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Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP)
Jahrestagung
Essen, 13.09.2012
ICF-basiertes Assessment in beruflicher
Rehabilitation und medizinischer
Begutachtung
–
Die Rolle der personbezogenen Faktoren
Urban Schwegler, MSc
Doktorand
Schweizer Paraplegiker Forschung (SPF)
1
Agenda
Einführung: ICF und personbezogene Faktoren
Berufsrehabilitation: ICF und personbezogene Faktoren
Sozialmedizinische Begutachtung: ICF und personbezogene Faktoren
Diskussion und Ausblick
EINFÜHRUNG:
ICF UND PERSONBEZOGENE
FAKTOREN 2
Das Modell der ICF
• Holistisches Modell der menschlichen Funktionsfähigkeit (lived experience)
• Funktionsfähigkeit: Resultat des Zusammenspiels aller Komponenten
• Einfluss der Kontextfaktoren (external, internal)
3
Körperfunktionen
und -strukturen Partizipation
Gesundheitsproblem
(Gesundheitsstörung oder Krankheit)
Aktivitäten
Umwelt-
faktoren
Person-
bezogene
Faktoren
Ziele und Anwendungsfelder der ICF
Ziele der ICF (WHO, 2001)
• Wissenschaftliche Grundlage zum Verständnis von Gesundheit und Funktionsfähigkeit,
deren Ergebnisse und Determinanten
• Gemeinsame Sprache zur Beschreibung des Gesundheitszustandes
=> Erleichterung Kommunikationen zwischen Fachdisziplinen
Anwendungsfelder der ICF (WHO, 2001)
• Statistisches Instrument (z.B. Datenerhebung Bevölkerungsstudien)
• Forschungsinstrument (z.B. Messung Lebensqualität)
• Pädagogisches Instrument (z.B. Curriculumentwicklung)
• Klinisches Instrument (Assessment, Planung und Evaluation in medizinischer und
berufsbezogener Rehabilitation)
• Sozialpolitisches Instrument (sozialmedizinische Begutachtung, Entschädigungssysteme)
4
ICF-Klassifikation
5
302
ICF
Body functions Body structure Activity & participation
Environmental factors Personal factors
b s d e pf
b1-b8 s1-s8 d1-d9 e1-e5 -
Components
Chapters
e110-e599 - d110-d999 s110-s899 b110-b899 2nd level
b1100-b7809 s1100-s8309 d1550-d9209 e1100-e5959 - 3rd level
b11420-b54509 s11000-s76009 - - - 4th level
485 384 253 0 1424 categories
362
926
136
Personbezogene Faktoren
(PF’s) nicht klassifiziert!!!
Wie definiert ICF PF’s? (WHO, 2001)
• Spezieller Hintergrund des Lebens und der Lebensführung eines Menschen
• Nicht Teil des Gesundheitsproblems
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- Geschlecht - Fitness
- Alter - Lebensstil
- Ethnische Zugehörigkeit - Gewohnheiten
- Erziehung - Copingstyles
- Sozialer Hintergrund - Allgemeine Verhaltensmuster/Charakter
- Bildung und Ausbildung - Individuelles psych. Leistungsvermögen
- Beruf - Andere Merkmale
- Andere Gesundheitsprobleme
- Vergangene/Gegenwärtige Erfahrungen & Erlebnisse
Warum sind PF’s nicht klassifiziert in der ICF?
Statement WHO (2001)
• Wegen der mit ihnen einhergehenden großen soziokulturellen
Unterschiedlichkeit
- Falls notwendig, ist Beurteilung der PF’s dem Anwender
zu überlassen
Alternativerklärungen
• Ethisches Argument: Keine Bewertung der Person/Persönlichkeit (Stigma, Diskriminierung)
• Versicherungsproblematik: versicherungsrelevante Konsequenzen, wenn PF’s
standardisiert berichtet werden (z.B. „Patient ist nicht motiviert für Therapie“)
• Andere Prioritäten der WHO (ICD-11)
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Probleme, wenn PF’s nicht klassifiziert werden
• ICF-Klassifikation bildet Ganzheitlichkeit des Modells nicht ab
• ICF-Klassifikation reflektiert “lived experience” (persönliche
Erfahrungen) des Individuums nicht
• Zentrale Rolle von PF‘s bei vielen Gesundheitsproblemen
- z.B. Umgang mit Krankheit (Coping)
• PF’s notwendig, um Behandlungen individuell zu planen und durchzuführen
- z.B. Ressourcenorientierte Behandlungen
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=> Klassifikation sollte ICF-Modell reflektieren und daher
PF‘s spezifizieren
ICF Core Sets
Definition
• Liste der ICF-Kategorien, die relevant sind für eine spezifische
Gesundheitsstörung oder einen bestimmten Kontext
Anwendungsfelder
• Klinischer Kontext
- z.B. ICF Core Sets für Rückenschmerzen, Depression, Adipositas
• Berufsbezogener Kontext
- z.B. ICF Core Set für Berufsrehabilitation
• Sozialversicherungskontext
- z.B. EUMASS Core Set für sozialmedizinische Begutachtung
Problem
• Keine PF’s und somit nicht alle relevanten Aspekte, die mit der Funktionsfähigkeit eines
Individuums einhergehen
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Alternative PF-Klassifikationen
• Stephens & Kerr (2000): Audiologie
• Ueda & Okawa (2008): Subjektive Erfahrungen, Emotionen und Verhaltensmuster
• Salvador-Carulla et al (2012): Gesundheitsverhalten und Lifestyle
• Heerkens et al (2004): allgemeine und arbeitsbezogene PF’s
• Grotkamp et al (2010): Sozialmedizinische Begutachtung
• Geyh et al (unpublished): Generell, breiterer Kontext
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=> Lokale Übergangslösungen und keine generelle, verbindliche
PF-Klassifikation
ICF IM
BERUFSBEZOGENEN
KONTEXT
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ICF im berufsbezogenen Kontext
ICF für verschiedene berufsbezogene Felder postuliert
• Beurteilung der Leistungsfähigkeit und Produktivität der Mitarbeiter (Escorpizo et al, 2009)
• Arbeitsvermittlung (Homa, 2007)
• Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (Soer et al, 2009)
• Berufliche Rehabilitation (Escorpizo et al, 2011; Finger et al, 2012)
• Sozialmedizinische Begutachtung (Brage et al, 2008; Anner et al, 2012; Schwegler et al,
2012)
12
ICF, PF’S UND BERUFLICHE
REHABILITATION
13
Was ist Berufsrehabilitation?
“Vocational Rehabilitation is a multi-professional
evidence-based approach that is provided in
different settings, services, and activities to
working age individuals with health-related
impairments, limitations, or restrictions with work
functioning, and whose primary aim is to
optimize work participation.”
(Escorpizo et al, 2011)
14
Berufsreha – Ziele und Herausforderungen
Ziele der Berufsreha (Escorpizo et al, 2011; Finger et al, 2012; Parker et al, 2005)
• Arbeitsmarktreintegration von Personen mit berufsbezogenen Gesundheitsproblemen
• Maximierung Arbeitspartizipation
• Verbesserung der Funktionsfähigkeit am Arbeitsplatz und der Arbeitsfähigkeit
Herausforderungen in Berufsreha (Escorpizo et al, 2011)
• Multidisziplinarität
- verschiedenste Stakeholder: Arbeitnehmer, Familie, Kliniker,
Sozialarbeiter, Gesundheitsorganisationen, Sozial- und
Privatversicherungen, Arbeitgeber
- verschiedene Berufsgruppen: Sozialarbeiter, Ärzte, Physiotherapeuten, Psychologen,
Ergotherapeuten
• Kooperation und gemeinsame Terminologie notwendig
• Berücksichtigung individueller Bedürfnisse, Ressourcen und Probleme der Patienten
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Rolle der ICF in der Berufsreha
Gemeinsame Sprache
• Standardisierte gemeinsame Sprache zwischen Patienten,
Ärzten/Therapeuten und Stakeholdern
Assessment
• Rahmen zur Beschreibung der Funktions- und Arbeitsfähigkeit des Patienten
• Bessere Veranschaulichung der Auswirkungen einer Gesundheitsstörung auf die
Funktionsfähigkeit in Arbeit/Alltag (biopsychosozialer statt biomedizinischer Ansatz)
• Ganzheitliches Bild des Patienten als Grundlage für die Rehabilitation
Zieldefinition Arbeitspartizipation
• Darstellung von Problemen und Generierung von Lösungen bzgl. Arbeitspartizipation
- Einbezug von Umweltfaktoren am Arbeitsplatz (z.B. Treppen, Transportmittel)
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ICF Core Set für Berufsreha (Finger et al, 2012)
Brief ICF Core Set
• 13 ICF-Kategorien (6 Aktivitäten/Partizipation, 4 Umweltfaktoren, 3 Körperfunktionen)
• Minimum-Datenset zur Evaluierung von Patienteninterventionen in Berufsreha
Comprehensive ICF Core Set
• 90 ICF-Kategorien (40 Aktivitäten/Partizipation, 33 Umweltfaktoren, 17 Körperfunktionen)
• Umfassende, multidisziplinäre Assessments in der Berufsreha
Validierungsstudien dieser ICF Core Sets bzgl. verschiedener Gesundheitsstörungen
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d155 Sich Fertigkeiten aneignen e580 Dienste und Systeme des Gesundheitswesens
d240 Mit Stress und psych. Anford. umgehen e590 Dienste und Systeme des Arbeitswesens
d720 Komplexe interpersonelle Interaktionen b130 Funktionen der psych. Energie und des Antriebs
d845 Eine Arbeit erhalten, behalten und beenden b164 Höhere kognitive Funktionen
d850 Bezahlte Tätigkeit b455 Funktionen der kardioresp. Belastbarkeit
d855 Unbezahlte Tätigkeit
e310 Engster Familienkreis
e330 Autoritätspersonen
Aber: ICF Core Set enthält keine PF‘s…
Rolle der PF’s in der Berufsreha
PF’s als essentielle Komponente in der Berufsreha (Oyeflaten et al, 2008)
• Prädiktoren der Arbeitsmarktreintegration
• Mediationsfaktoren zur Steigerung der Arbeitsfähigkeit
Wichtige PF‘s in der Berufsreha (Suzuki et al, 2008, Lydell et al, 2010)
• Beruflicher, schulischer und sozialer Hintergrund
• Copingstyles
• Arbeitszufriedenheit
• Erwartungen und Ängste bzgl. Rückkehr in Arbeitsmarkt
• Motivation wieder zu arbeiten
• Soziale und arbeitsbezogene Kompetenzen
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Rolle der PF’s in der Berufsreha
Warum brauchen wir PF‘s in Berufsreha?
• Berufsrehabilitation soll klientenzentriert sein (Escorpizo et al, 2011)
• Ganzheitliches Bild der Person und ihres Lebenshintergrundes als Grundlage
• “Lived experience”-Ansatz optimiert Arbeitsmarktreintegration
- Biographischer und beruflicher Hintergrund des Patienten kennen
- Berücksichtigung individueller Wünsche, Stärken und Ressourcen
- Kenntnisnahme individueller Schwächen und Defizite
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=> Zentrale Rolle der
PF’s in Berufsreha
Assessment in der Berufsreha
• Assessment als Basis für die Berufsrehabilitation
- Funktionelle Leistungsfähigkeit des Patienten
- Beeinflussende Kontextfaktoren
• Assessment der Kontextfaktoren
- Umweltfaktoren
o Evaluation Arbeitsplatz und Arbeitsumgebung hinsichtlich potentieller Barrieren
=> z.B. Arbeitsweg (Transportmittel), Ergonomie, Arbeitskollegen etc.
- Personbezogene Faktoren
o Lebenshintergrund, Einstellung zur Arbeit, arbeitsbezogene Fähigkeiten etc.
• Generell: Welche Arbeitsplatzanpassungen?, Welche individuellen Ressourcen?, Arbeit
an welchen Fähigkeiten in Rehabilitation?
• 1.) Assessment: Identifikation Problemfelder, Ressourcen
2.) Darauf basierend: Zielbildung und entsprechende Interventionen
3.) Re-Assessment (Evaluation) der Interventionen
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WOR-Q - Beispiel für Assessment in Berufsreha
• ICF-basierter Fragebogen
• Ermittlung der arbeitsbezogenen Funktions- und Leistungsfähigkeit
• Grundlage: ICF Core Sets für Berufsreha (25 Kategorien zu Aktivitäten/Partizipation,
15 Körperfunktionen, 4 Umweltfaktoren)
• Interview-Fragebogen (durchgeführt von Therapeut mit dem Patienten)
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WOR-Q = WOrk Rehabilitation Questionnaire
WOR-Q - Beispiel für Assessment in Berufsreha
Inhalt
• 62 Fragen (meist basiert auf ICF-Kategorien) zu…
a) Soziodemographische Angaben (Alter, Geschlecht, Familie, Arbeitshintergrund)
b) Funktionsfähigkeit in Alltag und Arbeit (Hobbies, Haushalt, Symptome (z.B. Schmerz))
c) Arbeitsspezifische Fragen (Jobsuche, bezahlte Arbeit, Berufsreha)
d) Umweltfaktoren
e) Einfluss Intelligenz, Persönlichkeit auf Berufsreha
• Intensität der Problematik in der vergangenen Woche
- von 1 (keine Schwierigkeiten) bis 100 (extreme Schwierigkeiten)
=> „Wie grosse Schwierigkeiten hatten Sie in der letzten Woche … klar zu denken?“
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Aber: Keine PF’s, da nur Funktionsfähigkeitsfragebogen… (PF‘s separat zu erheben)
WOR-Q - Beispiel für Assessment in Berufsreha
Anwendung
• Standortprofil: Beschreibung Problemfelder und Ressourcen zu Beginn der Reha
• Zielbildung basierend auf Problemfeldern
• Zuordnung Problemfelder und Ziele zu verschiedenen Fachdisziplinen
- z.B. Muskelkraft => Physiotherapeut, Umgang mit Stress => Psychotherapeut
• Fachdisziplinen: Festlegung Therapiemassnahmen zur Zielerreichung
• Re-Assessment (Evaluation) der Problemfelder und Ziele
• Entscheidung: neuer Job oder alter Arbeitsplatz => Abgleich mit Jobanforderungen
Weitere Informationen:
Reuben Escorpizo & Monika Finger
Schweizer Paraplegiker Forschung (SPF)
CH - 6207 Nottwil
[email protected]; [email protected]
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ICF-basiertes Fallbeispiel multidisziplinärer
Berufsreha
Vorgeschichte
• Patientin X, Bürokraft, Autounfall mit Rücken- und Knieverletzungen
• Krankschreibung, Zuweisung zu beruflichen Massnahmen, Ziel der Wiedereingliederung
in den Arbeitsmarkt
Assessment Problemfelder/Ressourcen
• Ermittlung der Problemfelder mit WOR-Q (Funktionsfähigkeits-Assessment)
- Mühe, lange Zeit in der gleichen Position zu bleiben, v.a. sitzen (d4153)
- Probleme beim Treppen steigen (d4551)
- momentan Mühe mit Stress umzugehen (d2401)
- hat Schmerzen (b280), deshalb Mühe sich auf Arbeit zu konzentrieren (d160)
• Umweltfaktoren
- Barriere: angestammter Arbeitsplatz im 4. Stock, alter Lift ausser Betrieb, nur
Treppen (e1501)
• Personbezogene Faktoren
- Ziel, Wunsch: Möchte wieder in altem Beruf arbeiten
- Soziale Kompetenz: ist sehr kommunikativ
- Beruflicher Hintergrund: sehr erfahren
- Motivation: hohe Arbeits- und Therapiemotivation
24
Schmerz
ICF-basiertes Fallbeispiel multidisziplinärer
Berufsreha
25
Angestammte
Arbeit als
Problem (-1)
Rücken- und Knieverletzung
Ziel: alter Beruf
sehr kommunikativ (+1)
beruflich erfahren (+1)
Arbeits-/Therapiemotivation (+1)
Körperposition halten
(Sitzen) (-1)
Treppen steigen (-1)
Umgang mit Stress (-1)
Konzentration (-1)
Kein Lift am
Arbeitsplatz
(-1)
ICF-basiertes Fallbeispiel multidisziplinärer
Berufsreha
Zuordnung der Problemfelder/Zielkategorien
• Psychotherapeut: Umgang mit Schmerz und Stress, Konzentrationsfähigkeit
• Physiotherapeut: Körperposition halten (Sitzen), Treppen zu laufen
• Ergotherapeut: nimmt Kontakt zu Arbeitsplatz bzgl. Lift
• Multidisziplinär: Maximierung Arbeitspartizipation angestammter Job
Fachdisziplinspezifische Interventionen
Re-Assessment (Evaluation)
• Ermittlung Problemfelder mit WOR-Q (Funktionsfähigkeits-Assessment)
- Einziges Problem bleibt Treppen steigen (d4551)
• Umweltfaktoren
- Betrieb baut alten Lift um und nimmt ihn wieder in Betrieb
• Personbezogene Faktoren
- Arbeitsmotivation und Ziel im angestammten Beruf zu arbeiten nachwievor hoch
Interdisziplinäre Beurteilung des Falles
• Patientin wird auf Rückkehr an angestammten Arbeitsplatz vorbereitet
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ICF-basiertes Fallbeispiel multidisziplinärer
Berufsreha
27
Schmerz besser
Ang. Arbeit ok
Rücken- und Knieverletzung
Lift am
Arbeitsplatz
vorhanden
(+1)
Arbeitsmotivation(+1)
Kommunikativ (+1)
erfahren (+ 1)
Ziel: Arbeit im ang. Job
Treppen
steigen (-1)
ICF, PF’S UND
SOZIALMEDIZINISCHE
BEGUTACHTUNG 28
Schlüsselrolle der medizinischen Begutachtung
• Basis für Entscheidungen bzgl. Anspruch auf Leistungen der
Sozialversicherung
- Abklärung gesetzliche (medizinisch-theoretische) Arbeitsfähigkeit
• Andere Ausgangslage als in Berufsreha
- Ziel: Abklärung Rentenanspruch, nicht Erhöhung Arbeitsfähigkeit
• Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Entscheidungen wichtig
=> Umfassende Beschreibung der Funktionsfähigkeit des Versicherten und
beeinflussender Kontextfaktoren
• Vergleichbarkeit: von AF-Entscheidungen, Interraterreliabilität zwischen Gutachtern
=> Standardisierung in Begutachtung
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Kontroversen in der CH-Begutachtung
Standardisierungsproblem
• Keine verbindlichen Guidelines bzgl. Struktur und Inhalt medizinischer Gutachten
→ Problem: Interraterreliabilität
→ Problem: Vergleichbarkeit der AF-Entscheidungen
Transparenzproblem
• Diagnose-orientierte AF-Entscheidungen
- CH Bundesgericht: Pauschalentscheide für bestimmte Diagnosen (z.B. Schleuder-
trauma, somatoforme Schmerzstörung) → in der Regel keine IV-Leistungen
- Diagnose bestimmt über prozentuale Arbeitsfähigkeit: muss aber nicht zwingend
etwas über die Leistungsfähigkeit aussagen
→ Funktionsfähigkeit des Versicherten oft zweitrangig
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Biomedizinisches Denken in CH-Sozial-
versicherungsrecht
• Rehabilitation: biopsychosoziales Modell (Zusammenhänge,
Diagnose, Funktionsfähigkeit)
• Krankheitsbegriff Schweizerisches Sozialversicherungsrecht Artikel 3 ATSG:
„Krankheit ist jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder
psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine
medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit
zur Folge hat.“
- (psycho)sozial verursachte Krankheiten erfüllen Definition des langdauernden
Gesundheitsschadens nicht (z.B. psychogene Schmerzstörung aufgrund
durchlebtem Traumata)
- Kausalität: Krankheit mit objektivierbaren Sachverhalten erklärbar? (z.B.
Schmerzstörung wegen schwerer Diskushernie)
Folge - Der Kampf um die richtige Diagnose
Schmerz als Paradebeispiel
• Schmerz = subjektives Gefühl, schwer mit medizinischen Instrumenten objektivierbar
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Schmerz
Rückenschmerzen
(M54):
Hinreichender
struktureller
Schaden
Arbeitsunfähig-
keit
IV-Leistung
Psychiatrische
Komorbidität (z.B.
Depression)
Somatoforme
Schmerzstörung (F45.4): Kein
(hinreichender) struktureller
Schaden
Keine
psychiatrische
Komorbidität
IV-Teilleistung
Teil-
Arbeitsunfähigkeit
keine IV-
Leistung
Volle
Arbeitsfähigkeit
Biomedizinisches
Problem
Kausalität
gegeben
Psychosoziales
Problem
Kausalität z.T.
gegeben
Kausalität nicht
gegeben
Schmerzempfinden &
Level Funktionsfähigkeit
können in allen Fällen gleich gross sein
Durch Arbeitsfähigkeits- und
Rentenentscheid nicht ersichtlich
Transparenz? Nachvollziehbarkeit? Fairness?
Und der Beitrag der ICF für die Begutachtung?
Transparenz
• Nachvollziehbare Darstellung von AF-Entscheiden auf
biopsychosozialer Basis
• Explizite Abgrenzung, welche Aspekte der Problematik auf nicht
versicherte, psychosoziale Faktoren (PF, EF) zurückzuführen
sind und welche auf Gesundheitsproblem (BF, BS)
=> transparente Grundlage für Rentenentscheid
Gemeinsame Sprache
• Verbesserung Kommunikation im multidisziplinären Begutachtungsprozess
- verschiedene medizinische Fachgutachter, Gerichte, Versicherungen
Standardisierung
• Standard, was gemessen werden soll (ICF-Kategorien)
=> Erhöhung Interraterreliabilität und Vergleichbarkeit von AF-Entscheidungen
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ICF-basierte Ansätze für die Begutachtung
Core Set for disability evaluation in social security (Brage et al, 2008)
• Vorschlag der EUMASS-Gruppe
• Generisches Core Set mit 20 ICF-Kategorien
löst Transparenzproblem nur teilweise (keine EF, PF), nur 20 Kategorien
Screening-Tool, wenig geeignet für umfassende, multidisziplinäre Assessments
Mini-ICF-APP-Rating (Linden & Baron, 2005, 2009)
• ICF-basiertes Rating für psychische Störung, basierend auf 13 mentalen/psychischen
Fähigkeiten
ICF-basierte Begutachtung chronischer Schmerzstörungen (Schwegler et al, 2012)
• Umfassender Vorschlag von relevanten Kategorien für die multidisziplinäre Begutachtung
chronischer Schmerzstörungen
• Versuch der Integration der PF’s
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Rolle der PF‘s in der Begutachtung
Nicht dieselbe Bedeutung wie in Rehabilitation
• Einschätzung Gesundheitsproblem und medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit
• psychosoziale Faktoren für Rentenentscheide nicht relevant (weder PF’s noch EF’s)
Aber: PF‘s zentral für Transparenz der AF-Entscheidungen
• Einflussfaktoren bzgl. aktueller Funktionsfähigkeit des Klienten
• Ganzheitliches Bild der AF: Welche Aspekte der Funktionseinschränkung sind auf
psychosoziale Faktoren, welche auf Gesundheitsproblem zurückzuführen?
Kontrovers
• Aspekte wie Aggravation/Simulation müssen vorsichtig behandelt werden
• Ethische Aspekte müssen diskutiert werden
• Transparente Aussagen über PF‘s sind verstecken Aussagen vorzuziehen
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=> Standardisierte Erhebung von PF‘s, um transparente Entscheide
zu Arbeitsfähigkeit und Rente zu gewährleisten!!!
Beispiel: Transparenz in Begutachtung durch ICF
Versicherter A
• Gesundheitsstörung: Depression
• Motivationsprobleme aufgrund Depression (b1301)
• Unterstützende Familie (e310) – psychosozialer Faktor
• Keine Energie für die Durchführung der täglichen Routine (d230)
• Kann deshalb nicht arbeiten (d850)
Versicherter B
• Gesundheitsstörung: Anpassungsstörung, keine Depression
• Familienproblematik (e310) – psychosozialer Faktor
• Motivationsprobleme für Arbeit (PF) – psychosozialer Faktor
• Energie für die Durchführung der täglichen Routine grundsätzlich vorhanden (d230)
• Kann (will?) deshalb nicht arbeiten (d850)
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Motivationsprobleme für Arbeit im Rahmen der Gesundheitsstörung (Depression)
Willensanstrengung zur Überwindung der Gesundheitsstörung nicht gegeben
Versicherter Gesundheitsschaden => Rentenleistung
Motivationsprobleme für Arbeit nicht im Rahmen der Gesundheitsstörung, sondern im Rahmen psychosozialer Faktoren (Familie, Arbeitsmotivation)
Willensanstrengung zur Überwindung der Gesundheitsstörung gegeben
Nicht versicherter Gesundheitsschaden => keine Rentenleistung
Beispiel: Transparenz in Begutachtung durch ICF
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Körperfunk-tionen und -
strukturen
Arbeit (-1)
Anpassungsstörung
Aktivitäten
Familie
(-1)
PF:
Motivation
Arbeit (-1)
Motivation (-1)
Arbeit (-1)
Depression
tägl. Routine
(-1)
Familie
(+1)
Person-
bezogene
Faktoren
√
X
Versicherter A Versicherter B
Versichert Nicht versichert
DISKUSSION UND AUSBLICK
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Rolle ICF in Berufsreha und Begutachtung (Riemer-Kafka et al, 2012)
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ICF (Begutachtung)
-Standardisierung Entscheidungsprozess - Transparente AF-Entscheidungen
(Einbezug von EF und PF)
ICF (Berufsrehabilitation)
- Ganzheitliche, einzelfallorientierte Rehabilitation
a) Maximierung Arbeitspartizipation b) Einbezug von EF und PF
Arbeitsfähigkeit (%) angestammter /
angepasster Arbeit
ICD-10-Diagnose
?
ICF (Arbeitsvermittlung)
-Anwendung standardisierter ICF-Kategorien (Einbezug EF, PF)
- Abgleich mit Job-Profilen
Planung spezifischer
Interventionen
Zuweisung zu angepasster Arbeit
Arbeitsmarkt-reintegration
ICF als gemeinsame Sprache für
interdisziplinäre Zusammenarbeit
Ausblick
• Ganzheitliches, biopsychosoziales Denken nach ICF-Modell fördert Transparenz bzgl.
Arbeits-/Funktionsfähigkeit
• Kontextfaktoren (PF, EF) sind für eine ganzheitliche Darstellung der Funktionsfähigkeit nötig
• Begutachtung: Dokumentation von PF’s und EF’s meint nicht, dass diese in Entscheidung
zur Rente direkt einbezogen werden, sondern sie sollen diese transparenter machen
• Transparenz widerspricht ethischen Werten nicht: Explizite Bezeichnung der PF’s ist
besser als implizite, versteckte Verweise
• Wäre (u.a. auch aus ökonomischen Gründen) wichtig Berufsreha und Begutachtung
näher zusammenzubringen (Begutachtung liefert umfassendes und transparentes
Assessment, das für Berufsrehabilitation verwendet werden könnte)
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Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
MSc Urban Schwegler
Schweizer Paraplegiker Forschung
Universität Luzern
Guido A. Zächstrasse 4, 6207 Nottwil
Berufsreha und sozialmedizinische Begutachtung
Prozess zur Arbeitsmarktreintegration oder zur Rente (Chamberlain, 2009)
13
Sozialmedizinische
Begutachtung
Berufliche Rehabilitation