ein ort für andersdenkende

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  • 7/30/2019 Ein Ort fr Andersdenkende

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    Die Strken der Schweiz

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    Was haben Hermann Hesse, Tina Turner, Char-lie Chaplin, Voltaire, Jean Calvin, Henri Nestl,Lon Gambetta, Ex-Knig Michael von Rum-nien, Ben Bella und Michael Schumacher ge-meinsam? Sie sind alle in die Schweiz immigriert.Dieses kleine Land inmitten Europas bt seit

    Jahrhunderten eine starke Faszination auf Schrift-steller, Musiker, Maler, Revolutionsfhrer, Po-litiker, Knige, Diktatoren, Spitzensportler undUnternehmer aus. Die Motive, weshalb sie sichfr ein Leben in der Schweiz entschieden haben,

    mgen ebenso verschieden sein wie die jeweili-gen Personen aber mglicherweise gibt es docheinen gemeinsamen Beweggrund fr die Anzie-hungskraft dieses Landes. Allein welchen?

    Die Schweiz ist weder ein Pionierland derPopkultur noch bietet sie als Tempo-120-LandTrainingsmglichkeiten fr Formel-1-Rennfah-rer. Wenn es Popstars oder Rennfahrer trotzdemin die Schweiz zieht, so spielen die vergleichswei-se gnstigen Steuerverhltnisse zweifellos aucheine Rolle. Da es aber weltweit zahlreiche Lndergibt, die ein angenehmes Klima in Kombination

    mit niedrigen Steuern oerieren, muss es noch

    andere Motive geben. Sicher schtzen gutbe-tuchte Immigranten auch die zentrale Lage desLandes, die Mehrsprachigkeit, die gutausgebauteInfrastruktur und die eziente Verwaltung. Sol-che Annehmlichkeiten erhhen die Lebensquali-tt, bleiben jedoch letztlich usserlichkeiten, diean der Oberche bleiben und die Seele der po-tentiellen Neuzuzger nicht wirklich rhren. Wirkommen der Anziehungskraft der Schweiz eherauf die Spur, wenn wir die vergleichsweise grosseFreiheit der Lebensgestaltung und die gegenseiti-ge Toleranz ins Spiel bringen. Geschtzt wird vondiesen Immigranten jene helvetische Diskretion,die mit dem Respekt vor der Privatsphre einher-geht und die in einem gegenseitigen Vertrauens-verhltnis zwischen Brger und Staat wurzelt.

    Zugegeben: die Schweiz ist nicht in jeder Be-

    ziehung liberal. Mit ihren restriktiven Laden-nungszeiten, ihren frhen Sperrstunden und mitder immer noch gesetzlich verordneten Sonntags-ruhe gehrt sie zu den konservativeren Lndernder Welt. Das ist zwar bedauerlich, aber nichtentscheidend. Denn die Schweiz ist in jenem pr-zisen Sinne liberal, dass der Staat seinem Wesennach beschrnkt ist (nicht die Ich-tue-was-ich-will-Haltung, sondern die Selbstbeschrnkung auf individueller wie auf kollektiver Ebene istein Wesenzug des Liberalismus).

    Das schweizerische Staatsverstndnis ist hi-storisch aus der lokalen Versammlungsdemokra-tie hervorgegangen; die Gemeinden haben bisheute auch in skalischen Belangen eine erheb-liche Autonomie bewahrt. Es handelt sich umeine Demokratie der kleinen Einheiten, die vonunten gewachsen und nicht von oben einge-fhrt worden ist. Sie hat nichts mit jener Hyper-demokratie zu tun, in der, wie es der spanischePhilosoph Ortega y Gasset formuliert, die Massedirekt handelt, ohne Gesetz, und dem Gemeinwesendurch das Mittel des materiellen Drucks ihre Wn-

    sche und Geschmacksrichtungen aufzwingt.

    Ob Unternehmer, Spitzensportler oder Revolutionre wer im Clinch mit seinem Heimatstaat liegt, whltnicht selten die Emigration. Warum sich die Schweizals Exiladresse fr Dissidente aller Art empfahl. Und

    empehlt.

    8 Ein Ort frAndersdenkende

    Radu Golban

    Wettbewerbsfaktor SteuernDie Schweiz und die verschrfte Steuerkonkurrenz in der Krisenzeit

    17. internationales

    Europa Forum Luzern

    Konzertsaal, KKL Luzern

    Montag

    2. November 2009

    u. a. mit:

    Hans-RudolfMerzBundesprsident

    Presenting Sponsor: Hauptpartner: Medienpartner:Finanz und Wirtschaft

    Schulthess Juristische Medien

    Schweizer Monatshefte

    Partner:

    Europafachstelle Kanton Zrich

    economiesuisse

    Im Zuge der Globalisierung, der EU-Osterweiterung und der Finanzkrise hat sich der inter-

    nationale Steuerwettbewerb im Laufe der letzten Jahre verschrft. Die internationale

    Kooperation im Steuerbereich gewinnt an Bedeutung. In vielen Lndern stehen Steuerre-

    formen an, so auch in der Schweiz. Die schweizerische Steuerpolitik steht zunehmend

    unter internationalem Druck.

    Swiss Equity Magazin

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  • 7/30/2019 Ein Ort fr Andersdenkende

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    Die Strken der Schweiz

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    Die schweizerische Demokratie unterscheidetsich auch radikal von der reinen parlamentari-schen Demokratie der europischen Staaten, dieeine durch Wahlen vermittelte Identitt zwi-schen Whlerschaft mit den gewhlten Volks-vertretern annimmt. Es ist diese Annahme, diedie Parlamentarier legitimiert, durch Mehrheits-entscheide das Gemeinwohl zu denieren unddurch ihre Gesetzgebung der Gerechtigkeit zumDurchbruch zu verhelfen. Selbst wenn sich diegewhlten Volksvertreter immer wieder auf denVolkswillen berufen, knnen sie nicht darberhinwegtuschen, dass sie mit ihrer Rhetorik oftnur das Interesse an der eigenen Klientel, mithinan der eigenen Wiederwahl bekunden. Der ster-reichische konom Friedrich August von Hayeksprach in diesem Zusammenhang von modernen

    Schacher-Demokratien.Die vom Volk aktiv mitgestaltete positive

    Rechtsetzung fhrt demgegenber zu einer vonmndigen Menschen gesetzten Rechtsordnung,die die generellen Verbindlichkeiten und Ver-pichtungen vorschreibt und sich nicht auf ideo-logische und moralische Gerechtigkeitsvorstel-lungen absttzt. Sie macht jenen liberalen Kernder Schweiz aus, der auf viele Emigrationswillige,die unter dem politischen, konomischen undsozialen Anpassungsdruck ihrer eigenen Lnder

    leiden, so anziehend wirkt.Die individuelle Autonomie bildet die Basisder kollektiven politischen Selbstbestimmung. Frden ebenfalls aus sterreich stammenden Rechts-philosophen Hans Kelsen ist Freiheit mit Selbstbe-stimmung, also Selbstgesetzgebung gleichzusetzen.Unter den Bedingungen eines gesellschaftlichenMiteinanders muss sich die vorstaatliche Freiheitvon jeder Ordnung zur stets beschrnkten Freiheitin der staatlichen Ordnung wandeln. Demnachkann, so Kelsen, in einem Staat nur als frei gelten,wer zwar untertan, aber nur seinem eigenen, kei-

    nem fremden Willen untertan ist. So wie sich dasIndividuum seine eigenen Normen auferlegt, sogibt sich auch der soziale Verband seine eigenenPrinzipien, an die sich alle zu halten haben. DieDemokratie erweist sich aus dieser Perspektiveals positive Herrschaft des Volkes ber das Volk.

    Wenn demnach echte Mehrheitsverhltnisse imHinblick auf universale Prinzipien und nichtwillkrliche, parteipolitisch motivierte Mehrheits-koalitionen in Einzelfragen und eine daraus ab-geleitete Herrschaft anstelle eines Regimes der po-

    litischen Wahrheit zustandekommen, dann undnur dann resultiert daraus eine wirklich gelebte,liberale Demokratie, wie sie die Schweiz kennt.

    Der franzsische oder deutsche Parlamenta-rismus beruht hingegen, wie bereits erwhnt, aufder romantischen Vorstellung der politischen

    Willensidentitt von Regierenden und Regier-ten, wobei die Bildung eines homogenen Ge-samtwillens in einer heterogenen Gesellschaft alsVerwirklichung des angeblichen Gemeinwohlsangesehen wird. Der ktive Gemeinwille wirdim Wettstreit der Parteien ermittelt, und dieRegierung hat dann die Aufgabe, das Volk ent-sprechend aufzuklren. Die Grenzen zwischen

    Aufklrung und Indoktrination sind indesseniessend. So werden beispielsweise fr deutschePolitiker Steuerdelikte zum Betrug am Gemein-wohl, wobei moralisierende Wortbildungen wieNarzissmus des Steuerpichtigen oder Ero-sion der gesellschaftlichen Verantwortung die

    entlichen Debatten beherrschen. In Grossbri-tannien machte ein Parlamentsmitglied sogar dieSteuerhinterzieher fr den Tod von Menschen inSpitlern verantwortlich, indem er ihnen vorwarf,sie htten dem Staat das Geld fr eine lebens-

    rettende Behandlung vorenthalten. Die Steuer-picht wird so von einer rein nanziellen zu einermoralischen Verpichtung und der Steuerstaatzur moralischen Erziehungsanstalt. Er stellt mitseiner steuernanzierten Infrastruktur nicht nurSpitler, Schulen, Strassen- und Eisenbahnnet-ze bereit, sondern gewhrleistet und ermglichtaus dieser Sicht durch Umverteilung erst Freiheit

    und Gerechtigkeit.Was kann das Individuum gegen eine solche

    Megamaschinerie ausrichten? Es hat kaum eineChance, sich politisch dagegen zu wehren. Dableibt oft nur die innere oder eben die ussereEmigration. Ob die erweitert beschrnkte Steu-erpicht in Deutschland, die Deutsche auch miteinem Hauptwohnsitz im Ausland zu Steuerzah-lungen an den deutschen Staat verpichtet, dieSteuerpicht von im Ausland ansssigen US-Br-gern gegenber dem amerikanischen Staat oder die

    teure exit taxfr US-Amerikaner, die ihre Staats-angehrigkeit aufgeben, um der uneingeschrnk-ten Steuerpicht in der Heimat zu entkommen

    Wenn echte Mehrheitsverhltnisse und eine darausabgeleitete Herrschaft anstelle eines Regimes derpolitischen Wahrheit zustande kommen, dann

    resultiert daraus eine wirklich gelebte Demokratie.

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    wir haben es hier stets mit Mass-nahmen zu tun,die das Ziel verfolgen, die Eigentumsfreiheit derBrger zu beschneiden und diese selbst fr denFall der Emigration noch zu belangen.

    Wer den Weg in die Emigration whlt, wirdim Jargon der Politik gemeinhin als Steuer-chtling gebrandmarkt. Dabei wird bersehen,dass die Flucht vor einer skalischen Ausbeutungin vielen Fllen auch eine Flucht vor einer um-fassenden wirtschaftlichen und sozialen Fremd-bestimmung miteinschliesst. Steuerchtlingesind hug auch Andersdenkende, Menschen,deren Vorstellung ber Freiheit und Gerechtig-keit von der obrigkeitsstaatlich vorgeschriebenenVersion abweicht. Sie suchen nicht einfach nan-zielle Vorteile, sondern einen Ort mit freiheitli-cheren Vorstellungen ber selbstbestimmte Br-

    gerrechte und Brgerpichten. Dabei war undist die Schweiz fr sie eine valable Exiladresse.Ideologische Mssigung, verbunden mit der Tra-dition der direkten Demokratie als Ausdruck po-litischer Selbstbestimmung, haben jene liberale

    Atmosphre der Schweiz geprgt, die skalische,

    aber eben auch andere Dissidente Revolution-re, Wirtschaftspioniere, Forscher oder Intellektu-elle fasziniert hat und weiterhin fasziniert.

    Ob die russischen Revolutionre wie Trotz-ki und Lenin oder der Franzose Jean-Jacques deSellon, einer der fhrenden Kmpfer fr die Ab-schaung der Todesstrafe in Frankreich im 18.

    Jahrhundert, ob Lon Gambetta, ein Mitbegrn-der der Dritten Republik, Pellegrino Rossi, ein

    italienischer Liberaler des 19. Jahrhunderts, obEdmund Ludlow, englischer Politiker und Sym-pathisant der Englischen Republik im 17. Jahr-hundert, sie alle fanden Zuucht in der Schweiz.Die Neutralitt wie auch der fehlende Ausliefe-rungszwang des Landes konnte fr Exilpolitikeraller Couleur auch dazu genutzt werden, den

    Widerstand in der Heimat zu mobilisieren oderzumindest vor einer politisch motivierten Aus-weisung und staatlichen Repressalien in ihrenHeimatlndern sicher zu sein.

    Gewiss, es waren auch Feinde der Demokra-tie, Diktatoren und gekrnte Hupter, die diesenVorzug der Schweiz zu nutzen wussten. Musso-

    lini oh 1902 in die Schweiz, um sich vor demMilitrdienst zu drcken. Trotzdem war er derSchweiz spter als Diktator nicht wohlgesinntund beanspruchte den Kanton Tessin als italieni-sches Territorium. Schliesslich wollte er sich nachseinem Sturz als Diktator der Verhaftung durcheine Flucht in die Schweiz entziehen, was ihmaber nicht mehr gelang. Eindrucksvoll ist auchder Migrationshintergrund von hervorragendenUnternehmern und Wissenschaftern, die der po-litischen Unterdrckung in ihrer Heimat zu ent-kommen suchten, indem sie sich in der Schweizniederliessen. So etwa der lothringische PhysikerHorace-Bndict de Saussure, der Ernder desHygrometers, der unter Calvin, selbst einer derbedeutendsten Immigranten der Schweiz, eben-falls in Genf Asyl fand, oder der grosse neoklas-

    sische konom Lon Walras, der in Frankreichnicht mehr lehren durfte, oder der ApothekerHenri Nestl, bevor er mit Milchpulver zu Welt-ruhm gelangte, oder der Literaturkritiker undSozialphilosoph Walter Benjamin, der nach demZusammenbruch der Weimarer Republik als po-litischer Flchtling in die Schweiz kam.

    Diese Immigranten konnten sich in ihrenHerkunftslndern wegen ihrer von den dortvorherrrschenden Vorstellungen abweichendenBesonderheit, sei diese nun kulturell, religis,

    konomisch oder politisch begrndet, nichtidentizieren. Sie waren konsequent und habendas Exil gewhlt. Sie haben die Mglichkeitengenutzt, die ihnen die Schweiz bot. Und sie ha-ben ihr toleranteres Gastland entscheidend mit-geprgt, dessen Entwicklung gefrdert und zu ei-ner positiven Wahrnehmung der Schweiz in der

    Welt beigetragen.Es bleibt zu hoen, dass die Schweiz sich

    weiterhin als Exildestination bewhrt. Und dasssie jenen Menschen Asyl gewhrt, die in andernStaaten als Andersdenkende und Dissidente ver-

    femt und verfolgt werden.

    Es waren auch Feinde der Demokratie, Diktatorenund gekrnte Hupter, die die Vorzge der Schweiz zu

    nutzen wussten.

    RADU GOLBAN,geboren 1973, istPolitologe,promovierter konomund Unternehmer.