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Drägerheft Technik für das Leben 2016
Delir nach OperationOhne Behandlung drohendauerhafte Komplikationen S. 14
Krankheiten erschnüffelnHunde haben dafüreine besonders feine Nase S. 20
Rettung unter TageEin neuartiges Fahrzeug setzt Maßstäbe S. 40
D
rägerheft 400
2. Ausgabe 2016
Assistenzsystem
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Intelligente
TechnologieUnterstützt sie uns noch oder beherrscht sie uns schon?
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2 DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
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6 AUTONOME
SYSTEME
Die Technik wirdTeil des Alltags
und handelt für denMenschen. Das birgtviele Chancen, aberauch einige Risiken.
24 BLUTTRANSFUSIONEN
Blutkonserven sind bei der Versorgung von Patienten oft lebensnotwendig. Aber Blut ist begrenzt und zudem eine teure Handelsware. Es gibt Konzepte, Patientensicherheit und Wirtschaft-lichkeit zusammenzubringen. Das könnte allen im Gesundheits-wesen nutzen.
36 TADSCHIKISTAN
Wie ist der Berufsalltag in einem Krankenhaus in Zentralasien? Eigentlich wie überall auf der Welt, „wenn man das Glück in den Augen der Patienten und ihrer Angehörigen sieht“. Gesundheit wiederherzustellen verlangt hier dennoch besondere Motivation.
Unter 1.000 Grammwogen die Extrem-Frühchen einer fast 40 Jahre währenden
kanadischen Langzeitstudie bei ihrer Geburt – mehr ab Seite 30.
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3DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
4Menschen, die bewegenSven Kresalek und Jonas Gimbel waren
beim SkyRun erfolgreich, Aziza Aminova
hilft Frauen in Tadschikistan.
6Wer hat das Kommando?Autonome Systeme machen
Schlagzeilen. Eine Bestands-
aufnahme.
14Neben der SpurEin Delir bringt Körper und
Geist durcheinander. Was früher
als Durchgangssyndrom galt,
wird heute ernst genommen.
20Feine NaseHunde können Krebs riechen. Im Prinzip.
Dafür müssen sie bei der Ausbildung
eng mit Menschen zusammenarbeiten.
24Weniger ist mehrFür einen überlegteren Umgang
mit Blutkonserven plädieren diese
Mediziner aus Frankfurt am Main.
30Schwieriger Start ins LebenEine kanadische Langzeitstudie zeigt,
dass die meisten der zwischen 1977
und 1982 im McMaster Hospital
geborenen Extrem-Frühchen heute
selbstständig leben und arbeiten.
36Auf Rosen gebettetDas Khatlon Inter-District Multipurpose
Hospital in Tadschikistan behandelt vor
allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
40Boxenstopp im UntergrundEin neuartiges Fahrzeug setzt Maßstäbe
bei der Rettung unter Tage.
46Wenn Eigentum bremstDie Dinge des Alltags sind immer
dann am nützlichsten, wenn sie genau
dort sind, wo man sie braucht. Über
den Trend zu mieten, statt zu kaufen.
50Gute AussichtenGasmotoren gehört die Zukunft
in der internationalen Schiff-
fahrt. Eine Branche denkt um.
56 Brandschutz in MetropolenDie Berliner Feuerwehr ist die
größte und älteste Berufsfeuerwehr
Deutschlands. Eine Stippvisite.
60Trügt der Schein?Die Welt scheint immer schlechter zu
werden, doch viele Zahlen sprechen
eine andere Sprache. Ein Zwischenruf.
63Auf einen BlickProdukte von Dräger, die im Zusammen-
hang mit dieser Ausgabe stehen.
64Alcotest 3820Schnell und zuverlässig:
der Atemalkoholtest für jedermann!
Die Beiträge im Drägerheft infor-
mieren über Produkte und deren
Anwendungsmöglichkeiten im Allge-
meinen. Sie haben nicht die Bedeu-
tung, bestimmte Eigenschaften der
Produkte oder deren Eignung für
einen konkreten Einsatzzweck zuzu-
sichern. Alle Fachkräfte werden auf-
gefordert, ausschließlich ihre durch
Aus- und Fortbildung erworbenen
Kenntnisse und praktischen Erfah rungen an zuwenden. Die
Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich
genannten Personen sowie der Autoren, die in den Texten
zum Ausdruck kommen, entsprechen nicht notwendiger-
weise der Auffassung der Dräger werk AG & Co. KGaA. Es
handelt sich ausschließlich um die Meinung der jeweili-
gen Personen. Nicht alle Produkte, die in diesem Magazin
genannt wer den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs -
pakete können sich von Land zu Land unter schei den. Än-
derungen der Produkte bleiben vorbehalten. Die ak tuellen
Informatio nen erhalten Sie bei Ihrer zuständigen Dräger-
Vertretung. © Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2016. Alle Rechte
vorbehalten. Diese Veröffent lichung darf weder ganz noch
teilweise ohne vorherige Zustimmung der Drägerwerk AG
& Co. KGaA wiedergegeben werden, in einem Datensystem
gespeichert, in irgendeiner Form oder auf irgendeine Wei-
se, weder elektronisch noch mechanisch, durch Fotokopie,
Aufnahme oder andere Art übertragen werden.
Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist Hersteller
folgender Produkte: Röhrchen (S. 21 f.), PSS BG4 plus
(S. 42), X-am 7000 (S. 44), Polytron 8000 (S. 45), X-am
5000+5600 (beide S. 49), PIR 7000 (S. 53), Polytron-
Familie (S. 54), Alcotest 3820 (S. 64). Die Hermann
Paus Maschinenfabrik GmbH, Emsbüren, sowie Dräger
Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, sind Hersteller des MRV
9000 (S. 40 ff.). Die Dräger werk AG & Co. KGaA, Lübeck,
ist Hersteller von: SmartPilot View (S. 8 ff.), SmartCa-
re (S. 10), Linea (S. 16), Caleo (S. 34), Babyleo TN500
(S. 34 f.), Babylog VN500 (S. 35).
Nachfolgende Produkte sind nicht mehr lieferbar:
Inkubator 8000 (S. 34), Babylog 8000 (S. 34 f.), Kreislauf-
Atemschutzgerät BG 174 (S. 43).
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IMPRESSUM
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ERFAHRUNGEN AUS ALLER WELT
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Menschen,die
bewegen
Sven Kresalek und Jonas Gimbel, Studenten der Ingenieurwissenschaften
„Was zählt, ist das Team! Das stand für uns von Anfang an fest, als wir uns dazu entschieden hatten, beim diesjährigen SkyRun im Frankfurter Messeturm in der Kategorie Fire-Fighters Cup (FFC) mitzumachen. Wir drei – zu uns gehört auch Ferdinand Kirchner – kennen uns aus der Freiwilligen Feuerwehr Rüssels-heim-Bauschheim. Das Format des FFC war uns bereits bekannt, Sven ist 2013
schon einmal mitgelaufen. Uns hat diese Herausforderung begeistert: 61 Stock-werke, 222 Höhenmeter, 1.202 Treppen-stufen – das alles unter Atemschutz und gegen die Stoppuhr. Ohne Vorbereitung geht das natürlich nicht, aber auch nicht ohne Unterstützung – etwa durch unsere Amtsleitung und Wehrführung. Selbst die lokale Wohnungsbaugesellschaft hat uns geholfen, unter realistischen Bedingungen im Treppenhaus einesHochhauses zu trainieren. Beim Wettbewerb am 12. Juni waren wir ziemlich gespannt, wie es für uns
laufen würde. Der größte Stressfaktor würde wohl nicht die Kondition sein, sondern die Hitze. Dafür hatten wir schon im Training ein gutes Gespür bekommen. Und tatsächlich: Der Wärmestau beim Treppenlauf war enorm. Trotzdem sind wir nach ca. 16:30 Minuten ins Ziel gekom-men – und zwar gemeinsam, so wie wir es uns vorgenommen hatten. Damit er-reichten wir Platz 18 von rund 100 Mann-schaften. Das war ein gutes Ergebnis. Wir werden auch im kommenden Jahr wieder an den Start gehen, mit dem Training haben wir bereits begonnen.“
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Aziza Aminova, leitende Gynäkologin am Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital in Dangara/Tadschikistan
„Ich komme aus einer Ärztedynastie: Meine Eltern, selbst die Verwandten, alle sind Ärzte. So bin ich dem Wunsch meines Vaters gefolgt und wurde Gynäkologin. Mein Berufswunsch war Journa listin. Aber nun bin ich seit zehn Jahren Ärztin. Der Beruf bringt mir auch deshalb Zufriedenheit, weil ich Frauen helfen kann. In der Gynäkologie arbei ten fünf Ärztinnen und sechs Kran-kenschwestern. Es macht mich traurig, wenn ganz junge Frauen keine Kinder bekommen können. Das schleppen viele ihr ganzes Leben mit sich herum. Gerade habe ich eine Patientin, die zwölf Jahre lang versucht hat, schwanger zu werden – wegen eines Virus hatte sie wieder eine Fehlgeburt. So etwas nimmt mich sehr mit. Ich treibe hier die Familien beratung voran, verschreibe auch die Pille. Eine kinderreiche Familiesteht für Reichtum – das ist die Men-talität der Muslime. Und es sind oft die Männer, die so viele Kinder wollen. Die Frauen haben in unserer Kultur keine starke Stimme, die Männer und Schwiegermütter bestimmen meist ihr Leben. Das alles ändert sich, allerdings sehr langsam. Meine beiden Kinder sollen ihren Beruf einmal selbst wählen.“
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Wer hatDraeger-400_DE_006 6 07.11.16 16:46
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Autonome Systeme machen Schlagzeilen: Dienen sie uns noch oder beherrschen sie uns schon? Lernende Software öffnet neue Räume, mit vielen Chancen und einigen Risiken – gerade Letztere haben es in sich.
Text: Tobias Hürter
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ASSISTENZSYSTEME FOKUS
das Kommando?
Als der Internetriese Google eines sei-
ner selbstfahrenden Autos auf die Stra-
ße ließ, blieb es plötzlich an einer Kreu-
zung stehen, um sich anschließend keinen
Zentimeter mehr fortzubewegen. Was war
geschehen? Eine Rollstuhlfahrerin hatte
mitten auf der Straße versucht, einer Ente
hinterherzujagen. Diese Situation war in
dem System des Autos nicht vorgesehen.
Darüber haben viele geschmunzelt. Das
Google Car, dieses Wunder der Technik,
kapitulierte vor einer Situation, die jeder
Mensch mit Leichtigkeit bewältigt hätte.
Der Fall wirft einen Schatten auf einen
Trend, der als einer der wichtigsten die-
ser Jahre gilt: Technik, die autonom wird.
Die Geschichte des „Google self-driving
car“ zeigt auch, dass Irritationen und Feh-
ler beinahe vorprogrammiert sind. Zwar
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FOKUS ASSISTENZSYSTEME
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ter Form ein. Das System übernahm den
eigentlichen Bremsvorgang, unabhängig
vom Pedaldruck des Fahrers. Die Tech-
nik begann, eigenständig Entscheidun-
gen zum Wohle des Menschen zu treffen.
Damit kommt etwas Neues ins Spiel,
denn Entscheidungen können richtig
oder falsch sein. Aber wer ist verantwort-
lich für die Entscheidung einer Maschine?
Wenn ein ABS eine Fehlbremsung hinlegt,
kann es mangels Bewusstseins nicht selbst
schuld sein, sondern nur der Fahrer oder
Hersteller. Wie verhält es sich dagegen
bei einem selbstfahrenden Auto, wenn es
um Menschenleben geht? Die Einführung
von Fly-by-wire in Flugzeugen löste eine
heiße Debatte aus, da die Steuer impulse
der Piloten nicht mehr mechanisch auf
die Ruder übertragen, sondern elektro-
nisch umgesetzt wurden. Eine wesentli-
che Komponente im Konzept „Industrie
4.0“ der deutschen Bundesregierung liegt
in der Fähigkeit technischer Systeme, Ent-
scheidungen eigenständig zu treffen und
Aufgaben autonom zu erledigen. Auch
der Börsenhandel wird zunehmend von
eigenständig agierenden Systemen über-
nommen, die im Hochfrequenzhandel
blitzschnell gewaltige Beträge rund um
den Globus verschieben. Dabei ist nicht
immer nachvollziehbar, was da genau pas-
siert. So kam es am 6. Mai 2010 zu einem
„Flash Crash“, bei dem US-amerikanische
Börsenkurse binnen Minuten einbrachen
und sich ebenso schnell wieder erholten –
wie von Geisterhand.
Entlastung von RoutineaufgabenKomplexe Technologie kann Menschen
von Routineaufgaben befreien. Das ist
eine Richtung, der auch Dräger folgt.
Das Unternehmen bietet verschiedene
Systeme an, die mit unterschiedlichen
Autonomiegraden arbeiten. „SmartPilot
View ist vergleichbar mit dem Navigations-
system eines Autos“, sagt Jürgen Manigel,
Entwickler bei Dräger. Das Anästhesie-
system registriert und verrechnet laufend,
welche Medikamente gegeben werden,
veranschaulicht die Situation auf einer
Art Landkarte.
Ein Anästhesist darf die Medikation
niemals allein nach dem SmartPilot View
ausrichten – so wie ein Autofahrer niemals
blind seinem Navigationssystem vertrauen
sollte. „Sobald eine Baustelle auftaucht,
die im Navigationssystem nicht einge-
tragen ist, oder eine Brücke abgerissen
Einparken sorgt spätestens bei der Führerscheinprüfung für den ersten Schweiß-ausbruch des Fahrers. Und selbst wenn man es dann kann: Bei immer größeren Autos und immer weniger Parkfläche ist man für ein solches Assistenzsystem dankbar – nicht nur in der Oberklasse
ist die Technik von Menschen ersonnen,
doch mit steigender Komplexität entwi-
ckelt sie schnell ein Eigenleben.
Wie von GeisterhandNoch vor einigen Jahren taten Maschi-
nen exakt das, was sie sollten. Ereigneten
sich Unfälle, lagen die Ursachen meist auf
der Hand und in einer falschen Konstruk-
tion oder Bedienung begründet. Mittler-
weile nehmen Maschinen unsere Anwei-
sungen nicht mehr gänzlich unreflektiert
hin. Ein frühes Beispiel ist das Antiblo-
ckiersystem (ABS). Wer einst mit voller
Kraft aufs Bremspedal seines Autos trat,
blockierte unweigerlich die Räder. Die
Bremswirkung verringerte sich, und das
Fahrzeug geriet aus der Spur. Hier schal-
tete sich Anfang der 1970er-Jahre erstmals
das ABS ein. Es vermittelte zwischen dem
Willen des Fahrers („Sofort anhalten!“)
und den Möglichkeiten der Technik. Die
gewünschte Wirkung trat in optimier-
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Noch funktioniert autonomes Fahren nur in über-schaubaren Umgebungen
Zwischen heute und morgen wird derzeit die größte Revolution des Straßenverkehrs vorbereitet: seine Digitalisierung. Sie ist der Hintergrund für autonomes Fahren und eine intelligente sowie sparsame – da vernetzte – Verkehrssteuerung. Das Potenzial dieser Technologie ist enorm
wurde, kann man damit im Graben lan-
den“, sagt Manigel. SmartPilot View besitzt
deshalb bewusst ein eher geringes Maß an
Autonomie. Es erarbeitet zwar selbststän-
dig Medikationsvorschläge und gibt sorg-
fältig kalkulierte Empfehlungen, doch der
Anästhesist entscheidet und handelt wei-
terhin. Ein solches System steht auf der
untersten Stufe der Autonomieskala. Die
nächste Stufe bieten Assistenzsysteme, die
eigenständig handeln. Auch diese teilauto-
nomen Systeme gibt es von Dräger. „Anäs-
thesiearbeitsplätze, die automatisch die
Narkosemittelkonzentration steuern“,
sagt Manigel. Der Arzt gibt nur noch eine
Zielkonzen tration vor. Diese noch immer
relativ niedrige Stufe der Autonomie
nennt sich „Skill Level“ – nur einfache
Fertigkeiten wurden automatisiert. Der
Mediziner muss weiterhin zu jedem Zeit-
punkt in der Lage sein, eingreifen zu kön-
nen. Bevor Manigel zu Dräger kam, arbei-
tete er als Entwickler bei einem großen
deutschen Autohersteller und beschäftigte
sich mit autonomer Fahrzeugführung.
Damals stand diese Technologie noch am
Anfang. „Selbstfahrende Autos und auto-
nome Medizintechnik, da gibt es einige
Parallelen“, sagt Manigel. Teilautomati-
sierte Systeme, die phasenweise die Kon-
trolle über das Fahrzeug übernehmen,
gibt es mitunter schon serienmäßig –
etwa als Stauassistent, Einparkhilfe oder
teilautonomes Fahren auf der Autobahn,
inklusive Spurwechsel. In Deutschland
wird derzeit die A9, zwischen München
und Nürnberg, zu einer Teststrecke aus-
gebaut, mit Radarsensoren und Schnitt-
stellen für Datenkommunikation.
Vom Labor ins richtige LebenDamit drängt autonome Technik mehr
und mehr in den Alltag. Allerdings funktio-
niert sie bislang nur in geschlos senen und
überschaubaren Umgebungen wirklich
zuverlässig. Sobald es etwa von der Auto-
bahn in den Stadtverkehr geht, wird es
schwierig. Überquert der Mann am Zeb-
rastreifen gleich die Straße, oder wartet
er auf jemanden? Menschen klären das
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FOKUS ASSISTENZSYSTEME
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untereinander. Ein selbstfahrendes Auto
hält am Zebrastreifen und fährt dann
nicht mehr weiter. Der Vorfall mit dem
Google self-driving car zeigt auch, dass die
Technik noch nicht ausgereift ist. Weni-
ger kurios wird es, sobald es Verletzte oder
gar Tote gibt – wie die Serie von Unfäl-
len mit Fahrzeugen, die mit Auto pilot
fuhren. Allerdings ist dieses System aus-
drücklich nicht für den unbeaufsichtigten
Gelehrige Maschinen Eine Maschine, die autonom agiert, muss nicht unbedingt lernfähig sein, aber oft gehen Autonomie und Lernfähigkeit Hand in Hand. Hoch im Kurs stehen derzeit Deep-Learning-Systeme, die ihre Verhaltensregeln und Erfahrungsdaten in abstrakte Darstellungen übersetzen – und sich gewissermaßen selbst umprogrammieren, um immer bessere Ergebnisse zu erzielen. Ein spektakuläres Beispiel ist das Programm AlphaGo, das sich selbst das asiatische Brettspiel Go beigebracht hat und dabei so gut geworden ist, dass es einen koreanischen Profispieler in einem Match schlagen konnte. Allerdings warnen manche Experten auch vor den Risiken der Kombination Lernfähigkeit und Autonomie. Bei einem lernfähigen System kann es passieren, dass irgendwann niemand mehr weiß, nach welchen Regeln es funktioniert und wie es sich in kritischen Situationen verhält.
System, das Intensiv patienten, die über
mehrere Tage maschinell beatmet wur-
den, allmählich davon entwöhnt und wie-
der eigenständig atmen lässt. Oder Smart
Ventilation Control, das den Patienten
während des chirurgischen Eingriffs mit
einer optimierten Beatmung versorgt.
Beide Systeme bilden Behandlungsstra-
tegien ab, die von Fachleuten entwickelt
und geprüft wurden. „SmartCare kann
sozusagen einen Beatmungsexperten aus
Paris in jedes Kreiskrankenhaus der Welt
holen“, sagt Manigel.
Strenge Regeln für die ZulassungTeilautonome Systeme nehmen Menschen
zwar Entscheidungen ab, doch „der Arzt
steht immer daneben und behält die Kon-
trolle“, sagt Manigel. So wie der Fahrer
stets die Hände am Lenkrad haben sollte.
In Situationen, in denen das System über-
fordert ist, zieht es die Notbremse und
schaltet in einen Rückfallmodus, der den
Patienten am Leben hält. Teilautonomie
Assistenzsysteme: SmartPilot View von Dräger (oben) lotst den Anästhesisten wie ein Navigationssystem durch die Narkose. Es registriert und verrechnet laufend, welche Medikamente gegeben wurden, kalkuliert die Entwicklung und stellt alles übersichtlich wie auf einer Landkarte dar. Links: SmartCare – ein automatisiertes System, das Intensivpatienten, die über Tage maschinell beatmet wurden, allmählich davon entwöhnt und wieder eigenständig atmen lässt
Gebrauch konzipiert. Im Internet finden
sich Videos von Fahrern, die während der
Fahrt auf den Rücksitz klettern oder sich
Filme ansehen. In der Medizin technik
kommen ebenfalls teil automatisierte Sys-
teme zum Einsatz, die in eng gesteck-
ten Grenzen und bei bestimmungsgemä-
ßem Gebrauch vorgegebene Therapieziele
selbstständig erreichen können. Dräger
bietet beispielsweise SmartCare an, ein
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ist die höchste Stufe, auf der Dräger der-
zeit forscht und entwickelt. Sie entspricht
etwa dem Autopiloten, der in vielen Fahr-
zeugen bereits verbaut ist. Das größte Hin-
dernis für noch mehr Autonomie in der
Medizintechnik sind die strengen Zulas-
sungen. Ein Hersteller muss nachweisen,
dass sein Produkt sicher ist und Anwender
in der Lage sind, damit umzugehen. Das
ist mitunter so aufwendig, dass viele den
Schritt zu noch mehr technischer Auto-
nomie scheuen. „Besonders die ameri-
kanische Gesundheitsbehörde ist da sehr
streng“, sagt Manigel. Bei traditionellen
Systemen stellt der Arzt bestimmte Para-
meter ein, und die Maschine sorgt dafür,
dass sie eingehalten werden. Bei autono-
men Systemen gibt er nur noch das Ziel
ein, das die Maschine dann selbstständig
erreichen soll. Mit welchen therapeuti-
schen Mitteln dies geschieht, obliegt dem
System. „Das ist eine völlig neue Heraus-
forderung“, sagt Manigel. „Der Thera-
piegeber wird plötzlich zum Überwacher
der Therapie.“ Dafür sind die meisten
Mediziner heute gar nicht ausgebildet.
Und auch bei der Zulassung sind neue
Kriterien gefragt. „Die Hersteller sind
in der Pflicht nachzuweisen, dass durch
ihre Systeme keine zusätzlichen Risi-
ken entstehen“, sagt Manigel. Trotz die-
ser Einschränkungen geht die Grundla-
genforschung weiter. So kann etwa das
„Automated Critical Care System“, vom
Office of Naval Research entwickelt, selbst-
ständig die Erstversorgung von Trauma-
patienten übernehmen.
Kann Software überhaupt eine Moral haben?Je höher der Grad der Autonomie, desto
stärker wandelt sich das Verhältnis zur
Technik. Das Google self-driving car ver-
fügt weder über Lenkrad noch Bremspe-
dal, aber über einen Notfallknopf. Der
Fahrer wird zum Fahrgast. Wenn Systeme
selbstständig Entscheidungen treffen,
welchen moralischen Status haben die-
se dann? Auf den ersten Blick scheint die
Sache klar. Autonome Fahrzeuge bringen
– unterm Strich – mehr Sicherheit als
manuell gesteuerte. Sie reagieren blitz-
schnell, erschrecken nicht, geraten nicht
in Wut oder Panik und sind auch nicht
betrunken. Dennoch sind sie nicht unfehl-
bar. Wer haftet, wenn sie versagen? In Ein-
zelfällen kann ein automatisiertes Fahr-
zeug einen Unfall provozieren, den ein
Mensch womöglich vermieden hätte. Will
man das in Kauf nehmen? „Da gibt es kein
Richtig oder Falsch“, sagt Prof. Dr. Philipp
Rostalski, Direktor des Instituts für Medi-
zinische Elektrotechnik an der Universität
Lübeck. „Wichtig ist, dass man sich die-
se Schwierigkeiten bewusst macht und
einen gesellschaftlichen Konsens darü-
ber anstrebt.“ Besonders deutlich wird das
Dilemma in Situationen, über die schon
länger diskutiert wird. So hat der kanadi-
sche Physiker und Philosoph Jason Millar
ein Gedankenexperiment erdacht, das er
„tunnel problem“ nennt: Ein mit einer
Person besetztes selbstfahrendes Auto
nähert sich auf einer einspurigen Stra-
ße einem engen Tunnel. Ein Kind ver-
sucht, die Straße zu überqueren – es stol-
pert und liegt nun mitten auf der Straße.
Das Auto hat zwei Optionen: Soll es auf
In Einzel-fällen können automatisier-te Fahrzeuge sogar Unfälle provozieren
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Kurs bleiben oder aus-
weichen und gegen die
Felswand prallen? Das
Fahrzeug muss zwei
Leben (das des Kindes
und das des Insassen)
gegeneinander abwä-
gen. Doch es gibt keine
klare Antwort darauf.
Selbst unsere eigene
moralische Intuition,
das Bauchgefühl, ist in
solchen Situationen oft
kein verlässlicher Kompass mehr. „Wenn
man an manchen Szenarien nur Details
variiert, ändert sich schon das Urteil“,
sagt Rostalski.
Moralisches DilemmaAutonome Systeme erfordern neue Maß-
stäbe des Sollens, Dürfens und Müs-
sens – eine neue Ethik. Ein früher Ver-
such waren die „Robotergesetze“, die der
Science-Fiction-Autor Isaac Asimov 1942
in einer Kurzgeschichte formulierte. Das
oberste Gesetz lautet sinngemäß: „Ein
Roboter darf keinen Menschen verletzen
oder durch Untätigkeit zulassen, dass ihm
Schaden zugefügt wird.“ Wie sollte so das
Tunnel-Problem gelöst werden? „Wenn
man das kompromisslos umsetzt, könnte
man keine autonomen Systeme bauen“,
sagt Rostalski. Zu den Philosophen, die
eine neue Ethik für autonome Systeme ent-
wickeln, gehört auch Julian Nida-Rüme-
lin, Professor an der Universität München.
Er plädiert dafür, die ethischen Fragen zu
klären, bevor autonome Autos die öffent-
lichen Straßen einnehmen. „Beim assis-
tierten Fahren, bei dem am Ende immer
noch der Fahrer eingreifen kann, sind die
ethischen Probleme gar nicht so groß“,
sagt Nida-Rümelin – und fordert, dass der
Fahrer zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle
über das Fahrzeug behalten sollte. Das ver-
langt auch das Wiener Übereinkommen
über den Straßenverkehr. Nida-Rümelin
warnt davor, diese Schwelle „voreilig“ zu
überschreiten. Die Warnung kommt nicht
von ungefähr. Autonome Systeme haben
Rückenwind von Politik und Wirtschaft.
Die deutsche Bundesregierung hat einen
Gesetzentwurf auf den Weg gebracht,
der eine „innovationsfreundliche Ände-
rung des Straßenverkehrsgesetzes“ vor-
sieht. Vollautomatisches Fahren soll dann
auf deutschen Straßen erlaubt sein. Das
Bundes verkehrsministerium betont, dass
in Dilemmas kein Menschenleben gegen-
über einem anderen zu bevorzugen sei.
Aber was dann? Maschinen müssen pro-
grammiert und die Kriterien offengelegt
werden, nach denen sie in bestimmten
Situationen handeln. „Die Teilnahme am
Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht
und gegenseitige Rücksicht“, lautet die
erste Grundregel der Straßenverkehrsord-
nung. Vorsicht und Rücksicht – das sind
menschliche Maximen. Inzwischen versu-
chen Philosophen und Computerwissen-
schaftler, eine maschinengerechte Moral
zu erarbeiten. Es gibt juristische For-
schungsgruppen, die sich mit Maschinen-
moral beschäftigen. Autohersteller richten
eigene Abteilungen für ethische Fragen
ein. Das Verkehrsministerium hat ange-
kündigt, eine Ethikkommission einzube-
rufen. Aber passen Maschinen und Moral
überhaupt zusammen? Manche finden,
dass Maschinen, wie wir sie heute kennen,
niemals moralische Verantwortung über-
nehmen können, weil sie stets von Men-
schen vorgegebenen Regeln folgen. Andere
sagen, es sei ungerecht, die Erbauer oder
Besitzer einer Maschine für deren Hand-
lungen verantwortlich zu machen.
Mensch gegen Mensch? Der geradlinige Weg wäre, den morali-
schen Wert einer Handlung eines autono-
men Systems so nüchtern zu betrachten
wie dessen Wirkungsgrad und Leistung.
Wenn es um das Fahrverhalten eines auto-
nomen Autos geht, wäre es naheliegend,
das Schadensrisiko jeder Option zu bezif-
fern – etwa die Anzahl der zu befürchten-
den Todesfälle, den Grad der Verletzungen
oder der Sachschäden. Und das Auto so
zu programmieren, dass es dieses Risiko
stets minimiert. Klingt plausibel, solange
man nicht selbst darin sitzt. Wer kauft sich
ein Auto, das den Tod der Insassen ein-
kalkuliert? Der Begriff der grundgesetz-
lich garantierten Würde des Menschen
ist schon für manche Zeitgenossen nicht
leicht zu fassen. Wie sollen Maschinen
ihn verstehen? Wie soll ein Algorithmus
die Würde des Menschen respektieren?
Befriedigende Antworten auf diese Fragen
sind erst noch zu finden. „Man kann sie
nicht allein den Entwicklern überlassen“,
sagt Philipp Rostalski. „Die Gesellschaft
muss klären, wie sie mit ihnen umge-
hen will.“ Dafür braucht es auch einen
rechtlichen Rahmen, der Herstellern,
Anwendern und Fahrern ausreichend
Sicherheit gibt.
IN DER ZWICKMÜHLE
Manchmal kann man es
nur falsch machen: In
einem ethischen Dilemma
können Menschen sich
nur zwischen mehreren
Übeln entscheiden. Wenn
Maschinen anfangen,
autonom zu agieren,
werden auch sie irgend-
wann vor solch einem
Dilemma stehen. Wie
sollte ein selbstfahrendes
Auto handeln, wenn
es entweder ein Kind
überfahren oder mit den
Insassen eine Betonwand
rammen muss? Forscher
des MIT Media Lab haben
eine „Moral Machine“
programmiert, an der
jeder seine moralische
Intuition testen kann.
Mehr unter: http:// moralmachine.mit.edu
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13DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
„Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zulassen, dass ihm Schaden zugefügt wird.“Isaac Asimov, Science-Fiction-Autor (1942)
Draeger-400_DE_013 13 07.11.16 16:26
14 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Josef Kamps hat heftige Bauchschmer-
zen. Als er dem Arzt in der Notaufnahme
im Frühsommer davon berichtet, wird ihm
auch schon schwarz vor Augen. Dia gnose:
Darminfarkt. Drei Wochen und mehrere
Operationen später (in denen ihm Teile
seines wegen mangelnder Durchblutung
abgestorbenen Darms entfernt wurden,
er zudem eine Sepsis erlitt, die sein rech-
tes Knie zerstörte) erwachte der 68-Jährige
erstmals wieder. Sein Bewusstsein hatte
sich an irgendeinem Punkt zwischen den
Operationen und der in seinem Körper
wütenden Sepsis (siehe auch Dräger-
heft 395, Seite 32 ff.) ins Delir verabschie-
det. Der Weg hinaus war hart und hätte
auch ganz anders enden können – viele
Patienten tragen kognitive Schäden davon.
Zwei Monate später sitzt Josef Kamps
gut gelaunt mit Altenpflegerin Maria
Domke in einem Zimmer des St. Franzis-
kus-Hospitals in Münster und erinnert sich
an die Zeit. „Schrecklich war das“, sagt er.
„Ich wusste nicht, was passiert war, konnte
kaum zwischen Traum und Wirklichkeit
unterscheiden.“ Seit zwei Tagen ist Kamps
nach einer zweiwöchigen Pause zu Hau-
se wieder zurück im Krankenhaus; die
Inlay-Sonderanfertigung für sein zerstör-
tes Knie wurde eingesetzt. Maria Domke
ist seine persönliche „Aufpasserin“. Spe-
ziell ausgebildet achtet sie darauf, dass er
nicht wieder ein Delir entwickelt. „Wie
J
NebenEin Delir bringt Körper und Geist durcheinander. Was noch vor wenigen Jahren als Durchgangssyndrom abgetan wurde, das rasch wieder verschwindet, wird heute ernst genommen.
Text: Isabell Spilker Fotos: Christina Lux Zeichnungen: Nancy Andrews
eine schützende Hand“, sagt Domke und
prüft den venösen Zugang an Kamps Arm.
Der Zugang ist undicht, die Kochsalz-
lösung läuft daneben. Domke wird gleich
auf der Station Bescheid geben, aber vor-
her scherzt sie noch mit ihrem Patien-
ten, lauscht seinen Plänen fürs nächste
Jahr. Domke und Kamps haben fast eine
innige Beziehung, das Vertrauen ist offen-
sichtlich groß. „Verbindlich“, nennt es die
Pflegerin.
Delir verkürzt LebensdauerMaria Domke ist Mitarbeiterin des Geriat-
rieteams im St. Franziskus-Hospital. Sechs
Angestellte kümmern sich hier ausschließ-
lich um ältere Patienten, die im Haus
geplant oder als Notfall operiert werden
und ein erhöhtes Delir- Risiko aufweisen –
etwa eine demenzielle Vor erkrankung oder
Depression. Als Delir oder Delirium wird
ein akuter Verwirrtheitszustand bezeich-
net, ausgelöst unter anderem durch Ope-
rationen und Narkosen, akute Infektio-
nen oder Arzneimittel. Die Patienten sind
oft orientierungslos, verloren in Zeit und
Draeger-400_DE_014 14 07.11.16 16:26
OPERATIONEN KRANKENHAUS
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016 15
Delir: lateinisch von „de lira“ = aus dem Gleis, der Furche oder der Spur geraten
der Spur
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KRANKENHAUS OPERATIONEN
16 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Raum, umtriebig, mitunter sogar aggres-
siv – meist aber träge und teilnahmslos. Oft
ist die Prognose nicht so gut, dass sie nach
einem Delir wieder ganz gesund werden.
Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko,
dass das Delir den Allgemeinzustand derart
verschlechtert, dass man nicht mehr auf
die Beine kommt, oder gar stirbt. Unmit-
telbar in den Tod führt das Delir nicht, das
macht die Sache problematisch. „Noch in
den 1990er-Jahren hatten wir für dieses
Erkrankung überhaupt keinen Namen“,
erinnert sich Dr. Simone Gurlit. Sie ist als
Anästhesistin heute mit einer halben Stelle
in das Team integriert. „Als Ärztin im Prak-
tikum habe ich erlebt, dass Patienten nach
einer Narkose und eigentlich unproblema-
tischen Operation plötzlich länger versorgt
werden mussten. Uns war damals nicht
klar, wie ungünstig das für den Patienten
ist – das haben wir erst mit der Zeit rea-
lisiert.“ Die Erkenntnis brachte die Idee,
dass eine Lösung in der Prävention liegen
könnte. Die Anästhesiologische Abteilung
um Professor Dr. Michael Möllmann etab-
lierte bereits 2003 ein Konzept zur Delir-
Prävention in Münster. Delir ist mittler-
weile ein populäres Thema geworden. Wie
viele Klinken in Deutschland ihre Patien-
ten speziell auf Delir nach Operationen
untersuchen, ist nicht bekannt. Manche
greifen auf ehrenamtliche Helfer zurück,
die mit den Patienten lesen. Andere stüt-
zen sich auf die Umsetzung der Leitlinien
zur Analgesie, Sedierung und zum Delir-
Management, in denen das Delir allerdings
nur am Rande erwähnt wird.
Verkettung unglücklicher UmständeIn den vergangenen Jahren ist die Erfor-
schung des Phänomens vorangetrieben
worden. Und doch wurden die genauen
Prozesse des Delirs bis heute nicht voll-
ständig entschlüsselt. Schätzungen
zufolge entwickeln bis zu drei Millionen
Deutsche jährlich ein Delir, einer aktuel-
len Studie des Vanderbilt University Medi-
cal Center in Nashville/Tennessee zufolge
sogar drei Viertel aller Intensivpatienten.
Das Statistische Bundesamt verzeichnete
im Jahr 2014 mehr als 40.000 stationäre
Fälle. „Da das Delir immer noch zusätz-
lich auf einen meist ohnehin schon vielfäl-
tigen Katalog an Erkrankungen und Sym-
ptomen kommt, wird es leider oft nicht
dokumentiert“, erklärt Gurlit die Dun-
kelziffer. Wissenschaftler vermuten, dass
Entzündungsstoffe diesen Zustand auslö-
sen, die der Körper dann während einer
schweren Erkrankung oder nach einem
chirurgischen Eingriff ausschüttet. Die-
se Stoffe könnten die Blut-Hirn-Schranke
überwinden und Gehirnzellen angreifen.
Neue Studien belegen, dass die Narkose-
tiefe ebenso ursächlich an der Entwick-
lung eines Delirs beteiligt sein kann – je
tiefer die Narkose, desto ungünstiger. Das
intra operative Neuro monitoring mit spe-
ziellem Augenmerk auf sogenannte „Burst
Suppression Muster“ – also Phasen regel-
mäßiger hoher Hirnaktivität, die sich mit
dem Ausfall jeglicher Aktivität abwech-
seln – trägt deswegen zur Prävention bei.
Zudem wurden Medikamente herausgefil-
tert, Benzodiazepine, die zwar im OP gern
angewendet werden, um die Patienten zu
beruhigen, sich aber als außergewöhnlich
delirogen herausstellten.
Vor allem scheint es die Kombination
aus Ausnahmesituation, ungewohntem
Umfeld und Veränderung der Wahrneh-
mung zu sein, die das Delir begünstigt.
„Das Delir, ausgenommen das Alkoholent-
zugsdelir, trifft besonders häufig ältere,
multimorbide Menschen“, sagt Simone
Gurlit. Kleinere Kinder gelten auch als
gefährdet, ihre Prognose sei aber ungleich
besser. Gurlit engagierte sich mithilfe von
Fördergeldern zunächst projektweise, spä-
ter dann fest im Klinikalltag eingebunden,
für die geriatrische Spezial behandlung
chirurgischer Patienten. Das bedeute
zum Beispiel, den Patienten nach der
Ankunft im Krankenhaus zu begleiten:
mit ihm im Zimmer anzukommen, ihm
beim Auspacken zu helfen, ihn zum Rönt-
gen zu bringen und eben auch in den Ope-
rationssaal. „Delir-Patienten haben einen
erhöhten Betreuungsbedarf“, bekräftigt
Das Setting macht’s!Dass die Umgebung Patienten bei der Genesung hilft, ist durch mehrere Studien belegt. Eine der ersten Untersuchungen (1984) basiert auf dem Vergleich zweier Patienten gruppen in Texas. Beide hatten identische OPs erlebt und waren anschließend in unterschiedlichen Zimmern untergebracht. Die Gruppe, die von ihrem Zimmer auf einen Park blickte, benötigte weniger Analgetika, wurde seltener depressiv und konnte schneller ent lassen werden als die Vergleichsgruppe, die auf eine Betonmauer starrte. Das Projekt „Healing Architecture“ der Charité in Berlin richtete dafür eigene Zimmer ein – mit angenehm gestalteten Decken, Möbeln und Medizingeräten. Die Produktlinie Linea von Dräger stützt mit optisch angenehmer Einbindung der notwendigen Versorgungsgeräte. Kombiniert zum Beispiel mit dem Noise Display SoundEar, Lautstärkeindikator zur Über wachung und Darstellung des Geräuschpegels, lässt sich ein Umfeld schaffen, das für den Patienten auch akustisch eine angenehme Umgebung schafft – und so den Stress reduziert.
Bis zu drei Viertel aller Intensiv-patienten erleiden ein Delir
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17DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
Orientierungshilfe:Körperkontakt hilft
in der mitunter verwir-renden Krankenhaus- situation – und zeigt: „Ich bin für dich da!“
Engel aus Fleisch und Blut:Maria Domke ist für Patient Josef Kamps die Rettung aus dem Delir
Anästhesistin mit Spezialauftrag:Dr. Simone Gurlit leitet das fünfköpfige Geria-trieteam am St. Franziskus-Hospital in Münster
DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
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KRANKENHAUS OPERATIONEN
18 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
LINKS UND LITERATUR
Interdisziplinäres Delir-Netzwerk: www.delir-netzwerk.de
Wolfgang Hasemann (Hrsg.): Akute Verwirrtheit – Delir im Alter. Praxishandbuch für Pflegende und Mediziner, Verlag Huber
E. Wesley Ely, Valerie Page: Delirium in Critical Care, Cambridge Medicine
Delir bei KindernEines der größten neurologischen Probleme in der Kinderanästhesie betrifft das Aufwachen aus der Narkose. Je nach zugrunde gelegten Diagnosekriterien für ein Emergence Delirium (ED) sind zwei bis 80 Prozent der Kinder betroffen, gehäuft im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Es tritt in der Regel fünf bis 15 Minuten nach dem Aufwachen auf und kann bis zu zwei Tage dauern. Gekennzeichnet ist das ED vor allem von einer übermäßigen Agitation: Die Kinder sind auffallend unruhig und unkooperativ. In den meisten Fällen bleibt das ED ohne Folgen, in einigen jedoch führt es zu längerfristigen psychosozialen Störungen wie verstärkte Angst, Essstörungen oder Schlafproblemen. Besonders Kinder mit präoperativer Angst sind einer höheren Gefahr ausgesetzt. Ablenken und Angstreduktion sind deshalb oberstes Gebot. Ebenso wie die Wahl des richtigen Narkosemittels zur sanften Ausleitung begünstigt die absolute Schmerzfreiheit eine geringe Rate an Aufwachdelirien.
die Arbeit des Teams nicht mit den Kran-
kenkassen abgerechnet werden kann. Wer
kein Delir entwickelt, bleibt in der Regel
innerhalb der Normzeit, die die Kranken-
versicherung für seine Erkrankung vor-
sieht. Ein Delir wird zwar nicht bezahlt,
doch die ökonomische Rechnung ging auf.
Infiltrierendes WachstumBereits zwei Wochen war Josef Kamps
während seines ersten Aufenthalts im
Delir, als Altenpflegerin Maria Domke
zum ersten Mal an sein Bett trat und
nach seiner Hand griff. „Es ist schwer, zu
Menschen durchzudringen, die delirant
sind“, sagt sie. Mit 68 Jahren gehörte
Kamps nicht ins klassische Betreuungs-
schema des Geriatrieteams und war
deswegen im Vorfeld weder mit neuro-
logischen Tests gescreent noch begleitet
worden. Das Kind war in den Brunnen
gefallen – und ihre Aufgabe, es dort wie-
der herauszuholen. Dieser Prozess ist
langwierig und erfordert Geduld. „Man
muss den Patienten immer wieder anspre-
chen, sozial einbinden, ihm Orientierung
geben, ihn in einen Tag-Nacht-Rhythmus
bringen und auf die Ernährung achten.“
Vier Wochen nach seinem Darminfarkt
konnte der Rentner auf die Normal station
verlegt werden. Domke begleitete ihn. Täg-
lich treffen sich die Altenpflegerinnen im
kleinen Besprechungsraum in der dritten
Etage zur Dienstbesprechung, ansonsten
sind sie im ganzen Haus unterwegs. Eine
Gurlit. „Wir können ja viele der für den
Patienten ungünstigen Abläufe wie die
ständig wechselnden Gesichter nicht ver-
ändern, erst recht nicht im perioperativen
Bereich.“ Deshalb sei ihnen schnell klar
geworden, dass es wohl am besten über
Bezugspersonen funktioniere. Die Idee:
„Wir etablieren ein Gesicht, das der Pati-
ent immer wieder sieht – und das ihm Halt
gibt während seines stationären Aufent-
halts.“ Jemand, der sich auskenne, und
auch zwei, drei Schritte vorausdenken
kann. „Als wir anfingen, hießen wir ,Tüd-
deltruppe‘. Denn was wir im OP machen,
während der Patient unter Teilnarkose
operiert wird, ist ein wertschätzender und
erklärender Umgang und basale Stimula-
tion – effektives Betüddeln eben.“ Erfolge
zeigten sich nicht nur in einer gesunke-
nen Delir-Rate, auch die Verweildauer der
Patienten verkürzte sich. Und das, obwohl
Die Prävention wird zwar nicht bezahlt, doch sie rechnet sich
eigene Station gibt es nicht. Auf einem
Whiteboard sind die Patienten aufgelistet.
Hinter einem steht in roten Lettern: Delir.
Alle anderen sind dank der erweiterten
Fürsorge wohlauf. „Wir sehen natürlich bei
Weitem nicht alle Patienten, von denen wir
glauben, dass sie von unserer Hilfe profi-
tieren“, gesteht Simone Gurlit. Bei rund
24.000 Narkosen im Jahr sei das schwie-
rig. „Die Idee ist infiltrierendes Wachstum,
das muss weitergetragen werden.“ Gurlit
hat die Aufgabe übernommen, anderen
Krankenhäusern zu zeigen, wie ein gutes
Delir-Management aussehen kann. Sie
hält Vorträge, ermöglicht Hospitationen
in der Klinik, verfasst Broschüren. Neben-
bei betreibt sie Forschung, wie es gelingen
könnte, Delir labordiagnostisch im Blut
nachzuweisen. „Das würde vieles erleich-
tern“, sagt sie, „weil wir dann früher hell-
hörig werden.“ Noch aber stützt sich die
Forschung auf die Veränderung der Neu-
rotransmitter im Liquor, gewonnen durch
Lumbal punktion. Josef Kamps wird noch
einige Tage im Krankenhaus bleiben müs-
sen, doch die nimmt er gern in Kauf. Auch,
weil ihn seine Frau und die drei Kinder
täglich besuchen, weil sein Knie wie-
der gesund wird und er dann erst einmal
abschließen kann mit den Ereignissen.
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19DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
HELP
Als eine der ersten weltweit
engagierte sich die US-Professorin
Sharon K. Inouye an der Yale
University School of Medicine in
den 1990er-Jahren in der Delir-
Prävention. Sie entwickelte das
Hospital Elder Life Program
(HELP), das sich an ältere Men-
schen während eines stationären
Aufenthalts richtet. Es baut neben
der gezielten interdisziplinären
geriatrischen Delir-Diagnostik auf
die Schulung von Fachkräften in
der Delir- Prävention und -Therapie
sowie den Einsatz von ehren-
amtlichen Patientenbegleitern.
www.hospitalelderlifeprogram.org
Neurologische Tests:Kann der Patient eine Uhr richtig zeichnen? Ein simpler Test gibt Auskunft über seinen Delir-Status
Geriatrieteam auf Abruf:
Spezielle Schilder am Fußende der Kranken-hausbetten weisen das
Personal in Münster auf die besondere
Fürsorge hin
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Draeger-400_DE_019 19 07.11.16 16:27
Rob, vier Jahre alt,Dalmatiner:
riecht manchenKrebs – nach einem
harten Training
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21DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
WISSENSCHAFT NATUR
Hunde können Krebs riechen – doch es braucht einen langen Atem, bis dieses besondere Talent der Tiere geweckt wird.
Text: Hanno Charisius
Sammy fängt an zu lecken, wenn er
etwas Verdächtiges riecht. Das ist so sei-
ne Art. Der vier Jahre alte Harzer Fuchs,
Schlag altdeutscher Hütehund, soll aber
nicht nach Drogen, Sprengstoff oder gar
nach Menschen suchen. Seine Besitze-
rin Liliana Fancsy aus Schleitheim bei
Schaffhausen in der Schweiz trainiert
ihn zurzeit darauf, Krebserkrankungen
zu erkennen. Zusammen mit anderen
Hundehaltern hat sie ein Ausbildungs-
programm entwickelt, das Vierbeiner
zu medizinischen Assistenten umschu-
len soll.
Seit langem ist bekannt, dass Hunde-
nasen so fein sind, dass sie Krankheits-
anzeichen in der Atemluft – aber auch
in Blut, Speichel und Urin – wittern kön-
nen. Doch es braucht eine lange Ausbil-
dung, bis dieses besondere Talent der
Tiere geweckt wird und bei der Früh-
erkennung unterstützen kann. Dabei ist
ein „Suchbalken“ das wichtigste Werk-
zeug. Eigentlich sind es zwei Meter
lange Kabelkanäle aus dem Baumarkt,
in die Fancsy und ihre Mitstreiter
vom Verein „Krebsspürhunde Sektion
Schweiz“ Löcher für die Probenhalter
gebohrt haben. Kleine Reagenzgläser
kommen in die Öffnungen, jeder Balken
erhält fünf Teststellen – mehrere dieser
Konstrukte aneinandergereiht bilden
den Parcours.
Ausbildung in fünf Schritten Die eigentliche Ausbildung unterteilt
sich in fünf Phasen. Zunächst lernen die
Hunde den Balken kennen. „Der Trai-
ningsraum selbst ist für die Tiere unin-
teressant, denn hier gibt es nichts zum
Jagen oder Spielen“, sagt die Trainerin.
Daher versteckt sie zunächst Leckerli in
einigen Teströhrchen und gibt den Hun-
den eine Probe davon zu schnuppern.
Die legen dann los und suchen entlang
des Balkens das, was genauso riecht.
Spürt einer das Leckerli auf, bekommt
er es direkt aus dem Teströhrchen. Das
funktioniert aber nur, wenn der Hund
sich auf diese Art der Arbeit einlässt –
nicht alle Tiere mögen das. Im nächs-
ten Schritt müssen sie die versteckten
Futter happen ohne „Anriechen“ aufspü-
ren. Die Belohnung kommt dann nicht
mehr aus dem Röhrchen, sondern aus
der Hand des Hundeführers. In dieser
Phase wird ausschließlich nach Spürna-
sen gesucht, die mindestens 80 Prozent
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gekommenAuf den Hund
GERUCHSSPEICHER
Dräger-Röhrchen sind dazu
gemacht, Gase oder andere
Luftverunreinigungen
einzufangen und mit einem
Testsystem messbar zu
machen. Damit lassen sich
gefährliche Stoffe in der
Umgebungsluft aufspüren;
eine wichtige Voraussetzung
für die Arbeitssicherheit.
Gase können von verschiede-
nen Materialien adsorbiert
werden. Im Verein „Krebs-
spürhunde Sektion Schweiz“
wird zurzeit mit Aktivkohle
und Silicagel gearbeitet.
Interessanterweise reagiert
jeder Hund anders auf die
verschiedenen Testmateriali-
en. Manche Tiere erkennen
verdächtige Tumorgerüche
zumindest zu Beginn der
Ausbildung an einem der
Adsorbermaterialien besser
als am anderen. Mit der
Zeit verschwinden diese
Unterschiede.
Draeger-400_DE_021 21 07.11.16 16:27
22 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
der versteckten Brocken gefunden
haben – sie kommen in die nächste
Runde. In der dritten Phase lernen die
Vierbeiner zum ersten Mal den eigent-
lichen Zielgeruch kennen. Sie riechen
an Dräger-Röhrchen, in denen der Atem
von Lungenkrebspatienten eingefangen
wurde. Die Geruchsstoffe aus den Pro-
ben haften entweder an Silicagel oder
Aktivkohle. Durch die Vizepräsidentin
des Vereins, die bei der Polizei arbeitet
und die Dräger-Röhrchen von Atem-
alkoholmessungen kennt, wurde die
Gruppe auf diesen Träger aufmerksam.
Immer der Nase nachEiner der Trainer verteilt einige Röhr-
chen auf die Suchbalken, und die Hun-
de beginnen ihre Arbeit. Jeder Fund
wird wieder mit einem Leckerli belohnt.
Schließlich kommen Atemproben von
gesunden Menschen hinzu. Wieder
müssen die Tiere, die in der Ausbildung
weiterkommen sollen, 80 Prozent der
Proben von Krebspatienten richtig
erkennen. „Das ist die Einsatzprüfung“,
sagt Liliana Fancsy. Der Hundeführer
weiß selber nie wo die Proben stecken,
die Arbeit erfolgt „blind“. Dann wird es
ernst: Die Hunde bekommen Proben zu
riechen, die auch die Menschen noch
nicht kennen. Wenn die ersten Tiere
die Ausbildung komplett durchlaufen
haben, will die Gruppe zudem Urin
und Blutproben testen. Schließlich ver-
ändert nicht jede Krebsart den Geruch
der Atemluft, doch selbst hier kann eine
Hundenase den Krebs aufspüren. Nicht
jeder Vierbeiner eignet sich zum Krebs-
spürhund. Die Anwärter dürfen nicht
älter als sechs Jahre sein, müssen gut
gehorchen und mit „Freude und Motiva-
tion bei der Arbeit sein“, erklärt Fancsy.
Zudem seien ein ausgeprägtes Spiel- und
Beuteverhalten sowie Konzentration
und Ausdauer notwendig. Hohe Ansprü-
che werden auch an den Halter gestellt,
denn das Aufspüren von Dingen, ob nun
Krebsprobe, Droge oder Sprengstoff, ist
immer auch eine enge Zusammenarbeit
zwischen Mensch und Tier. „Viele Teams
scheitern, weil der Mensch oft nicht aus-
reichend wahrnimmt, was der Hund
macht – also die Körpersprache des Hun-
des nicht richtig versteht“, sagt die Trai-
nerin. Man müsse subtile Signale inter-
pretieren können und dem Tier Raum
und Zeit geben, diese anzuzeigen. Man
dürfe weder den Hund weiterschieben,
noch hinter sich herziehen. Ein der-
art aufgebauter Hund wird an den Pro-
ben „kleben bleiben“, auch wenn sein
Herrchen oder Frauchen weitergeht.
Aus diesem Grund sind drei Trainings-
einheiten pro Woche Pflicht. „Die Hun-
de zeigen auch unterschiedlich an. Wir
verstärken, was die Tiere bieten“, sagt
Fancsy. Manche kläffen oder werden
unruhig, andere legen sich einfach hin.
„Mein Job ist es, ihn nicht zu stören. Ich
muss sein Verhalten interpretieren und
darf ihn nicht verbiegen – dann ist die
Chance am größten“, sagt Fancsy.
Seit Jahren spüren sie und Sammy
auch Menschen auf, etwa Patienten
mit einer Demenz, die sich verlaufen
haben – oder Menschen, die nach einem
Unfall unter Schock stehen und umher-
irren. Bis heute weiß niemand so genau,
worauf die Hunde bei den Krebsproben
ansprechen. „Das wüssten die Ärzte
auch gern“, sagt Fancsy. Vermutlich
werde es nie den einen Geruchsstoff
geben, den man dem Krebs zuschreiben
könne. Warum Hunde dennoch etwas in
den Dräger-Röhrchen riechen, was für
Menschen unmöglich ist, erklärt sie so:
„Eine Tomaten soße riechen Menschen
als ‚Soße‘, Hunde hingegen erschnüf-
feln jede einzelne Zutat. Dabei hat
jeder Vierbeiner besondere Stärken –
der eine erkennt leichter das Salz, der
Das Training erfordert viel Verständnis – aber auch Freude und Motivation
Für uns nur ein Röhrchen, für den Hund mit seiner empfindlichen Nase dagegen ein ganzer Film. Welcher, das weiß man noch nicht genau. Doch er funktioniert nach dem Training am Duftbalken
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23DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
WISSENSCHAFT NATUR
Elektronische NasenWas Hunden scheinbar spielend gelingt, schaffen Maschinen bis heute nicht zufrieden-stellend. Erst seit einigen Jahren gibt es elektrochemische Gassensoren, die für bestimmte Gase zuverlässig funktionieren. Doch die Identifizierung verschiedener Geruchsstoffe ist für sie eine große Herausforderung und hängt von vielen Faktoren wie Lufttemperatur und -feuchtigkeit ab. Immerhin lassen sich zudem bereits einige Krankheiten damit diagnostizieren. Allergisches Asthma etwa, das sich bei vielen Patien ten durch einen erhöhten Stickstoffmonoxidgehalt in der Atemluft verrät.
Elektronische Nasen können zwar auch Stoffe wahrnehmen, die dem menschlichen Geruchsorgan entgehen, doch sie sind Spezialisten. Die menschliche Nase als Alleskönner hingegen bietet etwa 350 verschiedene Sorten von Riechzellen, die auf unterschiedliche Gerüche spezialisiert sind. In elektronischen Nasen müssen diese Aufgaben jeweils einzeln spezialisierte Sensoren übernehmen. Daneben gibt es noch Gaschromatografen, die sehr präzise Stoffe messen können. Doch mit denen kann man nur arbeiten, wenn man weiß, wonach man sucht. Um Krebs aufzuspüren, sind sie deshalb zurzeit noch nutzlos, da niemand die molekulare Geruchssignatur von Tumoren kennt.
andere den Knoblauch.“ Es kann durch-
aus sein, dass nicht ein einzelner Stoff
die Tiere anschlagen lässt, sondern eine
Geruchsmischung, die nur im Atem
von Patienten mit Lungentumor vor-
kommt. Krebs an der Bauchspeichel-
drüse können Hunde ebenfalls am
Atem erkennen, doch der hat vermut-
lich wieder eine andere Duftsignatur.
In Großbritannien werden Hunde, die
Prostata tumore anhand von Urinproben
erkennen können, bereits im klinischen
Einsatz erprobt.
Zurzeit sind es 17 Tiere in der Aus-
bildungsgruppe, die Fancsy und ihre
Kollegen ehrenamtlich betreuen. Ein
offizielles Zertifikat gibt es nicht, genau-
so wenig wie Zulassungsauflagen von
einer Behörde. Die Hundehalter arbei-
ten auf eigene Verantwortung. Fancsy
betont, dass sie zunächst eine fundierte
Ausbildung entwickeln wollen, bevor
sie ihr Angebot öffentlich machen. Bis
dahin findet man nur wenige Informa-
tionen über die Gruppe: „Sonst würden
wir vermutlich von Anfragen überrannt
werden.“ Derartige Trainingsgruppen
gibt es auch in Deutschland und Öster-
reich. Die Schweizer arbeiten in
drei Regionalgruppen, die sich zum
Abschluss der Ausbildung gegenseitig
prüfen werden. Eines ist Fancsy beson-
ders wichtig: „Wir stellen keine Diagno-
se, sondern bieten nur einen Test, der
eine Empfehlung gibt, sobald jemand
zum Arzt gehen sollte.“
Auf eine Hundenase verlassen sie
sich dabei nicht. Insgesamt fünf vierbei-
nige Schnüffler müssen eine verdäch-
tige Probe anzeigen, bis eine Warnung
ausgesprochen wird.
So riecht der HundDer Mensch macht sich hauptsächlich über seine Augen ein Bild von der Welt. Bei Hunden spielt der Geruchssinn eine wesentliche Rolle. Er ist etwa eine Million Mal stärker ausgeprägt als bei den Zweibeinern. Deren Riechmembran verfügt über fünf Millionen Riechzellen auf drei Quadratmetern, beim Schäferhund sind es 220 Millionen auf 150 Quadratmetern. Zehn Prozent seiner Gehirnleistung nutzt der Hund zur Verarbeitung der Geruchsinformationen, der Mensch nur ein Prozent.
Und so funktioniert der Geruchssinn des Hundes ganz generell: Beim Einatmen gelangen die im Schleim der Nasenhöhle gelösten Duftstoffmoleküle zu den Riechzellen des Riechepithels. Deren Rezeptoren sprechen auf jeweils nur eine einzige Duftkompo-nente an. Beim Menschen sind es rund 350 verschiedene, beim Hund jedoch etwa 1.000, die wie das System von Schlüssel und Schloss funktionieren. Duftrezeptoren setzen den Geruch in ein elektrisches Signal um, sodass diese Informationen über den Riechkolben in Glomeruli zusammengefasst und in spezielle Hirnzellen (Mitralzellen) weitergeleitet werden können. Von dort aus fließen die Informationen zur weiteren Verarbeitung in höhere Hirnzentren. Hunde riechen bei intensiver Nasenarbeit mit bis zu 300 Riechstößen je Minute und nehmen Düfte räumlich wahr. Dadurch erkennen sie auch Konzentrationsunterschiede.
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1
Nasenhöhle
2
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Riechepithel
3 Riechkolben
4 Gehirn
5 Riechzellen
6 Siebbein
7 Glomeruli
8 Mitralzellen
56
7
8
3
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24
Wenn wenigerDer Chef der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und
Schmerztherapie am Frankfurter Universitätsklinikum, Professor Dr. Dr. Kai Zacharowski, kämpft für einen überlegteren Umgang mit
Blutkonserven – und ruft zu einem radikalen Umdenken auf.
Text: Dr. Hildegard Kaulen Fotos: Patrick Ohligschläger
Blut sei ein ganz besonderer Saft, sagte schon Mephistopheles in Goethes Faust. Recht hatte er, denn mit dem Blut verrinnt auch das Leben
DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Draeger-400_DE_024 24 07.11.16 16:48
mehr ist
Blutkonserven retten Leben, aber sie
sind auch begehrte Handelsware. Im ver-
gangenen Jahr wurden allein in Deutsch-
land 3,5 Millionen Konserven mit roten
Blutkörperchen übertragen. Die Kliniken
zahlten dafür weit mehr als eine halbe Mil-
liarde Euro. Fremdblut ist für viele Patien-
ten ein Segen, aber es mutet ihnen auch
einen erheblichen Stress zu. Die medizini-
sche Leitlinie zur Therapie mit Blutkom-
Bponenten und Plasmaderivaten empfiehlt
daher, Blutkonserven nur dann zu nutzen,
wenn es keine gleichwertige Therapie gibt.
In vielen Fällen gibt es aber Alterna-
tiven. „Wir transfundieren seit 50 Jah-
ren großzügig und unreflektiert“, sagt
Professor Dr. Dr. Kai Zacharowski, „statt
uns stärker dafür einzusetzen, vermeid-
bare Transfusionen auch tatsächlich
zu vermeiden. Etwa, indem wir eine
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BLUTTRANSFUSIONEN GESUNDHEIT
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GESUNDHEIT BLUTTRANSFUSIONEN
26 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
bestehende Anämie vor einer größe-
ren Operation behandeln.“ Zacharow-
ski setzt sich seit Jahren für ein Blut-
management- Programm ein. Eine Studie
mit 130.000 Patienten unter der Leitung
von Zacharowski und dem leitenden
Oberarzt Prof. Dr. Patrick Meybohm zeig-
te unlängst, dass das Programm nicht
nur sicher und gleichwertig gegenüber
der bisherigen Vorgehensweise ist, son-
dern dass sich dadurch auch jede fünf-
te Blutkonserve einsparen lässt. Zudem
ereilte die Patienten damit seltener ein
akutes Nierenversagen. Das Programm
firmiert hierzulande unter englischem
Namen: „Patient Blood Management“
und benennt jene Maßnahmen, die eine
Transfusion überflüssig machen, ohne
den Patienten zu gefährden. Zu den Vor-
reitern zählen neben dem Universitäts-
klinikum Frankfurt auch die Universi-
tätskliniken in Bonn, Kiel und Münster.
Anämie ist ein globales Problem, jeder
dritte Mensch ist davon betroffen. Die
meisten wissen gar nicht, dass sie eine Blut-
armut haben, weil sich der Alltag gerade
mit der leichten Form dieser Erkrankung
in der Regel gut meistern lässt.
Massenphänomen BlutarmutKritisch wird es allerdings, wenn eine
größere Operation ansteht. „Dann gibt
es eigentlich nur zwei Möglichkeiten“,
sagt Zacharowski. „Entweder diagnosti-
zieren die Ärzte die Anämie und behan-
deln sie vorab, was meistens mit der
Gabe von Eisen möglich ist, oder sie
operieren den Patienten ohne Anämie-
diagnostik und -therapie und geben ihm
eine Blutkonserve mit roten Blutkörper-
chen. Diese Transfusion aber ist eindeu-
tig vermeidbar, weil es mit der Vorab-
Behandlung der Anämie eine Alternative
gegeben hätte.“
Hinter einer Blutarmut steht der Man-
gel an roten Blutkörperchen, die für den
Transport des Sauerstoffs zuständig sind.
Ein Milliliter Blut enthält Milliarden roter
Blutkörperchen (Erythrozyten). Mit einer
Blutkonserve wird der Mangel ausgegli-
chen. Allerdings sind damit auch Risiken
verbunden. Blut ist ein Organ, und jede
Transfusion von Fremdblut ist praktisch
wie eine kleine Transplantation, die das
Immunsystem belastet. Sie erhöht auch das
Risiko, sich mit einem Krankenhauskeim
anzustecken sowie einen Herzinfarkt oder
einen Schlaganfall zu erleiden. Das frühere
Risiko, sich mit HIV oder Hepatitis C anzu-
stecken, ist heute nahezu ausgeschlossen.
Zacharowski und Meybohm können
nicht verstehen, warum Anämien vor
einer Operation nicht konsequent dia-
gnostiziert und behandelt werden. Viele
Studien hätten schließlich gezeigt, dass
Blutarmut an sich ein Risikofaktor für
32 Kliniken, 20 Forschungsinstitute: Das Universitätsklinikum Frankfurt zählt zu
den größten und wichtigsten Zentren im Rhein-Main-Gebiet. Mit über 100 ärztlich-wissenschaftlichen Mitarbeitern und mehr
als 150 Pflegekräften sowie nicht-ärztlichen Mitarbeitern ist die Klinik für Anästhesiolo-gie, Intensivmedizin und Schmerz therapie
um Prof. Dr. Dr. Kai Zacharowski die größte Abteilung. Hier werden jährlich rund
30.000 Narkosen im Rahmen großer und kleiner Operationen sowie diagnostischer
Prozeduren bei Patienten jeden Alters durchgeführt – mithilfe modernster Geräte,
unter anderem von Dräger
Dr. Gudrun Hintereder ist Fachärztin für Laboratoriums-medizin und leitet das Zentrallabor am Universitäts -klinikum Frankfurt
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Flüssiges OrganBlut ist nicht nur ein besonderer Saft, sondern tatsächlich ein Organ.
eine höhere Sterblichkeit nach der Ope-
ration ist – unabhängig davon, wie krank
der Patient ist. „Bei einer mittelschwe-
ren Anämie ist die Sterblichkeit fünffach
erhöht, bei einer schweren Anämie bis zu
fünfzehnfach“, sagt Zacharowski. „Ärzte
müssen den Patienten über dieses Risi-
ko aufklären!“ Das unterlassen sie aber
offensichtlich häufig. Zudem diagnosti-
zieren und behandeln sie auch nicht die
Anämie, sondern operieren gleich und
geben bei Bedarf Fremdblut.
Falsches AnreizsystemDie Ursachen für dieses Verhalten sehen
die Frankfurter Ärzte in eingefahrenen
Denkmustern und dem wirtschaftlichen
Druck. In der industrialisierten Welt ist
Blut eine sichere und überall verfügba-
re Ressource. Viele Kliniken haben kein
Interesse daran, eine geplante Operation
für die Dauer einer Anämiebehandlung
aufzuschieben. Manche befürchten sogar,
dass Patienten beim nächsten Mal in eine
andere Klinik überwiesen werden, in der
man sie zeitnah operiert. „Wir haben in
Deutschland keine Wartelisten für plan-
bare Operationen, weil genügend Kapazi-
täten vorhanden sind – und mit den DRGs
auch ein falsches Anreizsystem, weil jeder
Fall zählt“, sagt Zacharowski. In England
sei das anders gewesen. Zacharowski war
vor seinem Wechsel an das Frankfurter
Universitätsklinikum einige Jahre Chef-
arzt an der Universitätsklinik in Bristol.
Dass die Operationsvorbereitung hier-
zulande nicht klar geregelt ist, halten
die Ärzte für nachrangig. Diagnostik und
Behandlung der Anämie könnten vom
Hausarzt, vom einweisenden Facharzt
oder von der operierenden Klinik vorge-
nommen werden. „Die Vorbereitung muss
finanziert und organisiert werden, aber
beides lässt sich machen, wenn der Wille
Wirtschaft-licher Druck birgt RisikenProf. Dr. Anton Moritz, Leiter der Klinik für Thorax-,
Herz- und Thorakale Gefäßchirurgie am Universitätsklinikum Frankfurt operiert einen Patienten am Herzen
Jeder Erwachsene hat 5 bis 6 Liter Blut. Bis zu 10.000 Liter pumpt der Herzmuskel jeden Tag mit ein bis vier Stunden-kilometern durch das 100.000 Kilometer lange Gefäßsystem. Es dauert etwa eine Minute, bis das Blut einmal durch alle Gefäße geströmt ist.
15 Prozent seines Blutes kann man verlieren,
ohne ernsthaft Schaden zu neh-men. Bei einem akuten Verlust von 30 Prozent ohne Ausgleich werden die Organe nicht mehr ausreichend
durchblutet; bei 50 Prozent stirbt man.
Ein Tropfen Blut enthält rund
5 MILLIONENrote Blutkörperchen, aber nur
9.000weiße.
weiße Blutkörperchen Blutplättchen
Blutplasmarote Blutkörperchen
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da ist“, findet Meybohm. Weil es daran
offensichtlich mangelt, suchen die bei-
den Wissenschaftler auch die politische
Bühne. Sie wünschen sich eine gesetzli-
che Regelung, nach der sich Patienten
vier Wochen vor einem geplanten Eingriff
einem Anästhesisten vorstellen müssen,
damit eine mögliche Anämie geklärt und
behandelt wird. In Frankfurt gibt es dafür
eine eigene Ambulanz. Die beiden Ärzte
haben auch gezeigt, dass diese Vorgehens-
weise kosteneffektiv sein kann: Hinsicht-
lich der direkten Kosten seien Diagnostik
und Behandlung der Anämie günstiger als
die Transfusion einer Blutkonserve.
Viele Maßnahmen sind möglichDie Diagnostik und Behandlung der Anä-
mie ist nur eine Säule des Patient Blood
Managements. Es soll auch dafür sorgen,
dass der Patient weniger Blut verliert –
etwa, wenn Blutproben für das Labor
abgenommen werden. Die hierfür genutz-
ten Röhrchen sind standardisiert, müssen
aber nicht bis ins obere Drittel gefüllt wer-
den. Oft genügt eine deutlich kleinere Men-
ge zur Bestimmung der Laborwerte. „Wer
eine Woche auf der Intensivstation liegt,
verliert allein durch die übliche Diagnos-
tik bis zu einem halben Liter Blut, mitunter
sogar mehr“, sagt Meybohm. „Schwerkran-
ke können diese Menge nicht so einfach
ausgleichen. Wir nehmen weniger Blut ab,
bestimmen nur dann Laborwerte, wenn es
klinische Anzeichen für eine Änderung gibt,
und auch nur die Werte, die tatsächlich
nötig sind.“ Schon während der Operation
wird dafür gesorgt, dass der Patient weni-
ger Blut verliert – etwa durch einen kleine-
ren Hautschnitt oder blutsparende Opera-
tionstechniken. Das anfallende Wundblut
wird zudem gesammelt, aufbereitet und
dem Patienten zurückgegeben. Blutverlus-
te ließen sich auch durch ein gutes Gerin-
Massenphänomen: Jeder dritte Mensch soll von einer Blutarmut betroffen sein – dahinter steckt ein Mangel an roten Blutkörperchen, der mit Blutkonserven ausgeglichen werden kann
nungsmanagement vermeiden. Die dritte
Säule ist ein sorgfältigerer Einsatz der Blut-
konserven. „Patienten können ein gewisses
Maß an Blutarmut tolerieren und kompen-
sieren“, sagt Zacharowski. „In Deutschland
gibt es aber einen Reflex, bei einem niedri-
gen Hämoglobinwert sofort zu transfundie-
ren. Im Grunde behandeln wir eine Zahl,
nicht aber den Patienten als Individuum.“
Studie belegt VorteileDabei sagen die Leitlinien explizit, dass
neben der gemessenen Hämoglobin-
konzentration noch andere Kriterien für
eine rationale Indikationsstellung her-
angezogen werden müssen. Zacharows-
ki und Meybohm entwickelten daher aus
der Querschnitts-Leitlinie der Bundes-
ärztekammer eine Transfusionstrigger-
Checkliste, die ihren Kollegen bei einer
rationalen Indikationsstellung hilft. Dass
das Patient Blood Management der tra-
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‚Blut‘ über die Jahre besser gemacht.“ Der
Chefarzt plädiert deshalb für ein Transfu-
sionsregister, mit dem sich der Erfolg des
Patient Blood Managements belegen ließe.
In Deutschland haben sich inzwischen
weit über 100 Kliniken diesem Programm
angeschlossen. Anfang 2016 belegte es
sogar den ersten Platz beim „Deutschen
Preis für Patientensicherheit“. „Das
Patient Blood Management beinhaltet
ein ganzes Bündel an Maßnahmen“, resü-
miert Meybohm. „Jede Klinik sollte das
umsetzen, was möglich ist – und versu-
chen, immer besser zu werden.“ Letzt-
lich wird kein Weg an einem sparsameren
Umgang mit der Ressource Blut vorbeige-
hen. Die Patienten werden immer älter
und kränker, was einen steigenden Bedarf
nach sich zieht, während die Zahl der
Blutspender seit Jahren zurückgeht. Das
Patient Blood Management hilft, mit weni-
ger Blutspenden zurechtzukommen.
LITERATUR Patrick Meybohm et al. Patient Blood Management is Associated With a Substantial Reduction of Red Blood Cell Utilization and Safe for Patient’s Out-come. 2016. Annals of Surgery, 264: 203–211
INTERNETPatient Blood Managementhttp://www.patientbloodmanagement.de
ditionellen Vorgehensweise keinesfalls
unterlegen ist, haben Meybohm und sei-
ne Kollegen mit einer klinischen Stu-
die gezeigt, an der 130.000 Probanden
teilnahmen. Das neuartige Programm
gefährdet demnach keine Patienten, da
sich weder die Sterblichkeit im Kranken-
haus noch die Anzahl neu aufgetretener
Herz infarkte, Schlaganfälle, Lungen-
entzündungen und Sepsiserkrankungen
ändert. Als wichtiger Pluspunkt ist auch
zu werten, dass unter diesem Programm
weniger Patienten ein akutes Nieren-
versagen entwickelt haben. Die Ergeb-
nisse wurden im Fachjournal „Annals of
Surgery“ veröffentlicht. Noch gibt es aller-
dings keine Langzeitergebnisse, das gilt
auch für die gängige Transfusions praxis.
„Wir transfundieren seit 50 Jahren, ohne
je den Nachweis erbracht zu haben, dass
das, was wir da tun, auch gut ist“, sagt
Zacharowski. „Wir haben nur das Produkt
Prof. Dr. Dr. Kai Zacharowski (links) und Prof. Dr. Patrick Meybohm setzen sich für einen anderen Umgang mit der Ressource Blut ein
„Jede Klinik sollte das umsetzen, was möglich ist – und versuchen, immer besser zu werden“Prof. Dr. Patrick Meybohm, Leitender Oberarzt amUniversitätsklinikum Frankfurt Blutspende in
DeutschlandIn Deutschland spenden jährlich etwa zwei Millionen Menschen Blut. Nach der gesetzlichen Vorgabe müssen diese Spenden freiwillig und unentgeltlich sein. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) zahlt den Spendern kein Geld. Private Unterneh-men, Unikliniken und die Pharmaindustrie zahlen eine Aufwandsentschädigung in Höhe von 15 bis 25 Euro pro Spende. Das DRK sammelt rund 80 Prozent der Spenden ein und reinvestiert die Ein nah men, um gemeinnützig zu bleiben. In Deutschland sind Blutkonserven günstiger als in vielen anderen Ländern, weil das DRK wegen seiner Gemeinnüt-zigkeit und der dominierenden Marktstel-lung die Preise vergleichsweise niedrig hält. Aus den Vollblutspenden werden ein Konzentrat aus roten Blutkörperchen, ein Präparat aus Blutplasma und ein Konzen trat aus Blutplättchen hergestellt. Das Blutplasma geht hauptsächlich an die pharmazeutische Industrie, die es zur Herstellung von Medikamenten nutzt.
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GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN
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Eine kanadische Langzeit studie zeigt, dass die meisten der zwischen 1977 und 1982 im McMaster Hospital in Hamilton geborenen Extrem-Frühchen heute selbstständig leben und arbeiten.
Text: Dr. Hildegard Kaulen Fotos: Patrick Ohligschläger
Für manche beginnt das Leben dramatisch. Wer zehn, zwölf
oder sechzehn Wochen zu früh das Licht der Welt erblickt, muss
als Erstes mit seinem unreifen Organsystem zurechtkommen.
Gehirn, Herz, Lunge und Verdauungstrakt sind noch nicht auf
das Leben außerhalb der Gebärmutter vorbereitet. Frühgeborene
haben zu wenig Fettgewebe, um ihre Körpertemperatur auf-
rechtzuerhalten. Ihre Haut ist zu dünn, um als Verdunstungs-
schutz zu dienen – sie brauchen eine Art Rettungskapsel, die sie
wärmt, schützt und möglichst unbehelligt sowie in engem Kon-
F
Erkenntnisse aus frühen Jahren
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FRÜHGEBORENENMEDIZIN GESUNDHEIT
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einmal lernen, den Frühchen Blut abzunehmen. Einige Vital-
funktionen wurden über die Haut beurteilt, eine Blaufärbung
bedeutete nichts Gutes. Es dauerte noch Jahre bis zur Einfüh-
rung des „Surfactants“, mit dem die unreifen Lungen geöffnet
werden. Der Blick auf die kanadische Gruppe ist somit auch ein
Blick auf die Anfänge.
Schwieriger Start ins LebenWie ist es den von Dr. Saroj Saigal begleiteten Männern und
Frauen ergangen? Die Kanadierin hat kürzlich 100 der ursprüng-
lich 166 Frühgeborenen wieder untersucht – zum sechsten Mal.
Es zeigte sich: Im Alter von drei Jahren hatten 28 Prozent der
kanadischen Extrem-Frühchen Behinderungen, die fortdauern.
Einige entwickelten eine Zerebralparese, die Bewegungsstörun-
gen verursacht. Andere sind auf einem oder auf beiden Augen
blind, weil die Blutgefäße in der Netzhaut zu unreif waren, oder
weil sie zu viel Sauerstoff bei der Beatmung erhalten hatten.
takt mit den Eltern das nachholen lässt, was sie durch ihren all-
zu frühen Start ins Leben versäumt haben. Zudem brauchen
Frühchen Hilfe beim Atmen, eine Ernährung, die ihr unreifer
Magen verträgt, aber auch Schutz vor Infektionen.
Kommt ein extrem frühgeborenes Kind zur Welt, interes-
siert die Eltern vor allem wie es sich entwickeln wird und ob es
ein selbständiges Leben führen kann. Die Kanadierin Saroj Sai-
gal von der McMaster University in Hamilton, Ontario, begleitet
seit fast vierzig Jahren Menschen, die zwischen 1977 und 1982
mit weniger als 1.000 Gramm und vor der 30. Schwangerschafts-
woche zur Welt gekommen sind. Diese Jahrgänge fallen in die
Anfangsphase der Frühgeborenenmedizin, als man erstmals
begann, Extrem-Frühgeborene als Patienten zu betrachten –
und nicht als bedauernswerte Geschöpfe, denen kaum zu helfen
ist. Damals waren Inkubatoren noch reine Brutkästen, beatmet
wurde mechanisch. Es gab auch noch keine familienzentrierte
und entwicklungsfördernde Betreuung. Die Ärzte mussten erst
Paulina ist hier schon sechs Tage alt – geboren am 20. August 2016 in der 30. Schwanger-schaftswoche im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck. Eine hoffnungsvolle Handvoll Mensch
Dr. Saroj Saigal begleitet an derMcMaster Universityin Hamilton, Kanada,seit fast 40 JahrenFrühgeborene
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GESUNDHEIT FRÜHGEBORENENMEDIZIN
32 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Auch das Monitoring war damals noch nicht so weit entwickelt.
Einige haben Schwierigkeiten beim Hören oder weisen eine
andere Behinderung auf. Im Alter von fünf Jahren zeigte sich
eine deutliche Entwicklungsverzögerung. Viele der Extrem-
Frühchen konnten über längere Zeit nicht aufmerksam blei-
ben. Mit acht Jahren kämpften 58 Prozent mit Lernschwierigkei-
ten, brauchten Unterstützung in der Schule oder mussten eine
Klasse wiederholen. Der Intelligenzquotient der zu früh gebo-
renen Gruppe lag rund 13 IQ-Punkte unter dem der Vergleichs-
gruppe. Mit 12 bis 16 Jahren gingen die Aufmerksamkeitsstörun-
gen wieder zurück, doch die Lernschwierigkeiten dauerten an.
Mit 24 Jahren sah es so aus, als ob sich die Unterschiede beim
Übergang ins Erwachsenenalter ausgeglichen hätten. 82 Pro-
zent der Frühgeborenen und 87 Prozent der Reifgeborenen hat-
ten zu diesem Zeitpunkt einen Highschool-Abschluss. Es zeigten
sich auch keine großen Unterschiede bei der Beschäftigungs-
rate, dem Leben in Selbstständigkeit, dem Ehestand oder der
Elternschaft. „Bedenkt man, dass diese Männer und Frauen zu
den ersten intensivmedizinisch betreuten Extrem-Frühchen mit
weniger als 1.000 Gramm gehörten, dann ist das ein erstaunli-
ches Ergebnis“, sagt Saigal.
Weniger Einkommen, seltener gebundenHeute, mit Ende Dreißig, ist die Diskrepanz allerdings wieder
gewachsen. Die Extrem-Frühgeborenen blicken zwar auf ähn-
liche Bildungsabschlüsse zurück und pflegen vergleichbar gute
Beziehungen wie die reifgeborene Vergleichsgruppe, haben aber
seltener einen Job, sind öfter Single, haben seltener Kinder, zei-
gen weniger Selbstbewusstsein, brauchen eher Unterstützung
und haben mehr gesundheitliche Probleme. Und sie verdienen
im Schnitt rund 30 Prozent weniger als die Männer und Frauen
der Vergleichsgruppe. „Von den Reifgeborenen sind 92 Prozent
beschäftigt, von den Extrem-Frühgeborenen 81 Prozent“, sagt
Saigal. „Trotz des signifikanten Unterschieds führen die meis-
Extrem- Frühgeborene sind seltener alkohol- und drogenabhängig
John Guise wog 965 Gramm, als er 1979 nach nur 26 Schwangerschaftswochen zur Welt kam. Der Journalist lebte zehn Jahre in Shanghai und spricht Mandarin. Zusammen mit seiner chinesischen Frau hat er eine Tochter. Er ist auf einem Auge blind (Retinopathie)
Amanda McInnis, geboren 1979 nach 24 Wochen Schwangerschaft mit
740 Gramm. Das Foto zeigt sie im Inkubator. Heute ist sie erfolgreiche Rechtsanwältin
und betreibt seit zehn Jahren eine eigene Kanzlei. Bis auf Sehstörungen
geht es ihr gesundheitlich gut
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len Erfahrungen bestehen. Saigals Befunde sind optimistischer
als die anderer Langzeit studien. „ Unsere Ergebnisse könnten
damit zu tun haben, dass das Niveau der Frühgeborenen medizin
am McMaster Hospital von Anfang an sehr hoch war“, sagt sie.
„Und dass die Hälfte der Eltern einen hohen sozioökonomischen
Status hat.“ Heute weiß man, dass das Bildungsniveau und die
finanziellen Möglichkeiten der Eltern die Entwicklung der Ext-
rem-Frühgeborenen beeinflussen. Allerdings ist Saigals Kohor-
te mit ursprünglich 166 Extrem-Frühgeborenen und 145 reifge-
borenen Vergleichspersonen relativ klein.
Technik immer mehr im HintergrundDie Frühgeborenenmedizin hat sich in den vergangenen Jahr-
zehnten grundlegend gewandelt. Heute unterstützen Neonato-
logen die Organe des unreifen Kindes. Sie ersetzen die Lunge
möglichst nicht mehr durch invasive Technik und zwingen dem
Frühchen keinen festen Atemrhythmus mehr auf, sondern hel-
fen ihm durch ein innovatives respiratorisches Management bei
seinen Atembemühungen. Spezielle Geburtskliniken, sogenannte
Perinatalzentren, passen sich mittlerweile auch dem Rhythmus
des unreifen Kindes an und dämpfen Licht wie Lautstärke des
Umfelds. Blut wird den Frühgeborenen meist nur dann abge-
nommen, wenn sie wach sind – und nicht, wenn es am besten
in den Arbeitsablauf passt. Heute werden Eltern auch viel stär-
ker eingebunden. Früher durften sie ihr Kind in vielen Kliniken
wochenlang nicht berühren und nur hin und wieder durch die
Scheibe sehen. Im McMaster Hospital waren die Eltern allerdings
von Anfang an eingebunden. Das Känguruhing, der Hautkontakt
mit den Eltern, ist sehr wichtig. Zudem helfen die Stimmen der
Eltern und der Herzschlag der Mutter dem unreifen Kind bei
Bindung und Entwicklung. Auch deshalb sind die Eltern heute
viel mehr Teil des Teams und keine Zuschauer mehr. „Inzwi-
ten von ihnen heute ein selbstständiges Leben und sind gesell-
schaftlich gut integriert.“ Auffällig ist auch, dass zwanzig Prozent
der Extrem-Frühgeborenen mit Ende Dreißig noch keine sexu-
elle Beziehung gehabt haben. Aus anderen Untersuchungen ist
bereits bekannt, dass sie erst später sexuell aktiv werden, länger
bei den Eltern wohnen und zurückhaltender sind. Positive Unter-
schiede gibt es beim Suchtverhalten. Die Extrem-Frühgeborenen
sind seltener alkohol- oder drogenabhängig und geraten weniger
mit dem Gesetz in Konflikt. Viele der ermittelten Unterschiede
haben offensichtlich mit den erworbenen Behinderungen zu tun.
Wurden hingegen nur die Extrem-Frühgeborenen ohne Behin-
derungen befragt, sind einige Befunde nicht mehr signifikant.
Dann gibt es keinen Unterschied mehr bei der Beschäftigung,
beim Unterstützungsbedarf, beim Familienstand oder bei der
Elternschaft. Allerdings blieben die Unterschiede beim Einkom-
men, beim Selbstbewusstsein, bei den Gesundheitsproblemen,
beim geringeren Suchtverhalten und bei den geringeren sexuel-
Andrew Jonkman nahm 2010 an den Paralympics in Vancouver im Rollstuhl-curling teil. Mit 950 Gramm wurde er 1982 nach 27 Schwangerschaftswochen geboren. Trotz Zerebralparese betreibt er zudem Sledge-Eishockey – Eishockey auf zweikufigen Schlitten
Känguruhing: Diese Methode zeichnet sich durch den Hautkontakt zwischen dem Kind, hier Paulina, und seinen Eltern aus – sie fördert die Eltern-Kind-Beziehung. Dabei schüttet die Mutter das Hormon Oxytocin aus, das als Schlüsselhormon unter anderem für die Entwicklung der Mutter-Kind-Bindung gesehen wird. Der frühzeitige Aufbau einer engen Bindung ist wichtig für die psychosoziale und emotionale Entwicklung des Kindes
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schen haben wir ganz andere Überlebensraten als früher“, sagt
Dr. Saigal. „Von den Kindern, die in der 23. Schwangerschafts-
woche geboren werden, überleben heute rund 40 Prozent – in der
24. Schwangerschaftswoche sind es sogar 60 Prozent.“
Neue GerätegenerationenDiese Entwicklung wäre nicht ohne technischen Fortschritt mög-
lich gewesen. Dräger veränderte 1987 mit dem Inkubator 8000
grundlegend die Wärmetherapie: Warmluftvorhänge,
Doppel wände und höhere Temperaturen schützten die Früh-
chen besser vor Auskühlung. Hohe Luftfeuchtigkeit und die ste-
rile Klimatisierung sorgten dafür, dass die Winzlinge nicht aus-
trockneten und sich nicht mehr so schnell infizierten. Zudem ließ
sich ein höherer Sauerstoffgehalt automatisch regeln und über-
wachen. Der Inkubator war höhenverstellbar, was es den Eltern
erstmals ermöglichte, ihr Kind auch im Sitzen zu sehen und zu
berühren. Dräger hat diesen Gerätetyp immer weiterentwickelt.
Beim Caleo (2001) wird die Körpertemperatur des Frühchens
am Rumpf sowie an den Armen und Beinen gemessen. Kritische
Veränderungen lassen sich so schnell(er) erkennen. Der Inkuba-
tor hat auch einen Känguru-Modus, mit dem die Temperatur des
Frühchens selbst dann überwacht wird, wenn es auf dem Bauch
der Mutter liegt. Ende 2016 bringt Dräger ein neues Gerät auf
den Markt. Der Babyleo TN 500 misst jetzt auch die Belastung des
Frühchens durch Lärm und Licht. Das hilft Eltern und Pflege-
kräften, auf Stressreize zu reagieren. Über ein integriertes Audio-
system können dem Frühchen sogar die Stimmen der Eltern oder
Musik vorgespielt werden. Der neue Inkubator lässt sich offen (als
Wärmebett) und geschlossen (Inkubator) nutzen. Die Körper-
temperatur des Kindes bleibt selbst bei geöffneter Haube stabil.
Große Veränderungen hat es auch bei den Beatmungs-
strategien gegeben. Die mechanische Beatmung ist seit Jahrzehn-
ten passé. 1989 hat Dräger mit dem Babylog 8000 ein Gerät auf
den Markt gebracht, das die Beatmung elektronisch regelt und
durch Sensoren überwacht. So ließ sich erstmals genau messen,
welcher Druck und welche Volumina tatsächlich in den unrei-
Erstaunlich, dass die schweren Behinderungen nicht zugenommen haben
Phototherapie gegen Gelbsucht: Das Frühgeborene wird unter eine Lampe gelegt, die kurzwelliges Licht im Grenzbereich zum Ultraviolett abstrahlt. Dadurch wird der Abbau von Bilirubin in der Haut des Kindes angeregt. Bedient wird die Therapie hier von Moiken Dünn, Kinderkrankenschwester im Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH)
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FRÜHGEBORENENMEDIZIN GESUNDHEIT
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VIDEO: MEILENSTEINESeit über 60 Jahren trägt Dräger dazu bei, die Überlebenschancen von Frühgeborenen zu erhöhen. www.draeger.com/400/zufrueh
fen Lungen ankommen. Dabei erkannte man, dass ein zu gro-
ßes Atemzugvolumen der unreifen Lunge mehr schadet als ein zu
hoher Beatmungsdruck. Wenn zu viel Luft in die Lunge gelangt,
wird das Organ überdehnt und geschädigt. Daraufhin wurde die
rein druckkontrollierte Beatmung um Funktionen ergänzt, bei
denen ein bestimmtes Atemzug volumen festgelegt wird. Jeder
registrierte Atemzug des Frühchens wird vom Beatmungsgerät
analysiert und der jeweilige Druck für den nächsten Atemzug
optimiert. Man schaut also zunächst, was der kleine Patient selbst
kann und unterstützt ihn dabei, das eingestellte Tidalvolumen zu
erreichen. Das Frühchen bestimmt den Zeitpunkt und die Anzahl
der mandatorischen Atemhübe. Bei der Hochfrequenzbeatmung
(mittels Tubus) wird die Lunge kontinuierlich offen gehalten
und die Beatmung mit einer sehr hohen Frequenz (300–1.200
Atemzüge pro Minute) durchgeführt, jedoch mit kleinsten Volu-
mina. Diese lungenschonende Therapieform wird vor allem als
Notfallbehandlung bei bestimmten pulmonalen Erkrankungen
angewendet. Bei der nasalen CPAP-Therapie schließlich wird das
Erste Reise: In einem Transportinkubator wird ein Frühchen innerhalb des UKSH verlegt. Es bleibt dabei umfassend geschützt
Frühchen nicht mehr intubiert, sondern nur bei seiner weitge-
hend eigenständigen Atmung durch einen leichten Überdruck
in den Atemwegen unterstützt. CPAP steht für Continuous Positi-
ve Airway Pressure. Mit dem Babylog VN500, dem Nachfolger des
Babylog 8000, sind alle drei Beatmungs- sowie optimierte The-
rapieformen möglich.
Was wird in 40 Jahren sein?Wie wird es heutigen Frühchen in 40 Jahren ergehen? Das lässt sich
nur schwer sagen. Trotz besserer Intensivtherapie sowie familien-
zentrierter und entwicklungsfördernder Pflege ist der Anteil an
Folge schäden über die Jahrzehnte gleich geblieben. Rund ein Vier-
tel bis ein Drittel der Hochrisikokinder behält ein schweres Han-
dicap zurück. Dr. Saigal sieht den Grund hierfür darin, dass heute
immer unreifere Frühchen überleben. Je unreifer ein Kind ist, des-
to größer das Risiko. „Angesichts dieser Tatsache ist es erstaunlich,
dass die Rate an schweren Behinderungen nicht zugenommen hat“,
sagt sie. Trotzdem gehen einzelne Behinderungen zurück, etwa die
durch zu viel Sauerstoff bedingte Blindheit und der Anteil an Zere-
bralparesen. Wer wissen will, wie es den heute geborenen Extrem-
Frühchen in 40 Jahren gehen wird, muss entsprechende Langzeit-
studien auf den Weg bringen. Dafür braucht es Menschen wie Dr.
Saigal, die energisch genug sind, solche Studien über Jahrzehnte zu
betreiben – und immer wieder Geld dafür zusammentrommeln.
Beschützend beugt sich der neue Dräger Babyleo über Frühchen. Ob als Inkubator oder (wie hier) als Wärmebett genutzt: Die Körpertemperatur des Kindes bleibt selbst bei geöffneter Haube stabil
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MEDIZINISCHE VERSORGUNG ZENTRALASIEN
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Das Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital in Dangara ist eine Vorzeigeklinik in Tadschikistan – vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden hier behandelt, die auch aufgrund des extremen Klimas auftreten.
Text: Barbara Schaefer
Als Kahraman Kamolov, Anästhesist und Intensivmediziner,
vor drei Jahren nach Moskau reiste, ging er mit leuchtenden
Augen durch die Krankenhäuser. Die tadschikische Regierung
hatte die Exkursion organisiert. Ärzte der ehemaligen sowjeti-
schen Teilrepublik sollten Kliniken in der russischen Hauptstadt
besichtigen. Kamolov, väterlicher Typ mit dickem Schnauzer
und buschigen Augenbrauen, fragte sich: „Wann werden wir so
fortschrittlich sein?“ Er grinst und zeigt auf einen OP-Saal. „Ein
Jahr später war es so weit.“
2014 öffnete das Allgemeine Krankenhaus in Dangara, rund
100 km südlich der Hauptstadt Dushanbe. Kamolov wurde zum
Chefarzt berufen. Das vierstöckige Gebäude ruht wie ein Fremd-
körper in der 25.000-Seelen-Gemeinde, umgeben von flachen
Lehmhäusern und einigen Kommunalkas, den Wohnblocks aus
russischer Zeit. Kamolov wurde in Dangara geboren. Schon als
kleiner Junge wollte er Arzt werden, der Vater litt unter Nieren-
steinen. „Ich konnte das kaum mit ansehen, er hatte fürchterli-
che Schmerzen. Ich wollte Mediziner werden, um Menschen zu
helfen.“ Kamolov spricht leise, das ist typisch für die Bevölkerung
des zentralasiatischen Landes. Auch auf den Straßen und Märk-
ten ist das so. Man hält sich zurück. Wie fast alle Ärzte hier stu-
dierte Kamolov im Land, machte 1985 seinen Abschluss an der
medizinischen Fakultät der Universität in Dushanbe. Die Aus-
bildung zu Sowjetzeiten sei gut gewesen. Um das Krankenhaus
in Dangara zu bauen, bedurfte es finanzieller Unterstützung.
Das Geld kam vom OPEC-Fonds für Internationale Entwicklung
– mehrere Millionen US-Dollar wurden bewilligt. Die Klinik ver-
sorgt etwa zwei Millionen Menschen in der Provinz Khatlon, also
gut ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Über Kamolovs Schreib-
tisch hängt, wie in allen offiziellen Räumen des Landes, ein Por-
trät des Präsidenten. Auch Emomalii Rahmon wurde in Dangara
geboren, er ist seit 1994 Staatsoberhaupt. Kamolov sitzt hinter
einem Schreibtisch und sagt über seine Klinik: „Mit der hochmo-
dernen Ausstattung verlieren wir weniger
Patienten – das ist eine ungeheure Verbes-
serung. Ärzte und Pflege personal haben
zudem an Selbstvertrauen gewonnen.“
Folgen des BürgerkriegsEr erlebe nun wieder die Momente, wegen
derer er Arzt geworden sei. Wenn es einem
Patienten besser geht, „und man das Glück
in seinen Augen und in den Gesichtern
der Angehörigen sieht.“ Ein Fall ist ihm
besonders in Erinnerung geblieben: „Ein
Mädchen verunglückte beim Spielen, ein
dicker Stahldraht steckte in seinem Kopf.
Es war drei Wochen bewusstlos, aber dann
ist es aufgewacht. Es lebt, und es geht ihr
gut.“ In vielen anderen Kliniken des Lan-
des hätte es nicht gerettet werden können.
Noch immer leidet Tadschikistan
unter den Folgen des Bürgerkriegs (1992–
1997). Den kleinen Gesundheitszentren –
in den Machalla genannten und selbst-
verwalteten Stadtvierteln – aber auch den
Distriktkrankenhäusern fehlt es an vielem.
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Auf Rosen gebettet
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Kahraman Kamolov, Anästhesist und
Intensivmediziner, freut sich zu Recht: Als junger Mediziner träumte er von
einer gut funktionierenden Klinik – nun arbeitet
er im modernen Kranken-haus von Dangara
Aus heimischer Baumwolle werden die Schwesternkittel hergestellt – und die für eine Klinik ungewöhnlich fröhlich anmutende Bettwäsche
Stundenlang rühren die Nomadenfrauen über dem Feuer die traditionellen salzigen Joghurtkugeln. Doch trotz aller Abgeschiedenheit: Unten im Tal gibt es Apotheken und Gesundheitszentren
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MEDIZINISCHE VERSORGUNG ZENTRALASIEN
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Auch der Pamir-Highway schickt Patienten
gen seien auch die Verkehrsunfälle. „In
der Nähe verläuft der Pamir-Highway,
eine der spektakulärsten Höhenstraßen
der Welt – allerdings in zum Teil schlech-
ten Zustand. Jeden Tag bekommen wir
von dort eine Einlieferung.“ 60 Prozent
der Behandlungskosten übernimmt dann
der Staat, 40 Prozent der Patient. Wer sich
in eine Bedürftigenliste der Gemeinde-
verwaltung hat eintragen lassen, werde
unentgeltlich behandelt. Es sei schon vor-
gekommen, dass ein Arzt eine Behand-
lung aus eigener Tasche bezahlt hat. „Wir
sagen uns: Irgendwann wird das irgend-
wer vielleicht belohnen.“ Shamsov hat
dabei nicht eine spätere Welt im Sinn,
sondern das konkrete Morgen: „Vielleicht
behandeln wir ja als nächstes einen Mil-
lionär, der sich dankbar zeigt.“ Die Versorgung mit Trinkwas-
ser sei heute gut organisiert, zudem könne man überall Wasser
kaufen. Auch Schwangere profitieren von der modernen Medi-
zin. Mittlerweile könne man auch extrem Frühgeborene mit
einem Geburtsgewicht von weit unter 1000 Gramm retten. Und
so schicken Ärzte aus größerer Entfernung und trotz schlechter
Straßenverhältnisse Risikoschwangere ins Khatlon Inter-Dis-
Leiter der neuen Klinik in Dangara wurde Hizmatullo Shamsov.
Er und sein Chefarzt Kamolov kennen sich schon seit Kinder-
tagen, haben gemeinsam studiert und zusammen gearbeitet.
Gerade im Gesundheitssektor brauche es gut ausgebildete Leute
mit modernem Verständnis, sagt Kamolov. „Wo das fehlt, kann
eine moderne Ausstattung einiges kompensieren“, fügt Shamsov
hinzu.
Der Klinikdirektor, Typ eloquenter Manager, Anästhesist
sowie „Kandidat der medizinischen Wissenschaften“ (ent-
spricht in den GUS-Staaten dem deutschen Dr. med.), erin-
nert sich an hektische Situationen in der Notaufnahme. „Wenn
ein Patient eingeliefert wurde, wussten die Ärzte mitunter
nicht, was sie als Erstes machen sollten. Jetzt übernehmen die
modernen Geräte viel, das schafft Kapazitäten für Wichtige-
res.“ Besonders stolz seien sie darauf, sogar Nierentransplan-
tationen durchzuführen.
Im Sommer wird’s richtig heißAlltäglicher sei die steigende Zahl von Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen, sagt Shamsov. Das extreme Klima spiele eine zusätz-
liche Rolle, in den Sommermonaten wird es bis zu 45 Grad
Celsius heiß. Hinzu kommt eine extreme Temperaturspanne
zwischen Tag und Nacht. „Das ist purer Stress für den Kör-
per.“ Tuberkulose sei während des Bürgerkriegs ein Problem
gewesen, nun gebe es dafür spezielle Zentren. Wer mit TBC
in seine Klinik komme, werde sofort weitergeschickt. Gestie-
Aus dem ganzen Land kommen Patienten – auch
für Nierentransplantationen
Die Klinik in Dangara ist eine der moderns-ten des Landes. Zum Gerätepark gehören
auch Monitore, zentrale Gasversorgungsan-
lagen, OP-Leuchten, Anästhesiegeräte sowie
Säuglingswärme-systeme von Dräger
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Gastarbeiter„Viele Mediziner haben das Land verlassen“, sagt Kahraman Kamolov, Chefarzt am Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital im tadschikischen Dangara. Leitende Ärzte verdienen im staatlichen Gesundheitswesen rund 140 Euro im Monat. So vergrößern auch Akademiker jene Heerscharen, die außerhalb des Landes arbeiten. Die Rede ist von rund zwei Millionen Menschen, die nach Russland gingen. Offiziell wird von lediglich 200.000 gesprochen – eine Zahl, die im Land kaum jemand glaubt. In Russland werden sie „gastarbaitery“ genannt. Die schlecht bezahlten Migranten arbeiten auf Baustellen und Märkten. Jeder zweite Tadschike im arbeitsfähigen Alter soll in den letzten Jahrzehnten im Ausland gearbeitet haben. Laut Weltbank machten 2013 die Auslandsüberweisungen fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts Tadschikistans aus.
ReligionWenn Hizmatullo Shamsov, Klinikdirektor am Khatlon Inter-District Multipurpose Hospital, durch die hellen Krankenhausflure eilt, grüßt er meist mit „Salam aleikum“ (statt des üblichen lässigen „Salam“) – dem arabischen „Friede sei mit dir“. Doch das meint er nicht religiös. Denn Tadschikistan ist keine islamische, sondern eine präsidiale Republik mit Zweikammerparlament. Die Regierung ließ gar Moscheen schließen, um der Gefahr entgegenzuwirken, Radikale könnten einen islamischen Gottesstaat errichten. Auch Shamsov trennt streng zwischen privater Religion und Arbeit. Seine erste Regel lautet: „Hier wird gearbeitet, gebetet wird zu Hause.“ Ein Arzt, der während der Dienstzeit in die Moschee gegangen war, wurde sofort entlassen.
trict Multipurpose Hospital. Gerade liegen drei junge Tadschi-
kinnen mit Problemschwangerschaften in einem Zimmer. Ihre
Betten sind bezogen mit Wäsche aus einheimischer Baumwol-
le, bedruckt mit Rosen. Zusammen mit den bunten Nachthem-
den schafft das eine vertraute Atmosphäre. Überall in den Ber-
gen kleiden sich die Frauen farbig, mit kreativen Mustern. Eine
der drei Frauen durchlebt gerade ihre dritte Schwangerschaft.
Das Dorf, in dem sie wohnt, liegt hundert Kilometer entfernt.
Ihr erstes Kind ist nach einer Frühgeburt gestorben. „Damals
gab es diese Klinik noch nicht“, sagt sie leise. Was wünscht sich
Hizmatullo Shamsov für sein Land? Die Antwort des Klinikdirek-
tors lässt nicht lange auf sich warten: „Mehr Kliniken wie diese!“
In der Notaufnahme trifft er auf eine ältere Frau. Sie ist nach
ihrem Sturz zwar noch kreidebleich, blickt aber schon wieder
ganz zuversichtlich. In Zukunft solle sie gut auf sich aufpassen,
sagt der behandelnde Arzt. „Ach was“, entgegnet sie, „hier wer-
de ich so gut versorgt, da kann man beruhigt krank werden.“
Auch Frühchen mit einem Geburts-gewicht von weit unter 1000 Gramm können hier dank moderner Ausstattung und guter Betreuung überleben
Hizmatullo Shamsov, Anästhesist und Klinikdirektor
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BoxenstoppEine Welt für sich ist die mehr als 100 Kilometer von der nächsten Stadt entfernte Musselwhite-Mine im Nordwesten Ontarios – jährlich werden hier mehrere hunderttausend Unzen Gold produziert
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Ein neues Fahrzeug, das Dräger mit dem kanadischen Bergbauunternehmen Goldcorp und dem deutschen Maschinenbauer Paus entwickelt hat, setzt Maßstäbe bei der Rettung unter Tage.
Text: Steffan Heuer
im Untergrund
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Wollte man Bergbau im 21. Jahrhundert mit drei Worten umreißen, dann mit diesen: tiefer, länger, komplexer. Der technische Fortschritt und die wirtschaftlichen Gegebenheiten sorgen heute dafür, dass Minen weiter in die Tiefe und Breite vorgetrieben werden können, um Bodenschätze wie Gold, Eisenerz, Salz oder Kali abzubauen. Diese Expansion stellt auch Rettungskräfte vor neue Herausforde-rungen: Bei einem Notfall müssen sie bis in den entlegensten Winkel einer Grube gelangen – der möglicherweise kontaminiert ist – und anschließend wieder sicher zurückkehren. Die Menge an frischer Atemluft, die Retter mit sich führen können, ist einer der wichtigsten beschränkenden Faktoren, um derartige Flucht- und Rettungs abläufe zu optimieren.
Eine der bislang innovativsten Antworten auf diese Herausfor-derung lässt sich in der Musselwhite-Mine besichtigen, die die ka-nadische Goldcorp Inc. im Nordwesten der Provinz Ontario betreibt. Dort ist seit Herbst vergangenen Jahres ein neuartiges Grubenret-tungsfahrzeug im Einsatz. Die Entstehungsgeschichte des „Mines Rescue Vehicle“ (MRV) 9000 illustriert, welche Früchte die Zusam-menarbeit zwischen einem auf Sicherheit bedachten Bergbauunter-
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nehmen (Goldcorp), einem renommierten Hersteller von Bergbau-fahrzeugen (Paus) und Dräger tragen kann, um die Grubenrettung ins 21. Jahrhundert zu befördern.
Risiko erkannt, Gefahr gebannt„Das Fahrzeug erlaubt es dem Sicherheits- und Rettungspersonal, auch die entlegensten Gebiete einer Grube zu erreichen – ohne da-bei von der Reichweite seiner Atemschutzgeräte eingeschränkt zu sein. Das erhöht nicht nur die Sicherheit, sondern wirkt sich auch auf den Arbeitsalltag und die Betriebskosten einer Mine aus“, sagt Mar-kus Uchtenhagen, Sicherheitsinspektor bei Goldcorp. Uchtenhagen hatte das veränderte Risikoprofil immer weiter ausgedehnter Gruben bereits vor Jahren identifiziert und begonnen, sich Gedanken über mögliche Lösungen zu machen. Musselwhite etwa ist seit April 1997 in Betrieb und inzwischen auf eine Tiefe von 1,2 Kilometern vorgetrie-ben worden. Im Jahr 2014 produzierte die Mine rund 278.000 Unzen Gold. Der Ertrag hat seinen Preis: Musselwhites horizontale Ausdeh-nung beträgt inzwischen bis zu 12 Kilometer. Die Untersuchung zeigte auch, dass Retter angesichts dieser räumlichen Expansion schnell an ihre technischen Grenzen stoßen. Selbst bei guten Sichtverhältnissen und einer Reisegeschwindigkeit von 25 Stundenkilometern wäre ein Team rund 45 Minuten unterwegs, um manche Winkel zu erreichen. Es müsste bereits bei der Anfahrt seine Dräger-Atemschutzgeräte benutzen, die (je nach Einsatz) Atemluft für bis zu vier Stunden vor-halten. Schlimmstenfalls würde man zwar zum Einsatzort gelangen, um doch bald wieder unverrichteter Dinge umzukehren, da der Atem-luftvorrat die kritische 50-Prozent-Marke erreicht hat.
„Manches Gebiet lag außerhalb der Reichweite unserer Atem-schutzgeräte, sodass wir eine Antwort auf diese Frage finden muss-ten. Wenn das Rettungspersonal nicht mobil genug ist, um seine Arbeit zu verrichten, können wir keine Bergleute dorthin schicken! Es gab“, sagt Markus Uchtenhagen, „keinen umfassenden Plan, um schnell zu den tiefsten Bereichen der Mine vorzudringen.“ Dieses Problem betraf nicht nur Musselwhite, sondern auch weitere Gold-corp-Standorte sowie Gruben anderer Bergbauunternehmen. Der Goldcorp-Sicherheitsbeauftragte schloss sich mit einem weiteren Experten kurz, um nach praktikablen Lösungen auf das veränderte Ri-sikoprofil ausladender Gruben zu suchen. Gemeinsam mit Kent Arm-strong, der für Dräger weltweit als Geschäfts entwickler im Bereich Bergbau tätig ist, spielte Uchtenhagen über Monate verschiedene
Das Netzwerk unter Tage hat eine Gesamtlänge von 12 km Notfallübung mit Dräger Kreislauf-
Atemschutzgeräten (Typ: PSS BG4 plus)
Goldstandard für die Grubenrettung: Mit dem MRV 9000 lassen sich auch die entlegensten Winkel unter Tage erreichen
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aus, wenn die Hin- und Rückreise zum entferntesten Punkt einer Grube fast zwei Stunden in Anspruch nimmt. Gleichzeitig sind dem Ausbau mobiler Systeme physische Grenzen gesetzt: „Niemand kann ein Gerät auf dem Rücken tragen, das acht bis neun Stunden Atem-luft vorhält“, erklärt Armstrong. Eine bessere Mobilisierung der Retter allein löst das Problem ebenso wenig. Rettungsfahrzeuge, die wie ein geländetauglicher Krankenwagen in die Grube einfahren, um Feuer zu bekämpfen und Verletzte zu versorgen, während die Bergleute in Flucht- und Rettungskammern ausharren, sind nichts Neues. „Der-artige Lösungen sind seit einigen Jahren im Einsatz. Was bislang fehlte, war ein Fahrzeug mit einer Luftversorgung, die von der Um-gebungsluft unabhängig ist“, sagt Armstrong. „In den Gesprächen mit Goldcorp stellte sich heraus, dass die beste Lösung aus einem Fahr-zeug mit luftdichter Fahrerkabine und Kassette, gemeint ist die Ret-tungskammer, besteht, in dem ein Rettungsteam sicher unterwegs ist – und das eigene Atemschutzgerät erst dann aktiviert, wenn es am Einsatzort angekommen ist.“
Eine solche „Rettungskammer mit Allradantrieb“ entwarfen Uch-tenhagen und Armstrong in enger Abstimmung mit weiteren Experten bei Goldcorp sowie dem Bereich Engineered Solutions von Dräger, der über jahrzehntelange Erfahrung mit Atemluftversorgungssystemen verfügt. Zudem stießen sie auf einen weiteren erfahrenen Hersteller: die auf Bergbaufahrzeuge spezialisierte Maschinenfabrik Hermann Paus. Von der ersten Skizze bis zum fertigen Fahrzeug vergingen rund zweieinhalb Jahre, in denen alle drei Unternehmen die techni-schen Anforderungen ausarbeiteten und immer wieder Änderungen vornahmen. „Wir haben ein neues Konzept erfolgreich von der Idee in die Tat umgesetzt – und damit auch gezeigt, wie Grubenrettung im 21. Jahrhundert aussehen kann. Seitdem ist das Interesse für solche Fahrzeuge merklich gestiegen“, sagt Armstrong.
Bis zu 60 Prozent Steigfähigkeit und 33 km/h schnellMit einer Spitzengeschwindigkeit von bis zu 33 Stundenkilome-tern und einer Steigfähigkeit von bis zu 60 Prozent ist das Fahr-zeug auch für den rauen Einsatz unter Tage ausgelegt. Voll bela-den wiegt es rund neun Tonnen. Fahrerkabine und Kassette sind
Rettungsinsel:Bis zu 96 Stunden Schutz bietet diese Dräger Flucht- und Rettungskammer vor lebensbedrohenden Kontaminationen und Gasen – je nach Ausbaustufe finden hier bis zu 20 Menschen Unterschlupf
Szenarien durch, wie sich das Reichweitenproblem unter Tage lösen ließe. Sie erörterten und verwarfen diverse Ideen – etwa zusätzli-che Atemschutzgeräte an verschiedenen Punkten unter Tage zu de-ponieren oder eine Rettungskapsel als Anhänger hinter dem beste-henden Fahrzeug mitzuführen. „Da es keine brauchbare Lösung auf dem Markt gab, blieb am Ende der Gedanke, gemeinsam ein Fahr-zeug zu entwickeln. Wir waren nicht nur Ideengeber, sondern auch der erste Kunde für etwas, das es so noch nicht gab“, erinnert sich Uchtenhagen.
Wenn Atemschutzgeräte an Grenzen stoßen Kent Armstrong verweist auf ein Grubenfeuer im Jahr 1965 in der MacIntyre-Mine in Kanada als Wendepunkt. Das Unglück in rund 1.500 Metern Tiefe führte vor Augen, dass Atemschutzgeräte mit zwei Stunden Einsatzdauer nicht mehr ausreichen, um in immer tie-feren Gruben sicher und effektiv zu arbeiten. Drägers Kreislauf-Atem-schutzgerät BG 174 schloss Mitte der 1960er-Jahre erstmals diese Sicherheitslücke. Es versorgte Einsatzkräfte mit bis zu vier Stunden Atemluft. Doch selbst dieser neue Standard reicht heute nicht mehr
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Mobile Gas-messtechnik hilft, Risiko-faktoren im Wetterstrom zu kontrollieren
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mit einem Luft-Spülsystem ausgestattet, das die Besatzung mit Atemluft versorgt. Je nachdem, wie viele Personen an Bord sind, beträgt die Betriebszeit bis zu fünf Stunden. Anderthalb Stunden für die Einfahrt, zwei Stunden am Einsatzort, und anderthalb Stun-den für die Rückfahrt.
Sobald die mit persönlichem Atemschutz ausgerüsteten Rettungs-kräfte das Fahrzeug verlassen haben, kann der Luftstrom für die ver-bliebene Besatzung heruntergefahren werden, um Atemluft zu sparen. Fahrerkabine plus Kassette bieten neun Personen Platz – einschließ-lich eines Schleifkorbs, um verletzte Kumpel in Sicherheit zu bringen. Damit liegt man deutlich über der in Kanada gesetzlich vorgeschrie-benen Rettungsteamstärke von fünf Personen. In den Fahrzeugen, die von Goldcorp genutzt werden, strömt Atemluft aus sechs Gasfla-schen mit jeweils 6.000 PSI. Hier wurde eine Lösung gewählt, die man sonst nur von Boxenstopps in der Formel-1 gewohnt ist. „Es ist uns wichtig, das Fahrzeug nach einem Einsatz so schnell wie möglich wieder bereitzuhalten“, beschreibt Uchtenhagen die Anforderungen. Deshalb entwickelte man ein hydraulisches Hubsystem, mit dem die Gasflaschen binnen 15-20 Minuten gegen einen unverbrauchten Satz ausgetauscht werden können. Das Fahrzeug verfügt zudem über ein Gasüberwachungssystem, das die Konzentration von Sauerstoff, Stick-stoffdioxid, Methan und Kohlenmonoxid in der Umgebungsluft sowie von Sauerstoff, Kohlendioxid und Kohlenmonoxid im Inneren misst. Sobald Grenzwerte über- oder unterschritten werden, weisen visuel-le und akustische Signale darauf hin. Fest installierte Wärmebildka-meras, vorn wie hinten, lösen Handheld- Varianten ab. Drei Bildschir-me (zwei in der Kabine, einer in der Kassette) helfen dem Team bei der Orientierung in staubiger oder verrauchter Umgebung sowie bei der Suche nach Vermissten.
Durch dick und dünnGebaut hat den Koloss auf Rädern die Maschinenfabrik Hermann Paus, ein deutscher Mittelständler, der sich seit mehr als 40 Jahren auf die Fertigung robuster Fahrzeuge für den Einsatz im Bergbau spezialisiert hat. Paus fertigt mit einer Belegschaft von 250 Mitarbei-tern jährlich mehr als 150 Fahrzeuge. „Jedes ist an die Erfordernisse eines Kunden und die Bedingungen einer bestimmten Grube ange-passt“, sagt Geschäftsführer Franz-Josef Paus. Zur Realisierung der Idee mussten alle drei Unternehmen regelmäßig an einem Tisch zu-sammenkommen. „Die ungewöhnlich enge transatlantische Zusam-
Robustes Rettungsfahrzeug mit Formel-1- Charakter
In der mobilen Rettungskammer über-wacht ein Dräger X-am 7000 die Konzentration von Sauerstoff, Kohlenmonoxid und Kohlendioxid
1 Luft-Spülsystem mit Dosierpanel
2 Feuerlöschanlage
3 Kommunikationssystem
4 Notausstieg
5 Luftdichte Fahrerkabine und Kassette
6 Klimaanlage
7 Ergonomische Sitze
8 Schleifkorb
9 Atemluftspeicher
10 Gaswarnsystem
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Das Außen im Blick behalten vier Dräger Polytron 8000. Sie messen die untere Explosionsgrenze sowie die Konzentration verschiedener Gase
menarbeit hat zum Erfolg geführt“, sagt Paus. „Mit diesem Fahrzeug können Grubenbetreiber ihre Rettungskonzepte zeitgemäß organi-sieren und erweitern.“
Die eigentlichen Herausforderungen zeigten sich erst in der Pla-nung und Umsetzung. Auf den ersten Blick, so der Unternehmer, ging es darum, eine autarke Rettungskammer auf Rädern zu entwerfen und sie auf einer bestehenden Karosserie zu befestigen. Doch in den Diskussionen über das genaue Design stieß man immer wieder auf praktische Anforderungen, die Veränderungen verlangten. Dabei stell-te sich etwa heraus, dass die Sitze den ergonomischen Bedürfnis-sen der Retter angepasst werden mussten. Da die Kreislauf-Atem-schutzgeräte am Mann getragen werden, haben die Vordersitze des MRV 9000 keine Rückenlehnen. Nicht zuletzt musste auch das De-sign der Türen modifiziert werden, um dem Rettungsteam ein unge-hindertes Ein- und Aussteigen zu ermöglichen. Eine Handvoll Paus-Mitarbeiter benötigte anschließend 15 Monate, um die feinjustierten Pläne in die Tat umzusetzen. „Dabei war es wichtig, dass wir einen ersten Kunden an Bord hatten“, sagt Kent Armstrong. „Ein derarti-ges Fahrzeug kostet mehrere hunderttausend Dollar. Das heißt, man kann es nicht einfach probeweise bauen und auf den Markt bringen in der Hoffnung, dass sich die Branche dafür interessiert.“
Im vergangenen Jahr wurden die ersten beiden leuchtend gelb lackierten Exemplare des MRV 9000 an Goldcorp geliefert – und stehen nun in der Musselwhite- und der Porcupine-Mine in Timmins bereit. Denis Leduc, Notfall- und Sicherheitskoordinator der Musselwhite-Mine, hat sein über 70 Mann starkes Team rasch in den Umgang mit dem neuen Gefährt eingearbeitet. „Es ist ein auf-regender Neuzugang, der uns mehr Handlungsfreiheit gibt, um in Notfall situationen schnell und sicher reagieren zu können.“
„Jede Mine stellt eigene Anforderungen“Das erste Feedback anderer Bergbauunternehmen auf das neue Rettungsfahrzeug ist positiv, berichten Markus Uchtenhagen und Kent Armstrong. „Jede Mine ist anders angelegt und stellt ihre ei-genen Anforderungen“, sagt Uchtenhagen. Doch auch Goldcorp hat noch andere Gruben, für die sich das MRV eignete – jene, die auf-grund ihres Alters besonders tief und ausgedehnt sind. „Ein derarti-ges Fahrzeug kann obendrein wirtschaftliche Vorteile bieten“, ergänzt er. „Traditionell besitzen die meisten Gruben an der Erdoberfläche eine Infrastruktur und unter Tage ein Layout, bei dem der Haupt-eingang als ausziehender Wetterschacht dient. Mit dem MRV lassen sich Betriebskosten sogar senken, da man keine zusätzlichen, kost-spieligen Belüftungsschächte anlegen muss, um Rettungskräften den Zugang zu frischer Atemluft zu gewährleisten.“
Gleichwohl muss sich das MRV 9000 erst noch seinen Platz im Rettungssortiment einer Grube erobern. „Es geht nicht nur darum, ein neues Fahrzeug anzuschaffen und damit auf alles vorbereitet zu sein, sondern es vielmehr in ein modernes Sicherheits- und Rettungskon-zept zu integrieren“, erklärt Dräger-Manager Armstrong. „Die Berg-bauindustrie hat zur Kenntnis genommen, was da entwickelt wurde und muss sich jetzt Gedanken darüber machen, ob und wie es in ihr individuelles Sicherheitskonzept passt – technisch wie ökonomisch.“ Das erfordert Anpassungen bei Dimension und Ausstattung, die sich nach den Anforderungen einer Grube und den gesetzlichen Bestim-mungen eines Landes richten. „Insofern“, sagt Armstrong, „gibt es kein Grubenrettungsfahrzeug, das sich für alle Bergwerke gleich gut eignet. Doch es gibt jetzt eine verlässliche Antwort auf die Frage, wie Grubenrettung im 21. Jahrhundert funktionieren kann.“
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Ergonomie für den Ernstfall heißt zum Beispiel, die Sitze so zu gestalten, dass die Einsatzkräfte mit dem Atem-schutzgerät auf dem Rücken Platz nehmen können
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Ob Auto, Fahrrad oder Gaswarngerät: Die Werkzeuge des Alltags sind immer dann am nützlichsten, wenn sie genau dort sind, wo man sie gerade braucht. Sie zu seinem Eigentum zu zählen wird dagegen für manchen zur Last.
Text: Frank Grünberg
Carsharing boomt. Die Mitglieder des
Bundesverbands CarSharing e. V. (bcs)
zählten Anfang 2016 fast 1,3 Millionen
Kunden in Deutschland – gut ein Fünf-
tel mehr als noch im Jahr zuvor. Die Zahl
der Städte und Gemeinden mit einem ent-
sprechenden Angebot erhöhte sich auf
537, ein Plus von knapp zehn Prozent.
Und doch fristet Carsharing immer
noch ein Nischendasein. Gemessen an
einer Gesamtbevölkerung von 81 Millio-
nen Menschen und mehr als 12.200 Kom-
munen bleiben die Quoten im niedrigen
einstelligen Prozentbereich. Hoch sind
dagegen die Wachstumsraten. Sogar die
Automobilhersteller nehmen den Trend
zum Teilen inzwischen so ernst, dass sie
mit eigenen Angeboten in diesem Markt
mitmischen. Denn viele Menschen wol-
len wählen können zwischen Kaufen
und Mieten. Anbieter, die ihre Produkte
nur verkaufen, könnten künftig Pro-
bleme bekommen. Aus Kundensicht lie-
gen die Vorteile des Carsharing auf der
Hand. Gegen die Zahlung eines Mitglieds-
beitrags und einer nutzungsabhängigen
Gebühr muss man sich weder um Kauf,
Pflege und Reparatur noch um Versiche-
rung oder Steuern kümmern. Zudem lässt
sich – je nach Bedarf – zwischen verschie-
denen Fahrzeugtypen wählen, die oft nur
wenige Monate alt und damit technisch
auf dem neuesten Stand sind. Sie tragen
auch dazu bei, dass weniger Autos die
Städte zuparken. Eine aktuelle bcs-Stu-
die zeigt, dass ein Carsharing-Fahrzeug
bis zu 20 Privat-Pkws ersetzen kann. In
innenstadtnahen Bezirken besitzen fast
80 Prozent der Carsharing-Kunden gar
kein eigenes Auto mehr. Diese Menschen
machen sich individuell mobil – durch
eine Kombination aus Auto, Fahrrad, Bus
und Bahn. Selbst Fahrräder werden oft
nicht mehr gekauft, sondern bei Bedarf
kurzfristig gemietet. Eigentum hat hier
ausgedient, auch als Statussymbol.
Technik verändert das LebenDabei ist die Idee der Autovermietung gar
nicht neu. Am 15. Januar 1896 – zehn Jah-
re nachdem Carl Benz das erste Vehikel
ins Rollen brachte – gründete der Pariser
Automobilclub die erste Autovermietung
der Welt. Weniger, um damit Geld zu ver-
dienen, sondern um die Menschen mit
den motorisierten Fahrzeugen vertraut zu
machen. In Deutschland öffnete die erste
Autovermietung 1927 in Hamburg. Seit-
dem hatte sich an diesem Geschäfts modell
über Jahrzehnte nicht viel geändert. Kun-
den müssen die Autos meist abholen und
wieder abgeben, dafür viel Papierkram
erledigen und die Miete mindestens für
einen Tag entrichten. Die Organisation ist
mit Aufwand verbunden. Die Pioniere des
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KAUFEN ODER MIETEN? WIRTSCHAFT
Mobil und sicher: Dräger verkauft nicht nur Sicherheitstechnik, sondern vermietet sie auch
Carsharing setzten dem vor rund 30 Jahren
ein anderes Konzept entgegen. Sie wollten
Autos zeitlich flexibel und ortsnah nutzen,
um einzukaufen oder übers Wochenende
wegzufahren: anmelden, einsteigen, los-
fahren – und dort abstellen, wo es gerade
passt. Dieser Vision ist die Branche heute
sehr nahe gekommen. Internet und Smart-
phones machen es möglich. Die Suche
nach einem freien Auto erfolgt in Echtzeit,
per App – sie zeigt auch, wo sich das nächst-
gelegene befindet. Die Fahrzeuge sind mit
Bordcomputern, GPS-Sendern und Mobil-
funkeinheiten ausgestattet, die Standort
und Fahrzeugdaten zu jeder Zeit über-
mitteln können. Auch die Schlüssel hän-
gen oft nicht mehr in einem nahgelege-
nen Tresor, weil sich die Türen mit einer
Chipkarte öffnen lassen. Meist braucht es
heute nicht einmal mehr feste Park plätze.
Nach Gebrauch wird das Fahrzeug einfach
dort abgestellt, wo es dem Nutzer gerade
passt. Die Unterschiede zum gekauften
Auto schwinden nicht zuletzt durch solche
Annehmlichkeiten. Damit ist Car sharing
der Beweis dafür, wie digitale Technik das
Leben verändern kann. Die Anbieter wie-
derum sind aufgefordert, ihre Service-
und Logistikdienstleistungen laufend zu
verbessern. Wo befinden sich gerade wel-
che Fahrzeuge? In welchem Zustand sind
sie? Wann wurden sie zuletzt gewartet? Wer
im modernen Mietmarkt mitspielen will,
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WIRTSCHAFT KAUFEN ODER MIETEN?
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Erweitertes PortfolioDräger bietet seine Sicherheitstechnik seit zehn Jahren auch zur Miete an. Mit drei Servicepaketen richtet man sich nun auch an neue Kundengruppen.
Sicherheitsprüfungen in Raffinerien folgen einem festen Turnus. Alle fünf Jahre, das ist gesetzlich vorgeschrieben, müssen beispielsweise Druckbehälter gewartet werden. Ganze Anlagen stehen dann mehrere Wochen lang still. Weil in dieser Zeit auch andere Instandsetzungsmaßnahmen stattfinden, schnellt der Bedarf an Sicherheitstechnik auf einen Schlag in die Höhe. „Das hat uns vor zehn Jahren auf die Idee gebracht, unsere Geräte auch zu vermieten“, sagt Thielo Hammer, Leiter des Portfolio-Managements. „Das war der Startschuss für die Rental & Safety Services von Dräger.“
Hammer zeichnet dafür verantwortlich, die Mietangebote in kunden gerechte Pakete zu schnüren. Dafür stehen ihm und seinem Team weltweit rund 85.000 Geräte zur Verfügung, die sich auf 16 Lager verteilen und etwa 1.500 ver-schiedene Produkte umfassen: von Atemschutzmasken bis hin zu Fahrrädern und explosionsgeschützten Funkgeräten. Dabei werden nicht nur Produkte vermietet (Rental Services), sondern auch ganzheitliche Lösungen wie mobile Wartungs- und Ex-Ox-Ausgabestationen („Rental Robots“), CSE Monitoring, Sicherheitspersonal oder die Bereitstellung und Beratung aus den Bereichen Shutdown Safety sowie On-Site Safety Services. Der Umsatz des Geschäftsbereichs liegt jährlich im mittle-ren zweistelligen Millionen-Euro-Bereich. Gräbt man sich damit nicht das Wasser im klassischen Produktgeschäft ab? „Für uns schließen sich Miete und Kauf nicht aus – vielmehr ergänzen sie einander“, sagt Hammer. „Es gibt eben Kunden, für die sich ein Kauf partout nicht lohnt.“ Pauschal ließe sich die Frage, wann man mit einer Miet-lösung besser gestellt sei, nicht beantworten. Entscheidend dafür ist etwa, ob die Produkte lang- oder kurzfristig genutzt und welche Servicepakete genau benötigt werden – und, ob man sie zentral oder dezentral einsetzt.
Um Kunden aus den Bereichen Feuerwehr, Energie- und Wasserversorgung sowie der Pharma-, Metall- und Elektroindustrie noch besser zu erreichen, hat Dräger sein Serviceportfolio im Bereich „Rental Services“ kürzlich erweitert und das Angebot „Basic“ um zwei weitere ergänzt. Die beiden neuen Pakete („Advanced“ und Professional“) richten sich an diejenigen, die gemietete Sicherheitstechnik nicht selbst warten wollen. In der Variante „Advanced“ werden alle Wartungs-, Kalibrierungs- und Instandsetzungsarbeiten von einer Dräger-Werkstatt übernommen. In der „Professional“-Variante geschieht das vor Ort, beim Kunden. Die Deutsche Telekom gehört zu den größten Rental-Advanced-Kunden in Deutschland. Zusätzlich unterstützt Dräger mit einem Webtool bei der Verwaltung der Mietflotte. So bleibt transparent, welche Geräte wo im Einsatz sind und gegebenenfalls ausgetauscht werden müssen. Kontakt: [email protected]
Um Kunden aus den Bereichen Feuerwehr, Energie- und Wasser-versorgung sowie der Pharma-, Metall- und Elektroindustrie noch besser zu versorgen, hat Dräger sein Serviceportfolio erweitert
Mein oder dein? Diese Frage stellt sich mittlerweile bei vielen Gütern des täglichen Bedarfs
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49DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
muss diese Fragen in Echtzeit beantwor-
ten können, ein leistungsfähiges Flotten-
management vorausgesetzt. Das gilt auch
jenseits von Autos und Fahrrädern.
Mein oder dein? Diese Frage stellt
sich inzwischen bei fast allen beweglichen
Gütern – auch bei Gaswarngeräten. Die
Deutsche Telekom etwa hat sich für die
Miete von 1.800 mobilen Gaswarn geräten
(Typ: Dräger X-am 5600) entschieden.
Diese werden benötigt, damit Verlege- und
Wartungsarbeiten an Leitungen gefahrlos
durchgeführt werden können. Die Leitun-
gen liegen oft in Schächten oder Kanälen,
in denen Sauerstoffmangel, giftige Gase
und explosive Dämpfe auftreten können.
Um die Mitarbeiter frühzeitig vor diesen
Gefahren zu warnen, sind alle mit ent-
sprechenden Geräten ausgerüstet. Frü-
her unterhielt das Unternehmen dafür
einen eigenen Gerätepool. Die Erfah-
rungen zeigten jedoch, dass die flexible
Bereitstellung von geprüfter und gewarte-
ter Technik an unterschiedlichen Einsatz-
orten nicht zur vollen Zufriedenheit rea-
lisiert werden konnte. Zum einen, weil es
am nötigen Know-how fehlte, die Geräte
regelmäßig zu kalibrieren und damit ein-
satzbereit zu halten. Zum anderen, weil
der logistische Aufwand sehr hoch ist,
die 45 Standorte, mit ihren jeweils 20 bis
120 Technikern, zuverlässig mit funktions-
tüchtigen Geräten zu versorgen.
Stets einsetzbare TechnikDräger liefert nicht nur die Gaswarn geräte,
sondern verantwortet auch das Flotten-
management mithilfe einer webbasierten
Software. Die Logistik wurde dabei spezi-
fisch auf die Bedürfnisse der Deutschen
Telekom zugeschnitten. Die Geräte wer-
den in wiederverwendbaren Verpackun-
gen geliefert, die einen doppelten Vorteil
bieten: Sie ermöglichen die unkomplizier-
te Rücksendung auf dem Postweg, da sie
bereits mit allen notwendigen Adressen
versehen sind – zudem dienen sie als Lade-
station, die das Aufladen der Geräte auch
in den Fahrzeugen der Servicetechniker
erlaubt. Die Technik ist somit stets einsatz-
bereit und erhöht die Mobilität und Sicher-
heit der Mitarbeiter.
Mieten oder kaufen? Eine Musterrechnung:Ein Unternehmen besitzt 20 mobile Gasmessgeräte (Typ: Dräger X-am 5000).
Im Rückblick der letzten drei Jahre haben diese in mehr als der Hälfte aller Monate
ausgereicht, um den Bedarf zu decken (siehe unten). Maximal wurden zusätzlich
15 Messgeräte benötigt. Wäre es günstiger gewesen, diese zu mieten oder zu kaufen?
In diesem Fall ergibt die Kalkulation der Gesamtkosten ein klares Ergebnis:
Durch die Miete der zusätzlich benötigten Geräte in der Variante „Rental Basic“
hätte der Kunde fast die Hälfte der Kosten gespart.
Die drei Varianten des Dräger Rental Service: Basic Advanced Professional
Service1 Mietgeräte (einsatzbereit) 2 Lieferung frei Haus 3 Pick-Up-Service 4 Wartung 5 Fachgerechte Reparaturen 6 Reparatur beim Dräger Service 7 Reparatur beim Kunden 8 Wiederverwendbare Verpackung 9 Geräteversicherung 10 Reparatur nach unsachgemäßem
Gebrauch *
Service und Kosten im Paket enthalten Service kann zusätzlich gebucht werden Service für das Paket nicht erforderlich * Kundenindividuelle Kostenkalkulation
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Feb
Mrz
Apr
Mai
Jun
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Sep
Okt
Okt
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Nov
Dez
Dez
Flexibler, tatsächlicher Bedarf über drei Jahre
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30
0
40
Jan
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Aug
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Stück
Dräger X-am 5000 Ex2 O
2 CO/H
2N
1S
Dräger X-am 5000 Ex2 O
2 CO/H
2N
1S
0
20.000 €
40.000 €
Spitzenabdeckung durch Mietgeräte
Spitzenabdeckung durch Kauf (inkl. Gesamtbetriebskosten)
50 %
Die Berechnungsgrundlage beruht auf dem Fallbeispiel aus der obigen Grafik, die Auswertung auf realistischen Schätzungen und Annahmen; sie kann aber keine Allgemeingültigkeit beanspru-chen. Das Schaubild ist eine theoretische Beispieldarstellung. Die tatsächlichen Einsparungen hängen von den jeweiligen Rahmenbedingungen des Einzelfalls ab und variieren deshalb.
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WISSENSCHAFT FLÜSSIGGAS
50 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Gasmotoren gehört die Zukunft in der internationalenSchifffahrt. Gasmesstechnik macht den Wechsel von Schweröl zu flüssigem Erdgas sicherer – sie kommt auch in Anlagen zum Einsatz, die Schiffe in Häfen mit Strom versorgen. Rußpartikel, Schwefel- und Stickoxide sind dann fast kein Thema mehr.
Text: Peter Thomas
GUTE
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51DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Netzwerk Ozeane: Die Grafik zeigt den Schiffs-verkehr auf den Weltmeeren
im Jahr 2012. Gelbe Linien stehen für die Routen von Containerschiffen, Tanker
sind rot dargestellt, Schütt-gutfrachter blau
Wenn die AIDAsol in Hamburg vor
Anker geht, schaltet sie ihre Motoren ab.
Denn während der Liegezeit des Kreuz-
fahrtschiffs übernimmt seit 2016 die
LNG-Hybrid-Barge „Hummel“ die Strom-
versorgung. Der Schubleichter des Unter-
nehmens Becker Marine Systems hat zwei
Container mit bis zu je 17 Tonnen flüssi-
gem Erdgas (Liquefied Natural Gas, LNG)
an Bord. Daraus erzeugen Generatoren
Strom.
Die Stromversorgung von Hoch-
seeschiffen in Häfen ist nicht einfach,
teilweise verbrauchen sie am Kai so viel
Energie wie eine Kleinstadt. Starkstrom-
leitungen dauerhaft zu verlegen ist teuer.
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Eine Hybrid-Barge erreicht dagegen flexi-
bel jedes Schiff, egal wo es vor Anker gegan-
gen ist. Nach dem gleichen Prinzip funkti-
onieren die viel größeren schwimmenden
Kraftwerke „Karpowership“ des türkischen
Unternehmens Karadeniz Energy, die mit
LNG oder Schweröl betrieben werden. Sie
leisten zwischen 30 und 470 Megawatt,
die Hummel kommt immerhin auf bis zu
7,5 Megawatt. Das reicht aus, um auch sehr
energiehungrige Kreuzfahrtschiffe zu ver-
sorgen. Bei einer Liegezeit von etwa acht
Stunden verbrauchen sie bis zu 40 Mega-
wattstunden Strom, benötigen somit eine
Versorgungsleistung von fünf Megawatt.
Abschied vom SchwerölBislang laufen meist die eigenen Moto-
ren der Kreuzfahrtschiffe weiter, wenn sie
irgendwo auf der Welt am Kai liegen. Die
Maschinen erzeugen dann über ihre Gene-
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52 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
WISSENSCHAFT FLÜSSIGGAS
ratoren den benötigten Strom, während
die Passagiere durch die jeweilige Stadt
flanieren. Welche Emissionen dabei ent-
stehen, hängt vom verwendeten Treibstoff
ab. Am schlechtesten schneidet Schwer-
öl ab, der bislang wichtigste Energielie-
ferant für die internationale Schifffahrt.
Deren dicke Abgaswolken mit viel Stick-
oxiden, Schwefeloxiden, Ruß und Fein-
staub sind ein Gesundheits- und Umwelt-
risiko. Besser sieht die Bilanz bei Schiffen
mit Abgasreinigung (Scrubber) aus. Sau-
berer als Schweröl ist der teurere Marine-
dieselkraftstoff, den heute die meisten
Schiffe als Energielieferanten im Hafen
nutzen. LNG schließlich schneidet hin-
sichtlich der Emissionen am besten ab.
Seine ökologischen Vorteile hebt auch Max
Kommorowski hervor, Leiter des Bereichs
Einsatz von LNG als Schiffstreibstoff wird zunehmen
Hafenpanorama mit sauberer Energie:
Macht die AIDAsol (links) in Hamburg fest, liefert
die Hummel (rechts vorn) Strom aus LNG. Die Energie
wird mit Starkstromkabeln übertragen (oben)
LNG Hybrid bei Becker Marine Systems:
„Schwefeloxide und Rußpartikel finden
sich überhaupt nicht mehr im Abgas, Stick-
oxide werden um bis zu 80 Prozent verrin-
gert, der Kohlendioxidausstoß sinkt um bis
zu 20 Prozent.“ Bei Neubauten entschei-
den sich deshalb heute immer mehr Ree-
dereien für einen Gasantrieb. Auch AIDA
setzt bei der nächsten Schiffsgeneration,
die bis 2020 in Dienst gestellt werden
soll, auf einen reinen LNG-Antrieb. „Bis-
her gibt es zwar erst rund 100 Schiffe mit
LNG-Antrieb weltweit, aber viele befinden
sich noch im Bau – insofern dürfte die Ver-
breitung dieser Technik in den kommen-
den Jahren exponentiell zunehmen“, sagt
Maria Dimitrova, die bei Dräger die Fokus-
industrie „Schiffbau“ betreut. Zudem gibt
es Retrofit-Projekte, bei denen bestehende
Schiffe mit Gasmotoren oder Dual-Fuel-
Technik für den Wechsel zwischen Gas
und einem anderen Treibstoff ausgestattet
werden (siehe Interview, Seite 53).
Kluger ÜbergangAber was ist mit der umweltfreundlichen
Energieversorgung im Hafen für die große
Bestandsflotte mit älterer Motorentechnik?
Hier setzt Becker Marine Systems mit der
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53DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Hummel an. „Die Idee für die LNG-Hyb-
rid-Barge entstand 2012“, sagt Max Kom-
morowski. Mit AIDA als Partner hat das
Unternehmen sein schwimmendes Kraft-
werk zur Serienreife entwickelt, gebaut
und 2015 in Betrieb genommen. Bis zum
Saison ende 2016 wird die Barge wohl mehr
als 30 Einsätze absolviert haben.
Das Risiko beherrschenDas Gas wird in Containern an Bord gelie-
fert. Aus der tiefkalten Flüssigphase wird
das LNG dann verdampft und als klassi-
sches Erdgas von den Motoren verbrannt.
Damit steigt auch das Risiko, denn aus-
tretendes Gas birgt eine hohe Explosions-
gefahr. „Deshalb wird der Betrieb an Bord
der Barge mit zahlreichen Sensoren über-
wacht“, sagt Peter Wesselbaum, Experte
für stationäre Gaswarnsysteme bei Dräger.
„Zum Einsatz kommt eine redundante
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Dr.-Ing. Thomas Spindler ist Leiter des Bereichs Upgrades & Retrofits Four-Stroke Engines bei MAN PrimeServ
Dräger PIR 7000:infrarot-optischer Transmitter, der den LNG-Betrieb an Bord der Hybrid-Barge Hummel überwacht
„LNG wird immer wichtiger“MAN PrimeServ, die Servicemarke von MAN Diesel & Turbo, macht mit maßgeschneiderten Retrofits Viertakt-Schiffsdiesel fit für Flüssigerdgas.
Herr Dr. Spindler, welches Potenzial sehen Sie in den kommenden Jahren für Retrofits, bei denen bestehende Schiffe mit herkömmlichen Motoren auf Dual-Fuel-Technologie mit LNG als alternativem Treibstoff umgerüstet werden? Das Potenzial ist erheblich: Retrofits sichern die langfristige Einsatzfähigkeit bestehender Schiffsantriebsanlagen angesichts immer strengerer Schwefel-Grenzwerte im Treibstoff. Dual-Fuel-Technik wird in den nächsten Jahren dazu beitragen, dass sich LNG als Schiffstreibstoff weiter durchsetzt: Mit jedem erfolgreichen Retrofit, bei dem wir Viertakt-Schiffsdiesel LNG-tauglich machen, steigern wir die Nachfrage nach LNG. Wir planen, Dual-Fuel Retrofit-kits für weitere Motorentypen zu entwickeln, die bisher noch nicht umgerüstet werden konnten. Das gilt für verschiedene Anwendungen wie Kreuzfahrtschiffe, Passagierfähren und Frachtschiffe. So wird LNG für viele Kunden zu einer Option. Wie genau läuft das Retrofit für den Dual-Fuel-Betrieb mit LNG ab? Ein gutes Beispiel dafür ist ein Projekt, das wir gerade abschließen: Die weltweit erste Umrüstung eines 1.000-TEU-Containerschiffs der Reederei Wessels, das mit einem MAN-Motor des Typs 8L48/60B angetrieben wird. Dieser Motor wird mit den Komponenten eines Serienmotors 51/60DF zum Dual-Fuel Motor umgebaut. Hinzu kommt die komplette Speicher-, Steuerungs- und Messtechnik für LNG. Jedes Retrofit wird individuell geplant und in mehreren Schritten umgesetzt. Vom ersten Konzeptschritt bis zum erfolg-reichen Projektabschluss dauert ein Retrofit durchschnittlich etwa ein Jahr.Hat MAN mit dem Kauf des Geschäftszweig Marine Fuel Gas Supply System von Cryo AB eine besondere Kompetenz im Sektor LNG erworben? MAN Diesel & Turbo hat mit dieser Übernahme einen strategisch wichtigen Zukauf für die Zukunft getätigt. Denn LNG wird als Kraftstoff für die Schifffahrt immer wichtiger. Unseren Kunden können wir so im Dual-Fuel-Segment und bei reinen LNG-Anlagen Gesamtlösungen aus einer Hand anbieten. Damit setzen wir uns an die Spitze des Marktes.
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54 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
WISSENSCHAFT FLÜSSIGGAS
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EMISSIONEN
CO2-Verbrauch, um eine
Tonne Fracht einen Kilometer
weit zu transportieren:
Streckenüberwachung mit Open-Path-
Geräten. Dazu gibt es Punktmessun-
gen über Infrarotsensoren in definierten
Bereichen – vor allem mit dem Dräger PIR
7000.“ Die Sensoren für punktuelle Mes-
sungen arbeiten vor allem an möglichen
Leckagestellen, überwachen aber auch den
Abluftstrom der Anlagen. Die Gasaufberei-
tungsanlage, Herzstück des Systems, wird
mit beiden Verfahren überwacht.
Nicht nur in Häfen, auch in den küs-
tennahen Bereichen von Nord- und Ostsee,
aber auch an der Ost- und West küste der
USA gelten strenge Grenzwerte für Schwe-
feldioxid-, Stickoxid- und Rußpartikelemis-
sionen von Schiffs motoren. Diese Emissi-
on Control Areas (ECA) wurden von der
Internationalen Seeschifffahrts-Organisa-
tion (International Maritime Organization,
IMO) festgelegt. Zuletzt wurden die Vor-
schriften für diese Zonen 2015 verschärft.
Außerhalb gelten noch deutlich lockerere
Regelungen, weshalb viele Reedereien auf
Dual-Fuel- Technologie setzen. Dabei wird
innerhalb der ECA mit Gas, außerhalb mit
Schweröl gefahren. Ab 2020 sollen welt-
weit viel strengere Emissionsregeln gel-
ten. „Dann dürfte es sehr schwer werden,
überhaupt noch mit Schweröl zu fahren“,
sagt Dräger- Expertin Dimitrova. LNG habe
daher ein großes Zukunftspotenzial.
Gute Aussichten attestiert auch Max
Kommorowski dem verflüssigten Erdgas.
Dabei werde die Hybridtechnik auf abseh-
bare Zeit eine wichtige Rolle spielen, um
vor Anker liegende Schiffe zu versorgen.
Hier denkt der Ingenieur nicht nur an
LNG-Hybrid-Barges wie die Hummel, die
Becker Marine Systems mit bis zu 14-Mega-
watt Leistung bauen könnte. Auch Contai-
nerschiffe hat das Unternehmen im Blick.
Sie liegen meist zwischen 24 und 48 Stun-
den am Terminal, um gelöscht und wieder
beladen zu werden. In dieser Zeit will man
sie mit so genannten LNG PowerPacs ver-
sorgen: 1,5-Megawatt- Kraftwerke im For-
mat von vier 40-Fuß-Containern, die auf-
grund ihrer kompakten Größe komplett auf
das Schiff gesetzt werden. Im kommenden
Jahr soll es so weit sein – als erster Einsatz-
ort käme wieder Hamburg in Frage. Nach-
frage dafür sollte es ausreichend geben.
Schließlich wird hier jährlich Fracht im
Umfang von 3,2 Millionen 20-Fuß-Contai-
nern (TEU) von Schiffen aus aller Welt
umgeschlagen.
PowerPacs sollen auf Container-schiffen Strom liefern
Eiskalte EnergieLiquified Natural Gas (LNG) ist die unter –160 Grad Celsius kalte Flüssigphase von Erdgas. LNG lässt sich außerhalb von Leitungsnetzen effizient transportieren und lagern, weil es ein 600-fach kleineres Volumen als nicht komprimiertes Erdgas hat. Zwar muss beim LNG-Transport Energie für die Kühlung aufgewendet werden, das gilt aber auch für den Transport in Pipelines, wo entlang der Strecke der Druck regelmäßig erhöht werden muss. Transportiert wird LNG traditionell mit Tankschiffen. Der Einsatz als Schiffstreibstoff bedarf dennoch neuer Regelungen. Seit 2015 ist der IGF-Code des IMO in Kraft (Internatio-nal Code for Ships Using Gas or Other Low-Flashpoint Fuels), der unter anderem Art und Anzahl der notwendigen Messköpfe vorschreibt. Im Vordergrund steht dabei der Explosions-schutz. In inertisierten Bereichen muss zudem der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre (beispielsweise durch Geräte der Dräger-Polytron-Familie) gemessen werden. Wegen des kontinuierlichen Ausbaus der Produktions- und Transportkapazitäten von LNG wird der Treibstoff immer günstiger. Auch das macht ihn für die Schifffahrt interessant.
Containerschiff, 18.000 TEU
3
Gramm
Güterzug
21Gramm
Lastwagen, 40 Tonnen
80Gramm
Flugzeug
435Gramm
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DIE BAUSTEINE DER WELTWIRTSCHAFT
Container tragen besonders stark zum Wachstum des Schiffsverkehrs bei.
Die weltweite Kapazität an Container-schiffen, angegeben in Twenty-Foot- Equivalent-
Unit (TEU), beträgt 2016 rund 20 Millionen TEU. Die weltweite (für die Schifffahrt verwendete)
Containerflotte umfasst rund 40 Millionen TEU. Die größten Containerschiffe der Welt tragen heute mehr als 18.000 TEU – im Jahr 1967
waren es noch 700.
Personenkraftwagen43,2 %
Schwere Nutzfahrzeuge
und Busse19,3 %
Eisenbahnen (ohne elektrische Traktion)0,6 %
Binnenschifffahrt1,4 %
Motorräder0,9 %
Inlandsflüge1,4 %
Andere Verkehrsmittel
0,9 %
Internationale Schifffahrt
12 % Internationaler Flugverkehr
11,6 %Leichte Nutz-
fahrzeuge8,7 %
WELCHER VERKEHRSSEKTOR STÖSST WIE VIEL
TREIBHAUSGASE AUS?
Zahlen für die Europäische Union
(Stand 2013):
WIE VIEL SCHWEFEL ENTHALTEN WELCHE TREIBSTOFFE?
LNG
0,0PROZENT
LKW-DIESEL0,001 PROZENT
MARINEDIESEL LS-MGO
(Häfen)
0,1 PROZENT
SCHWERÖL LOW SULPHUR IFO 380(Emissionskontrollzonen, ECA)
1,0 PROZENT
SCHWERÖL IFO 380
(Hochsee)
2,5 PROZENT
55
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56 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
Die Hauptstadt-
Es sind Nächte wie diese, die das öffentliche Bild von Deutsch-
lands größter und ältester ziviler Feuerwehr prägen: Hohe
Einsatzdichte, spektakuläre Alarme, schwierige Bedingungen.
Und das, so die regelmäßigen Schlagzeilen des Boulevard, gilt
nicht nur zum Jahreswechsel: „Brennende Mülltonnen im
Prenzlauer Berg, Barrikaden in Friedrichshain“. Oder:
„Großeinsatz: Berliner Feuerwehr räumt ICE in Spandau“.
Herausforderung Zukunft Die Wirklichkeit sieht glücklicherweise nüchterner aus.
„Die Berliner Feuerwehr hat für eine Großstadt ein durch-
aus typisches Einsatzaufkommen“, sagt Landesbranddirektor
Wilfried Gräfling. Dass die Einsatzzahlen kontinuierlich
Die Berliner Feuerwehr ist die größte und älteste Berufsfeuerwehr Deutschlands. Doch für die Brandschützer zählt nicht nur die Vergangenheit – auch deshalb engagieren sie sich bei Forschungsprojekten und kämpfen gegen den Nachwuchsmangel.
Text: Peter Thomas
Feuer wVon wegen Feierlaune – Silvester kann auch anstrengend
sein: Mehr als 1.500 Einsätze in nur zehn Stunden,
Einsatzbereitschaft für 380 Fahrzeuge, Doppelbesetzung
der Leitstelle mit mehr als 50 Beamten. Das war der
Jahreswechsel 2015/2016 aus Sicht der Berliner Feuerwehr.
Hinter der Statistik dieses mit Abstand einsatzstärksten Abends
des ganzen Jahres stecken auch Löscheinsätze, bei denen
die Beamten mit Böllern beworfen wurden. Hinzu kam der
Brandschutzdienst für eine Großveranstaltung mit
mehreren hunderttausend Besuchern.
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Einsätze in der Großstadt umfassen typische Gebäudebrände ebenso wie den Rettungsdienst und Großschadenslagen. Fast 400.000 Mal im Jahr rückt die Berliner Feuerwehr aus
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57DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
IN METROPOLEN BRANDSCHUTZ
steigen, sei keine Berliner Besonderheit. Die wichtigste
Herausforderung für den Brandschutz in der Hauptstadt sieht
Gräfling denn auch in der Gestaltung der Zukunft und nicht
in medienwirksamen Großlagen. „Daran arbeiten wir seit Jah-
ren konzentriert.“ Ein Ergebnis sind etwa attraktive Karriere-
angebote bei der Feuerwehr, um dem demografischen Wandel
entgegenzuwirken. Aber auch die aktive Forschung für Brand-
und Katastrophenschutz gehört dazu. Sabina Kaczmarek leitet
den Bereich Forschung bei der Berliner Feuerwehr. Im Mai
2016 ist sie für ihre Leistungen von der Vereinigung zur Förde-
rung des Deutschen Brandschutzes e. V. (vfdb) mit dem Excel-
lence Award ausgezeichnet worden. Finanziert werden die
Projekte vor allem vom Bundesministerium für Bildung und
r wehr
Wie alles begannMitte des 19. Jahrhunderts wurde die Berliner Feuerwehr gegründet – ihre Geschichte ist so abwechslungsreich wie die der Hauptstadt.
1851: Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen, befiehlt die Gründung einer Berufsfeuerwehr in Berlin. Grund dafür ist die Zunahme von Groß-bränden in der von schnellem Wachstum, Verdichtung und Industrialisie-rung geprägten Stadt. Erster Branddirektor ist Ludwig Carl Scabell.1850er-Jahre: Siemens und Halske beginnen mit der Installation eines elektrischen Feuermeldenetzes. Erster Neubau einer Feuerwache, zudem wird das Leitungsnetz für die Trinkwasserversorgung mit mehr als 1.500 Hydranten für den Brandschutz nutzbar gemacht.1870er- und 1880er-Jahre: Mechanisierung des Brandschutzes durch Dampfspritzen, die von Pferden gezogen werden. Die erste Drehleiter wird in Dienst gestellt.1900er-Jahre: Die Umstellung des Fahrzeugparks auf Automobile beginnt. 1930er-Jahre: Gleichschaltung der Feuerwehr während der NS-Zeit als Feuerlöschpolizei. Der Reichstagsbrand 1933 gehört über seine politischen Nachwirkungen hinaus zu den großen Einsätzen vor dem Zweiten Weltkrieg. 1940er-Jahre: Nach Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) erfolgt drei Jahre später die organisatorische Teilung der Feuerwehr in Ost und West. 1950er-Jahre: Die Ostberliner Feuerwehr wird der Volkspolizei angeschlossen.1960er-Jahre: Die Westberliner Feuerwehr übernimmt den Rettungsdienst im westlichen Teil der Stadt.1990: Durch die Wiedervereinigung entsteht wieder eine gemeinsame Berliner Feuerwehr mit mehreren Tausend Berufsfeuerwehrleuten.
Qualifikation zählt: In der Aus- und
Weiterbildung spielt die Berliner Feuerwehr-
und Rettungsdienst-akademie (BFRA) mit fast 100 Beschäftigten
eine Schlüsselrolle
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58 DRÄGERHEFT 400 | 2 / 2016
BRANDSCHUTZ IN METROPOLEN
Forschung im Rahmen des seit 2007 aufgelegten Programms
„Forschung für die zivile Sicherheit“, aber auch durch Mit-
tel der Europäischen Union. Neun Projekte haben die Berli-
ner Brandschützer bereits mit Partnern aus der Wissenschaft
abgeschlossen, weitere vier laufen derzeit. Dabei geht es um
Druckluftschaum als alternatives Löschmittel (AERIUS), aus-
fallsichere Lagebildinformationen für organisationsübergrei-
fende Krisenstäbe (AlphaKomm), situationsbezogene Einbin-
dungen von Freiwilligen in urbane Krisenlagen über eine App
(ENSURE) und um die Nutzung moderner Sensorik zur Ver-
besserung von Lösch-, Rettungs- und Evakuierungsmaßnah-
men in unterirdischen Verkehrsanlagen (SenSE4Metro).
OSZE empfiehlt Forschungsprojekte „Wir schauen grundsätzlich über den Tellerrand“, fasst
Sabina Kaczmarek die Bandbreite zusammen. Das gilt auch
für die geografische Verteilung der Partner. Bei SenSE4Metro
arbeite man mit Wissenschaftlern aus Indien zusammen.
„Bei allen Projekten sind wir vor allem Praxispartner“, sagt
Kaczmarek. „Voraussetzung für das Engagement der Berliner
Feuerwehr ist jeweils, dass ein Projekt eine konkrete Verbesse-
rung für die Bürger oder für die Sicherheit der Einsatzkräfte
bringt – und sich auch praktisch umsetzen lässt.“
Zwei dieser Projekte werden bereits von der Organisation für
Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) empfoh-
len: „TankNotStrom“ hat die sichere Energie- und Kraftstoff-
versorgung kritischer Infrastrukturen bei langfristigen Strom-
ausfällen zum Ziel. Und das Programm „Kat-Leuchttürme“
schafft feste wie mobile Anlauf- und Informationsstellen für
Bürger, wenn im Katastrophenfall Strom- und Kommunikati-
onsnetze länger ausfallen. Bereits in die Praxis umgesetzt wur-
den die Erfahrungen aus dem Projekt „Stroke-Einsatz-Mobil“
(STEMO). Die Berliner Feuerwehr hat als weltweit erster Ret-
tungsdienst einen Computertomografen dauerhaft in einem
Rettungstransportwagen (RTW) verbaut – das Gerät ist tele-
medizinisch mit dem Krankenhaus verbunden. So konnte
die Zeit von der Diagnose bis zum Beginn der Thrombolyse-
behandlung um bis zu 25 Minuten verringert werden. Die
Erfahrung mit dem spezialisierten RTW war Grundlage dafür,
dass das Berliner Abgeordnetenhaus die Anschaffung von
vier weiteren Stroke-Mobilen beschlossen hat.
Forschung für die Zukunft von Brandschutz, Rettungs-
dienst und Katastrophenschutz produziert selten so bunte
Schlagzeilen wie ein spektakulärer Großeinsatz. Doch die Berli-
ner Feuerwehr stellt damit wichtige Weichen für die Zukunft –
für sich, die Bürger und Hilfsorganisationen in aller Welt.
Das große Einsatzspek-trum der Berliner Feuer-wehr spiegelt sich auch in Trainings- und Übungsan-lagen wider – sie reichen vom eigenen U-Bahn-Übungstunnel (links) bis zum Fahr simulator für Großfahrzeuge (unten)
Weichen für die Zukunft
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Berliner Brandschutz in ZahlenSicherheit für 3,5 Millionen Menschen – auf fast 900 Quadrat-kilometern Landesfläche.
3.900 Mitarbeiter, zuständig für 3,5 Millionen Einwohner, rund 390.000 Einsätze im Jahr – Berlins Feuerwehr ist die älteste, größte und am häufigsten alarmierte Feuerwehr Deutschlands. Im Einsatzdienst besetzen jeweils 550 Berufsfeuerwehrleute rund um die Uhr die 34 Feuerwachen und 33 Rettungsdienststützpunkte. Üblich sind Zwölf-Stunden-Schichten mit Personalwechsel um 7 Uhr und 19 Uhr.
Unterstützung erhalten die hauptamtlichen Kräfte von 57 Freiwilligen Feuerwehren im 892 Quadratkilometer großen Gebiet des Landes Berlin – sie zählen mehr als
1.400 Mitglieder. Ein direkter Vergleich mit anderen europäischen Hauptstädten ist schwierig, zu sehr unterscheiden sich die Strukturen und Rahmenbedingungen. Beispielsweise untersteht die Brigade de Sapeurs-Pompiers de Paris mit ihren 8.000 Einsatzkräften dem Militär. Die London Fire Brigade ist für die Sicherheit von mehr als doppelt so vielen Einwohnern wie in Berlin verantwortlich, fährt aber ohne Rettungsdienst nur ein Viertel der Einsätze. Und die Vigili del Fuoco stechen hinsichtlich ihrer Geschichte heraus: In Rom beruft man sich auf eine Geschichte hauptberuflichen Brandschutzes, die bis ins erste Jahrhundert nach Christus zurückreicht.
„Wir schauen nach vorn“Wilfried Gräfling ist seit zehn Jahren Landesbranddirektor und Leiter der Berliner Feuerwehr. Gräfling hat in Bochum Elektrotechnik sowie Wirtschaftswissenschaften studiert. Nach dem Referendariat in Leverkusen wechselte er 1983 nach Berlin und war von 2001 bis 2006 Vertreter des Landesbranddirektors.
Herr Gräfling, was macht die Arbeit der Berliner Feuerwehr aus?Zunächst einmal stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen wie die Feuerwehren in jeder anderen Großstadt. Aber Berlin ist ja nicht nur Deutschlands größte Kommune, mit 3,5 Millionen Einwohnern, sondern hat als Hauptstadt zudem viele besondere Einrichtungen, für die es gesonderte Einsatzpläne gibt. Dazu gehören etwa der Reichstag und das Bundeskanzleramt. Wenn von dort ein Alarm eingeht, rücken automatisch mehr Fahrzeuge, Einsatz- und Führungskräfte aus. Eine Besonderheit stellen auch Botschaften dar, die exterritoriales Gebiet sind. Und während wir wenige Hochtempoabschnitte im Straßennetz haben, gibt es in Berlin viele unterirdische Verkehrsanlagen. Für derartige Einsätze trainieren die Einsatzkräfte in einer eigenen Übungsanlage, die in einer Stichstrecke des U-Bahn-Netzes eingerichtet ist.Immer wieder wird von mangelndem Respekt gegenüber Brandschützern berichtet. Ist das in Berlin ein Thema?Ich denke, dass der Mangel an Respekt nicht nur Feuerwehrleute betrifft, sondern sich in allen Teilen der Gesellschaft auswirkt. Das führt nicht automatisch zu Gewalt – aber man sollte das Risiko nicht verharmlosen. Wir bereiten unsere Feuerwehrleute so gut wie möglich auf kritische Situationen vor. Dazu gibt es Fortbildungen, in denen Beamte und Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehren lernen, sich in bedrohlichen Situationen entsprechend zu verhalten – und zu deeskalieren. Aber auch den Umgang mit psychologischen Belastungen trainieren wir.Berlin ist fast 900 Quadratkilometer groß. Ist das eine Herausforderung für die Kommunikationstechnik?Wir setzen auf digitalen BOS-Funk. Er funktioniert gut, könnte aber besser funktio-nieren – insbesondere in Objekten mit analogen Gebäudefunkanlagen, die Bestands-schutz haben. Eine Besonderheit ist, dass wir die auf den Fahrzeugen eingesetzten Computer seit Neuestem mit der FIRE-App unterstützen, die von Linnart Bäker entwickelt wurde. Die App erzeugt aus den Daten des Leitrechners aktuelle Einsatz-informationen für den C-, B- und A-Dienst. Dazu gehören Adressen, Kartenausschnit-te, Angaben über Einsatzkräfte, Löschwasserversorgungs- und objektspezifische Feu-erwehrpläne. Wir haben die App im vergangenen Jahr auf der Interschutz vorgestellt. Sie ist ein gutes Beispiel für unsere Maxime, Innovationen aus der Praxis für die Praxis zu entwickeln. Die Kommunikation mit der Bevölkerung ist genauso wichtig. Deshalb werden Katwarn-Alarme in Berlin nicht nur über das Smartphone angezeigt, sondern auch auf Bildschirmen der Verkehrsbetriebe und digitalen Werbetafeln im Stadtbild. Welche Ziele hat sich die Berliner Feuerwehr für die Zukunft gesetzt?Zum Beispiel wollen wir eingehende Notrufe noch besser differenzieren und klassifi-zieren. Denn das entscheidet, was wir mit welchen Ressourcen bedienen. Und bei der Nachwuchsförderung schaffen wir beispielsweise durch die Zugangsmöglichkeiten zum mittleren Dienst bereits heute Strukturen für die Zukunft. Auch technisch schauen wir nach vorn: Zu den wissenschaftlich begleiteten Forschungsprojekten der Berliner Feuerwehr gehört ein Vorhaben, bei dem Druckluftschaum erprobt wird. Die Anwendung hat das Potenzial, die gleiche Menge Löschmittel mit einem Bruchteil an Ressourcen zu erzeugen. Bei all diesen Schritten ist es nicht nur wichtig, die Mitar-beiter zu begeistern, sondern auch ihr umfangreiches Know-how einfließen zu lassen.
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ESSAY GESELLSCHAFT
Trügt der Schein? Glaubt man vielen Medien,
wird die Welt von Tag zu Tag schlechter.
Tatsächlichentwickelt sie sich zum Besseren, wie
viele Indikatoren zeigen.
Ein Zwischenruf.Text: Nils Schiffhauer
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61DRÄGERHEFT 400 | 2/ 2016
Sobald man die Zeitung aufschlägt
oder die unzähligen Tweets und Nach-
richten verfolgt, blickt man schnell in
eine Welt voller Gewalt, Katastrophen
und Krisen. Wer jedoch die eigenen
Lebensumstände – wie Ernährung, Woh-
nung, Familienverhältnisse, Einkommen,
Gesundheit und die Sicherheit der selbst
genutzten Transportmittel – dagegenhält,
kann für sich, seine Familie und Freunde
zu einem ganz anderen Bild kommen. Die
überwiegende Mehrheit der Menschen
sieht ihr Leben als „normal“ an, wenn-
gleich es von Land zu Land und zwischen
den Einkommensschichten objektiv deut-
liche Unterschiede gibt. Und wer als
Feuer wehrmann, Notärztin oder Polizist
fast täglich mit Negativem konfrontiert
wird, der hat sich genau diese Abschaf-
fung von Not und Elend zur anstrengen-
den Lebensaufgabe gemacht.
Leben im ParalleluniversumDie Wirklichkeit der Welt und ihr Bild in
den Medien klaffen mitunter weit ausei-
nander. Einige Medien lenken den Blick
bewusst auf das Abseitige – sie dramatisie-
ren, skandalisieren und führen mit süffi-
santen Geschichten jeden Tag aufs Neue
vor, wie recht der Volksmund hat, wenn
er von der Schadenfreude als der größten
Freude spricht. Diese Tendenz zur Verzer-
rung hat mit den sozialen Medien deut-
lich zugenommen. Jeder Unfall, jeder Tat-
ort ist rasch von Schaulustigen mit ihren
Handys umringt. Bilder und Videos werden
in Echtzeit ins Netz gestellt – geteilt und
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Allen Rückschlägen zum TrotzDie Welt ist besser geworden, trotz mancher
Rückschläge. Ein genauer Blick bestätigt diese
Entwicklung, zeigt aber auch Lösungen und
Handlungsbedarf auf: etwa bei der Gesund-
heit, die laut WHO „vollständiges körperli-
ches, geistiges und soziales Wohlergehen“
umfasst; hier dargestellt an den Parametern
Ernährung, Lebenserwartung und Hygiene.
ERNÄHRUNGDie Produktivität der Landwirtschaft
ist unglaublich gestiegen. So wuchs der
Hektarertrag von Weizen allein in Deutsch-
land zwischen 1900 und 2010 um das
Vierfache. Ernährte ein Landwirt früher
rund vier Mitbürger, so sind es heute 131 –
ein Erfolg von Forschung, Technisierung,
Züchtung und moderner Bewirtschaftung.
Gleichwohl ist in vielen Ländern das
Gespenst der Unterernährung noch
immer nicht gebannt. Für 2015 meldet die
Welternährungsorganisation FAO, dass
10,8 Prozent aller Menschen unterernährt
sind, in Afrika sogar jeder Fünfte. Doch
die Situation hat sich verbessert: 1991
hungerten noch 18,6 Prozent der Welt-
bevölkerung, in Afrika mehr als jeder Vierte.
LEBENSERWARTUNGSie stieg laut WHO zwischen 1990 und 2013
weltweit von 64 auf 71 Jahre. Nach wie
vor ist sie eng an das Einkommen gekoppelt –
Höherverdiener leben durchschnittlich
17 Jahre länger. Dennoch konnte gerade die
untere der vier WHO-Einkommensschichten
dank besserer ärztlicher Versorgung und
Hygiene ihre Lebenserwartung am stärksten
steigern: um 17 Prozent. Umgekehrtes gilt
für Neugeborene, die das erste Lebensjahr
nicht erreichen. Dieser Wert hat sich
zwischen 1990 und 2013 von 33,3 auf 20,0
reduziert (je 1.000 Lebendgeburten).
HYGIENEDer Zugang zu Toiletten wurde von 1990
bis 2015 von 54 auf 68 Prozent der Welt-
bevölkerung gesteigert. In den am wenigsten
entwickelten Ländern verdoppelte sich
diese Zahl fast – von 20 auf 38 Pro zent der
Einwohner. Doch weiterhin sterben weltweit
jährlich 700.000 Kinder an Durchfall, den
bessere hygienische Verhältnisse verhindern
könnten. Daran arbeiten Regierungen
und private Organisation, wie etwa die
Bill & Melinda Gates Foundation mit ihrer
Initiative „Die Toilette neu erfi nden“.
gelikt schwärmen sie hunderttausendfach
aus. Wenn aber das nicht die Realität der
Welt ist, wie wirklich ist dann die Wirklich-
keit? Der Wissenschaftler Paul Watzlawick,
ab 1976 Psychiatrieprofessor an der Stan-
ford University, stellte diese Frage nicht
nur, sondern unterstreicht in seiner Ant-
wort die fast ausschließliche Bedeutung
der vielfältigen Formen von Kommuni-
kation, die ein Weltbild prägen. Zeigt die
öffentliche Kommunikation eine Ausnah-
mewelt, frisst sich genau die in die Köp-
fe. „Menschen beurteilen die Situation
nicht nach ihrer persönlichen Lage, son-
dern nach dem, was sie etwa im Fern-
sehen sehen – irgendwann leben sie in
einem Paralleluniversum“, hat der Nobel-
preisträger für Wirtschaft Paul Krugman
beobachtet.
Geistiger Kurzschluss dank GlückshormonSensationsgier und Schaulust sind
ur-menschliche Eigenschaften. Sie haben
mit Neugierde zu tun, und dem unbe-
wussten Wunsch nach Bestätigung der
eigenen Unversehrtheit beim Betrachten
des Leids anderer. „Berichte über Gewalt
und die Abwertung anderer Menschen
können eine Dopamindusche in Gang set-
zen“, sagt der renommierte Hirnforscher
Professor Gerald Hüther. Die Ausschüt-
tung dieses als Glückshormon bezeichne-
ten Neurotransmitters sei für viele Men-
schen so attraktiv, dass sie hierfür die im
Frontalhirn angelegten Kontrollfunktio-
nen umgingen, die sonst ihre niederen
Instinkte kontrollierten. So machen sie
sich biologisch (wieder) zum Affen. Lust-
gewinn durch Zuschauen ohne Anstren-
gung – ob live oder im Fernsehen. „Ein
Spaß ohne Aufwand“, wie der Psychiater
und Soziologe Professor Fritz B. Simon
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ESSAY GESELLSCHAFT
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sagt. Die Wirklichkeit ist
komplex, sie zu verste-
hen bedeutet Arbeit. Ein
Flugzeugabsturz beherrscht die Schlagzei-
len, zieht weltweites Interesse auf sich,
erzeugt wohliges Grauen und macht Angst
vor der nächsten Flugreise. Man nimmt
das Auto! Und das, obwohl die Zivilluft-
fahrt im Durchschnitt der letzten fünf
Jahre lediglich 428 Todesopfer pro Jahr
forderte. Schon vor sechs Jahren stellte
das Statistische Bundesamt fest: Bezogen
auf die Personenkilometer sei das Flug-
zeug das sicherste Transportmittel, und
919 Mal sicherer als das Auto. Eine der-
artige Einordnung wird niemals Spitzen-
meldung, denn sie setzt kaum Dopamin
frei. Und doch gibt es eine Gegenbewe-
gung. Sie stammt aus der positiven Psy-
chologie und greift seit den 1990er-Jah-
ren die ursprünglich 1954 von Abraham
Maslow geprägte Auffassung wieder auf,
dass die Psychologie sich nicht nur mit
den menschlichen Defiziten beschäftigen
sollte, sondern auch die Grundlagen der
positiven Aspekte des Menschseins erfor-
schen möge. Erkenntnisse daraus zieht
auch der konstruktive Journalismus. Der
bleibt kritisch, versetzt den Leser aber
nicht mehr in einen permanenten Erre-
gungszustand, sondern bezieht lösungs-
orientierte Ansätze mit ein. Mit „wissen
und sich kümmern“ beschrieb der bri-
tische Kriegsreporter Martin Bell dieses
Konzept, das Leser wie Zuschauer auch
darin befähigt, etwas zu verändern. Der
britische „Guardian“ zielt etwa in die-
se Richtung, aber auch Web-Projekte wie
„Perspective Daily“ („Für einen Journa-
lismus, der fragt, wie
es weitergeht“) oder
„The Correspondent“
(„From ‚news‘ to ‚new‘“) – beide durch
Crowdfunding finanziert. Sie alle wollen
Wissen vermitteln und Vorgänge einord-
nen, um Leser zur Verbesserung der Ver-
hältnisse zu bewegen und nicht in eine
„erlernte Hilfslosigkeit“ fallen zu lassen,
wie sie erstmals 1967 der amerikanische
Psychologie professor Martin E. P. Selig-
man beschrieb.
Die Welt ist besser geworden – wirklich?Dass die Welt tatsächlich besser gewor-
den ist, lässt sich nachweisen. Das
Entwicklungsprogramm der Verein-
ten Nationen (UNDP) hat mit seinem
Human Development Index (HDI) eine
Maßzahl für den Grad menschlicher Ent-
wicklung geschaffen. Der kombiniert
und gewichtet die Gesundheit, Bildung
und Wirtschaftskraft eines Landes sowie
die Einkommensverteilung in einer ein-
zigen Zahl: Die unterste Entwicklungs-
stufe ist 0, die oberste hat einen Wert
von 1. Für die Jahre 1990 bis 2014 stieg
der HDI weltweit um fast 20 Prozent –
von 0,597 auf 0,711. Dabei machten
die am wenigsten entwickelten Staaten
annähernd doppelt so gute Fortschritte:
ihr Wert stieg von 0,368 auf 0,505 (rund
37 Prozent). Der Blick auf diese Entwick-
lung sollte jeden ermutigen, genau dort
anzuknüpfen.
Wie denken Sie darüber? Schreiben Sie uns: [email protected]
Kritischbleiben und Lösungen mitein-beziehen
BILDUNGNach einer Untersuchung der UNESCO
ist die Analphabetenrate von 1999 bis
2014 weltweit von 12,7 auf 9,4 Prozent
zurückgegangen – und wer lesen kann,
hat auch die Chance auf ein höheres
Einkommen. Liegt der Wert der
Analphabeten in den am wenigsten
entwickelten Ländern bei 32 Prozent, so
ist er in den Ländern mit dem höchsten
Einkommen mit unter 0,5 Prozent kaum
noch messbar. Das Internet hat den
Zugang zu weiterer Bildung beinahe
entmaterialisiert. Die Zahl der Internet-
anschlüsse stieg weltweit von 121 Millio-
nen im Jahr 1997 auf geschätzt gut
3,4 Milliarden in 2016. Damit hat fast
jeder zweite der 7,35 Milliarden Weltbür-
ger Zugang zu vielen oft kostenlosen
und hochwertigen Angeboten, unter
denen seit 2008 das Konzept kostenloser
Onlinekurse besonders hervorsticht.
Diese „Massive Open Online Courses“
ermöglichen das Fernstudium selbst an
Spitzenuniversitäten wie Harvard und
Stanford oder an der LMU München.
GEWALTWo viele Medien eine Welt voller Gewalt
sehen, sieht die Welt tendenziell eine
Abnahme von Gewalt. Diese Erkenntnis
verdankt sich einer Untersuchung
des Harvard-Professors Steven Pinker.
Im Ergebnis hält der Psychologe und
Hirn forscher fest: „Die Gewalt ist über
lange Zeiträume immer weiter zurück-
gegangen, und heute dürften wir in der
friedlichsten Epoche leben, seit unsere
Spezies existiert.“ Dieser Rückgang sei
ein Ergebnis des jahrtausendelangen
Zivilisationsprozesses, dank dessen die
Menschheit trotz aller Kriege und
Exzesse „auch Wege gefunden hat, um
für einen immer größeren Anteil die
Möglichkeit zu schaffen, in Frieden zu
leben und eines natürlichen Todes zu
sterben.“ Eine Entwicklung, die in der
Welt unterschiedlich ausgeprägt ist.
Und immer wieder gibt es Rückschläge,
wie die relativ neue Gewaltform des
Terrorismus als asymmetrische Kriegs-
führung zeigt. Die Zahl der Terrortoten
steigt tendenziell und lag 2015 bei 28.328
Opfern – gegenüber 2012 eine Verdrei-
fachung. Doch selbst da durch ändert
sich das Gesamtbild kaum: Über längere
Zeiträume gesehen, ist das Leben der
Menschen sicherer geworden.
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PRODUKTE SERVICE
Babylog VN500 Integrierte Beatmungslösung für Früh- und Neugeborene. Seite 35
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Auf einen BlickEinige DRÄGER-PRODUKTE dieser Aus gabe finden sich hier im Überblick – in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Zu jedemProdukt gehört ein QR-Code, der sich mit einem Smartphone oder Tablet scannen lässt. Danach öffnet sich die jeweilige Produkt-information. Haben Sie Fragen zu einem Gerät oder zum Drägerheft? Schreiben Sie uns: [email protected]
SmartPilot View Die Software unterstützt Anästhesisten durch die Berechnung und Visualisierung komplexer Anästhesiemitteleffekte – und zeigt auf dieser Basis den aktuellen Status sowie prognos-ti zierten weiteren Verlauf des Narkoselevels an. Seite 8
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SmartCare/PS Das automati-sierte System entwöhnt In ten siv patienten vom Beat-mungsgerät und lässt sie wieder eigenständig atmen. Seite 10
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PIR 7000 Infrarot-Gastrans-mitter für die zuverlässige Detektion von brennbaren Gasen und Dämpfen. Seite 53
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Mit dem Alcotest 3820 kennt jeder
(nach drei bis 25 Sekunden; abhängig
von der Gerätetemperatur und
den gemessenen Konzentrationen)
seinen Promillepegel: beim Feiern,
aber auch am Morgen danach. Hier-
für setzt man das Mundstück 1 auf
das hemdtaschengroße Gerät und
pustet in die Öffnung, bis das Tonsignal
verstummt – oder, diskreter noch: bis
bei abgeschaltetem Lautsprecher 2
ein Klicken spürbar ist. Dann nämlich
wird der vom Drucksensor gesteuerte
Hubmagnet aktiviert und entnimmt
dem Atemstrom einen Kubikzenti-
meter tiefer Lungenluft. Die Probe
wird nach 1,3 Liter Atemluft oder
nach zwei Sekunden genommen,
wobei die Ausatemluft hygienisch
durch das Mundstück gepustet wird –
und nicht in das Gerät, wo sie zu
Kondensation und Verunreinigung
führen könnte. Mithilfe des elektro-
chemischen Sensors misst das Alcotest
3820 den Alkohol ge halt der Atemluft,
Bringt mehr Sicherheit: Schutzkappe abnehmen, Mundstück aufsetzen, einschalten, pusten, kurz warten und ablesen. So einfach lässt sich der Promillegehalt des Blutes über den Atemalkohol bestimmen
errechnet daraus den Promillegehalt
des Blutes und zeigt ihn auf dem
Display 3 an. Die Technik ist die
gleiche wie in den Dräger-Geräten, die
weltweit unter anderem von Polizisten
für jährlich etwa 30 Millionen Messun-
gen ver wendet werden. Eine interne
Langzeit batterie 4 reicht für rund 1.500
Tests, die USB-Schnittstelle 5 wird
nur für Servicezwecke benötigt. Sobald
das Gerät über den Taster 6 mit spür-
barem Druckpunkt eingeschaltet wird,
signalisiert der leuchtende Ring 7 die
Betriebsbereitschaft. Das Mundstück,
drei liegen dem Gerät bei, wird von
einer Kappe 8 geschützt und lässt sich
einfach in der Spülmaschine reinigen.
Will man es selbst noch mal verwenden,
schützt es die Mundstückkappe bis zum
nächsten Test vor Verunreinigung.
Das Display informiert in mehreren
Sprachen plus Grafi ken über jeweilige
Betriebszustände, die aktuelle
Testnummer oder die letzten zehn
Messwerte mit Datum und Uhrzeit.
Diskreter Check für jedermann
EINBLICK ALCOTEST 3820
VIDEO: SO FUNKTIONIERT DAS ALCOTEST 3820
Präzise Messtechnik bietet zuverlässige Kontrolle des Atemalkohols.www.draeger.com/400/3820
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