.
In Fukushima wurde der Traum der Moderne
zerstört, der Traum, dass sich die Menschen
vollständig von der Natur und ihren Ressour-
cen unabhängig machen können.
Man hat gesehen, dass die Emanzipation
von den natürlichen Gegebenheiten nicht
gelingt. Auch Menschen sind biologische
Wesen und befinden sich als solche in
ständigen Austauschprozessen mit der sie
umgebenden Natur. Unser gesamtes Wirt-
schafts-, Gesellschafts- und Lebensmodell
trägt dem immer weniger Rechnung und
stößt daher zunehmend an Grenzen.
Das gilt nicht nur für das Thema Energie,
sondern auch für alle anderen Ressourcen
In unserer Kultur der Dauerkommunika-
tion und des Dauerarbeitens gibt es keine
Momente der Reflexion. Es merkt doch jeder
an sich selbst, wie sich die eigene Arbeits-
weise verändert. Ich ertappe mich manchmal
dabei, dass ich telefoniere und parallel dazu
E-Mails lese. Ein fürchterliches soziales
Verhalten, absolut unkonzentriert, aber es
ist das, was diese Technologien und Schnitt-
stellen zwischen Mensch und Maschine bei
uns bewirken. Hier beginnt einiges aus
dem Ruder zu laufen.
Wenn man über Lösungen von Problemen
nachdenkt, vor denen die Städte stehen, ist
ein Moment des Innehaltens absolut not-
wendig, um erkennen zu können, dass man
für viele Probleme noch überhaupt keine
Lösung hat. Wir reagieren gleichsam wie die
Pawlowschen Hunde: Wir sehen ein Problem
und meinen, sofort eine Lösung finden zu
müssen – ohne zuvor auch nur vernünftig
nachgedacht und das Problem verstanden
zu haben.
Noch ein bedrückender Aspekt des Pro-
blems der Schnelligkeit: Fukushima ist die
größte technische Katastrophe, die es je
gegeben hat. Wir wissen nicht, welche
Prozesse dort momentan ablaufen und wie
es weitergehen wird. In einem modernen
Hochtechnologieland passiert eine derartige
Katastrophe – und die mediale wie die
persönliche Aufmerksamkeit hält gerade
mal eine Woche an! Bereits nach einer
Woche rangierten die Nachrichten darüber
an dritter oder vierter Stelle. Nach nur einer
Woche erlahmt unser Interesse an diesem
Thema! Journalisten sagen dazu, sie können
die Spannung nicht aufrechterhalten.
V o r T r A G P r o F . D r . H A r A L D W E L Z E r
4 5
globalen Maßstab funktionieren. Damit
aber stößt es an seine Grenzen, denn
wir können die Ressourcen, die wir brau-
chen, um die Zivilisationsmaschine am
Laufen zu halten, nicht von außen, zum
Beispiel aus dem Weltraum beziehen.
Wenn wir glauben, so weitermachen zu
können wie bisher, irren wir. Wenn
wir trotzdem so weitermachen, kann
das nicht gutgehen.
Der Konstanzer Literaturwissenschaftler
Albrecht Koschorke hat dazu einmal in
einem Aufsatz in der Süddeutschen Zeitung
gesagt, dass sich mit fortschreitender
Globalisierung und sich beschleunigender
Ressourcenübernutzung der Raubbau vom
Raum in die Zeit verlagert: da wir nicht
mehr wie zu Zeiten des Kolonialismus alles,
was wir für den Betrieb unserer Zivilisations-
maschine brauchen, „von außen“ holen
können – denn die globalisierte Welt hat
kein Außen – beuten wir die Zukunft
derjenigen aus, die nach uns kommen. Hans
Joachim Schellnhuber hat das in einem
Spiegel-Interview ganz ähnlich formuliert:
„Wir plündern zugleich die Vergangenheit
und die Zukunft für den Überfluss der Gegen-
wart – das ist die Diktatur des Jetzt.“
Unsere Gesellschaften entwickeln
sich noch immer in die falsche Richtung.
Sie sind nicht zukunftsfähig. Wir müssen
daher zuerst einmal innehalten und
darüber nachdenken, wie wir überhaupt
zukunftsfähig werden könnten. Dafür aber
brauchen wir freie Denkräume. Derzeit
haben wir nur einen Plan A, aber keinen
Plan B.
wie Böden oder Wasser. Dabei nimmt
der Ressourcenverbrauch ständig weiter zu
mit der Folge, dass wir Jahr für Jahr mehr
Müll und Treibhausgase produzieren.
Der sogenannte „Earth Overshoot Day“ –
der Tag, an dem die Menschheit die ihr bei
nachhaltigem Wirtschaften für ein Jahr
rechnerisch zu Verfügung stehenden Res-
sourcen aufgebraucht hat – liegt jedes Jahr
früher. Noch in den 70er Jahren lag dieser
Tag im Dezember, im Jahr 2010 war es
bereits der 21. August. Wir haben also in nur
acht Monaten das uns im Weltmaßstab zur
Verfügung stehende ökologische Budget
ausgeschöpft. Das bedeutet nichts anderes,
als dass wir im Rest des Jahres die Ressourcen
der nach uns kommenden Generationen
verbrauchen.
Unsere Gesellschafts- und Wirtschafts-
form ist – was Wohlstand, Sicherheit, Bil-
dung, Gesundheit, Lebenserwartung usw.
angeht – die erfolgreichste, die es je gegeben
hat. Sie funktioniert aber nur, wenn die
ihr zugrunde liegende Zivilisationsmaschine
ständig von außen mit natürlichen Ressourcen
als Treibstoff versorgt wird. Wir treiben
diese Zivilisationsmaschine also an, indem
wir unseren gesamten Planeten als Ressource
für unsere zivilisatorischen Errungenschaften
benutzen.
Nun gibt es aber seit einiger Zeit etwas,
was man als Globalisierung bezeichnet.
Genau genommen ist damit die Übernahme
unseres ressourcenübernutzenden Lebens-
und Wirtschaftsmodells durch die ganze Welt
gemeint. Dieses Modell, das, solange es
auf einen kleinen Teil der Welt beschränkt
blieb, erfolgreich war, soll nun also im
Das merkt man an vielen Dingen, etwa
an dem Aufschrei, der durchs Land ging,
als Winfried Kretschmann sagte, dass
wir in Zukunft weniger und nicht mehr
Autos brauchen.
Natürlich steht es völlig außer Frage,
dass wir weniger Autos, weniger Individual-
verkehr brauchen. Die Umweltkosten dieser
Form von Mobilität sind einfach zu hoch.
Nach dem Schema von Plan A fragt man
sofort, was dann mit den Arbeitsplätzen ist.
Die gehen verloren, wie in allen Industrien,
die den Übergang in ein neues Zeitalter
verpasst haben und unzeitig geworden sind.
Solcher segmentärer Niedergang zieht sich
durch die ganze Geschichte der Industriali-
sierung. Trotzdem darf man so etwas
anscheinend nicht sagen, ebensowenig, dass
man kein Wachstum braucht. Sagt man es
trotzdem, zucken alle zusammen, obwohl es
stimmt. Oder eher: weil es stimmt?
Es gibt keinen Plan B, noch weniger einen
Plan C. Wir haben keine Lösungen für die uns
auf den Nägeln brennenden Probleme, keine
Alternativen für unser Wirtschafts- und
Sozialmodell, also machen wir in der falschen
Richtung weiter. Wir investieren unheimlich
viel Energie in Gestalt unserer geistigen
und materiellen Ressourcen in die Verbesse-
rung von Plan A, obwohl wir eigentlich
einen Plan B brauchen.
Gewiss stellen Sie sich die Frage, warum
ausgerechnet ich, der ich weder Architekt
bin noch etwas mit Städteplanung zu
tun habe, etwas über die Zukunft der Städte
sagen soll. Lassen Sie mich daher versuchen,
anhand von ein paar Beispielen deutlich
4 7
gehören auch Vorstellungen von Schnel-
ligkeit, Geschwindigkeit, Mobilität oder der
Nutzung von Energie. Wir haben sie auf
eine Weise verinnerlicht, dass wir uns bei-
spielsweise fast nicht mehr vorstellen
können, dass in einer Stadt keine Autos
fahren. Alle denken, es sei normal, dass alles
mit solch merkwürdigen Blechobjekten
zugeparkt ist und die gesamte Verkehrsinfra-
struktur darauf auslegt ist, sie herumfahren
zu lassen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Sobald
unsere Kinder die Fähigkeit zur Selbststeue-
rung erlangt haben, bringen wir ihnen aus
gutem Grund bei, nicht einfach auf die Straße
zu laufen, und denken, das sei normal. Das
ist es aber nicht: Noch bis vor wenigen
Jahrzehnten war die Gefahr, überfahren zu
werden, viel geringer. Bis in die 1960er
Jahre hinein gab es in Deutschland Straßen-
kindheiten. Die Kinder aus der Nachbar-
schaft trafen sich unverabredet auf der
Straße, heute ganz undenkbar, da werden
sie nach Spiel- und Sport-Terminplan durch
die Gegend geshuttelt. Auch daran zeigt
sich, wie stark wir von unseren äußeren
Lebensumständen geprägt sind und unsere
Erfahrungen durch Erziehungsprozesse
an unsere Kinder weitergeben im Glauben,
das sei normal. Das ist es aber nicht und
es wird auch in 10 bis 20 Jahren nicht mehr
normal sein, weil der Druck auf Gesell-
schaften wie der unseren, sich radikal zu
verändern, immer größer wird.
Damit stellt sich die Frage, wie wir uns
aus den mentalen Infrastrukturen befreien
können, in denen wir gefangen sind. Das
wird allerdings nicht durch Reden möglich
sein, sondern nur durch Handeln, also durch
eine Veränderung unserer Lebenspraxis.
zu machen, welche unge planten und
dennoch zukunftsfähigen Veränderungs-
prozesse sich schon heute in den Städten
beobachten lassen.
Ich bin Wissenschaftler und habe als solcher
in den letzten Jahren die bedrückende Fest-
stellung machen müssen, dass wir keinen
Mangel an Informationen haben. Es fehlt uns
auch nicht an Wissen, um erkennen zu
können, dass unsere Gesellschaften gegen-
wärtig nicht zukunftsfähig sind, und darüber
nachzudenken, wie sie wieder zukunfts-
fähig werden könnten. Probleme wie Res-
sourcenübernutzung, Umweltverschmutzung
oder der Klimawandel sind nicht neu,
sondern zum Teil seit über vier Jahrzehnten
bekannt. Auch hat man in dieser Zeit – in
manchen Bereichen sogar sehr erfolgreich –
Aufklärung betrieben. Und trotzdem läuft
der Prozess der Ressourcenverschwendung
seit 40 Jahren unvermindert weiter. Was
wir haben, ist also kein Informations- oder
Aufklärungs-, sondern ein extremes Praxis-
problem. Wir haben ein Riesenproblem
damit, von Plan A zu Plan B zu wechseln.
Das ist kein abstraktes, rein theoretisches
Problem, sondern eines der kulturellen Pra-
xis und der Lebensstile.
Heute war schon viel von Infrastrukturen
die Rede. Gewöhnlich denkt man dabei an
Materielles wie Straßen und Versorgungs-
einrichtungen oder an öffentliche Institutionen
wie Ämter und Schulen. Es gibt aber auch
mentale Infrastrukturen. Die äußeren
Verhältnisse, in denen wir leben, übersetzen
sich in unseren Köpfen in Binnenverhältnisse.
Menschen sind Wesen, bei denen sich die
kulturellen und zivilisatorischen Strukturen,
in denen sie leben, in die Verschaltungarchi-
tektur des Gehirns übertragen. Hierzu
V o r T r A G P r o F . D r . H A r A L D W E L Z E r
4 8
in diesen Nachbarschaftsgärten kommen
Menschen zusammen, die ihre eigene Lebens-
welt aktiv verändern und den städtischen
Raum für sich selbst nutzen. Sie schaffen
Realitäten, die hinsichtlich künftiger
Stadtentwicklung geradezu vorbildhaften
Charakter haben dürften. Die Nutzung von
Grünflächen in der Stadt wird in Zukunft
immer wichtiger werden.
Geht es dabei momentan noch immer
lediglich um reine Freizeitnutzung, wird es
in Zukunft darum gehen, urbane Flächen
auch landwirtschaftlich zu nutzen. Diese von
unten kommenden Prozesse eröffnen der
Entwicklung ganz neue Möglichkeiten.
Nun das dritte Beispiel: In Berlin wird
im Sommer ein Festival stattfinden mit dem
schönen Namen ÜBER LEBENSKUNST. Die
Idee war, eine Veranstaltung zu veränderten
Lebensstilen und kulturellen Praktiken
vor dem Hintergrund der Zukunftsprobleme
zu organisieren. Man wollte von dem üblichen
negativen Ansatz wegkommen und stattdes-
sen über Lebenskunst nachdenken, also über
Möglichkeiten neuer Lebensstile im Sinne
eines Planes B.
Bei derartigen Großveranstaltungen
müssen die Teilnehmer natürlich auch mit
Getränken und Nahrungsmitteln versorgt
werden. Üblicherweise werden diese
von weither herangeschafft. Die Organisa-
toren haben sich jedoch gefragt, ob das
wirklich notwendig ist, und haben für das
Catering ein tolles Konzept entwickelt. In
Berlin, dachten sie, gibt es doch 70.000
Schrebergärten. Könnte man die Kleingärtner
nicht gewinnen, ausreichende Mengen
ihrer Produkte wie Obst und Gemüse, aber
auch Säfte und Eingemachtes an die Vor-
ratskammer des Festivals zu liefern?
Selbst in unserer Gesellschaft gibt es
bereits heute sowohl im kommunalen wie
im privaten Bereich Menschen, die ihr
Verhalten plötzlich ändern. In Bezug auf
Städte gibt es dafür drei Beispiele, die mich
persönlich stark beeindruckten:
Als ich bei meinem letzten Aufenthalt in
New York meinen obligaten Spaziergang den
Broadway hinunter zum Union Square
machte, stellte ich zu meiner Überraschung
fest, dass der Broadway zur Fußgänger-
zone geworden war. Die Hauptverkehrsader
dieser Megacity ist jetzt eine Fußgängerzone!
Man hatte es ganz einfach, mit äußerst
geringem Planungsaufwand gemacht. Doch
die wirtschaftliche und verkehrstechnische
Infrastruktur hat sich damit vollkommen
verändert. An jeder Ecke gab es plötzlich einen
Fahrradverleih. Wie dieses Beispiel zeigt,
kann man selbst eine vorhandene Struktur
anders nutzen und trotzdem die Lebenswelt
der Anwohner grundlegend verändern.
Man fragt sich, warum man das nicht auch
anderswo macht.
Ein anderes Beispiel ist die von unten
kommende Bewegung des „Urban Garde-
ning“, die Brachflächen für die Anlage von
Gärten nutzt oder Kästen mit Blumen und
Gräsern aufstellt, die weitertransportiert
werden können, wenn die ursprüngliche
Fläche nicht mehr zur Verfügung steht. Das
beweist, dass es eine Veränderung städti-
scher Lebensräume nicht nur durch Planung
von oben geben muss. Die Prinzessinnen-
gärten in Berlin sind der mittlerweile
bekannteste Fall.
Diese Art der Begrünung von Städten
hat nicht nur eine ökologische Komponente,
sondern vor allem auch eine soziale, denn
V o r T r A G P r o F . D r . H A r A L D W E L Z E r
4 9
Entpolitisierung der Zivilgesellschaft muss
aufhören; ein Hebel dafür ist, endlich wieder
über Zukunft zu sprechen, darüber, wie man
leben will.
Mit Strategien wie der zur Ausrichtung
des Festivals ÜBER LEBENSKUNST lassen
sich für neue Formen des sozialen und
ökologischen Handelns und des politischen
Denkens Freiräume schaffen, die ein
Nachdenken darüber, wie es denn weiterge-
hen soll, überhaupt erst ermöglichen. Gerade
Städte könnten dabei eine wichtige Rolle
spielen als Labore für zukunftsfähige Lösun-
gen für Probleme, mit denen wir uns unaus-
weichlich konfrontiert sehen. Aus ihnen
könnten Vorschläge dafür kommen, wie es
anders gehen könnte als bisher, und zwar
praktikable Vorschläge und keine abstrakten
von der Art: „Man müsste, man könnte, man
sollte …“ Vor allem Konjunktive bilden
das Resultat von vier Jahrzehnten Aufklärung
über wachsende Umweltprobleme. Es wird
Zeit, mit den Konjunktiven aufzuhören und
Praxisfelder des Veränderns zu erproben.
Jedes Mitglied einer demokratischen Gesell-
schaft hat dafür einen Handlungsspielraum,
den es nutzen kann. Und die Verantwortung
für das Nutzen des eigenen Handlungsspiel-
raums kann man an niemanden delegieren.
Aber man kann einfach anfangen.
So könnte man die lokale Produktion
aus dem Stadtgebiet und die Berliner Infra -
struktur auf eine Weise nutzen, wie es vor-
her noch nie geschehen war.
Die Schrebergärtner waren zuerst voll-
kommen überrascht, als man mit diesem
Ansinnen an sie herantrat. Aber sie grif-
fen die Idee bald mit Begeisterung auf. Natür-
lich wollten sie eine gewisse Gegenleistung
für ihren Beitrag, wenn auch nicht unbe-
dingt materieller Art. Statt Geld bot man daher
den Kleingärtnern, die ihre Jahreshaupt-
versammlung immer schon einmal an einem
repräsentativen Ort abhalten wollten, das
Haus der Kulturen der Welt, in dem das
Festival stattfinden wird, als Tagungsort an.
So kommt es in Berlin zu einem vollkommen
neuen sozialen Austauschprozess.
Das Projekt ÜBER LEBENSKUNST ist ein
Paradebeispiel dafür, wie sich vorhandene
städtische Infrastrukturen intelligent auch
auf andere Art als bisher nutzen lassen ohne
neue schaffen zu müssen. Zudem erfordern
sowohl die Vorbereitung als auch die
Durchführung des Projekts einen äußerst
geringen Einsatz von Ressourcen. Es ist somit
ein vielversprechendes Konzept für Nut-
zungsinnovation. Allerdings funktioniert der-
gleichen nur, wenn alle Beteiligten vor Ort
kooperieren.
Solche neuen Strategien, an deren Umset-
zung auch die Bürger intensiv beteiligt
werden, führen auch zu einer Revitalisierung
der Demokratie. Dafür bedarf es keiner
Wutbürger und keiner Mutbürger, sondern
lediglich jenes aktiven Gemeinwesens, das
die Demokratie ohnehin voraussetzt.
Aber im Augenblick gibt es eine strikte
Arbeitsteilung: Politik machen Politiker und
alle anderen machen alles andere. Diese
5 1
‘‘
’’Dr. Spandau
Meine Damen und Herren, Sie haben sich
sicherlich bereits gefragt, welche Lösung mir
eingefallen ist, nachdem einer unserer Refe-
renten so plötzlich abgesagt hat. Ich bin sehr
dankbar, dass Herr Gaffert sich bereit erklärt
hat, an der Podiumsdiskussion teilzunehmen.
Herr Gaffert ist Oberbürgermeister von
Wernigerode, einer wunderschönen Stadt im
Windschatten des Harzes. Sie hat aber mit
ganz anderen Problemen zu kämpfen als
Freiburg. Wie wir von Herrn Dr. Salomon
gehört haben, weist Freiburg noch wachsende
Bevölkerungszahlen auf. In Wernigerode ist
dies gewiss anders. Manchmal mag der eine
oder andere im Westen wohl schon deshalb
ein bisschen neidisch auf die Städte im Osten
geschaut haben, weil wir hier mit dem leben
müssen, was vorhanden ist. Echtes Entwick-
lungspotential aber gibt es vor allem dort,
wo Neues entsteht oder geschaffen werden
muss. Das heißt natürlich nicht, dass die
Städte im Westen und im Osten vollkommen
andere Probleme hätten. Für unsere Diskus-
sion ist es aber sicher bereichernd, wenn
Herr Gaffert an ihr teilnimmt und in Ergän-
zung dessen, was wir von Herrn Dr. Salomon
über Freiburg gehört haben, über Wernige-
rode erzählt.
Peter Gaffert
Ich bin seit fast drei Jahren Oberbürger-
meister von Wernigerode. Dazu bin ich etwa
so gekommen, wie hier auf diesen Stuhl:
reichlich unvorbereitet. Ursprünglich
komme ich aus dem Naturschutz. Damals
hatte mich mein Amtsvorgänger angerufen
und mich gefragt, ob ich mir vorstellen
könnte, Bürgermeister zu werden. Als
verbeamtetem Naturschützer und Förster
fällt es einem ja nicht gerade leicht, den
Wald gegen das Rathaus einzutauschen,
zumal man sich zuvor noch einer Wahl stel-
len muss. Aber auch das habe ich getan –
und so sitze ich nun hier.
Als man in Freiburg und vielen anderen
Städten der alten Bundesrepublik darüber
nachdachte, wie man mit den Problemen
einer Wohlstandsgesellschaft fertigwerden
sollte, waren wir erst mal damit beschäf-
tigt, neue Abwasserleitungen zu legen. Dies
vorab, um Ihnen eine Vorstellung davon zu
geben, wie und womit wir angefangen
haben, uns mit dem Thema Stadtentwick-
lung auseinanderzusetzen. In den folgenden
Jahren blieben die Aktivitäten auch im
wesentlichen darauf beschränkt.
D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
„DI E STADT VON MORG E N WI R D DU RCH DE N G E BAUT,
DE R S I E N E U ZU DE N KE N WAGT.“
Abschließende Diskussion der Referenten und Teilnehmer.
5 2
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
häuser, die sich in einem sehr guten
Zustand befinden. Die vielen Touristen kom-
men nicht zuletzt wegen dieses in Deutsch-
land nahezu einzigartigen Ensembles. Davon
profitieren wir natürlich. Allerdings kostet
sein Erhalt auch sehr viel.
Auf der anderen Seite wurden – wie über-
all in den 60er und 70er Jahren – auch im
Osten städtebauliche Fehler gemacht. Hierzu
zählt die Errichtung von Satellitenstädten
selbst in kleineren Orten – die berühmt-
berüchtigten Plattenbausiedlungen. Wie geht
man heute damit um? Wer möchte dort leben?
Braucht man diese Siedlungen überhaupt
noch? Wir alle wissen, wie ökologisch und
gesamtwirtschaftlich unsinnig es ist, große
Wohnviertel einfach abzureißen. Hier sind
intelligente Lösungen gefragt, vor allem mit
Blick auf die alternde Gesellschaft. Dafür
aber bedarf es hoher Investitionen, die nicht
auf die Mieten umgelegt werden können,
da der Durchschnittsbürger im Osten sie
dann nicht mehr bezahlen könnte. Dies gilt
gleichermaßen für Fachwerkhäuser wie
für Plattenbauten. Auch im Harz ist festzu-
stellen, dass immer mehr Menschen aus
ländlichen Regionen wieder in die kleineren
Städte ziehen.
Es ging einfach darum, eine neue Infra-
struktur zu schaffen und zugleich sicherzu-
stellen, dass die Menschen im Osten auch
dort blieben. Es galt – und darum geht es bis
heute – ihnen für ihr Leben eine Perspektive
zu geben.
Die Herausforderungen für eine vergleichs-
weise kleine Stadt wie die unsere sind viel-
fältig. Eine zentrale Aufgabe ist dabei
natürlich die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Für Wernigerode mit seinen jährlich rund
drei Millionen Tagestouristen spielt dies aber
glücklicherweise keine so große Rolle
mehr. In diesem Punkt sind wir vergleichs-
weise gut aufgestellt.
Das Kernproblem der ostdeutschen
Städte ist die demographische Entwicklung.
Die Stadt Wernigerode beispielsweise hatte
zu Zeiten des Mauerfalls knapp 40.000
Einwohner. Obwohl in den letzten 20 Jahren
fünf Dörfer eingemeindet wurden, hat sie
heute nur noch 35.000. Die Kernstadt hat
also rund 10.000 Einwohner oder ein
Viertel der Bevölkerung verloren. Das ist
enorm viel. Verantwortlich für diesen
Rückgang war – neben den geringen Gebur-
tenraten nach der Wende – vor allem die
Abwanderung vieler gutausgebildeter junger
Menschen. Die Folge ist, dass schon heute
24 Prozent der Bevölkerung Wernigerodes
über 60 Jahre alt sind. In zehn Jahren wird
es über ein Drittel sein. Damit fehlen uns
für die nächsten Jahrzehnte eineinhalb
Generationen.
Angesichts dieser demographischen Ent-
wicklung stellt sich die Frage, wie wir mit
dem vorhandenen Bestand an Wohnungen
umgehen. So stehen allein im Zentrum
von Wernigerode nahezu 3.000 Fachwerk-
5 3
‘‘
Übernachtungen pro Jahr zu verzeichnen –
und das trotz des vergleichsweise niedrigen
Standards der Unterkünfte und der Gastrono-
mie. Das durch den Tagestourismus bedingte
enorme Fahrzeugaufkommen hat das Bild
des Dorfes allerdings völlig zerstört. Daher
planen wir jetzt durch die Entwicklung eines
integrierten Verkehrskonzeptes das Auto
aus dem Ort zu verbannen. Dabei haben wir
die Erfahrung gemacht, dass selbst gute Planer
und Architekten sich einen Ort ohne Auto
nicht vorstellen können. Zuallererst geht
es ihnen immer um Parkplätze und Verkehrs-
lenkung, bevor sie an die Schaffung einer
beschaulichen Kurortatmosphäre denken.
Dr. Spandau
Gestatten Sie eine Anmerkung, Herr Gaffert:
Naturschützer kann man nicht gewesen sein,
das bleibt man immer. Ich teile Ihre Mei-
nung, dass das „neue Denken“ dazu führen
muss, dass sich bestimmte Dinge umkehren.
Deshalb bin ich der Überzeugung, dass die
Entwicklung der Städte in Zukunft in erster
Linie den Bedürfnissen der Bürger dienen
muss und nicht der Optimierung des Auto-
verkehrs. Nun eine andere Frage: Gibt es in
Wernigerode ein bürgerschaftliches Engage-
ment in den Bereichen Stadtplanung und
Stadtentwicklung?
Peter Gaffert
Die Bürger von Wernigerode engagieren
sich in hohem Maße für die Belange ihrer
Stadt, mit der sie sich in einer Weise
identifizieren, wie ich es sonst kaum kenne.
Vor allem liegt ihnen die historische Altstadt
am Herzen. Bei der Entwicklung neuer
Konzepte sind sie aktiv dabei, wobei oft
auch individuelle Vorschläge gemacht
werden, die allerdings nicht immer prakti-
kabel sind.
Diesen Trend haben Wohnungsbauunter-
nehmen bereits vor Jahren erkannt und auf
Industriebrachen Siedlungen für alte Men-
schen errichtet – samt der dafür benötigten
Infrastruktur. Mittlerweile ziehen die
Menschen jedoch von dort wieder weg, weil
sie sich in einer speziell auf sie zugeschnit-
tenen Umgebung nicht wohlfühlen. Es muss
also darum gehen, intelligente städtebauliche
Lösungen für das Zusammenleben aller
Altersgruppen zu finden.
Als ein Beispiel dafür möchte ich die
Gemeinschaftsaktion „Höfe halten Hof“
nennen, bei der nicht nur Höfe von
Fachwerkhäusern durch schöne Bepflan-
zungen und die Einrichtung von Cafés
wieder zu Lebensmittelpunkten für Ange-
hörige aller Generationen geworden sind.
Wie bereits gesagt wurde, können sich
viele Menschen – einschließlich der „Gene-
ration Trabant“ – ein Leben ohne Auto gar
nicht mehr vorstellen. Wer schon einmal
auf der Insel Hiddensee war, weiß aber, dass
dies durchaus möglich ist. Dort hat nur der
Arzt ein Auto. Es ist beeindruckend und
wohltuend, wenn die Infrastruktur nicht auf
das Auto ausgerichtet ist, sondern auf
Fahrradfahrer und Fußgänger.
Vor zwei Jahren haben wir das wunder-
schön am Fuße des Brockens liegende Dorf
Schierke eingemeindet. Es war Anfang
des 20. Jahrhunderts touristisch aufgeblüht,
lag nach dem Zweiten Weltkrieg aber im
Grenzsperrgebiet der DDR, so dass es keine
Entwicklung der Infrastruktur gab. Die Zeit
schien hier stehengeblieben. Nach der
Wende gab es für den Ort nur eine Perspek-
tive: den Tourismus. Heute sind bereits
zwei Millionen Tagesbesucher und 250.000
5 4
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
sich selbst zu konservieren, von dem sie
glaubten, es zeige sie zu ihrer besten Zeit.
Wenn eine Gesellschaft, wie Sie schrieben,
aber tatsächlich nur noch Geschichten über
das erzählt, was sie in ihren besten Zeiten
einmal gewesen sein mag und nicht über
das, was sie einmal sein möchte, wie ist dann
eine nachhaltige Stadtentwicklung mit
bürgerschaftlichem Engagement überhaupt
möglich? Wie schaffen wir es, eine Brücke
zu bauen zwischen der Verantwortung
gegenüber dem, was wir an der Vergangen-
heit liebgewonnen haben, und dem, was
wir für die Zukunft brauchen?
Prof. Speer
Ich denke, das kann nur gelingen, wenn
diejenigen, die sich mit solchen Themen
beschäftigen, auch in der Lage sind, Bilder
von etwas zu entwickeln, an das man
vorher vielleicht nicht gedacht hat, das
aber einer ganz speziellen Situation in der
Zukunft entspricht.
Lassen Sie mich anhand des erwähnten
Beispiels aus New York deutlich machen,
was ich damit meine: Ich habe im vorigen
Jahr mit einer New Yorker Stadtplanerin
gesprochen, die mir sagte, dass es dort nicht
viel Partizipation seitens der Bevölkerung
gäbe. Gesetzliche Vorgaben gäbe es auch
keine. Das Stadtplanungsamt habe – mit Bil-
ligung durch die Politik – alleine beschlos-
sen, die Strasse in der Fußgängerzone
rot-grün zu streichen und ein paar Pflanzen-
kübel aufzustellen, damit niemand mehr
durchfahren kann. Das Ganze habe man
innerhalb eines halben Jahres realisiert und
alle seien stolz darauf.
Vor allem die jüngere Generation fordert,
in die Zukunft zu blicken und nicht nur zu
bewahren, was wir haben. Dabei hat es
Wernigerode – wie manche anderen alten
Städte – eigentlich ein bisschen leichter, was
die Verkehrsberuhigung betrifft, denn es wäre
ohnehin ausgesprochen schwierig, noch
mehr Fahrzeuge hereinzubringen. Allein der
ruhende Verkehr ist bereits eine Zumutung:
Es gibt einfach keinen Platz für Autos.
Richtig problematisch wird es jedoch, wenn
nicht genug Stellplätze für Wohnungen ver-
fügbar sind, denn dann springen Investoren
sofort wieder ab.
Dr. Spandau
Ich würde gerne noch einen Moment
bei der Frage des bürgerlichen Engagements
und bei dem mit der Verkehrsberuhigung
verbundenen Aspekt der Entschleunigung
bleiben sowie bei der Überlegung, welche
Freiräume wir brauchen, um bestimmte Pro-
bleme tiefer zu durchdenken. Mir ist nämlich
noch nicht so ganz klar, wie das funktio-
nieren soll.
Herr Prof. Welzer, Sie haben mit der
Umwandlung des New Yorker Broadway
in eine Fußgängerzone ein konkretes
Beispiel dafür genannt, wie es funktionieren
kann. Ich glaube aber nicht, dass diese
Lösung einfach plötzlich da war, sondern
dass ihr eine Menge Planungsprozesse und
Diskussionen vorangegangen sind.
Herr Prof. Welzer, im vergangenen Jahr
haben Sie in einem Beitrag für das Magazin
der Süddeutschen Zeitung daran erinnert,
dass der Soziologe Norbert Elias einmal den
bemerkenswerten Gedanken geäußert hat,
Gesellschaften neigten dazu, jenes Bild von
5 5
‘‘
erfolgreiches Wirtschaftsmodell, das uns ein
extrem hohes Wohlstandsniveau gebracht
und bis in die 80er Jahre hinein gut funktio-
niert hat. Seither zerbröselt es allmählich.
Das führte zunächst aber nicht etwa zur
Suche nach neuen Möglichkeiten, sondern
weckte erst einmal reflexartig den Wunsch
nach Rückkehr zum altbewährten Modell.
Das zeigt sich beispielsweise an der Kreation
eines Wachstumsbeschleunigungsgesetzes,
von dem man sich eine geradezu magische
Wirkung erhofft. Man sucht offenbar das
Heil dort, wo man glaubt, es schon einmal
gefunden zu haben. Das ist allerdings hinder-
lich bei der Suche nach neuen Wirtschafts-
modellen und Sozialstrukturen. Natürlich
spielt dabei das steigende Durchschnittsalter
unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle,
denn in einer Gesellschaft, in der die Mehr-
heit der Menschen ihre Zukunft bereits
hinter sich hat, hängen die meisten an dem,
wovon sie selbst einmal ein Teil waren und
was damals, als sie jung waren, funktioniert
hatte. Vor diesem Hintergrund wird das
bisher kaum diskutiert. So gesehen scheint
China besser für die Zukunft gerüstet als
unsere westlichen Gesellschaften.
In Deutschland wäre dergleichen unmög-
lich. Wir hätten zehn Jahre diskutiert. Wir
haben einen Wust an Gesetzen und Regeln
und es gibt immer Menschen, die dagegen
sind. Am Ende passiert gar nichts. Die
Gefahr, dass wir versuchen, das, was uns
aus der Vergangenheit gefällt, auf die
Zukunft zu übertragen, besteht natürlich
immer. Unsere Aufgabe ist es daher, gemein-
sam für Unruhe zu sorgen und manchmal
sogar Chaos in Kauf zu nehmen, um die
Diskussion anzuregen. Jedenfalls wünschte
ich mir auch bei uns eine so spontane
Herangehensweise an städteplanerische
Probleme wie in New York.
Prof. Welzer
Ich finde den Gedanken von Norbert Elias
in der Tat sehr gut. Es lohnt sich, länger
darüber nachzudenken. Schließlich ist es mit
nationalen Selbstbildern ähnlich wie mit
Selbstbildern, die einzelne Menschen von
sich haben.
Das Selbstbild der Bundesrepublik Deutsch-
land ist sehr stark an den wirtschaftlichen
Aufstieg in den ersten Jahren der Nachkriegs-
zeit gekoppelt. Wir hatten damals ein sehr
5 6
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
bestehen, immer neue Konstellationen,
auf die wir reagieren oder auf die wir aktiv
einwirken. Und ich möchte hinzufügen:
Wir müssen zumal als Städteplaner ständig
Konstellationen entwickeln, die über die
normale Vorstellungskraft hinausgehen.
Genaugenommen ergibt sich daraus erst der
Anreiz, sich mit bestimmten Themen inten-
siv auseinanderzusetzen.
In Bürgerversammlungen haben wir das
schon vor vielen Jahren so gehandhabt.
Anfangs waren diese Versammlungen kaum
besucht, bis ich zuerst mit den Lokalredak-
teuren über die zu behandelnden Themen
gesprochen habe. Diese haben dann, um ein
Beispiel zu nennen, einige Tage vorher
geschrieben, dass über einen Vorschlag für
eine autofreie Innenstadt diskutiert werden
soll. Auf einmal war der Saal voll. Ein
solches Vorgehen ist legitim, denn es gilt die
Phantasie anzuregen und zu Diskussionen
herauszufordern, auch wenn am Ende oft
über etwas ganz anderes gesprochen wird.
Dabei müssen wir einerseits die Bürger
provozieren, andererseits ihnen aber auch
die Ängste nehmen. Angst vor Veränderung
steckt schließlich in jedem von uns.
Nun zu Ihrer Bemerkung, Herr Dr. Spandau,
dass eine Gesellschaft Geschichten braucht,
die auf die Zukunft gerichtet sind. Danach
werden die Fragen der Nachhaltigkeit und
des Klimawandels nicht zuletzt deshalb
schlecht vermittelt, weil keine Geschichten
darüber erzählt werden, was anders werden
muss. Wir reden immer nur darüber, dass
wir etwas reformieren müssen, damit alles so
bleibt wie es ist. Eigentlich geht es uns ja
gut, es brennt uns doch nichts auf den
Nägeln. Warum sollten wir also etwas ver-
ändern? Um die Menschen dazu zu bringen,
eine zukunftsorientierte Haltung einzuneh-
men, brauchen wir Geschichten darüber, was
anders funktionieren könnte als jetzt. Wenn
wir über dezentrale Energieversorgung
sprechen, brauchen wir Geschichten gegen
die Großmänner und Ackermänner dieser
Welt. Diese kann man natürlich nur dann
erzählen, wenn man anhand von nachprüf-
baren Beispielen belegen kann, dass es
bereits jemand vorgemacht hat, dass es auch
anders geht. Was wir brauchen, sind also bei-
spielhafte, identitätsstiftende Geschichten.
Dr. Spandau
Herrschen nicht auch enorme Ängste vor
einem Strukturwandel? Schließlich gibt
es dabei immer auch Verlierer. Angst aber
ist kein guter Ratgeber. Wie könnten,
Herr Prof. Speer, als notwendig erkannte
Veränderungen daher sozialverträglich her-
beigeführt werden?
Prof. Speer
Ganz zu Beginn meines Vortrages habe
ich Wolf Singer zitiert, der die Funktions-
weisen unseres Gehirns und komplexer
Stadtstrukturen miteinander verglichen hat.
Bei beiden Systemen bilden sich aus der
Fülle der Komponenten, aus denen sie
5 7
‘‘
werden Sie mit diesem Problem konfrontiert,
Herr Dr. Salomon?
Dr. Salomon
Ständig. Man muss tatsächlich Geschichten
erzählen. Aber dazu muss man erstmal eine
haben. Manche Menschen glauben, Freiburg
sei eine Art Öko-Disneyland. Das ist es
natürlich nicht. Aber wir haben manches
vorzuzeigen.
Herr Dr. Spandau, Sie sagten in Ihrer
Einführung, in Freiburg gäbe es Häuser, die
sich nach der Sonne drehten. Tatsächlich
gibt es in Freiburg den Solararchitekten Disch,
der vor 20 Jahren ein solches Haus gebaut
hat. Bis heute gibt es davon genau zwei
Exemplare. Das faszinierende Konzept ist
also zwei Jahrzehnte alt, aber die Häuser
werden nicht gebaut: Sie sind zu teuer und
zu unpraktisch.
Wir haben einen Kongress zum Thema
erneuerbare Energien in Kommunen veran-
staltet und die Teilnehmer im Rahmen von
Exkursionen über Beispiele informiert,
die wir in Freiburg gebaut haben. Bei der
Abschlussdiskussion stand ein Teilnehmer
aus Italien auf und sagte ganz bewundernd,
dass es sicherlich sehr angenehm sein
müsse, in einer Stadt wie Freiburg Ober-
bürgermeister zu sein, denn hier gäbe es
ja gar nichts mehr zu tun. Erst habe ich
überhaupt nicht verstanden, was er damit
sagen wollte. Wie sich herausstellte, glaubte
er tatsächlich, dass es das, wovon wir
einzelne Beispiele gezeigt hatten, überall in
der Stadt gäbe. Wir hatten zwar zu allem
Prototypen, die wir zeigen konnten, insge-
samt sieht es in der Stadt aber aus, wie in
allen anderen Städten auch: 95 Prozent
der Häuser sind nicht energetisch saniert.
Prof. Welzer
Gestatten Sie mir noch eine kurze Frage
zum Problem der Sozialverträglichkeit: Wie
sozialverträglich ist eigentlich die gegen-
wärtige Situation? Worüber sehr wenig ge-
sprochen wird, ist die Tatsache, dass soziale
Ungleichheit immer mit Ungleichheit der
Lebensbedingungen einhergeht. Menschen
mit geringem Einkommen wohnen meist in
Stadtvierteln, die in vieler Hinsicht wenig
gesundheitsfördernd sind. Mir fällt auf, dass
bei fast allen Vorträgen und Diskussionen,
bei denen es um Veränderungsprozesse geht,
Hartz IV-Empfänger zur Sprache kommen.
Sonst ist fast nie von ihnen die Rede.
Ähnliches gilt für die Chinesen, auch sie
werden sonst eher selten erwähnt, wenn es
aber um das Thema Veränderungen geht,
tauchen sie auf. Oft muss man einfach nur
den Blickwinkel ändern. So ergeben sich,
wenn man beispielsweise soziale Probleme
mit ökologischen Fragen zusammenbringt,
auf einmal Szenarien und Modelle, nach
denen es den Menschen tatsächlich besser
gehen könnte.
Dr. Spandau
Fragen wir den Pragmatiker: Herr Dr.
Salomon, was haben Sie zu sagen zum Thema
Strukturwandel und Ängste? Christian Ude
meinte nach seiner Wahl zum neuen
Präsidenten des Städtetages, in den Städten
müssten nur die Energie- und die Mobilitäts-
frage geklärt werden, dann habe man alles
im Griff. Das klingt doch reichlich simpel. Es
gehört viel mehr dazu, um alles in den Griff
zu bekommen. Dazu bedarf es vor allem
eines Strukturwandels. Und der wird kommen.
Beispielsweise werden als Folge der Energie-
wende unsere Städte von Energieverbrauchern
zu Energieproduzenten werden müssen, also
zu dezentralen Energieerzeugern. Wie
5 8
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
des Atomstroms lag noch bei 60 Prozent.
Mittlerweile ist das Stadtkraftwerk zu
96 Prozent atomstromfrei und über die rest-
lichen 4 Prozent gibt eine skurrile Debatte.
In Freiburg wird über alles diskutiert,
auch über den Besuch des Papstes im Sep-
tember 2011. Der Erzbischof von Freiburg,
der seit 2008 Vorsitzender der Deutschen
Bischofskonferenz ist, hat ihn eingeladen.
Daraufhin wurde ich von einer Lokalzeitung
gefragt, ob man denn nicht mit antikleri-
kalen Demonstrationen rechnen müsse. Ich
antwortete, wenn man in Freiburg einen
Zebrastreifen einrichten wolle, gäbe es erstens
eine Demo und zweitens eine Bürgerinitiative.
Im übrigen ginge ich davon aus, dass die
katholische Kirche in der Lage sei, mit
solchen Protesten souverän umzugehen. Dies
stand dann in der Zeitung und es gab bitter-
böse Leserbriefe: Wie ich den Papstbesuch
mit einem Zebrastreifen vergleichen könne
und nur so arrogant und blasiert sein könne!
Auch mit so etwas muss man lernen,
gelassen umzugehen.
Wenn man Geschichten erzählt, darf man
nicht vergessen, auch darüber zu berichten,
wie etwas funktioniert. Herr Reimann-
Dubbers, der hier ebenfalls anwesend ist,
engagiert sich mit seiner Stiftung seit einigen
Jahren in Freiburg für die energetische Sanie-
rung von Häusern. Heute morgen hat er mir
zu einem Modellprojekt gratuliert, das wir in
einem sogenannten sozialen Brennpunkt-
Stadtteil durchgeführt haben. Dort gab es ein
Hochhaus aus den 60er Jahren, das nach
Meinung von Fachleuten aus Kostengründen
eigentlich gar nicht mehr sanierbar war. Es
gehört der städtischen Wohnungsbaugesell-
schaft und damit zum Programm „Soziale
Stadt“. Normalerweise können solche
In der Verkehrspolitik stehen wir etwas
besser da: In Freiburg werden nur etwa 30
Prozent aller Wege mit dem Auto zurück-
gelegt. Für uns ist das selbstverständlich, ja
wir halten sogar das noch für zuviel. Wenn
Besucher aus anderen Ländern kommen –
Chinesen, Koreaner, Amerikaner und
viele andere – fragen sie oft: „Why are you
so advanced?“ Darauf entgegne ich immer:
„Because we started earlier.“
Diese folgende Geschichte begann Mitte
der 70er Jahre in Wyhl am Kaiserstuhl, als
dort ein Atomkraftwerk gebaut werden
sollte. Bald darauf war der Bauplatz besetzt.
Der damalige Ministerpräsident Filbinger
sagte daraufhin, wenn das AKW nicht gebaut
würde, gingen in Baden-Württemberg die
Lichter aus. Die Lichter sind immer noch an.
Damals hatten sich konservative Bauern und
Winzer zusammen mit der Freiburger Stadt-
bevölkerung, mit Lehrern und Studenten
verbündet und den Bauplatz besetzt. Es war
wie die Geschichte von David und Goliath
oder dem kleinen gallischen Dorf, das anders
sein wollte.
Nach der Reaktorkatastrophe von Tscher-
nobyl vor 25 Jahren hat der Freiburger
Gemeinderat – damals waren die Grünen
dort noch nicht so stark wie heute – dann
ein kommunales Energiekonzept verab-
schiedet, das auf drei Säulen ruhte: Energie-
sparen, effizientere Nutzung von Energie
und Förderung erneuerbarer Energien – und
das bei gleichzeitigem Ausstieg aus der
Atomkraft und der Reduzierung des Einsat-
zes fossiler Energieträger. Damals gab es
kritische Stimmen, die nicht verstanden,
wie eine Stadt wie Freiburg aus der Atom-
kraft aussteigen könnte, denn der Anteil
5 9
‘‘
lebte, da die Kinder inzwischen längst
ausgezogen und die Eltern alt geworden
waren, inzwischen aber oft nur noch
eine Person. Natürlich konnte man diese
Menschen nicht einfach versetzen,
schließlich wohnten viele von ihnen schon
40 Jahre dort. Das Haus war ihre Heimat.
Daher kam ein findiger Architekt auf die
Idee, die Wohnungen zu teilen. Heute
gibt es in dem Haus 140 Wohnungen. Viele
der ursprünglichen Bewohner, denen wir
zugesagt hatten, dass sie nach der Sanierung
würden zurückkehren können, wollten das
allerdings gar nicht mehr, weil wir ihnen
zwischenzeitlich gute Alternativen zur Ver-
fügung gestellt hatten. Die Leute haben also
für eine alte Wohnung eine neue bekommen
und zugleich konnten die Mieten dank der
niedrigen Nebenkosten fast auf dem gleichen
Niveau gehalten werden. Auf diese Weise
haben wir die Sanierung des Hauses sozial-
verträglich hinbekommen. Ob dies zu einer
Standardlösung werden könnte, weiß ich
nicht, aber es ist ein gutes Beispiel dafür, wie
man beim Städtebau weiterkommen kann,
wenn man neu zu denken wagt.
Dr. Spandau
Sie alle haben schon die Medien erwähnt.
Welche Rolle spielen sie? Sind sie die vierte
Macht im Staat oder gar die erste?
Dr. Salomon
Ich bin dankbar dafür, dass wir eine
freie Presse haben. Im Kampf für Meinungs-
freiheit und eine freie Presse ist schon viel
erreicht worden. Ich brauche auch täglich
meine Zeitung. Ich denke allerdings, dass der
Journalismus in den letzten Jahren keine
ganz unbedenkliche Entwicklung durchge-
macht hat.
Häuser mit Mitteln der Stadt, des Landes
und des Bundes saniert werden, ohne dass
die Kosten dafür die Mieten explodieren
lassen. Die Menschen, die dort leben,
könnten solche Mieten nicht zahlen. Nun
werden aber die Fördermittel des Bundes
für den Städtebau derzeit stark gekürzt. Eine
Lösung des Problems kam daher fast der
Quadratur des Kreises gleich.
In dieser Situation kam dann auch noch
ein Prokurist der Stadtbaugesellschaft mit
dem Vorschlag daher, aus dem Hochhaus
gleich ein Passivhaus zu machen. Ich
entgegnete, dass dann erst recht niemand
mehr die Mieten würde bezahlen können.
Er meinte jedoch, dass sich dafür eventuell
noch Zuschüsse des Bundesforschungs-
ministeriums locker machen ließen, und
außerdem wäre es dann das erste Hochhaus
weltweit mit Passivhaus-Standard.
Am Ende haben wir das Vorhaben dank
einer pfiffigen Idee aber doch noch umsetzen
können. Das Hochhaus hatte nämlich 16
Stockwerke und 90 Wohnungen, in die in
den 60er Jahren kinderreiche deutsche
Familien eingezogen waren. In den teils 90
bis 100 Quadratmeter großen Wohnungen
6 0
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
uns noch leisten können und was eigent-
lich nicht mehr, steht da eigentlich immer im
Raum. Der Bund und die Länder übertragen
uns eine Vielzahl von Aufgaben und Pflichten,
mit denen Standards gesetzt werden, die
wir erfüllen müssen.
Die Pflege von Grünflächen hingegen ist
eine freiwillige Leistung. Wenn das Geld knapp
ist, könnte man das – rein theoretisch – also
einfach bleibenlassen. Die Diskussionen über
Einsparungen im Stadtrat sind oft recht
aufschlussreich: Erst sind die Stadträte ganz
damit einverstanden, nicht so häufig zu
mähen, der OB kommt schließlich aus dem
Naturschutz. Abends, in ihrem Verein, hören
sie dann die Kommentare ihrer Kollegen –
und am nächsten Morgen schlägt sich das
dann wieder im Stadtrat nieder. Bei solchen
Dingen ist es eben sehr schwierig, das rechte
Maß zu finden.
Dennoch denke ich, dass wir uns generell
über die Standards Gedanken machen
müssen, denn bei immer knapperen Kassen
kommen wir um die Frage, was wir uns
noch leisten können, nicht herum: Wie weit
sollen wir beispielsweise die Brandschutz-
maßnahmen in öffentlichen Gebäuden
treiben? In Wernigerode gibt es, wie ich
sagte, viele Fachwerkhäuser, aber diese waren
eher von Leuten errichtet worden, die nicht
viel Geld hatten. Steinhäuser waren viel
weniger feuergefährdet – Wernigerode ist
seit 1136 sechsmal abgebrannt – und
daher beliebter. Mitte des 19. Jahrhunderts
entstanden dann die ersten größeren öffent-
lichen Bildungseinrichtungen. Sie wurden –
mit den entsprechenden Brandschutzmaß-
nahmen – für die Nachwelt gebaut.
Es gibt noch Qualitäts-Journalismus,
aber viel zuviel Journalismus ist schlecht.
Dies hängt mit der Ausbildung und den
Arbeitsbedingungen der Journalisten
zusammen. Allzuoft geht es nur noch um
die Schlagzeile. In anderen Ländern ist
das vielfach noch stärker ausgeprägt. Im
Vergleich dazu geht es uns in Deutschland
noch gut. Sie werden aber keinen Bürger-
meister oder Politiker finden, der nicht
unter der Presse leidet.
Dr. Spandau
Manchmal kommt es auf die vermeintlich
kleinen Dinge an, wenn man will, dass etwas
akzeptiert wird. Was geschähe, wenn man bei-
spielsweise in Wernigerode beschließen
würde, Grünflächen, Straßenbegleitflächen
und Verkehrsinseln nicht mehr zu mähen,
sondern das Gras einfach wachsen zu lassen?
Sähen die Menschen darin einen Schritt von
der Ordnung hin zur Unordnung?
Peter Gaffert
Hier wären wir gleich bei der Presse. Es
hieße sofort, der Oberbürgermeister lässt die
schöne Stadt verlottern. Die Kommunen haben
alle relativ wenig Geld. Die Frage, was wir
6 1
‘‘
hin überlegt man sich die Sache schon
noch einmal. Die gegenwärtigen Brandschutz-
standards verdanken wir dem Brand im
Düsseldorfer Flughafen. Durch diesen Vorfall
wurde das Thema Brandschutz in Deutsch-
land hochaktuell. Es wird uns Milliarden
kosten.
Das nächste Ereignis war der Einsturz
der Eissporthalle in Bad Reichenhall. Danach
wurden sämtliche Hallendächer Deutschlands
auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft. Nicht
wenige mussten daraufhin erneuert werden.
Das verschlang wieder Milliarden. Als
Bürgermeister können sie solche Maßnahmen
nicht in Frage stellen, denn wenn etwas
passiert, sind sie dran.
Dr. Spandau
Sie sehen die Stahlseile hier im Saal?
Die Allianz Umweltstiftung haben sie viel
Geld gekostet. Das Gebäude steht seit
Jahrhunderten und es ist nie etwas passiert.
Rein statistisch hätte aber etwas geschehen
können. Also musste der Saal saniert
werden.
Prof. Speer
Dieses Thema lässt sich weiterspin-
nen. Wir leisten uns in Deutschland in
vielen Bereichen mit Vorschriften einen
Luxus, der weltweit einmalig ist. Es
gibt dabei sicherlich sinnvolle Regelungen,
die große Menge aber müsste vor dem
Hintergrund heutiger Rahmenbedingungen
auf den Prüfstand. Entsprechendes gilt
für das gesamte Denken von Verwaltung
und Politik. Natürlich kann ein Bürger-
meister nicht sagen, dass er sich nicht an
die gesetzlichen Auflagen hält.
Kürzlich sollte eine der Grundschulen saniert
werden. Ein Verantwortlicher des Landkreises
hat in diesem Zusammenhang Brandschutz-
maßnahmen gefordert, die Hunderttausende
Euro gekostet hätten. Da kommen einem –
zumal wenn es pragmatischere und günstigere
Lösungen gibt – schon Zweifel, ob es sinnvoll
ist, die geringen vorhandenen Mittel für
Dinge wie Feuertreppen einzusetzen. Momen-
tan werden an fast allen öffentlichen Gebäu-
den in Wernigerode solche Fluchttreppen aus
Stahl angebaut. So wie das Bild einer Stadt
in früheren Epochen durch die jeweils gerade
gängigen Baustile geprägt wurde, wird
das Wernigerode von heute als die Stadt der
Stahltreppen in die Geschichte eingehen.
Da würde man sich manchmal schon etwas
mehr Nachdenken über die behördlichen
Auflagen und Standards wünschen. Entspre-
chendes gilt für den Straßenausbau, die Breite
von Autobahnen, Traglasten von Brücken
und vieles andere mehr. Zahlreiche Vor-
schriften sind für kleine wie große Kommu-
nen einfach eine Zumutung.
Dr. Salomon
Damit sind wir beim Thema Deutschland
und seinen rechtlichen Standards. Brand-
schutz spielt in allen Kommunen die gleiche
Rolle. Wir hatten in Freiburg vor sechs
Jahren eine Finanzkrise. In dieser Situation
forderte das Hochbauamt sieben Millionen
Euro für Brandschutzmaßnahmen an Schulen.
Als ich daraufhin erklärte, dass ich das nicht
mittrage, kam die Leiterin des Rechtsamtes
und sagte mir, ich solle vorsichtig sein,
denn wenn man Kenntnis von Mängeln habe
aber nichts dagegen unternehme und dann
etwas passiere, wandere der Verantwortliche
direkt in den Knast. Auf eine solche Warnung
6 2
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
viele Dinge vielleicht einfach einmal anders
gemacht werden sollten als üblich. Wir nei-
gen dazu, in vorgegebenen Schemata zu
denken und uns entsprechend zu verhalten,
sind dann aber unzufrieden. Das gilt auch
für die Universität, wo über 50 Prozent der
Beschäftigten in der Verwaltung arbeiten.
Und die haben ja alle etwas zu tun. Wer
unter diesen Bedingungen dennoch etwas
bewegen will, muss sich einen Bereich
gleichsam im Windschatten suchen, wo er
die gegebene Situation anders nutzen kann.
Jeder sollte einfach einmal beiseite treten
und über Alternativen nachdenken. Manch-
mal kommen auf diese Weise gute Ent-
wicklungen in Gang wie etwa bei dem Dorf
Schierke, über das Herr Gaffert vorhin
berichtet hat.
Man muss sich im klaren darüber sein,
dass es sich hier um kulturelle Fragen
handelt. Jede Institution, jedes Unterneh-
men, jede Schule, jede Universität hat
ihre eigene Kultur, von der es abhängt, wie
jeder Einzelne denkt und was er tut. Diese
Kulturen kann man verändern. Die Schulen
in der Bundesrepublik zum Beispiel sind
heute großenteils in einem erbärmlichen
Zustand – vollkommen unterfinanziert,
baulich verwahrlost und voller sozialer Pro-
bleme. In ihnen herrscht eine Kultur, die
den Schülern von vornherein signalisiert:
Eigentlich wollen wir Euch gar nicht.
Gleiches gilt für die Universitäten. Dabei
ließe sich ganz leicht eine andere Kultur
schaffen. An amerikanischen Universitäten
beispielsweise wird den Studenten gesagt,
dass man froh sei, dass sie hier studieren.
Wer die Entwicklung einer Stadt in eine
andere Richtung lenken möchte, muss
zuerst begreifen, dass es sich auch hier
Aber der Gesetzgeber müsste die ganze
Flut von Vorgaben nach unsinnigen und über-
holten Vorschriften durchforsten, um die
Gesellschaft insgesamt zu entlasten. Damit
würden viele Gel der frei – beispielsweise für
eine sinnvolle energetische Sanierung von
Altbauten.
Dr. Spandau
Herr Prof. Welzer, was die beiden Ober-
bürgermeister gerade gesagt haben, hat viel
mit Verantwortung zu tun – nicht nur der
Politiker, sondern auch jedes einzelnen
Bürgers. Dr. Salomon sagte zum Beispiel, dass
es neben der energetischen Sanierung von
Gebäuden auch dringend einer höheren
Effizienz bei der Nutzung der Energieträger
bedarf. Da ist jeder in der Pflicht. Wie aber
können wir erreichen, dass die Bürger nicht
nur engagiert und kenntnisreich mitdisku-
tieren, sondern auch selbst verantwortlich
handeln. Ist das zuviel verlangt?
Prof. Welzer
Ich glaube nicht, dass das zuviel verlangt
ist. Verantwortung zu tragen, könnte sogar
Spaß machen. Sich einzubringen und
Verantwortung zu tragen, kann sehr befrie-
digend sein. Damit hängt zusammen, was
Psychologen als Selbstwirksamkeit bezeich-
nen. Vor allem durch die gesetzliche
Reglementierung sämtlicher Lebensbereiche
wird diese Erfahrung systematisch beschnit-
ten. Hat der für alles sorgende Staat doch
meist schon alles bedacht, bevor man selbst
zu denken anfängt? Wenn man dann aber
etwas anders tun möchte, fehlt meist die
Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Ich finde
unser heutiges Gespräch und die Themen,
die dabei zur Sprache kommen, auch des-
halb so wichtig, weil wir dadurch angeregt
werden, darüber nachzudenken, dass
6 3
‘‘
einfach mit der heutigen vergleichbar.
Damals hatte man entschieden, sich dieser
neuen technischen Mittel nicht zum Bösen,
sondern zum Guten zu bedienen.
Wenn man negative Folgen der friedlichen
Nutzung von Kernenergie in Zukunft vermei-
den will, ist die Intelligenz des Menschen
für die Entwicklung eines Planes B gefordert.
Beschränkt man sich auf Plan A, ist dies
gleichbedeutend mit Alternativlosigkeit.
Damit arbeitet die Politik ständig. Sei es in
der internationalen Finanzwirtschaft oder
in der Verkehrs- und Gesundheitspolitik:
Stets hört man, die Entscheidungen unserer
Regierung seien alternativlos. Ein solcher
Verzicht auf einen Plan B oder sogar C
bedeutet eine Beschneidung menschlicher
Phantasie und Intelligenz.
Wenn aber angesichts der weiteren
Zunahme der Weltbevölkerung Wachstum
weiterhin notwendig ist, müssen wir Wege
finden, nicht mehr ausreichend vorhandene
natürliche Ressourcen durch andere zu
ersetzen. Im Bereich der Energie gibt es
bereits Pläne zur Errichtung von Solarkraft-
anlagen in nordafrikanischen Wüsten-
gebieten.
um ein kulturelles Problem handelt. Es
geht nicht bloß um Pläne und Strukturen,
sondern auch um Kultur und damit um
ein Wir-Gefühl. In diesem Sinne hat Freiburg
eine ganz andere Kultur als z.B. eine Stadt
im Ruhrgebiet.
Dr. Spandau
Dass wir das auch so sehen, können Sie
daran erkennen, dass wir Sie eingeladen
haben, hier mitzudiskutieren.
Prof. Stolte
Ich möchte ein ganz anderes Thema auf-
greifen, das sich auf eine Äußerung von Prof.
Welzer bezieht. Sie haben sich mit Hinblick
auf Fukushima äußerst erstaunt darüber
gezeigt, dass Japan als die drittgrößte Indus-
trienation der Welt seine Wirtschaft wesent-
lich auf der Basis von Kernenergie hat
aufbauen können. Sie empfinden dies irgend-
wie als widersinnig. Welche Möglichkeiten
hätte Japan denn sonst gehabt? Japan hat –
nach der traumatischen Erfahrung des
Abwurfs der Atombomben über Hiroshima
und Nagasaki – angesichts des Mangels an
eigenen natürlichen Ressourcen einfach
die Chance ergriffen, Atomenergie friedlich
zu nutzen. Die damalige Situation ist nicht
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’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
zum Ausdruck bringen wollte: Ich denke,
dass sich an Japan und Fukushima exempla-
risch zeigen lässt, auf welcher Utopie das
Fortschrittsmodell der westlichen Welt
beruht. Diese Utopie besteht in dem Glau-
ben, der Mensch könne sich vollständig
von der Natur emanzipieren. Dieser Glaube
lag all unseren grandiosen technischen
Errungenschaften zugrunde.
Sie haben bisher im allgemeinen ja auch
großartig funktioniert und unser Leben in
vielerlei Hinsicht verbessert und sicherer
gemacht. Aber dieses Fortschrittsmodell –
und das ist der springende Punkt meiner
Argumentation – ist in einer kleinen,
begrenzten Welt entstanden, die aufgrund
bestimmter historischer Gegebenheiten
in der vorteilhaften Lage war, den Rest der
Welt für ihre Zwecke nutzen zu können.
Fukushima symbolisiert den Zusammen-
bruch dieses Modells. Es funktioniert einfach
nicht – unabhängig von Naturkatastrophen
wie Erdbeben.
Auf Ihre Frage, ob sich vielleicht nicht
doch noch andere Ressourcen finden oder
generieren ließen, kann ich nur sagen:
systematisch nicht, denn erstens wächst die
Weltbevölkerung weiter und zweitens
kopieren immer mehr Länder den Entwick-
lungsweg des Westens. Beides führt zu einer
exponentiell steigenden Übernutzung der
Ressourcen. Insofern bleibt uns nichts
anderes übrig, als – statt nach immer neuen
Energiequellen und Ressourcen zu suchen
– darüber nachzudenken, ob wir all dessen,
was wir gegenwärtig zu brauchen glauben,
wirklich in diesem Maße bedürfen. Vieles
benötigen wir tatsächlich nicht, und über-
dies schafft manches auch noch unglaubliche
Zwänge. Wir verschwenden schlicht viel
Hieraus wiederum ergibt sich das Problem,
wie der dort gewonnene Strom nach Europa
geleitet werden kann. Auch wird längst
darüber nachgedacht, die Ozeane als Ener-
giequellen zu nutzen.
Ich glaube, was in Japan passiert ist, darf
trotz aller Tragik nicht dazu führen, dass wir
ausschließen, dass sich der Mensch ganz
neue Energiequellen erschließen kann.
Wenn wir von vornherein davon ausgingen,
dass es auf der Welt keine anderen als die
bisher bekannten Ressourcen gibt, käme dies
einer Beschränkung auf Plan A gleich. Ich
hoffe, Sie können nachvollziehen, dass mir
bei diesem Gedanken nicht ganz wohl ist.
Aber möglicherweise habe ich Sie ja missver-
standen. Vielleicht können Sie daher noch
einmal auf diese Frage eingehen. Sollten Sie
jedoch bei Ihrer Auffassung bleiben – und
damit womöglich auch noch recht behalten –
befänden wir uns in einer gigantischen
Kalamität.
Prof. Welzer
Ich fürchte, ich habe recht, Herr Prof. Stolte:
Wir befinden uns tatsächlich in einer äußerst
misslichen Lage. Lassen Sie mich daher prä-
zisieren, was ich mit dem Beispiel Fukushima
6 5
‘‘
nördlich ein zweites Atomkraftwerk
derselben Generation gibt, das man aber auf
einen 20 Meter hohen Sandsockel gesetzt
hat, weil man seit Jahrhunderten über Tsuna-
mis und Erdbeben Bescheid weiß. Diesem
Kraftwerk ist angeblich nichts passiert.
Das beantwortet nicht die Frage nach der
Verantwortbarkeit dieser Technologie für die
Zukunft, aber es zeigt, dass zumindest der
Optimismus in Bezug auf die Beherrschung
dieser Technik zu groß ist und es daher zu
Katastrophen wie der jetzigen kommen
kann.
Noch ein Wort zu einem weiteren Thema,
das Prof. Stolte erwähnt hat: das Thema der
Ressourcen und ihrer Endlichkeit. Es gibt
weltweit Wissenschaftler, die sagen, dass wir
eigentlich kein Ressourcenproblem haben für
die Versorgung der prognostizierten Milliarden
Menschen auf der Erde. Was wir haben, ist
erstens ein Verteilungsproblem und zweitens
eine Wasserverschwendung ungeheuren
Ausmaßes. 40 Prozent der Wasservorräte auf
der Welt versickern irgendwo, weil die Leitun-
gen kaputt sind und das Wasser deshalb gar
nicht dort ankommt, wo es gebraucht wird.
zuviel Energie und Material für absolut
sinnlose Dinge, die uns überdies meist nur
belasten.
Prof. Stolte
Das mag vielleicht für Europa gelten. Für
die Entwicklungs- und Schwellenländer kann
ich mir das nicht vorstellen. Wir werden
schon genug Probleme damit haben, den
Weg, den wir in Deutschland zu beschreiten
versuchen, auch auf europäischer Ebene poli-
tisch durchzusetzen. Es ist erkennbar, dass
es die Länder in Asien, Afrika und Südamerika
nicht schaffen werden. Wir werden an den
gleichen Fragen scheitern, an denen wir
schon in Kyoto oder Kopenhagen gescheitert
sind, denn diese Länder werden sagen: Jetzt,
da wir auf dem Weg sind, ebenfalls zu einem
Wohlstand zu kommen, wie Ihr ihn schon
seit Jahrzehnten genießt, wollt Ihr uns vor-
schreiben, die CO2-Emissionen zu begrenzen?
Wenn Ihr uns dafür bezahlt, ist das in Ord-
nung, wenn nicht, dann ist mit uns darüber
nicht zu reden.
Das ist das Problem, vor dem wir stehen,
und deshalb müssen wir über einen Plan B
nachdenken. Diesen haben Sie für Deutsch-
land beschrieben, aber ich kann mir nicht
vorstellen, wie er das Problem für die ganze
Welt lösen könnte.
Prof. Speer
Eigentlich möchte ich die Diskussion über
Atomenergie nicht fortführen, sonst kommen
wir heute nicht weiter. Zu den Ereignissen
in Japan möchte ich nur eines ergänzend
anmerken: Es gibt auch internationale Stim-
men, die sagen, dass die Japaner mit dieser
Technologie vor allem am Standort Fukushima
relativ fahrlässig umgegangen sind. Ich habe
gelesen, dass es 100 Kilometer weiter
6 6
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
Dr. Spandau
Einen Bereich würde ich gerne noch einmal
ansprechen: Großereignisse wie Olympische
Spiele und Fußballweltmeisterschaften,
die mittlerweile gerne als Mega-Events abge-
tan werden. Herr Prof. Speer, Sie haben
heute über die Allianz Arena und die Chancen
gesprochen, die solche Großereignisse eröff-
nen. Planung, Standortwahl, Bürgerbegehren,
Bau, Eröffnung – in nur fünf Jahren. Ist Stadt-
entwicklung in Deutschland heute wirklich
nur noch in Zusammenhang mit solchen
Großereignissen möglich?
Prof. Speer
Das ist ein interessantes Thema, mit
dem ich mich sehr gerne beschäftige. Schon
als die Mauer noch stand, hatten wir mit
ersten Voruntersuchungen hinsichtlich einer
möglichen Bewerbung von Frankfurt um
Olympische Spiele begonnen. Ich bin ein
großer Freund politischer Diskussionen über
solche Großereignisse, weil ich das Gefühl
habe, dass allein schon die Bewerbung darum
in den Köpfen etwas bewirkt. Frankfurt
hat zwei Häfen und liegt an einem schönen
Fluss. Der Main war im Bewusstsein der
Frankfurter so gut wie nicht mehr vorhanden.
Entsprechendes gilt für die Energie, weil
der Ressourcenverbrauch auf der ganzen Welt
subventioniert wird, wenn auch in unter-
schiedlichem Maße.
Warum wurde in China beispielsweise noch
keine Ökostadt gebaut, obwohl es wunder-
schöne Pläne dafür gibt? Die Antwort lautet:
Weil die Energiekosten so niedrig sind. Es
geht nicht nur um die Frage der Erfindung
von neuen Technologien, sondern es geht
ganz wesentlich um die Frage der effizienten
Nutzung der Ressourcen und des Sparens.
Dabei geht es um eine Größenordnung von
gut 40 Prozent. Dass wir beides nicht aus-
reichend tun, ist weniger eine Frage der
Technologien als unseres Handelns, und das
wird ganz wesentlich von den Kosten und
damit vom Geld bestimmt.
Dr. Spandau
Also brauchen wir doch mehr Mut, damit
das Neue in die Welt kommt und wir bereit
sind, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Dr. Reimann-Dubbers
Vor wenigen Jahren hat Dr. Harry Lehmann,
heute Fachbereichsleiter beim Umweltbundes-
amt, eine Studie vorgelegt, der zufolge Japan
zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien
versorgt werden kann. Wir haben gewaltige
Möglichkeiten bei der Nutzung erneuerbarer
Energien. Es ist uns überhaupt nicht
bewusst, welche Chancen für die Schaffung
von Arbeitsplätzen allein bei der energe-
tischen Sanierung von Altbauten zur Ein-
sparung von Energie bestehen. Gegenwärtig
kratzen wir da bestenfalls an der Oberfläche
eines gewaltigen Potentials, das wir konse-
quent nutzen können und müssen.
6 7
‘‘
für Olympische Winterspiele täte auch
Bayern etwas für seine eigene Weiterent-
wicklung.
Dr. Spandau
Vielleicht bekommen wir durch die
Olympischen Winterspiele in München
sogar die Wiedervereinigung des Eng-
lischen Gartens hin.
Jochen Sandner
Herr Prof. Speer, das war eine Steil-
vorlage, besten Dank. Wir haben seit 1951
mit den Bundesgartenschauen alle zwei
Jahre dort ein Instrument für die Stadtent-
wicklung, wo tatsächlich die Bündelung
von privaten und öffentlichen Investitionen
im Rahmen eines Maßnahmenkatalogs auf
einen bestimmten Termin hin erfolgt.
Herr Gaffert, Sie wissen aus der Erfahrung
mit der Landesgartenschau, der kleineren
Schwester der Bundesgartenschau, wie
groß der Erfolg sein kann, denn mit diesem
Instrument können mit überschaubaren
Risiken Prozesse der Stadtentwicklung in
Gang gesetzt werden. In Köln prüfen wir
gerade, ob wir auf der Basis Ihres Master-
planes, Herr Prof. Speer, im Rahmen einer
Bundesgartenschau 2023 oder 2025
die Lücke im Grüngürtel würden schließen
können. Bis 2019 stehen die Städte für
Gartenschauen bereits fest, momentan wird
über 2021 verhandelt. Die Städte nutzen
dieses Instrument und wenn sie dabei
vernünftig vorgehen, kommen sie mit dem
Budget gut zurecht und rücken darüber
hinaus dank der Medienwirksamkeit des
Ereignisses nicht nur ins öffentliche Bewusst-
sein, sondern steigern auch noch ihr
eigenes Selbstbewusstsein.
Nur mit dem Gedanken „Frankfurt könnte
vielleicht mal …“ haben wir es geschafft, eine
Diskussion über die Häfen anzuzetteln,
und das nicht nur in der Stadt selbst, son-
dern im ganzen Umfeld.
Es stellte sich heraus, dass jede mittelgroße
Stadt der Region längst damit begonnen hatte,
einen Containerhafen zu bauen, den niemand
benötigte. Mittlerweile ist der Frankfurter
Westhafen ein wunderschön gemischt bebau-
ter Bereich mit allem, was dazugehört.
Inzwischen bin ich der Meinung, dass demo-
kratische Länder solche Großereignisse als
Vehikel brauchen, weil damit ein Enddatum
feststeht, an dem ein Projekt fertig sein
muss.
Andernfalls neigen unsere Städte dazu,
alles in die Zukunft zu verschieben. So macht
sich Mannheim seit zwei Jahren Gedanken
über eine Bewerbung um den Titel „Euro-
päische Kulturhauptstadt“ – obwohl man noch
gar nicht weiß, wann man sich bewerben
würde. Ob jemals etwas daraus wird, ist im
Prinzip egal, aber wenigstens eine Diskussion
darüber ist in Gang gesetzt worden.
Ganz im Hintergrund waren wir auch an
der Bewerbung Münchens um die Olym-
pischen Winterspiele beteiligt. Am Sonntag
wird es dazu in Garmisch einen Bürger-
entscheid geben. Und gestern stand in der
Zeitung, dass es in München ohne die Olym-
pischen Spiele wohl keine zweite U-Bahn-
Stammstrecke geben werde, die seit 20
Jahren in Planung ist. Bewerbungen für
Großereignisse wirken sich also nicht
nur positiv aus auf die Diskussion über die
Entwicklung einer Stadt, sondern auch auf
die eines Landes aus, denn als Gastgeber
6 8
’’D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
Doch zurück zu Ihrer Frage: Ich glaube
trotzdem, dass es auch ohne Großereignisse
funktioniert. Im vorigen Jahr haben wir
uns beim Wettbewerb der Deutschen Umwelt-
hilfe um die Auszeichnung „Bundeshaupt-
stadt des Klimaschutzes“ beworben und sind
als Sieger daraus hervorgegangen. Bei diesem
Wettbewerb gab es sechs Kategorien mit
jeweils sechs bis sieben Unterpunkten. Es
waren also etwa 50 Fragen zu beantworten.
Das Ergebnis für Freiburg war interessant,
denn wir waren in keiner einzigen Kategorie
die besten. Es gab also Städte, die in allen
klimaschutzrelevanten Bereichen besser
abgeschnitten haben.
Wir waren aber auch in keinem Bereich
schlechter als auf Platz sechs. Das bedeutet,
dass wir zwar einerseits sehr breit aufge-
stellt sind, andererseits aber noch viel von
anderen lernen können. Das Besondere ist,
dass wir alles machen, aber nichts auf
Weltniveau. Im Rahmen integrierter Stadt-
planung geht es also nicht unbedingt um
Leuchtturmprojekte, sondern um den
Gesamtansatz, das heißt um einen Wettbe-
werb um die besseren Ideen bei der Beant-
wortung der Fragen, wie sich möglichst
viele Häuser in möglichst kurzer Zeit klima-
gerecht sanieren lassen, welche Kosten
dabei entstehen, wie die Refinanzierung
aussieht und wieviel Energie dadurch
eingespart werden kann.
Wenn wir von heute auf morgen auf
erneuerbare Energien umschalten, kostet
das eine Menge Geld, aber wir zahlen
dann auch keine Ölrechnungen mehr.
Außerdem bedeutet es Investitionen
in das Handwerk, in lokale und regionale
Dr. Spandau
Herr Dr. Salomon, wie sähe Ihre Stadt
aus, wenn Sie eine solche Großveranstaltung
durchführen würden? Könnten Sie damit
Prozesse anschieben, die momentan so lange
diskutiert werden, bis es keiner mehr hören
kann?
Dr. Salomon
Wir hatten vor 25 Jahren in Freiburg eine
Landesgartenschau. Damals galt es, den Wes-
ten der Stadt zu entwickeln, und wir profi-
tieren noch heute davon. Seither besitzt
ein Wohnviertel ein richtiges Naherholungs-
gebiet – eine deutliche Aufwertung.
Es gibt in Freiburg inzwischen auch Über-
legungen, ob wir uns nicht für 2020 um den
Titel „Europäische Kulturhauptstadt“
bewerben sollten. Dabei wissen wir noch
nicht einmal, ob Deutschland 2020 überhaupt
zum Zuge kommt. Aber der Weg ist das
Ziel, selbst wenn wir es nicht erreichen
sollten. Allein die Bewerbung muss für jede
Kommune Vorteile mit sich bringen.
6 9
‘‘
Prof. Speer
Ich möchte das kurz ergänzen. Wir arbei-
ten seit vielen Jahren mit Siemens zusam-
men, einem Weltkonzern, der in der
Vergangenheit absolut sektoral und mono-
funktional aufgestellt war und dessen
unterschiedliche Bereiche U-Bahnen oder
Küchen, Medizingeräte oder Handys gebaut
haben. Zwischen diesen Sektoren gab es
kaum Vernetzungen. Nun haben wir heute
davon gesprochen, wie notwendig es ist,
Vernetzungen und Kreisläufe herzustellen
und gemeinsam Entwicklungen voranzu-
treiben. Siemens geht genau in diese Nische,
indem der Konzern alles bündelt, was mit
Städten zu tun hat.
Dr. Spandau
Meine Damen und Herren, wir müssen
pünktlich fertig werden. Ich habe es ver-
sprochen. Als Resümee unserer spannenden
Diskussion ziehe ich den Schluss, dass
sich die Stadt der Zukunft gar nicht so sehr
von unseren heutigen Städten unterscheiden
dürfte.
Jedenfalls wird an der Stadt der Zukunft
schon heute gebaut. Konzepte für energe-
tische Altbausanierung oder energieoptimier-
tes Bauen sind dafür ebenso notwendig wie
die Änderung gewohnter Verhaltensweisen.
Nur so kann sie sich bis zur Mitte des
21. Jahrhunderts zu einer Hightech-Öko-
Stadt mit verdichteten, fast dörflichen
Wohnstrukturen bei großer architektonischer
und sozialer Vielfalt entwickeln. Allein
Städte, die sich ökonomisch wie ökologisch
auf die Anforderungen von morgen einstel-
len, haben Zukunft.
Arbeitsplätze und die Wirtschaft im
allgemeinen. Prof. Welzer hat recht: Man
muss Erfolgsgeschichten erzählen und
dabei die positiven Aspekte deutlich heraus-
stellen, damit die Menschen Anreize bekom-
men, selbst Teil dieser Geschichte zu
werden.
Sebastian Knauer
Das Thema unserer Tagung ist die Stadt
von morgen. Der Siemens-Konzern hat daraus
ein eigenes Geschäftsfeld gemacht. Ist das
Programm „Green City“ daher nicht vielleicht
doch eher ein „green washing“? Ist die Ent-
wicklung der Städte wirklich ein ernstzuneh-
mender Ansatz, die Welt umzubauen?
Prof. Welzer
Ich kann nicht beurteilen, welche Absichten
Siemens damit wirklich verfolgt. Grundsätz-
lich halte ich es aber für einen ernstzuneh-
menden Ansatz. Die Perspektive des Umbaus
unserer Städte ist mit Sicherheit für viele
Firmen lukrativ. Das sieht man an zahlrei-
chen Unternehmen, die bereits vor 20 Jahren
über Nachhaltigkeit nachgedacht haben und
heute sehr gut dastehen. Sie haben beispiels-
weise in Bezug auf Technologien und der
Veränderung der Wertschöpfungsketten heute
sehr viel mehr Erfahrung als viele andere,
die das nicht getan haben und die es daher
zum Teil nicht einmal mehr gibt.
Ein weiterer Vorteil ist, dass es für die
Mitarbeiter dieser Betriebe interessant ist,
in ihnen zu arbeiten. Mittelfristig beweist
der Markterfolg, dass es sehr intelligent
ist, neu zu denken. Das kann man auch als
Wettbewerbsvorteil bezeichnen.
7 0
‘‘’’
D I S K U S S I o N D E S T A G U N G S T H E M A S
für uns alle darstellt und die Lösung der
Probleme, vor der unsere Städte stehen,
einer intensiven, eng vernetzten Kommuni-
kation zwischen allen Beteiligten und
Betroffenen bedarf.
In diesem Sinne danke ich allen Referen-
ten für ihre so lehr- wie kenntnisreichen
Beiträge. Sie haben uns viele Anregungen
gegeben und wir werden vieles davon
mitnehmen und in praktisches Handeln
umsetzen.
Ich danke Ihnen allen für Ihre Teilnahme.
Wir waren gerne Ihre Gastgeber und würden
uns freuen, wenn Sie sich wohlgefühlt
haben. Gerne begrüßen wir Sie am 3. und 4.
Mai 2012 zu den dann 16. Benediktbeurer
Gesprächen der Allianz Umweltstiftung
wieder hier im Zentrum für Umwelt und
Kultur.
Die Stadt der Zukunft ist kompakt. In
ihr werden die vielfältigen Formen und
Funktionen des urbanen Lebens zusammen-
geführt: Sie ist gekennzeichnet durch
kurze Wege von der Wohnung zum Arbeits-
platz wie in die Stadtteilzentren.
Nur dann wird die Stadt der Zukunft mit
den Herausforderungen durch die demogra-
phische Entwicklung, den Trend zur Indi-
vidualisierung und den damit verbundenen
Wandel der traditionellen Familienstruktur
fertigwerden können, wenn sie von allen
Menschen gemacht wird und nicht nur von
Ingenieuren, Technikern, Politikern und
Zukunftsforschern.
Die Stadt der Zukunft wird global ver-
netzt sein und aktiv an der Lösung globaler
Probleme mitwirken.
Meine Damen und Herren, wir sind am
Ende unserer Diskussion, aber damit ist die
Diskussion über die Stadt der Zukunft
natürlich noch längst nicht beendet. Ich
denke, das hat auch keiner von Ihnen erwar-
tet. Was wir jedoch von unseren heutigen
Gesprächen mitnehmen können, ist, dass
die Thematik eine riesige Herausforderung
‘‘
I M P R E S S U M
Be n e Di ktBe U r e r G e S p r äch e De r All iAnz U mwe ltSti f tU nGBand 15
herausgeber
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Maria-Theresia-Straße 4a
81675 München
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Oberbürgermeister
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Marktplatz 1
38855 Wernigerode
mODe r AtiOn
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Vorstand
Allianz Umweltstiftung
Maria-Theresia-Straße 4a
81675 München
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Benediktbeurer Gesprächeder Allianz Umweltstiftung 2011
„Die Stadt von morgen wird durch den gebaut, der sie neu zu denken wagt.“
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