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Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten inklusiv in der Regelschule: Wie geht das, wo sind Möglichkeiten und Grenzen und welche Hilfen brauchen die Lehrkräfte?
Vortrag für das Evangelische SchulwerkBaden und Württemberg
Stuttgart, 04. Dezember 2014
Roland Stein
Universität Würzburg
Lehrstuhl für Sonderpädagogik V
Was erwartet Sie?
1. Problemaufriss2. Daten3. Inklusion
4. fünf Handlungsansätze
Roland Stein, Universität Würzburg
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Problemaufriss
Roland Stein, Universität Würzburg
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Klare Probleme, klare Begriffe!
Verhaltensprobleme
Schwererziehbarkeit, Erziehungsschwierigkeiten
Förderbedarf im emotionalen und sozialen Bereich
Verhaltensoriginalität, herausforderndes Verhalten
Verhaltensauffälligkeiten
Verhaltensstörungen
Psychische Störungen
Seelische Behinderung
„Was ist denn schon normal … ?“Vieles, aber nicht alles !
Roland Stein, Universität Würzburg
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Person Situation
Interaktion
Beobachter
Verhaltensstörungen interaktionistisch
Störungen im Person-Umwelt-Bezug (Seitz & Stein 2010; Stein 2012; Stein & Stein 2014)Verhaltensauffälligkeiten als Signal für eine Störung
Roland Stein, Universität Würzburg
emotionale Kompetenzen soziale Kompetenzen
emotionale Regulationsfähigkeitemotionale Bewusstheit(adäquater) emotionaler Ausdruck
eigener Emotionenemotionale Eindrucksfähigkeit für
das Erleben anderer PersonenSelbstwertgefühl (bzgl. erlebtem
Status und empfundener Wärme gegenüber sich selbst)
Kontrollerleben (im Hinblick auf dessen emotionale „Färbung“)
KommunikationsfähigkeitKooperationsfähigkeitKonfliktbewältigungskompetenzSoz. Problemlösefähigkeit (Verhand-
lungsfähigkeit, Moderation)soziale SensibilitätSachlichkeitFairness / RücksichtToleranz(adäquate) SelbstdarstellungStiftung und Erhaltung tragfähiger
Beziehungen
zu unterscheiden: Kompetenz und Performanz
Ein ergänzender Blick auf den „Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ (vgl. Stein 2006):
Roland Stein, Universität Würzburg
Psychische Störungen beiKindern und Jugendlichen– Metaanalyse von Ihle &Esser (2002; 2008):mittlere Prävalenz bei 18 %
Persistenz bei ca. 10 %
Daten – am Beispiel „psychische Störungen“ …
ganz ähnlich: KIGGS, Hölling u.a. 2007; 2014: 20,0 % bzw. 20,2 % „auffällig“ und „grenzwertig“ („Risikogruppe“)
Angststörungen: 10,4 %dissoziale Störungen: 7,4 %depressive Störungen: 4,4 %hyperkinetische Störungen: 4,4 %… weitere: Essstörungen, Autismus-Spektrum-Störungen, Abhängigkeiten, suzidale Tenden-zen, PTBS, Schulabsentismus usw.
Ein „Thema“ für alle Lehrkräfte …?
… als breites Spektrum …
… schon immer …
… immer mehr …
… mit Grenzen …Roland Stein, Universität Würzburg
Roland Stein, Universität Würzburg
Daten: „Förderbedarf im emotionalen und sozialen Bereich“
KMK-Statistik(KMK 2010; 2014)
FSP L1 FSP e-s E alle FSP
Förderquoten1999 > 2012
2.9 % >2.64 %
0.36 % >0.94 %
5.2 % >6.62 %
Förderschulbesuchs-quoten 1999 > 2012
2.56 % > 1.83 %
0.27 % >0.50 %
4.6 % > 4.75 %
1 für FSP „Lernen“: 2001>2012plus: FSP „LSE“; FSBQ = FQ: 0.13
• auf Kosten der Betroffenen unterschätztes „Stiefkind“ von Inklusion: Lernbeeinträchtigungen
• Allmählich erkannter „Brennpunkt“ und mögliche „Nagelprobe“ von Inklusion: Verhaltensauffälligkeiten (etwa Goetze 1990; 2008; Preuss-Lausitz & Klemm 2008; NLTS 2006; Ellinger & Stein 2012) …
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Inklusion …
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Inklusion – und die UN-Konvention „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (Behindertenrechtskonvention)
Art. 24, „Bildung“:
„(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen …
(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass … Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund … von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden …“
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… auch zu beachten …:
Artikel 5, Abs. 4:„Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens.“
Art. 7, Abs. 7:„Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“.
Die UN-BRK gilt es in ihrem Gesamtbild und in ihrer weltweiten Relevanz zu sehen.
Behinderung ist ein „interaktionistisches“ Phänomen.
Lindsay (2007): Recht und normative Forderung … versus … Frage der Effektivität von Maßnahmen.
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(Ellinger & Stein 2012)Aspekt
Befundlage für inklusiveBeschulung im FSP em.-soz. E
a) Sozialverhalten positive Effekte
b) emotionale Entwicklung wenige und unterschiedliche Befunde
c) Selbstkonzept eher negative Wirkung
d) kognitive und schulische Leistungen
eher negative Effekte
e) Leistungsmotivation negatives Bild
f) soziale Akzeptanz und soziale Integration
komplexe, sehr kritische Befunde
g) Gruppenklima kritischer Befund
h) Einflüsse auf andere Schüler differenzierter Befund
Effekte inklusiver versus exklusiver Förderung?
Ein klarer Vorteil bestimmter Organisationsformen (special schools, special classes, mainstreaming) ist nicht nachweisbar.
(z.B. Zigmond 2003; Lindsay 2007; Ellinger & Stein 2012; Hillenbrand 2013 – auch: Ahrbeck 2011; 2014)
Die Inklusionsdiskussion ist stark auf institutionelle Fragen verengt.14Roland Stein, Universität Würzburg
Probleme und Funktionen spezieller (schulischer) Institutionen?
Probleme FunktionenStigmatisierung ProfessionalitätProblemkumulation Bezugspädagogensystem
Entlastungsfunktion Vernetzungen (z.B. Jugendhilfe)
Schonraum besondere räuml. MöglichkeitenSeparierung individualisierte Konzepte„Einbahnstraße“ Schonraum (Milieu)
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HandlungsansätzeFür allgemeine
SchulenRoland Stein, Universität Würzburg
Ansatz-punkte
Kinder und
Jugend-liche
Päda-gogen
Erzie-hungs-berech-
tigte
Vernet-zung und „Nach-sorge“
Institution+
Gruppen-arbeit
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Roland Stein, Universität W
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Prävention + Intervention: Ansatzpunkte
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internSchule
Sonderp.Erz.Hilfe
SfK
KJPBeratungs-stellen
KJH
Ansatz 1: Vernetzungen: entwickeln, pflegen, ausbauen
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KiTas Arbeit / Beruf
allge-meine
Schulen
Schüler
Päda-gogen
Erzie-hungs-berech-
tigte
Vernet-zung und
„Nach-sorge“
Institutionund
Gruppenar-beit
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„Zentren für Erziehungshilfe“mit präventivem Fokusvernetzt mit Jugendhilfe
(separierte Angebote; möglichst zeitweise)
Förderzentren mit Beratungund integrierter Förderung, ins-besondere auch zur Prävention – sowie ggf. Separation auf Zeit Ro
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KiTas
Jugendar-rest / JStrVz
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Ansatz 2: Institution und Gruppenarbeit
Einbindung sozial-emotionaler Aspekte
Befunde zum Schul- und Unterrichtsklima kennen und nutzen
Störungs- und Expertenwissen im Team
Schule: „Klassenmanagement“ und Strukturen:
Kollegialität
Umgang mit Heterogenität aus didaktischer Perspektive
Kounin (1976)
withitness und overlapping
Reibungslosigkeit und Schwung
Aufrechterhaltung Gruppenfokus
Überdrussvermeidung
Nolting (2013)
Regeln + gute Organisation
breite Aktivierung
Unterrichts“fluss“
Präsenz- und Stoppsignale
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Ansatz 3: Kinder und Jugendliche
Erziehung !
Autonomieentwicklung ermöglichen subjektive Bedeutsamkeit erkennen Beziehung + Bezogenheit ermöglichen Grenzen setzen und Sicherheit erfahren daseinsgestaltende Haltung… zwischen individuellem und öffentlichemAuftrag
entscheidend: Erziehung im Alltagsgeschehen und Gestaltung des„Besonderen“
… und: Trainings, Trainings … ?
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Programme und Trainings aus sonderpädagogischer Perspektive (vgl. Beelmann 2008; Fingerle & Ellinger 2008; ZEIF)
Ängstlichkeit Soz. Kompet. 1 ADHS2 SuchtFREUNDE
(Essau & Conradt2003)
Gesundheit und
Optimismus (GO)
(Junge u.a. 2002)
Schulangst-reduktion
Strittmatter 1997
Sozialtraining / Training mit
Jugendlichen(Petermann u.a.
1999 / P.+P. 2008)PATHS
(Kusche & Greenberg 1994)KlasseKinder-
Spiel(Hillenbrand &
Pütz 2008)TAV
(Bach u.a. 2008)
MKT(Krowatschek & Albrecht 2007)
THOP(Döpfner u.a.
1997)TmaK
(Lauth & Schlottke2002; Lauth &
Naumann 2009)Attentioner
(Jacobs u.a. 2005)LeJA
Linderkamp u.a. 2011
Informations-programme
Socialresistance
Programme
Life SkillTraining (LST)(Botvin & Griffin
2004)
1 auch: Faustlos (Cierpka 2001); 2 Die Trainings zu ADHS sind häufig stark therapeutisch orientiert (v.a. kleine Gruppen bzw. Einzelarbeit). Ro
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Ansatz 4: Die Eltern
Kontakt
Gemeinsamkeit
Beratung
Programme – z.B.:
• Triple P
• FAST TRACK
• LIFT
Ansatz 5: Die Pädagoginnen und Pädagogen … stärken!
Auch hier: von Sonderpädagogik und Erziehungshilfe lernen … (Stein 2004):+ : Selbstsicherheit und beruflicher Abstand, mittlere Zentralität+ : Gewahrsein und Reflexivität+ : Aufgeschlossenheit für Anregungen- : Kontrolle und Distanz
Sicherheiten einbauen, Grenzen kennen, Auswege kennen
Programme und Konzepte: Molnar & Lindquist 1992; KTM (Tennstädt u.a. 1987); ABPro (Dutschmann 2001, 2003)
Kollegialität, Beratung, Intervision, Supervision(z.B.: fallbezogene kollegiale Gruppenberatung)
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Zentralität (X) und Burnout (Y)
Zentralität (X) und Berufs-Unzufriedenheit (Y)
„Zentralität …“
(vgl. Stein 2004, 445)Mittlere Distanz zum Beruf ist „gesund“!
Roland Stein, Universität Würzburg
Literatur, Forschungsprojekte, Lehre:
http://www.sonderpaedagogik-v.uni-wuerzburg.de
http://www.sbfe-wuerzburg.de
http://www.zeif.org
Eigene Literatur
Myschker, N. & Stein, R. (2014, 7. Aufl.): Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Kohlhammer.
Stein, R. (2012, 3. Aufl.): Grundwissen Verhaltensstörungen. Baltmannsweiler: Schneider.
Stein, R. (2012): Förderung bei Ängstlichkeit und Angststörungen. Stuttgart: Kohlhammer.
Stein, R. & Stein, A. (2014, 2. Aufl.): Unterricht bei Verhaltensstörungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Stein, R. (2004): Zum Selbstkonzept im Lebensbereich Beruf bei Lehrern für Sonderpädagogik. Hamburg: Dr. Kovač.
Stein, R. & Müller, T. (2014a): Psychische Störungen aus sonderpädagogischer Perspektive. In: Sonderpädagogische Förderung heute, 59 (3), 232-244.
Stein, R. & Müller, T. (2014b): Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Stuttgart: Kohlhammer.
Orthmann Bless, D. & Stein, R. (Hrsg.) (2009): Basiswissen Sonderpädagogik. Bd. 1-5. Baltmannsweiler: Schneider.
(Weitere Literatur siehe Lehrstuhlhomepage.)Roland Stein, Universität Würzburg
Ausgewählte weiterführende Literatur
Ahrbeck, B. (2011): Der Umgang mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer.
Ahrbeck. B. (2014): Inklusion. Eine Kritik. Stuttgart: Kohlhammer.
Gasteiger-Klicpera, B., Julius, H. & Klicpera, C. (Hrsg.) (2008): Sonderpädagogik der sozialen und emotionalen Entwicklung. Göttingen: Hogrefe.
Fingerle, M. & Ellinger, S. (Hrsg.) (2008): Sonderpädagogische Förderprogramme im Vergleich. Stuttgart: Kohlhammer.
Hennemann, T. & Hillenbrand, C. (2010): Klassenführung – Classroom Management. In: Hartke, B., Koch, K. & Diehl, K. (Hrsg.): Förderung in der schulischen Eingangsstufe. Stuttgart: Kohlhammer, 255-279.Keller, G. (2008): Disziplinmanagement in der Schulklasse. Bern: Huber.Kounin, J.S. (1976; Reprint 2006): Techniken der Klassenführung. Münster.Nolting, H.-P. (2013, 11. Aufl.): Störungen in der Schulklasse. Weinheim: Beltz.
Ricking, H., Schulze, G. & Wittrock, M. (Hrsg.) (2009): Schulabsentismus und Dropout. Paderborn: Schöningh.
Schubarth, W. (2010): Gewalt und Mobbing an Schulen. Stuttgart.
Speck, O. (2010): Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht. München.Roland Stein, Universität Würzburg