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Special | Ernährungsbildung Ernährungsbildung – Standort und Perspektiven Silke Bartsch, Margareta Büning-Fesel, Monika Cremer, Ines Heindl, Andrea Lambeck, Petra Lührmann, Anke Oepping, Christel Rademacher, Sabine Schulz-Greve für die DGE-Fachgruppe Ernährungsbildung Ernährungsbildung ist ein Prozess, der mit der Geburt bereits begonnen hat und sich lebensbegleitend vollzieht. Die Fachgruppe Ernährungsbildung skizziert in diesem Beitrag Phasen der Ernährungsbildung, geht ein auf die Situation in Deutschland, formuliert Ziele vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation und Verantwortung und benennt die aktuellen Herausforderungen. Beleg/Autorenexemplar! Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. M84 Ernährungs Umschau | 2/2013 © ugocutilli/Fotolia.com

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Special | Ernährungsbildung

Ernährungsbildung – Standortund PerspektivenSilke Bartsch, Margareta Büning-Fesel, Monika Cremer, Ines Heindl, Andrea Lambeck, Petra Lührmann, Anke Oepping, Christel Rademacher, Sabine Schulz-Greve für die DGE-Fachgruppe Ernährungsbildung

Ernährungsbildung ist ein Prozess, der mit der Geburt bereits begonnen hat und sich lebensbegleitend

vollzieht. Die Fachgruppe Ernährungsbildung skizziert in diesem Beitrag Phasen der Ernährungsbildung, geht ein auf die Situation in Deutschland, formuliert

Ziele vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation

und Verantwortung und benennt die aktuellen Herausforderungen.

Beleg/Autorenexemplar!Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme.

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Bildung dient u. a. der Befähigungdes Menschen zu einer eigenständi-gen und eigenverantwortlichen Le-bensführung in sozialer und kultu-reller Eingebundenheit und Verant-wortung [1, 2]. Ernährungsbildungzielt darauf ab, Menschen zu befähi-gen, die eigene Ernährung politischmündig, sozial verantwortlich unddemokratisch teilhabend unter kom-plexen gesellschaftlichen Bedingun-gen zu entwickeln und zu gestalten.Sie ist immer auch Esskulturbildung,beinhaltet ästhetisch-kulturelle so-wie kulinarische Bildungselementeund trägt zur Entwicklung der Kul-tur des Zusammenlebens bei.

Ernährungsbildung wird in einemoffenen und lebensbegleitenden Pro-zess biografisch angeeignet und isteingebunden in Wechselwirkungenmit dem soziokulturellen Umfeld [1, 2]. Dieser Prozess beginnt mit der prä-/perinatalen Sinnesbildung,durchläuft verschiedene Orte undStationen mit erzieherischen und bil-denden Einflüssen inklusive der in-formellen und der formalen Bil-dungsprozesse. Diese Orte der „Wei-tergabe und Aneignung“ warenschon immer vielfältig und sind esheute noch: Familie, Sippe, Freunde,Privathaushalt, Küche, Garten,Schule, Hochschule, Arbeitsplatz,Supermarkt usw. UnterschiedlichsteMedien wie Zeitschriften, Bücher,Filme und das Internet tragen zurErnährungsbildung bei. Das „erste“Medium war und ist jedoch derMensch.

Ernährungsbildung leistet im dop-pelten Sinne einen Beitrag zur Ge-sundheitsförderung: Einerseits istGesundheit Grundlage für Bildungund Entwicklung, andererseits sindgute Bildung und EntwicklungGrundlagen für Gesundheit undWohlbefinden.

Im Folgenden werden die Aspekte derErnährungsbildung in den verschie-denen Lebensphasen unter besonde-rer Berücksichtigung der Situationund der sich ergebenden Herausfor-derungen dargestellt und diskutiert.

Frühkindliche Ernährungs-bildung

Frühkindliche Ernährungsbildungbeginnt im Mutterleib und umfasstetwa die ersten drei Lebensjahre. DieBildungsprozesse sind in dieser ers-ten Phase noch nicht formalisiert.Rechtliche und curriculare Vorgabengibt es für Kindertageseinrichtungen(Kitas) nicht durchgängig. Ernäh-rungsbildung ereignet sich informell,zwischen den Einflüssen privaterund öffentlicher Verantwortung, inder Familie, der Kita und der Tages-pflege. Dabei sind zwei übergeord-nete Wirkfaktoren wesentlich: Zumeinen der Aufbau von Bindung undBeziehung, zum anderen die profes-sionelle Responsivität von Betreu-ungspersonen d. h. eine prompteund stimmige Reaktion des Erwach-senen auf das Verhalten des Kindes.

Diese beiden Faktoren bedeuten fürdas Heranwachsen der Kleinkindereine Welt der Verbindlichkeit undVerlässlichkeit.

Geschmacksbildung in Schwangerschaft und Stillzeit

Frühkindliche Ernährungsbildungbedeutet Sinnesbildung. Bereits imMutterleib und später in der Stillzeitsprechen Nahrung und Essen Kinderüber die Fähigkeit der sinnlichenWahrnehmung an [4]. Das Kindkommt durch die Ernährung derMutter mit einer Fülle von Ge-schmacksnuancen in Kontakt, setztsich mit ihnen auseinander undmacht sich vertraut. Dabei bringt esangeborene und evolutionsbedingteVorlieben und Abneigungen mit. Umdas Überleben zu sichern, musstenunsere Vorfahren energiedichte Nah-

Bildung – Erziehung [2]Bildung ist die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und sei-ner kulturellen, materiell-dinglichen, sozialen Umwelt. Sie findet nicht nurin bildungsrelevanten Institutionen, sondern auch im Alltag statt.

Formale Bildungsprozesse sind institutionell verankert und finden plan-voll i. d. R. nach Curricula der Bildungsinstitutionen statt. Informelle Bil-dung findet eher zufällig, nebenher und ohne Absicht statt und ist nichtinstitutionell organisiert. Sie kann sowohl innerhalb als auch außerhalbvon formalen Bildungsinstitutionen zustande kommen, z. B. in der Fami-lie, zusammen mit Freunden, mit Mitschülern, beim Sport [3].

Erziehung ist eine beabsichtigte, normengeleitete und gelenkte Vermitt-lung von Wissen und Verhaltensregeln, z. B. in der Familie, der Schule, imBeruf, in der Freizeit.

DGE-Fachgruppe ErnährungsbildungDas Präsidium der DGE hat im Juli 2010 die Einrichtung einer FachgruppeErnährungsbildung beschlossen, um damit die Kompetenz im Bereich derUmsetzung von Ernährungswissenschaft speziell im Bereich der Ernäh-rungsbildung zu bündeln und nach außen sichtbar zu machen. Die Fach-gruppe hat sich am 23. September 2010 in Bonn konstituiert.

Kernaufgabe der Fachgruppe ist es, konzeptionell zu arbeiten, Themenauszuwählen, Problemstellungen, Bedarfe und Lösungsansätze aufzuzei-gen und in geeigneter Weise an relevante Entscheidungsträger und Ak-teure zu kommunizieren. Dazu gehört insbesondere das Arbeiten im po-litischen Raum.

Mehr zu den Zielen und Themenbereichen auf der Homepage der DGEunter www.dge.de/modules.php?name=Content&pa=showpage&pid=70

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rung suchen, die meist an einemsüßen Geschmack erkennbar ist. Mitder Vorliebe für süß sind alle Kinderausgestattet. Geschmackspräferen-zen werden schon in vorgeburtlichenPhasen gebildet und das Angebot anvielfältigen Geschmacksnuancendurch die Mutter ist von großer Be-deutung. Säuglinge akzeptieren spä-ter neue Lebensmittel leichter, wenndie Mutter in der Schwangerschaftund Stillzeit abwechslungsreich undvielseitig gegessen hat [5].

Essen lernen im Kleinkindalter

Mit der Einführung der Beikost wirddas Lebensmittelangebot verbreitert.Neue Erfahrungen mit Gerüchen,Geschmacksnuancen, Texturen wer-den gemacht, die Bandbreite der Sin-nesbildung reicht von Ekel bis Ge-nuss. Auf dem Weg von der „Einfalt“standardisierter Fertignahrung zurGeschmacksbildung durch vielfältigeGeschmacksrichtungen sind folgendeEinflüsse und Phasen zu berücksich-tigen:

– Die Auswahl von Lebensmitteln,ihre Zubereitung und wann undwo gegessen wird, ist immer kul-turell geprägt. Lebensmittel, Re-zepte, Mahlzeiten, Menüs, Essan-lässe werden als gemeinschaftlichesVerständigungsmittel genutzt.

– Ob gerne gegessen wird oder nicht,wird sozial erlernt und ist eineFrage der Gewöhnung. Jedes Ess-erlebnis verstärkt oder verändertbereits gemachte Erfahrungen.Eine positive emotionale Atmo-sphäre unterstützt die Ge-schmacksbildung. Kinder lernenvon Erwachsenen und bewertendas Essen positiv, wenn die Atmo-sphäre beim Essen freundlich undaufgeschlossen ist [6].

– Bei der Auswahl auf Vertrautes zusetzen, verspricht Sicherheit undSicherung der Ernährung. Die Le-bensmittelauswahl nach dem Prin-zip „Iss, was du kennst“ ist evolu-tionsbiologisch bedingt und dieAngst vor neuen Lebensmitteln(Neophobie) ein typisches Phäno-men im Kleinkindalter [4]. Phasender Monotonie können daher län-ger andauern. Für die Ge-schmacksbildung bedeutet es dann,den neuen Geschmack immer wie-der geduldig anzubieten, Vorbildzu sein und durch positive Ge-schichten die Neugier zu wecken.In diesem Sinne wirkt das Essen-lernen gewohnheitsbildend und füreine Geschmacksvielfalt konditio-nierend.

– Bei der Geschmacks- und Sinnes-bildung wirkt der Mere-Exposure-Effekt [7]. Kinder sind dem Ange-bot und dem Essverhalten beiTisch, in der Familie, in der Kita so-zusagen „ausgesetzt“. Sie können

dies nicht verhindern. Essen undGenuss werden beim Essen gelernt.Erfahren Kinder genussvolles Essenin Zusammenhang mit guten Vor-bildern, so verknüpfen Kinder dieseSituationen/Emotionen mit denSpeisen und den gemachten sinnli-chen Erfahrungen. V. a. Gerücheerinnern an Situationen, Emotio-nen und die erlebte Atmosphäre desEssens und des Essenlernens, dadas Riechzentrum direkt synap-tisch mit dem limbischen Systemverschaltet ist.

– Ein evolutionsbiologisches Pro-gramm ist auch die spezifische sen-sorische Sättigung. Sie führt zuAbwechslung in der Lebensmittel-auswahl und erweitert damit dasSpektrum an aufgenommenenNährstoffen. Jede Lieblingsspeiseverliert, wenn sie immer gegessenwird, ihre Sonderstellung und ihreAttraktivität [7].

Ess- und Genussgeschichten1 bietenBeziehungs- und Betreuungsperso-nen viele Chancen. Sie unterstützendas Essenlernen und begleiten Kinderein Leben lang. Hier können Eltern,Familienangehörige, Betreuungsper-sonen wie Tagesmütter, Au-pairsoder Fachkräfte in Kitas ansetzen.Doch sie wissen oft nicht um die Be-deutung von sinnlicher Bildung inder frühen Lebensphase für die Aus-bildung von Ernährungsgewohnhei-ten. Multiplikatoren im Umfeld jun-ger Familien sind kaum geschult, El-tern in der Ernährungsbildung zuunterstützen. Vorbildlich wirken indieser Hinsicht Aufbau und Aktivi-täten des Netzwerks „Gesund insLeben – Netzwerk Junge Familie“(www.gesund-ins-leben.de).

Ernährungsbildung in der Kita – Lernen im Alltag

In der Kita können Kinder eigenver-antwortliches, ungezwungenes undgenussvolles Essen und Trinken er-lernen – aus einer breiten Auswahlheraus und in der anregenden Ge-sellschaft von Gleichaltrigen, die oftaus vielen unterschiedlichen Kultu-

1„Geschichten“ im Sinne von „Biografien“/Er-fahrungen

Kindertagesstätten bieten viel Potenzial für die Ernährungsbildung

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ren kommen. Ein ausgewogenes Le-bensmittelangebot, einfache Sinnes-experimente, gemeinsame Mahlzei-ten und die Mitarbeit der Kinder beideren Vor- und Zubereitung fördernein gesundes Ess- und Trinkverhal-ten sowie die Sinneswahrnehmung.Darüber hinaus können – entspre-chende pädagogische Zielorientie-rung vorausgesetzt – feinmotori-sche, kognitive, soziale und interkul-turelle Lernmöglichkeiten im Um-gang mit Nahrung und Essen ge-schaffen werden. Entdeckungsreisenzu den Ursprüngen der Lebensmittelkönnen Kindern deren Herkunftdeutlich machen. Die Essgewohnhei-ten der Kinder werden – auch wenndas Elternhaus sie zu allererst prägt– in der Kita entscheidend weiterent-wickelt. In einer Kita, die gleichzeitigBildungs- und Entwicklungsprozessebei Kindern stärkt, kann Ernäh-rungsbildung langfristig positiveWirkungen für den gesamten Le-benslauf der Kinder entfalten, dennhier werden frühzeitig und unmit-telbar Impulse für den Ernährungs-alltag der Kinder und ihrer Familiengesetzt.

Diese Chancen der Kita als Ort fürErnährungsbildung werden nochnicht ausreichend genutzt. Ein Grundist die problematische Personalsitua-tion in vielen Einrichtungen: unbe-friedigende Personalschlüssel, ein un-terschiedlicher Beschäftigungsum-fang mit über 60 % in Teilzeit arbei-tenden Fachkräften mit einer unaus-

geglichenen Altersstruktur, die einenFachkräftemangel inzwischen un-ausweichlich werden lässt.

Ein weiteres Problem sind die vonBundesland zu Bundesland unter-schiedlichen Bildungspläne im Ele-mentarbereich. So ist Ernährungsbil-dung in den Bildungsplänen derBundesländer nicht systematischverankert und teilweise nicht einmalexplizit benannt – hier besteht drin-gender Handlungsbedarf. Zudem isteine Qualifizierung der Fachkräfteund/oder externe Unterstützung er-forderlich.

Über Essen und Trinken können Kin-der im Kita-Alter viel lernen: dassEssen und Trinken ein Genuss füralle Sinne und Hunger nicht gleichAppetit ist, dass gemeinsames EssenSpaß macht, aber auch Regelnbraucht, dass z. B. beim Zubereitendes Essens ihre Mithilfe erwünschtist und schließlich, wo Lebensmittelüberhaupt herkommen und wie sieentstehen.

Essen und Trinken sind ein Genuss für alle SinneMit den Sinnen erschließen sich Kin-der die Welt – auch die der Lebens-mittel. Sie (er)hören, (durch)schauen,(be)greifen ihre Umgebung, sie kom-men auf den Geschmack, könnenetwas gut oder aber gar nicht rie-chen. Je besser die Sinne geschultsind, desto besser können Kinder diegeschmacklichen Feinheiten von

Speisen wahrnehmen – eine bedeu-tende Voraussetzung für genussvol-les Essen und Trinken. Die gespei-cherten Geschmacksempfindungen,Düfte und das Mundgefühl sind Er-innerungen von lebenslanger Bedeu-tung für das, was schmeckt. Übereine intensive Beanspruchung allerSinne lernen Kinder auch langsamund bewusst zu essen und auf Sätti-gungssignale zu achten. So steigendie Chancen der Selbstregulierungund die Wahrscheinlichkeit, über denHunger hinaus zu essen, sinkt. FürKinder ist es wichtig, dass sie bspw.nicht nur „sprechen“ und „laufen“lernen, sondern auch „riechen“ und„schmecken“. Mithilfe einfacher Ex-perimente lernen sie, die verschiede-nen Geschmacks- und Geruchskom-ponenten der Nahrung wahrzuneh-men.

Hunger ist nicht gleich AppetitKinder haben ein angeborenes Ge-spür für Hunger und Sättigung. Be-stimmte Gewohnheiten und Gefühlekönnen die Signale und somit dieNahrungsaufnahme ebenfalls starkbeeinflussen. Wenn Kinder bspw. ge-lernt haben, Essbares als Ersatz fürZuwendung zu empfangen, ist es

Kitas sind ein geeigneter Ort für die Ernährungsbildung:– Sie bieten ein großes Potenzial: In rund 50 000 Kitas in Deutschland be-

treuen 400 000 Beschäftigte ca. 3 Mio. Kinder im Alter von 0–6 Jahren.

– Über die Kitas können ca. 90 % der Kinder in der Altersgruppe erreichtwerden, auch die Kinder aus sozialen Risikogruppen.

– Im Kindergartenalter erlernte Verhaltensweisen sind prägend für das wei-tere Leben.

– Ein zunehmender Teil der Kita-Kinder nimmt nicht nur das zweite Früh-stück, sondern auch das Mittagessen in der Kita ein.

– Über die Kita kann der Zugang zur Familie gelingen.

Erfolgsfaktoren von Ernährungsbildung in der KitaErnährungsbildung im Kita-Be-reich greift insbesondere dann,wenn

– sie mit Bildungszielen und -pro-zessen verknüpft wird,

– sie im Alltag der Kitas verankertwird,

– Verpflegungsangebot und Er-nährungsbildung Hand in Handgehen,

– Kita-Leitung und pädagogischeFachkräfte sowie Eltern partner-schaftlich eingebunden werdenund

– auch die Elternarbeit konzeptio-nell verankert ist.

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sehr wahrscheinlich, dass sie sichauch als Erwachsene mit Lebensmit-teln belohnen und trösten. Zwarkann Essen angenehme Gefühle her-vorrufen, Zuwendung kann es je-doch keinesfalls ersetzen. In der Kitakönnen Kinder darüber hinaus miteinfachen Übungen lernen, auf ihrenKörper zu hören und seine Signalebewusst wahrzunehmen.

Gemeinsam Essen macht Spaß undbraucht RegelnGemeinsame Mahlzeiten mit den Er-ziehern und Freunden in der Kitasteigern den Genuss beim Essen. AmTisch können sich Kinder mit ande-ren austauschen, schauen, was an-dere essen und Neues probieren. Sielernen viele Lebensmittel kennen underhalten zahlreiche Geruchs- und Ge-schmackseindrücke für ihr sensori-sches Gedächtnis. Die richtigen Rah-menbedingungen schafft das päda-gogische Team. Als Vorbilder prägendie Fachkräfte dabei die Ernährungs-gewohnheiten der Kinder auch durchihr eigenes Essverhalten entscheidendmit. Feste Zeiten und Regeln fürsEssen und Trinken geben dem Alltagund der Bedürfnisbefriedigung derKinder zudem einen Rahmen, an demsie sich orientieren können. Das hilftihnen beim Aufbau ihres Selbstma-nagements und stärkt ihr Sozialver-halten.

Mithelfen und ExperimentierenKinder genießen es, wenn sie denTisch decken und wie die GroßenSpeisen vor- und zubereiten dürfen.Die Wertschätzung des Essens, dieWertschätzung der Arbeit und einfrühzeitiger selbstverständlicherUmgang mit einfachen Küchengerä-ten und Geschirr sind wichtige Lern-effekte. Das motorische Trainingsteigert die Handlungskompetenz,die Selbstständigkeit und das Selbst-bewusstsein. Der praktische Um-gang mit Lebensmitteln und Tisch-kultur bekommt einen festen Platzim Alltag. Je mehr Handlungsspiel-

raum und ErfahrungsmöglichkeitenKinder bei der Nahrungszubereitunghaben, desto mehr können sie lernenund desto zufriedener sind sie mitsich selbst. Bei der Nahrungszuberei-tung erfahren die Kinder die Gemein-schaft mit anderen sowie deren Hilfeund Unterstützung. Und sie lerneneigene Bedürfnisse aufzuschieben. Somüssen sie ihren Hunger ein wenigzügeln, bis alle gemeinsam die Mahl-zeit fertig zubereitet haben.

Den Ursprung der Lebensmittel kennen lernenV. a. Stadtkinder kennen den Ur-sprung der Lebensmittel häufig nichtmehr. Sie können den Zusammen-hang zwischen Milch, Käse und But-ter oft nicht herstellen. Dass Bröt-chen, Nudeln und Kuchen allesamtaus Getreide hergestellt werden, istebenfalls nicht unbedingt klar. Ent-deckungsreisen mit den Kindern hel-fen ihnen, die Vielfalt der Lebensmit-tel zu erschließen und ihren Wert zuerkennen. Ein Besuch auf dem Bau-ernhof, beim Bäcker, in der Saftfabrikoder Molkerei macht Kindern vielesdeutlich. Die Kinder lernen, den Wertihrer Lebensmittel zu schätzen.

Ernährungsbildung in der Schule

Kinder und Jugendliche verbringenmindestens zehn Jahre in allgemein-bildenden Schulen (Primarstufe, Se-kundarstufe I). Diese sind Lern- undLebenswelten, sie sozialisieren underziehen, bilden und prägen für dieAuseinandersetzung mit der und dieAneignung von Welt. Grundschulenund weiterführende Schulen sind diegesellschaftlich zuständigen und le-gitimierten Institutionen, um „All-gemeinbildung“ zu vermitteln, zuprüfen und zu bescheinigen DieseBildung ist notwendig, um die Wei-tergabe des kulturellen Erbes zu si-chern und gesellschaftliche Kommu-nikation zu ermöglichen.

Zudem hat jedes Schulkind gleich-zeitig einen Bildungsanspruch, umgesellschaftliche Teilhabe erlangen zukönnen. Heute sind im Bereich der

Ernährungsbildung v. a. ernäh-rungs- und konsumrelevante Kom-petenzen gefragt, da sich im Rahmender gesellschaftlichen Veränderungder Agrar- zur Industrie- undDienstleistungsgesellschaft das Spek-trum von „Beschaffung und Pro-duktion von Lebensmitteln“ hin zu„Auswahl und Konsum“ verschobenhat [8]. In diesem „Kanon der Allge-meinbildung“ gilt es, die Qualitätund den Stellenwert der Ernäh-rungsbildung auf den Prüfstand zustellen.

Formale Ernährungsbildung: 16-mal unterschiedlich

Formale Ernährungsbildung inDeutschland ist föderalistisch-insti-tutionell organisiert und fachlich injedem der 16 Bundesländer unter-schiedlich realisiert. Sie folgt keinergemeinsamen Zielorientierung. Ähn-liches gilt für die Aus-, Fort- undWeiterbildung von Fachlehrkräftenfür den ernährungsbildenden Unter-richt.

Das European Network for HealthPromoting Schools formulierte be-reits Ende der 1990er Jahre in seinenZielen Kriterien für die schulische Er-nährungsbildung, die u. a. vorsehen,dass für jeden Schüler eine Ernäh-rungs- und Verbraucherbildung fä-cherübergreifend zu gewährleistenist und alle Lehrkräfte und schuli-schen Mitarbeiter über Grundkennt-nisse zeitgemäßer Ernährungs- undVerbraucherbildung verfügen sollten[9]. Rein formal beinhaltet das Schul-gesetz in jedem Bundesland den Auf-trag zur Erziehung und Bildung vonHeranwachsenden im Hinblick aufGesundheit, Ernährung und Persön-lichkeitsentwicklung. Aber in denCurricula, Zeittafeln und Fachräu-men der Schulen hat die Ernäh-rungs- und Verbraucherbildung ver-gleichsweise wenig Raum. Sie isthäufig als Querschnittsaufgabe füralle Fächer oder als Wahlthema inKonkurrenz mit anderen zu findenund wird oft lediglich im Rahmenvon Projekttagen und -wochen um-gesetzt (Projektitis).2

2Vgl. hierzu die Lehrplan-Datenbank unterwww.kmk.org

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Wünschenswert: Ernährungsbil-dung als Spiralcurriculum

Insgesamt werden der fachliche An-spruch und der individuelle, sozialeund gesellschaftliche Nutzen der Er-nährungs- und Verbraucherbildungauf allen Ebenen unterschätzt. An-ders ist es nicht zu erklären, dass esbildungspolitisch noch nicht – wieauf europäischer Ebene empfohlen –gelungen ist, die entsprechenden Bil-dungsziele, -inhalte und -themenverbindlich für alle Schüler in denKanon der Allgemeinbildung aufzu-nehmen. Auch der Transfer der be-reits vorliegenden inhaltlich-wissen-schaftlichen, pädagogischen und di-daktischen Konzepte auf die Ebenevon Entscheidungsträgern, Lehr-kräften, Schulen und Schülern findetnicht, kaum oder nur unzureichendstatt.

Eine in sich schlüssige und aufeinan-der aufbauende formale und ergän-zend informelle Ernährungsbildungim Sinne eines Spiralcurriculumsbietet eine Orientierung für alle anSchule und Bildung Beteiligten, umdem entsprechenden Bildungsan-spruch gerecht werden zu können.Eine natur- und kulturwissenschaft-lich orientierte, sachlich fokussierteund didaktisch aktualisierte Ernäh-rungs- und Verbraucherbildung, wiesie mit dem REVIS-Curriculum [10]formuliert wurde, bildet die Basis fürzahlreiche Perspektiven sowohl fürdie Schüler als auch für die beteilig-ten Verantwortlichen, wie Lehr-kräfte, Schulleitungen, Schulent-wickler sowie Entscheidungsträgerin Verwaltungseinrichtungen undMinisterien.

Insgesamt gilt es, die sächlichen undpersonellen Rahmenbedingungen fürdiesen Bildungsbereich deutlich aus-zubauen sowie Wissen, Image und

Wertschätzung bei Entscheidungs-trägern aller Ebenen zu steigern. Miteiner gemeinsamen Zielorientierung– im Sinne eines Spiralcurriculums –für die formale Ernährungsbildungim Hinblick auf den Output sollte esgelingen, dass Schule mehr Verant-wortung übernehmen kann undübernimmt, wenn es darum geht,die interdisziplinäre Querschnitts-aufgabe „formale Ernährungsbil-dung“ durch verschiedene Unter-richtsfächer zu meistern.

Ergänzend dazu müssen informelleschulische Angebote zur Ernäh-rungsbildung Qualitätsstandards ge-nügen, die der Zielorientierung die-nen. So haben versteckt werbendeMaßnahmen und Materialien inSchulen ebenso wenig zu suchen wiekommerzielle oder andere interessen-geleitete Angebote, die nicht mit derZielsetzung der formalen Ernäh-rungsbildung vereinbar sind.

Schulmahlzeit: Lernort für Ernährungsbildung

Qualität und Gestaltung der schuli-schen Verpflegungsangebote sindTeile der informellen Ernährungsbil-dung. Dies liegt selten im Bewusst-sein der Verantwortlichen bzw. dieVerantwortung für diesen Teil derErnährungsbildung ist nicht defi-niert. Deshalb stehen Verpflegungund Ernährungsbildung im Schul-

alltag oft ohne Bezugnebeneinander. Die Mit-tagsverpflegung wirdoft „outgesourct“ unddie Verantwortung denCaterern überlassen.Die Chancen der Schul-mahlzeit in Hinblickauf die Geschmacks-und Esskulturbildungwerden häufig unter-schätzt und das Poten-zial aus verschiedenenGründen (Halbtags-schulstrukturen, Orga-nisation als zusätzlicheBelastungen für Schul-leitung und Lehrperso-nal, finanzielle Gründe)noch viel zu wenig ge-nutzt. Allein das Schul-frühstück (oft das ersteund einzige Frühstück)bietet in Grundschulenan ca. 200 Schultagenim Jahr Raum für Esskulturbildung.Durch die Entwicklung hin zuimmer mehr Ganztagsschulen be-kommt die Schulverpflegung einenimmer höheren Stellenwert für dieErnährungssozialisation und Enkul-turation. Im Jahr 2008 waren esbundesweit 16,5 % Schüler ab 14Jahren, die eine Schulmensa besuch-ten [11, 12].3

Gesetzliche Regelungen zur Schul-verpflegung sind marginal und er-

Für eine gute Schulverpflegung sind nicht nur die Lebensmittel wichtig –die Mensa ist auch ein Ort sozialen Zusammenlebens4

GlossarSpiralcurriculum =

Didaktisches Konzept

zur spiralförmigen

Anordnung der Lern-

inhalte in den Curri-

cula über mehrere

Schuljahre, um die

entwicklungs- und

lernpsychologische

Entwicklung der

Schülerinnen und

Schüler zu berück-

sichtigen. Einzelne

Thematiken werden

in den aufeinander-

folgenden Jahrgangs-

stufen auf einem

jeweils höheren Ni-

veau wiederholt, ver-

tieft und differenziert.

Enkulturation =

die Aneignung

von Kultur

3An dieser Stelle wird nicht diskutiert, wie sichMahlzeitenverhalten durch das zunehmendeSnackverhalten auch im schulischen Rahmenverändert.

4Mit der aktuellen Lage der Schulverpflegungin Deutschland wird sich das Special in Ernäh-rungs Umschau 3/2013 beschäftigen.

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schöpfen sich weitgehend in der An-gebotspflicht eines Mittagessens beiGanztagsschulbetrieb. Das Verpfle-gungsangebot in Schulen sollte aberzumindest den ernährungsphysiolo-gischen Grundanforderungen derZielgruppe genügen. Seit 2007 gibtdie Deutsche Gesellschaft für Ernäh-rung bundesweit den DGE-Quali-tätsstandard für die Schulverpfle-gung [13] heraus. Er hat Empfeh-lungscharakter und gibt SchulenHilfestellung in der Organisation undGestaltung der Mittagsverpflegung.Weitere Unterstützungsangebote bie-ten im Rahmen der inForm-Kampa-gne z. B. auch die VernetzungsstellenSchulverpflegung der Bundesländeran [12].

Für die Übermittagsbetreuung derKinder mangelt es häufig an profes-sioneller Begleitung durch Fachkräftemit ernährungs- und gesundheits-pädagogischer Grundbildung.

Ziel muss es sein, formale und in-formelle Ernährungsbildung miteinem gemeinsamen pädagogischenKonzept und einer gemeinsamenZielorientierung aufeinander abzu-stimmen. Das Verpflegungskonzeptmuss als integraler oder additiver Be-standteil des Curriculums einer Er-nährungs- und Esskulturbildungverstanden werden. Anders als imUnterricht können im außerunter-richtlichen Bereich Routinen und Ge-wohnheiten gefördert werden. ImRahmen der Schulentwicklungspro-zesse werden dazu in den Leitbildernvon Schulen Ziele und Verantwor-tung der Schulen und ihrer amSchulleben Beteiligten definiert und

kommuniziert. In Einzelfällen wirddazu externe Beratung und Unter-stützung herangezogen, die jedochnicht strukturell abgesichert sindund v. a. vom Engagement derSchulleitungen, Lehrkräfte und El-tern abhängen.

Ernährungsbildung in Grund-schulen

Im Schuljahr 2010/11 besuchten jeca. 1,4 Mio. Mädchen und Jungenetwa 16 290 Grundschulen inDeutschland [14]. Sie finden hiernicht nur neue und verlässlicheStrukturen für das Leben und Ler-nen, sie werden auch konfrontiertmit einer neuen Kultur des Zusam-menlebens und auch des Zusam-menessens, bringen aber bereits viel-fältige Einstellungen, Kenntnisse, Fä-higkeiten in Sachen Essen und Er-nährung mit. Vor dem Hintergrund,dass Essen vorwiegend in der Kind-heit – und zwar durch und beimEssen – erlernt wird, ist die Gestal-tung von Esssituationen mit Kinderneine pädagogische Aufgabe mit weit-reichender Verantwortung für Indi-viduum und Gesellschaft.

Grundschule als LebensraumGrundsätzlich finden im Grund-schulalter insgesamt viele spannende„äußere“ und „innere“ Prozesse undEreignisse statt, die das Verhältniszwischen Bindung und Selbststän-digkeit verändern. Solidarität undAbgrenzung erfahren neue Dimen-sionen in der Begegnung und Ausei-nandersetzung mit Kindern und Er-wachsenen aus der neuen Lern- undLebenswelt „Grundschule“ [15]. Die

Welt des Essens und des Umgangsmit Körper, Nahrung, Mahlzeitenge-meinschaft gehört dazu und lässtKinder in der Begegnung mit ande-ren „über den Tellerrand“ blicken. Dieeigene Persönlichkeit wird in diesenneuen Zusammenhängen über diefamilialen Erfahrungen hinaus ent-deckt und entwickelt. Die Gestaltungdes persönlichen und gemeinsamenEssalltags ist Teil der Identitätsbil-dung.

Ernährung im GrundschulunterrichtDie abnehmenden Kompetenzen inder Nahrungszubereitung und diezunehmende Individualisierung desEssens sowie die Entstrukturierungdes Alltags lassen es immer wenigerzu, dass Ernährungsbildung im Pri-vathaushalt praktisch stattfindet[16]. Aber auch im Unterricht derGrundschule mangelt es an prakti-schen Übungseinheiten und gemein-samen Reflexionsgelegenheiten: Ein-kaufen, Essen, Nahrung zuberei-ten, Mahlzeiten einnehmen sowieEntsorgen ist im unterrichtlichenZusammenhang der Primarstufeschlichtweg nicht vorgesehen.

Die Achtung und intensive Beschäf-tigung mit der eigenen Alltags- undEsskultur ist aber immer geboten,damit formale oder informelle Er-nährungsbildung auf fruchtbarenBoden fallen und auf das individu-elle, soziale und gesamtgesellschaft-liche Denken und Handeln übertra-gen werden können. Oftmals ist einevon Normen geleitete Vermittlungvon Wissen und Verhaltensregeln(Ernährungserziehung) gängige Un-terrichtspraxis, in der irrigen An-nahme, sie könnten das persönlicheEssverhalten beeinflussen [17]. DasZusammenbringen kognitiver wis-senschaftlicher Zusammenhängemit den eigenen emotionalen und af-fektiven Verhaltensweisen in Hin-blick auf das Konsum- und Essver-halten erfordern jedoch eine erhebli-che Transferleistung – nicht nur beiKindern. Dies wird in der überwie-genden Zahl der Medien, Materialenund Unterrichtsentwürfe in keinerWeise beachtet.

Im Rahmen des Forschungsprojekts REVIS (Reform der Ernährungs- undVerbraucherbildung in allgemeinbildenden Schulen) wurden Bildungszieleund Kompetenzen formuliert. Im Mittelpunkt der modernen Ernährungs-und Verbraucherbildung nach REVIS stehen der essende, handelndeMensch und die Entwicklung der individuellen und soziokulturellen Res-sourcen. Autonomie und Solidarität markieren das Ziel dieser Bildung inder modernen Gesellschaft. Diese wiederum ist darauf angewiesen, dassihre Mitglieder kritisch, selbstbestimmt und solidarisch zu ihrer Weiter-entwicklung beitragen. Ernährungs- und Verbraucherbildung gehört dazu!(www.evb-online.de)

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Ernährungsbildung in der weiterführenden Schule (Sekundarstufe I)

Alle Jugendlichen gehen ab der 5.bzw. 7. Jahrgangsstufe in weiter-führende Schulen, wobei die allge-meine (Voll-)Schulpflicht in Abhän-gigkeit vom Bundesland nach dem 9.oder 10. Schulbesuchsjahr endet.

Da die Schulpflicht in der Sekundar-schule I in recht unterschiedlichenSchulformen erfüllt werden kann, istdas soziale Umfeld stark durch denSchultypus geprägt.4 Dies wiederumbeeinflusst die Gesundheitschancen,z. B. das Risiko für Übergewicht [18].Zwei Tendenzen sind zu erkennen.Die erste ist die bundesweit sich ent-wickelnde Zweiteilung in Gymna-sium und Sekundarschulen. Diesesind zurzeit noch durch eine großeVielfalt bestimmt (Gemeinschafts-schulen, Hauptschulen, Real-/Mit-telschulen, Werkrealschulen, Ge-samtschulen etc.), werden aber inRichtung einer integrierten Gesamt-schule umgebaut. Die zweite Ten-denz ist der Umbau von der traditio-nellen Halbtagsschule hin zur Ganz-tagsschule mit einer verpflichtendenMittagsverpflegung. Mit diesemUmbau sind zahlreiche Chancen imBereich der Gesundheitsförderungund der Ernährungsbildung ver-knüpft. Hier können alle Jugendli-chen in einer Altersstufe mit einergroßen Offenheit für außerfamilialeLebens- und damit implizit Essmus-ter erreicht werden und gesundheits-förderliche Routinen aufgebaut wer-den.

Schule als LebensraumJugendliches Essverhalten wirddurch die für diese Altersphase typi-schen Entwicklungsaufgaben (Ablö-sung vom Familienesstisch undgleichzeitige Bestimmung eines eige-nen Ess-Stils etc.) beeinflusst. Ent-sprechend hat Essen im häuslichenUmfeld mit den Eltern und im au-ßerhäuslichen Umfeld mit den Peerseinen unterschiedlichen Stellenwertund unterschiedliche Bedeutungen[19]. Schule als Lebensraum stehtzwischen der Privatheit des Eltern-

hauses und der Öffentlichkeit derPeergroup. Dadurch ergeben sich imschulischen Lebensraum Chancen,erstens durch neue Impulse im Un-terricht, durch Peers und bei derSchulverpflegung Gestaltungsalter-nativen beim Essen kennenzulernen,und zweitens durch Angebote zurSchulverpflegung auch außerfami-liäre Routinen auszubilden – die ge-sundheitsförderlich sein können oderauch nicht.5

Ernährung im Unterricht der Sekundarstufe IWünschenswert ist eine formale Er-nährungsbildung, die sich in allenLändern an gemeinsamen Bildungs-zielen (EVB-Curriculum nach REVIS)orientiert und einem schlüssigen Spi-ralcurriculum folgt [20–22]. Tat-sächlich werden Curricula als Rah-men-, Kernlehrpläne oder Bildungs-pläne etc. für die Schulformen und-fächer in den Bundesländern festge-legt, entsprechend variieren auch dieFachbezeichnungen und Bezugsfä-cher für die Ernährungsbildung. Trä-gerfächer in der Sekundarstufe I sinderstens Fächer, die traditionell derhaushaltsbezogenen Bildung im wei-teren Sinne zugeschrieben werden,zweitens (naturwissenschaftliche)Fächer, die ernährungsbildende Teil-aspekte im Blick haben. Darüber hi-naus finden sich häufig auch allge-meine Ansätze zur Ernährungsbil-dung in der „Gesundheitsbildung/-erziehung“, die häufig als fachüber-greifendes Prinzip in den Curricula zufinden sind, aber für die schulischePraxis häufig keine Relevanz haben.

Ernährung als Bereich der haushalts-bezogenen BildungDurch die unterschiedlichen Traditio-nen in den Bundesländern sind so-wohl die Gewichtung als auch diethematische Ausrichtung haushalts-bezogener Bildung v. a. durch ihreVielfalt gekennzeichnet und habenentsprechend sehr unterschiedlicheFachnamen oder „verstecken“ sich inunterschiedlichen Fächerverbünden(z. B. Hauswirtschaft, Wirtschaft, Ar-beit, Technik [WAT], Mensch undUmwelt [MUM] usw.). Bis heute

wirken jedoch tradierte Vorstellun-gen von der „Armen- und Mädchen-bildung“ und der Beschränkung aufSpeisenzubereitung. Dies zeigt sichdadurch, dass eine praxisorientierteErnährungs- und Verbraucherbil-dung nicht zum Inhalt der gymna-sialen Bildung gehört und häufig inden Wahl(pflicht)bereich (für „lern-schwache“ Schüler) abgedrängtwurde oder wird [21].

Akteure für Ernährungsbildungin Schulen

Die schulischen Akteure in der Er-nährungsbildung umfassen im We-sentlichen drei Gruppen:

– die Lehrpersonen, die für den(Fach-)Unterricht verantwortlichsind und einen entsprechenden Bil-dungs-/Erziehungsauftrag haben,

– Schulleitungen und weitere Perso-nen, die an der Gestaltung desSchullebens maßgeblich beteiligtsind und

– Anbieter von Schulverpflegung[23]

Eine Rolle spielen auch die Vernet-zungsstellen Schulverpflegung, die2008 ihre Arbeit begonnen haben.

Lehrkräfte in der PrimarstufeIn der Lehrerbildung für die Primar-stufe ist in der Regel keine verbindli-che ernährungsbezogene Grundbil-dung vorgesehen. Die inhaltliche unddidaktische Umsetzung ernährungs-bezogener Bildung – so sie in denCurricula vorgesehen ist – entspringtin der Grundschule somit eher denindividuellen Interessen und Fähig-keiten der Lehrkraft als einer ge-samtgesellschaftlichen Verantwor-tung. Ernährungsbildung an Grund-schulen wird nur in wenigen Fällenvon Fachlehrpersonal unterrichtet.

4vgl. Ergebnisse der PISA-Studie [www.oecd.org/berlin/themen/pisa-internationaleschulleistungsstudiederoecd.htm]

5Zur vertieften Lektüre: Zeitschrift Haushaltund Bildung (H & B) hat im Jahr 2008 daserste Heft dem Thema Schulverpflegung ge-widmet.

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Eine strukturelle Verankerung derErnährungsbildung in den Curriculader Primarstufe sowie eine entspre-chende fachliche Ausbildung fürLehrpersonen ist unerlässlich.

Im schulischen Umfeld transportie-ren ggf. externe Partner formale undinformelle Ernährungsbildung. InGrundschulen werden externe Kräftegern einbezogen, um notwendigePraxisanteile im Umgang mit Nah-rung zu ermöglichen. Die Verbrei-tung des aid-Ernährungsführer-scheins und die Resonanz auf dieLehrerfortbildungen zeigen deutlich,auf welche Bildungslücke der Ansatzund die Materialien gestoßen sind.Die dringende Notwendigkeit derpraktischen Anleitung von Kindern,um dem Bildungsziel 3 nach REVIS„Schülerinnen und Schüler handelnsicher bei der Kultur und Technik derNahrungszubereitung und Mahlzei-tengestaltung“ zu folgen, steht indiesem Zusammenhang außer Dis-kussion.

FachlehrpersonenFachlehrpersonen tragen die Verant-wortung für das Unterrichtsange-bot. Aufgrund des Fächerrankingsist die notwendige fachliche undfachdidaktische Ausbildung der ein-gesetzten Lehrkräfte nicht flächende-ckend gesichert [21, 24]. Ein großesProblem ist die weitgehend fehlende,aber notwendige, flächendeckendeWeiterbildung von Lehrpersonen imfachdidaktischen Bereich.6 Ein weite-res Problem ist die fachliche Veran-kerung der Ernährungs- und Ver-braucherbildung. Nur ein allgemein-verbindliches Unterrichtsfach sichertdie Ernährungsbildung für alleSchülerinnen und Schüler. Sonstbleibt es – wie heute fast im ganzenBundesgebiet anzutreffen – dem Zu-fall überlassen, ob die Entwicklungernährungs- und konsumrelevanterKompetenzen bei den Schülerinnenund Schülern gefördert werden odernicht.

Schulleitung und weitere PersonenFür Schulentwicklungsprozesse sindSchulleitungen, Schulkonferenzen(Schulleitung, Lehrerschaft, Eltern,Schülerschaft und Externe) undschulische Steuerungsgruppen ver-antwortlich. Welchen Stellenwert Er-nährungsbildung im Leitbild derSchule bekommt, welches Schulver-pflegungsangebot wie in die schuli-sche Lebenswelt einbezogen wird,welche Essräume und Esszeiten vor-gesehen sind, sind Fragen, die hierentschieden werden. Häufig wirdSchulverpflegung als zusätzliche Be-lastung wahrgenommen und somitbevorzugt ein „kommerzielles rund-um-sorglos-Paket“ gewählt, dasChancen der Ernährungsbildung un-berücksichtigt lässt.

Vernetzungsstellen Schulverpflegungals Beispiel für externe Beratung undBegleitung schulischer Ernährungs-bildung

Um Schulverpflegung als Teil der Ge-sundheitsförderung für Schüler- undLehrerschaft zu etablieren, ist einedauerhafte Beratung und Begleitungnotwendig [16]. Dazu müssen diepersonellen und institutionellen Res-sourcen bereitgestellt werden. In denvergangenen Jahren haben hier dieVernetzungsstellen Schulverpfle-gung eine zentrale Rolle gespielt, vielgeleistet und einen Erfahrungsschatzaufgebaut. Nach der Phase der Etab-lierung ist in den nächsten Jahrenmit gewinnbringender Arbeit zurechnen.

Anbieter von SchulverpflegungGewerbetreibende: Kommerzielle An-gebote sind stets gewinnorientiertund engagieren sich dauerhaft v. a.dafür, wofür sie bezahlt werden. Ausdiesem Grund ist zu überdenken,welche funktionierenden Modelleeines gesundheitsförderlichen undnachhaltigen Essensangebots poli-tisch (gesellschaftlich) gewollt sindund wie sie honoriert werden sollen.Ein weiterer Punkt ist die Zufrieden-heit und Akzeptanz, an der die An-bieter stark interessiert sind, und dieerhöht wird, um zum einen aus derSchulverpflegung ein rentables Ge-

schäft zu machen und zum anderenfür die Schule ein attraktives Ver-pflegungsangebot zu etablieren. Hierkönnen Win-Win-Situationen ge-schaffen werden, die jedoch einefunktionierende Kommunikationz. B. durch die Schaffung von sog.Runden Tischen [25] voraussetzen.Diese Kommunikation bedarf wie-derum Strukturen und Ressourcen,die z. B. durch die Vernetzungsstel-len Schulverpflegung geschaffenwerden können.

Automaten: Häufig handelt es sichum Getränkeautomaten, die immerwieder Anlass für grundsätzlicheund kräftezehrende Diskussionen inden Schulen sind, insbesondere wennElternvereine ihre Kassen darüberauffüllen. Ohne auf die Diskussionendazu einzugehen, ist an diesem Bei-spiel zu sehen, dass politischeGrundsatzregelungen auch rechtli-cher Vorgaben und Kontrollen be-dürfen, die das Leben für alle erleich-tern würden.

Schulinitiativen: Auf dieser Ebene gibtes zahlreiche Projekte, die von eini-gen wenigen Aktiven (Eltern, Lehr-personen, Jugendlichen, Interessen-verbänden) getragen werden unddaher keine zuverlässigen Versor-gungsstrukturen schaffen können.

Ernährungsbildung imRahmen der Erwachsenen-bildung am Beispiel FoodLiteracyDie Weiterbildung im Erwachsenen-alter, entweder zur persönlichen Ent-wicklung oder zur Erlangung weite-rer beruflicher Qualifikationen, ge-winnt mehr und mehr an Bedeu-tung. Nach Angaben des Bildungs-berichts 2010 nehmen über 50 % derMänner und gut 45 % der Frauenunter 50 Jahren an Weiterbildungs-maßnahmen teil, wobei die Maß-nahmen in erster Linie der berufli-chen Weiterbildung dienten. Im Zen-trum der beruflichen Weiterbildungim Erwachsenenalter stehen „Wirt-schaft, Arbeit, Recht“ sowie „Natur,Technik, Computer“. „Gesundheit

6vgl. dazu D-A-CH-Positionspapier Salzburg2010 [www.habifo.de/resources/Positionspapier-Salzburg-2010.pdf]

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und Sport“ sind hier – im Unter-schied zur nicht-berufsbezogenenBildung – weniger gefragt. In dernicht-berufsbezogenen Weiterbil-dung haben „Sprachen, Kultur, Poli-tik“ die höchste Priorität vor „Natur,Technik, Computer“ [26].

Da die Erwerbstätigkeit im Mittel-punkt der Weiterbildungsaktivitätenvon Erwachsenen steht, weisen Per-sonengruppen außerhalb aktiver Er-werbstätigkeit wie Arbeitslose, älterePersonen nach der Erwerbsphase underwerbslose Frauen wie auch diejeni-gen, die nicht im strategischen Zen-trum des Erwerbssystems stehen,wie Geringqualifizierte, geringe Be-teiligungswerte auf.

Hier stellt sich nun die Frage, wieund in welchen Angeboten be-stimmte Ansätze der Ernährungsbil-dung in den Bereich der Erwachse-nenbildung integriert werden kön-nen. Hierzu bietet insbesondere dasKonzept „Food Literacy“ neue Zu-gangswege.

Chancen und Möglichkeiten in der Erwachsenenbildung

Der Begriff „Food Literacy“ entstandim gleichnamigen internationalenKooperationsprojekt (2004–2007),das im SOCRATES-GRUNDTVIG-Programm der Europäischen Kom-mission gefördert wurde; Koordina-

tor war das BEST Institut für be-rufsbezogene Weiterbildung undPersonaltraining GmbH.7

Das EU-Projekt „Food Literacy“ ver-folgte dabei zwei Ziele:

1. Food Literacy als neue Schlüssel-kompetenz in der Erwachsenen-bildung zu etablieren und

2. Food Literacy als Querschnitts-thema in die Erwachsenenbildungzu integrieren.

Hintergrund ist, dass Ernährungnormalerweise nur in speziellen Kur-sen und meistens im Zusammen-hang mit Gesundheit thematisiertwird. Damit erreicht man aber nurwenige Interessierte, meistens Frauenmit höherem Bildungsstand. MitFood Literacy soll das Thema „Er-nährung“ in ein breites Spektrumvon Angeboten der Erwachsenenbil-dung gelangen, z. B. in Alphabetisie-rungskurse, Integrationsmaßnah-men, Sprachkurse oder Angebote zurpolitischen Bildung. So sollen auchMenschen erreicht werden, die sichnormalerweise nicht für Ernährunginteressieren. Erfahrungen haben ge-zeigt, dass Food Literacy sehr dazubeiträgt, das Interesse für Ernährungzu wecken. Da es um Essen undTrinken und nicht um gesunde Er-nährung geht, können sich die Teil-nehmer unbefangen auf das Themaeinlassen.

Der Begriff Food Literacy Die ursprüngliche Bedeutung von„Literacy“ bzw. „Literalität“ in derErwachsenenbildung bezieht sich aufdie Fähigkeit, lesen und schreiben zukönnen sowie den Sinn von Textenzu verstehen. Im Laufe der Zeithaben sich der Stellenwert und dieBedeutung von „Literacy“ bzw. „Li-teralität“ stark verändert: von dertechnischen Aneignung von Schrift-zeichen hin zur Fähigkeit, sinnhafteTexte zu lesen und zu schreiben. Inder heutigen sog. Wissens- und In-formationsgesellschaft bezeichnet Li-teracy den kritischen Umgang mitInformationen und mit neuen, sichständig weiter entwickelnden Tech-nologien. Um diesen AnforderungenRechnung zu tragen, spricht mandaher von „multiple literacies“, wiecomputer literacy, health literacy,environmental literacy, consumer li-teracy. In diesem Sinne wird Literacyheute als soziale Praxis und Deu-tungsinstrument verstanden, umdem komplexen und komplexer wer-denden Alltag in seinen vielfältigen

Kontexten „lesen“ zu können. Er-nährung ist einer dieser Kontexte,und zwar ein existenzieller.

Zielsetzung von Food LiteracyDer Begriff Food Literacy verbindetdiese umfassende Kompetenzbildungmit dem Thema Essen. Food Literacywill zur Selbstbestimmung beim all-täglichen Essen und Trinken befähi-gen. Im Sinne von Empowermentgehört hierzu die Förderung einerangemessenen Entscheidungskom-petenz, z. B. beim Umgang mit demÜberangebot an Lebensmitteln odermit den zahllosen Ernährungsemp-fehlungen. Im weitesten Sinn zähltauch die Vermittlung bzw. Erweite-rung von Basiskompetenzen wie dieInterpretation von Verpackungsauf-schriften oder die Zubereitung vonGerichten aus frischen Zutaten dazu.Es geht aber nicht nur darum, Le-bensmittel zu kennen und damitumgehen zu können, es geht ebensoum das Verständnis der Zusammen-hänge beim alltäglichen Essen undTrinken und um den verantwor-tungsbewussten Umgang mit Le-bensmitteln. Verantwortung beziehtsich hier sowohl auf die eigene Ge-sundheit, auf die Familie (z. B. Haus-haltsbudget) als auch auf die Um-welt und die weltweite soziale Ge-rechtigkeit. Es konnte gezeigtwerden, dass sich Food Literacy her-vorragend eignet, um globale Zu-sammenhänge anschaulich zu ma-chen. Es lässt sich in hervorragenderWeise mit dem Bildungskonzept Glo-bales Lernen verknüpfen.

Zielgruppen für Food LiteracyFood Literacy wendet sich im Prinzipan alle Personengruppen in der Er-wachsenenbildung. Besonders posi-tive Erfahrungen wurden mit „bil-dungsfernen“ Personengruppen undsozial Benachteiligten sowie Men-schen mit Migrationshintergrundgemacht, die häufig aufgrund ihrerLebensgeschichte starke Veränderun-

7Der aid infodienst war einer der deutschenPartner im Projekt und hat das Konzept unddie Materialien seit 2007 weiterentwickelt (s.www.food-literacy.de).

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gen in ihrem Ernährungsalltag er-fahren haben. Gerade bildungsferneGruppen werden mit diesem Instru-mentarium in besonderer Weise an-gesprochen, weil es in engem Zu-sammenhang zu ihrem Alltag steht.Food Literacy eignet sich besondersfür Sprach- und Alphabetisierungs-kurse, wie Erfahrungen aus ver-schiedenen Projekten zeigen (www.albi-projekt.de, Projekt „Appetit aufSprache“ des Verbandes der Volks-hochschulen Rheinland-Pfalz) [27,28].

Erfahrungen mit Food Literacy in Alphabetisierungskursen [29]

Food Literacy liefert dem Alphabeti-sierungsunterricht einen direktenund konkreten Alltagsbezug. DerWeg über ein alltagsnahes Thema er-leichtert es den Lernenden, sich (nocheinmal) auf das Lesen und Schreibeneinzulassen. Im Rahmen der Lese-und Schreibübungen lernen die Kurs-teilnehmenden, neue und für denAlltag wichtige Wörter zu lesen undzu schreiben. Sie erleben direkt, wel-che Erleichterung der erweiterteWortschatz im Alltag darstellt (z. B.beim Einkaufen oder beim Lesen undVerstehen von Zutatenlisten undZubereitungsempfehlungen auf Le-bensmittelverpackungen). Food Lite-racy lässt sich ideal mit Übungenzum Schmecken, Sehen, Fühlen undHören kombinieren. Lerninhalte, diealle Sinne ansprechen, bleiben erfah-rungsgemäß besonders gut im Ge-dächtnis haften. Auch Lernende, dienoch am Anfang der Alphabetisie-rung stehen, können auf diese Weiseim Unterricht zu Experten werdenund ihr Wissen an andere Lernendeweitergeben (z. B. im Bereich derNahrungszubereitung). Diese Kom-petenzorientierung erhöht die Lern-freude, erleichtert die aktive Teil-nahme am Kursgeschehen undstärkt das Selbstwertgefühl.

Ausblick

Das Thema Ernährungsbildung istfundamental für die lebenslange Er-nährung eines Menschen. Inhalt vonErnährungsbildung ist zunächst Er-

nährung als Grundbedürfnis vonMenschen mit dem primären Ziel„Lebenserhaltung“ und „Gesund-heit“. Umfassend gesehen sind Er-nährung und Ernährungsbildung inder Kultur von Menschen verwur-zelt. Eine Vielzahl von weiteren As-pekten kommt hinzu. Weil Ernäh-rungsbildung wissenschaftlich abge-sicherte Inhalte braucht und weildiese Inhalte Teil der Ernährungskul-tur sein sollen, werden Belange derErnährungsbildung von der Deut-schen Gesellschaft für Ernährung,als wissenschaftliche Fachgesell-schaft (DGE), wahrgenommen. Indiesem Zusammenhang hat die DGEeine Fachgruppe Ernährungbildungetabliert, die diese Thematik trans-disziplinär bearbeitet.

Prof. Dr. Christel Rademacher (Sprecherin der Steuerungsgruppe)Hochschule Niederrhein, Angewandte Ernährungswissenschaft + DiätetikRheydter Str. 277, 41065 MönchengladbachE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Silke Bartsch (Co- Autorin des Beitragabschnitts Ernährungsbildung inweiterführenden Schulen)PH Karlsruhe, Abt. Alltagskultur und GesundheitBismarckstr. 10, 76133 KarlsruheE-Mail: [email protected]

Dr. Margareta Büning-Fesel (Autorin des Beitragabschnitts Food Literacy)aid infodienst Ernährung, Landwirtschaft,Verbraucherschutz e. V.Heilsbachstr. 16, 53123 BonnE-Mail: [email protected]

Dipl. oec. troph. Monika Cremer (Redaktion)Hertastr. 5 a, 65510 IdsteinE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Ines Heindl (Autorin des Beitrag-abschnitts Frühkindliche Ernährungsbildung)Universität Flensburg, Institut für Ernäh-rungs- und VerbraucherbildungAuf dem Campus 1, 24943 FlensburgE-Mail: [email protected]

Dr. Andrea Lambeck (Autorin des Beitrag-abschnitts Ernährungsbildung in Kitas)Plattform Ernährung und Bewegung e. V.(peb)Wallstr. 65,10179 BerlinE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Petra Lührmann Pädagogische Hochschule SchwäbischGmündInstitut für Gesundheitswissenschaften Abteilung Ernährung, Konsum und ModeOberbettringer Str. 200,

73525 Schwäbisch GmündE-Mail: [email protected]

Sabine Schulz-Greve (Co-Autorin des Beitragsabschnitts Ernährungsbildung in Schulen)Vernetzungsstelle Schulverpflegung Berlin e. V.Otto-Braun-Str. 27, 10178 BerlinE-Mail: [email protected]

Dipl. oec. troph. Anke Oepping (Co-Autorindes Beitragsabschnitts Ernährungsbildungin Schulen)Universität Paderborn, Institut für Ernäh-rung, Konsum, GesundheitWarburger Str. 100, 33098 Paderborn E-Mail: [email protected]

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3. Autorengruppe Bildungsberichterstattung.Bildung in Deutschland, Bielefeld, Glossar XI(2012)

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6. Schmidt S. Wie Essverhalten in der Familiegeprägt wird. In: Kersting M (Hg). Kinder-ernährung aktuell. Schwerpunkte fürGesundheitsförderung und Prävention. Um-schau Zeitschriftenverlag, Sulzbach (2009),S. 78–91

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8. Schlegel-Matthies K (2002) Liebe geht durchden Magen. Nahrungskultur – Essen undTrinken im Wandel 52(4): 208–212

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10. Oepping A, Schlegel-Matthies K. REVIS - moderne Ernährungs- und Ver-braucherbildung in Schulen. Bonn (2008)

11. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) (Hg). Ernährungsbericht 2008.Bonn (2008), S. 43f.

12. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) (2011) Situation der Schul-verpflegung in Deutschland. Ein Überblick. DGEinfo, Special September: 136–139

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23. Schwarzenberger K, Kustermann W (2006) Pausenverkauf an weiterführen-den Schulen – eine Situationsanalyse. Ernährungs Umschau 53: B45–B48

24. Heseker H, Beer S (2004) Ernährung in der Schule. Bundesgesundheitsbl -Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 47: 240–245

25. Heindl I (2004) Ernährung, Gesundheit und institutionelle Verantwortung –eine Bildungsoffensive. Ernährungs Umschau 51: 224–230

26. Bericht „Bildung in Deutschland 2010“. Ein indikatorengestützter Berichtmit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischenWandel. URL: www.bildungsbericht.de/daten2010/bb_2010.pdf (S. 136,Abb. GI-2) Zugriff 22.01.13

27. Forschungsprojekt Alphabetisierung und Bildung. URL: www.uni-kl.de/aktuelles/news/article/albi-projekt-nimmt-s/ oder www.uni-koblenz-landau.de/landau/einrichtungen/aww/projekte

28. Appetit auf Sprache. Gesundheit für meine Familie und ich. Materialien zurIntegration der Themen Ernährung, Bewegung und Entspannung inSprachkurse. Ein Kooperationsprojekt des Verbandes der Volkshochschulen vonRheinland-Pfalz e. V. und der Landesarbeitsgemeinschaft anderes Lernen.URL: www.vhs-rlp.de/fileadmin/user_data/pdf/Projekte/Sprache_und_Gesundheit/Handreichung_Appetit_auf_Sprache_final.pdf

29. Groeneveld M et al. Food Literacy im Alphabetisierungskurs. Informationenzur Durchführung einer Fortbildung für Kursleitende. Verbundprojekt Alpha-betisierung und Bildung, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz (2011)

DOI: 10.4455/eu.2013.007