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Dr. Jan Querengässer
Arbeitsgruppe Prozessoptimierung im MRV Baden-Württemberg
WAS WIRKT? 2. Fachtagung MRV und Sucht, Herten, 25.06.2015
Ein kritischer Blick auf die Determinanten
einer Behandlung nach § 64 StGB
– nicht nur der Patient beeinflusst das Outcome –
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Was Sie in den nächsten Minuten erwartet…
Was wirkt?
Wovon hängt ab, ob wirkt, was wirken soll?
Prognostische Perspektive
Eine Beschäftigung mit - den Determinanten einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht
- Oder auch den conditions of change
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I.
Prädiktoren der
Behandelbarkeit:
Ergebnisse einer
epidemiologischen
Studie
II.
Soziale Unterstützung:
Ergebnisse einer Pilot-
Fragebogenstudie mit
forensischen
Suchtpatienten
( )
4
Patienten nach § 64 StGB
4
Quelle: Statistisches Bundesamt
- Seit 1996, Anstieg um das 3fache - Seit der Gesetzesnovelle 2007 (blauer Kreis), weiterer Anstieg um 47%, wieder ähnlich
hohe Wachstumsraten
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Abgleich Theorie und Praxis
Seit 2007 wird eine dezidiert positive Behandlungsprognose gefordert Missmatch der Prognose-Forderung zur forensischen Realität:
- seit Jahren gleichbleibend ca. 50% Therapieabbrecher (von der Haar, 2013)
- die Forschung zu behandlungsprognostisch bedeutsamen Faktoren konnte
nur wenige Prädiktoren ermitteln (etwa Fries et al. 2011): - niedriges Lebensalter bei Straftat - frühere Delinquenz - fehlender Berufs- oder Schulabschluss - eine Persönlichkeitsstörung - Abbrüche einer früheren Entwöhnungsbehandlung - Drogenabhängigkeit als Primärdiagnose
- Gutachter sind sich selbst eher unsicher hinsichtlich ihrer eigenen
Prognosestellung (Lindemann, 2012) Die Erstellung der positiven Behandlungsprognose ist das Sorgenkind
des § 64 StGB
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Studie I: Methodik
Datengrundlage: Fünf Entlassjahrgänge aller nach § 64 StGB in Baden-Württemberg
behandelter Patienten (n = 931). ∑ 777 Patienten, davon: 38% Patienten mit Alkoholmissbrauch /-abhängigkeit (ICD-10: F10.x)
36% mit Polytoxikomanie (F19.x)
24% mit anderer suchtspezifischer Störung (Rest Kapitel F1x)
2% mit anderer psychiatrischer Hauptdiagnosen (Rest Kapitel Fxx)
Untersuchte Variablen:
Typ I: Patientenbezogene Variablen
Typ II: Strukturelle Settingvariablen
Gruppe A „Abbruch“
418 Patienten (44,9%)
§ 67d StGB, Abs. 5
Gruppe B „Bewährung“
359 Patienten (38,6%)
§ 67d StGB, Abs. 2
Resultate I
Schritt 1: Vergleich der Entlassgruppen A und B. Bestimmung der Effektgrößen Cramers V (Chi²-basiert) oder Cohens d (t-Test-basiert)
Nominale Variablen V
Hauptdelikt ,228
Eigentumsdelikte als weitere Delikte? ,195 A > B
Raucher? ,158 A > B Berufliche Tätigkeit vor erster
Diagnosestellung? ,154 A < B
Körperverletzungsdelikte als weitere Delikte? ,154 A > B
Lineare Variablen d
Anzahl weiterer Deliktkategorien ,400 A > B
Dauer der parallelen Haftstrafe (in Monaten) ,330 A < B
Anzahl der Eintragungen im BZR ,270 A > B
Anzahl der F2-Nebendiagnosen (Psychose) ,250 A > B
Gesamthaftdauer (in Monaten) ,200 A > B
Typ I:
Patientenbezogen
Zehn signifikante
und bedeutsame
Prädiktorvariablen
(von 61 getesteten)
Resultate II
Schritt 1: Fortsetzung
Typ II: Setting
Drei signifikante und
bedeutsame
Prädiktorvariablen
(von 8 getesteten)
Nominale Variablen V
Behandelnde Klinik ,347
Vollzugsüberwachende Behörde (teilweise gruppiert) ,343
Einweisendes Gericht (teilweise gruppiert) ,326
Resultate III
Schritt 2: Berechnung von backward stepwise Regressionsmodellen über die Variablen mit bedeutsamen Gruppenunterschieden
Backward-stepwise Modell: Patientenbezogen Integrativ
Variable Aufnahme oder Ausschluss in Schritt
Hauptdelikt 1 1
Eigentumsdelikte als weitere Delikte? 1 1
Raucher? 1 1
Berufliche Tätigkeit vor erster Diagnosestellung? 1 1
Körperverletzungsdelikte als weitere Delikte? 1 1
Anzahl weiterer Deliktkategorien 3 3
Dauer der parallelen Haftstrafe (in Monaten) 1 1
Anzahl der Eintragungen im BZR 1 6
Anzahl der F2-Nebendiagnosen (Psychose) 1 1
Vorherige Gesamthaftdauer (in Monaten) 2 2
Behandelnde Klinik 1
Vollzugsüberwachende Behörde 4
Einweisendes Gericht 5
Modelleigenschaften
Erklärte Varianz (Nagelkerke R²) 0,21 0,32
Korrekte Klassifikation 66,1% 70,8%
Verringerung des Klassifikationsfehlers 26,6% 36,7%
Zwischenfazit
1. Insgesamt maximal schwache Effektstärken der patientenbezogenen Variablen
Hängt der Therapieverlauf wirklich nur damit zusammen?
2. Die Beachtung von strukturellen Settingvariablen erhöht die Genauigkeit von Prognosemodellen deutlich
Nicht nur Eigenschaften des Patienten beeinflussen den Therapieerfolg, auch Behandlungs- und Rechtspraxis
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Studie II: Soziale Unterstützung (Abriss)
Gruppe A: Patienten mit Therapieabbruch
Gruppe B: Patienten mit Anregung einer Bewährungsentlassung
Unterschied 31% zu 69% statistisch signifikant (p = 0,014)
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Studie II: Soziale Unterstützung (Abriss)
Therapieprofit, wie er vom Patienten eingeschätzt wurde
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Studie II: Soziale Unterstützung (Abriss)
Therapieprofit, wie er vom Therapeuten eingeschätzt wurde
Zwischenfazit: Anscheinend wirkt sich auch die Haltung der Familie und des Anwalts auf den Therapieerfolg aus!
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…der Zusammenhänge zwischen Therapieerfolg einer Behandlung nach § 64 StGB und dessen Einflussfaktoren
Hypothetisches Modell der Wirkbedingungen
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Diskussion
These: Der Therapieerfolg hängt wesentlich weniger vom Patienten selbst ab, als bisher angenommen!
Auch in forensischer Suchttherapie sollte mehr Energie auf Untersuchung der conditions of change verwendet werden. Die Beachtung des Settings, des sozialen Umfelds und der Rechtspraxis entspricht zwar nicht dem Willen des Gesetzgebers... Aber: …dessen Forderung nach einer individuellen positiven Behandlungsprognose NUR anhand von patientenbezogenen Variablen stellt eine ÜBER-Forderung dar.
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Vielen Dank fürs Zuhören!!!
Was wirkt bei wem unter welchen Voraussetzungen?
Für Interessierte…
Querengässer, J., Bulla, J., Hoffmann, K. & Ross, T. (2015). Outcomeprädiktoren forensischer Suchtbehandlungen – Eine Integration patientenbezogener und nicht patientenbezogener Variablen zur Behandlungsprognose des § 64 StGB. Recht & Psychiatrie 33(1), 34-41.
Querengässer, J., Hoffmann, K., & Ross, T. (2014) Die Meinung der Anderen! - Wie
die Haltung wichtiger Bezugspersonen den Verlauf einer Entziehungsmaßregel beeinflusst. Forensische Psychiatrie und Psychotherapie – Werkstattschriften 21(3),287-301.
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