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Examenshausarbeit im Schwerpunktbereich 6: Strafjustiz und Kriminologie
Medizinrecht: Die rituelle Beschneidung von Jungen –
Das Urteil des LG Köln und die Reaktion des Gesetzgebers
von Claudia Kayser
II
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ders. Weitere Stellungnahme zur Anhörung am 26. November 2012 zum Änderungsantrag 17(6)214) der Abgeordneten Burkhard Lischka, Christine Lambrecht, Rainer Arnold, Edelgard Bulman, weiterer Abgeordneter zum Gesetzent-wurf der Bundesregierung 17/11295: „Entwurf eines Ge-setzes über den Umfang der Personensorge bei einer Be-schneidung des männlichen Kindes“ URL: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerun-gen/archiv/31_Beschneidung/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Hartmann.pdf (zuletzt abgerufen am 24.03.2013)
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IX
Gliederung
A. Einleitung .......................................................................................................................... 1
I. Allgemeines zur Beschneidung ................................................................................... 1
1. Religiöse Bedeutung im Judentum ...................................................................... 1
2. Religiöse Bedeutung im Islam ............................................................................. 2
II. Bisherige Rechtslage .................................................................................................. 3
B. Das Urteil des LG Köln ..................................................................................................... 3
I. Inhalt und Bedeutung der Entscheidung ...................................................................... 3
II. Kritik ........................................................................................................................... 4
C. Die Reaktion des Gesetzgebers ......................................................................................... 5
I. Das Gesetzgebungsverfahren ....................................................................................... 5
1. Antrag der Fraktionen CDU/ CSU, SPD und FPD .............................................. 5
2. Papier des BMJ und Gesetzentwurf der Bundesregierung ................................... 5
3. Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Bundesregierung ............................... 7
4. Gesetzentwurf der Opposition ............................................................................. 8
II. Inhalt des geltenden Gesetzes ..................................................................................... 8
D. Kritik am Gesetz ................................................................................................................ 8
I. Notwendigkeit .............................................................................................................. 9
1. Umfang des Sorgerechts/ der Vertretungsmacht ................................................. 9
2. Sozialadäquanz ................................................................................................... 11
II. Verortung .................................................................................................................. 12
1. Im Grundgesetz .................................................................................................. 12
2. Im Strafgesetzbuch ............................................................................................. 13
3. Im Bürgerlichen Gesetzbuch (Familienrecht) .................................................... 13
III. Differenzierung nach Motiven in Bezug auf das Kindeswohl ................................ 13
1. Medizinische und hygienische Gründe .............................................................. 14
2. Religiöse Gründe ................................................................................................ 16
a. kollidierende Grundrechte ........................................................................... 16
aa. Art. 4 I, II GG für die Eltern ............................................................... 16
bb. Art. 6 II 1 i.V.m. Art. 4 I, II GG für die Eltern ................................. 17
cc. Art. 2 II 1 GG für das Kind ................................................................ 17
dd. Art. 4 I, II GG für das Kind ............................................................... 18
ee. Art. 1 I GG für das Kind..................................................................... 18
X
b. Abwägung ................................................................................................... 19
3. Sonstige Traditionen .......................................................................................... 23
IV. Alter des Kindes/ Vetorecht .................................................................................... 23
V. „Mohel“-Klausel ...................................................................................................... 25
VI. Befristung ................................................................................................................ 25
E. Stellungnahme/ Fazit ....................................................................................................... 25
1
Die rituelle Beschneidung von Jungen – das Urteil des LG Köln und die
Reaktion des Gesetzgebers
A. Einleitung
Nur wenige Diskussionen wurden in letzter Zeit so intensiv und über so
viele Fachgebiete hinweg so kontrovers geführt, wie diejenige über die
strafrechtliche Relevanz der rituellen Beschneidung von Jungen. Sowohl
rechtswissenschaftliche Aspekte aus allen drei Rechtsgebieten als auch me-
dizinische, soziologische und religiöse Belange sind dabei zu berücksichti-
gen, um zu einem gerechten Ergebnis zu kommen. Mit genau diesen soll
sich die vorliegende Arbeit nun befassen.
Dafür soll zunächst auf die Beschneidung selbst eingegangen und die bishe-
rige Rechtslage dargestellt werden. Anschließend folgt eine Darstellung des
Urteils und der Gesetzgebung. Schließlich wird das aktuelle Gesetz kritisch
beleuchtet.
I. Allgemeines zur Beschneidung
Die männliche Beschneidung1 ist die teilweise oder vollständige Entfernung
der Penisvorhaut2. Man geht davon aus, dass weltweit etwa ein Drittel aller
Männer über 15 Jahren beschnitten sind.3 Freilich sind die Motive sehr un-
terschiedliche. Medizinische4, hygienische, ästhetische und kulturelle, aber
auch religiöse Gründe kommen in Frage, wobei letztere wohl die größte
Gruppe darstellen5.
1. Religiöse Bedeutung im Judentum
Im Judentum stellt die Beschneidung ein religiös konstitutives, körperliches
Signal des Bundes mit Gott (Jahwe) dar6, dessen ritueller Vollzug am achten
Tag nach der Geburt für einen männlichen Juden nicht zur Disposition
steht.7 Dies ergibt sich aus Genesis 17, Verse 10-14.8 Um am religiösen Le-
1 Auch Zirkumzision von lat. circumcisio. 2 Putzke, MedR 2008, 268, 268. 3 WHO/ UNAIDS, Male circumcision, S. 7. 4 Z.B. bei Vorliegen einer pathologischen Phimose (s. Leitlinien der Deutschen Gesell-schaft für Kinderchirurgie für Phimose und Paraphimose). 5 WHO/ UNAIDS, Male circumcision, S. 7. 6 Blaschke, Beschneidung, S. 92. 7 Kramer in: Lau, Zeit Online.
2
ben teilnehmen und das Judentum praktizieren zu können, muss ein Mann
beschnitten sein. Ist er dies ohne zwingenden Grund nicht, wird er nicht als
vollwertiges Mitglied der jüdischen Gemeinschaft angesehen.9 Das sehen
jedoch nicht alle Juden so. Wolffsohn hält nach der Halacha, dem jüdischen
Religionsgesetz, einen Juden bereits dann für einen solchen, wenn dieser
von einer Jüdin geboren wurde. Zudem komme es nicht darauf an beschnit-
ten zu sein, sondern die Gebote Gottes zu halten und er verweist auch da-
rauf, dass früher sogar die Taufe üblich war.10 Festzuhalten ist also, dass
unter den Juden selbst keine Einigkeit über den Stellenwert der Beschnei-
dung besteht.
2. Religiöse Bedeutung im Islam
Im Koran gibt es keine eindeutigen Hinweise auf eine Beschneidung, jedoch
wird dies für Muslime der Sunna, einer Sammlung von Glaubens- und Ver-
haltensregeln11, entnommen, die eine Beschneidung ausdrücklich vor-
schreibt und sich aus überlieferten Berichten ableitet (sog. Hadithe).12 Sie
symbolisiert die totale Unterwerfung unter Gott und die göttliche Kontrolle
über menschliche Instinkte.13 Zur Pflicht hat die Beschneidung jedoch nur
eine Rechtsschule erklärt, die übrigen fünf ermuntern lediglich traditions-
gemäß dazu.14 Ungeklärt ist auch, in welchem Alter beschnitten wird. Dies
variiert ebenfalls unter den Rechtsschulen15, wird aber vorherrschend zwi-
schen dem 3. und 14. Lebensjahr vorgenommen, wobei aber auch eine
8 „Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vor-haut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwi-schen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen, seien sie im Haus geboren oder um Geld von irgendeinem Fremden erworben, der nicht von dir abstammt. Beschnitten muss sein der in deinem Haus Geborene und der um Geld Erworbene. So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein. Ein Unbeschnittener, eine männ-liche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem [der Israeli-ten] Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen.“ 9 Schwarz, JZ 2008, 1125, 1126. 10 Wolffsohn, in Die Welt. 11 Walter, JZ 2012, 1110, 1110. 12 Putzke, FS Herzberg, S. 697. 13 Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 228. 14 Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 228. 15 Putzke, FS Herzberg, S. 698.
3
frühere oder spätere Beschneidung zulässig ist.16 Im Islam ist somit eben-
falls keine einheitlich Linie erkennbar.
II. Bisherige Rechtslage
Schon länger ist die Beschneidung Thema verschiedener Gerichtsurteile17.
Da jedoch der Problemschwerpunkt immer anderweitig zu verorten war,
musste nie über die Rechtmäßigkeit der rituellen Beschneidungen nachge-
dacht werden. Dass dies auch vermieden wurde, ist einer langen Tabuisie-
rung des Themas zuzuschreiben.18
Dennoch gab es einige wenige Autoren, die sich in der Literatur mit diesem
Thema auseinandergesetzt haben und von einer Strafbarkeit gem. §§ 223,
224 I Nr. 2, Alt. 2 StGB ausgingen.19 Eine geglückte Zirkumzision wurde
trotzdem nie strafrechtlich verfolgt. Exner hingegen nimmt zwar auch eine
Erfüllung des Tatbestands der gefährlichen Körperverletzung an20, lässt aber
den Handlungsunwert durch die Subsumtion unter sozialadäquates Verhal-
ten entfallen und kommt so zu einer Straflosigkeit.21
Durch das „Nicht-Verfolgen“ ging die Rechtspraxis entsprechend von der
Rechtmäßigkeit aus.22
B. Das Urteil des LG Köln vom 7. Mai 2012
I. Inhalt und Bedeutung der Entscheidung
Dies änderte sich jedoch mit dem Urteil des Landgerichts Köln vom 7. Mai
2012 grundlegend. Demnach ist die religiöse Beschneidung eines Jungen
eine Körperverletzung i.S.d. § 223 StGB, welche weder sozialadäquat ist23
noch durch eine Einwilligung der Eltern gerechtfertigt werden kann, da das
Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes aus Art. 2 II 1 GG, das
16 Jerouschek, NStZ 2008, 313, 314. 17 OVG Lüneburg 4. Senat, Beschluss vom 23.07.2002, 4 ME 336/02; LG Frankenthal, Urteil vom 14.09.2004, 4 O 11/12; AG Düsseldorf, Urteil vom 17.11.2004, 411DS 60 JS 3518/00; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 21.08.2007, 4 W 12/07. 18 Vgl. BeckOK StGB/ Eschelbach, § 223, Rn. 9. 19 Vgl. Gropp, AT, § 6 Rn. 231; Putzke, FS Herzberg, 2008, 682; Herzberg, JZ 2009, 332, 339; Jerouschek, NStZ 2008, 313, 317. 20 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 35. 21 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 188. 22 BT-Drs. 17/11295, S. 6. 23 LG Köln, Az. 151 Ns 169/11, Rn. 11 f.
4
Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 II 1 GG und deren Religionsfreiheit
aus Art. 4 I, II GG überwiegt.24
„Der 1. Kleinen Kölner Strafkammer sei Dank“25 für den Anstoß zu einer
längst überfälligen Diskussion.
Zwar hat das Urteil eine erhebliche Rechtsunsicherheit hervorgerufen, je-
doch ist diese nicht durch das Urteil entstanden, sondern lediglich aufge-
deckt worden.
II. Kritik
Schon kurz nach Verkündung des Urteils wurde erste Kritik daran laut. Den
Richtern wurde vorgeworfen am Schutzbereich der Religionsfreiheit und
damit am Kern vorbeijudiziert26 und verkannt zu haben, dass es sich nicht
um eine bloße Tradition oder einen Brauchtum handelt, sondern um einen
essentiellen Glaubensinhalt27. Das Gericht habe sich des Weiteren den kom-
plexen, aber notwendigen Fragen nicht gestellt28 und bringe fehlende Sensi-
bilität für Religion und ihre Ausübung zum Ausdruck29. Papier hält es sogar
für eine Fehlanwendung des geltenden Rechts.30
Jedoch gab es auch einige Befürworter des Urteils. So wurde die Ablehnung
der Rechtsfigur der Sozialadäquanz31 und auch der angenommene Verbot-
sirrtum als richtig eingestuft32. Es habe weiterhin eine unklare Rechtslage
verklart und damit eine richtige Entscheidung getroffen33, ja selbst von ei-
nem großen Urteil mit klarer und richtiger Botschaft war die Rede34.
Ob damit nun wirklich Rechtsklarheit geschaffen wurde, mag bezweifelt
werden, wenn man sich die entbrannte Diskussion anschaut. Auch vermag
das Urteil selbst natürlich keine bindende Wirkung zu entfalten35, und nicht
24 LG Köln, Az. 151 Ns 169/11, Rn. 10, 13. 25 Hassemer, ZRP 2012, 179, 179. 26 Muckel, JA 2012, 636, 637. 27 Papier, in: Stallmann, Focus Online. 28 Wiater, NVwZ 2012, 1379, 1381. 29 Muckel, JA 2012, 636, 637. 30 Papier, in: Stallmann, Focus Online. 31 Muckel, JA 2012, 636, 637. 32 Jahn, JuS 2012, 850, 852. 33 Krüper, ZJS 2012, 547, 552. 34 Putzke, MedR 2012, 621, 625. 35 BT-Drs. 17/10331, S. 1.
5
einmal eine Orientierung zu geben, da es sich lediglich um ein Urteil eines
einzelnen Instanzgerichts handelt.36
C. Die Reaktion des Gesetzgebers
Der Rechtsunsicherheit geschuldet, war es natürlich Aufgabe des Gesetzge-
bers klärend einzuschreiten, was er auch prompt tat.
I. Das Gesetzgebungsverfahren
1. Antrag der Fraktionen CDU/ CSU, SPD und FDP
Bereits gute zwei Monate nach dem Urteil, stellen die Fraktionen CDU/
CSU, SPD und FDP an den Bundestag den Antrag, die Bundesregierung zur
Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Beschneidung von Jungen aufzufordern.37
Inhalt dieses Antrags ist der Wunsch nach einem Gesetzentwurf, welcher
unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des
Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des
Rechts der Eltern auf Erziehung sicherstellt, dass eine medizinisch fachge-
rechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich
möglich ist.
2. Papier des BMJ und Gesetzentwurf der Bundesregierung
Auf die Veröffentlichung eines Papiers des BMJ zu den Eckpunkten einer
Regelung zur Beschneidung von Jungen38 folgte der entsprechende Gesetz-
entwurf der Bundesregierung39.
Dieser setzt im Sorgerecht an, da damit der Begründung des Urteils Rech-
nung getragen wird, dass es zur Rechtfertigung des Eingriffs der Wirksam-
36 Papier, in: Stallmann, Focus Online. 37 BT-Drs. 17/10331. 38 BMJ, Beschneidungen von Jungen – Eckpunkte einer Regelung. 39 § 1631d BGB (Beschneidung des männlichen Kindes) (1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religi-onsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.
6
keit der Einwilligung der Eltern bedarf, welche nicht gegeben war. Zudem
handelt es sich bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit des Kindes
um eine kindschaftsrechtliche Frage40, wie dies auch § 1631c BGB zeigt.
Es werden bewusst alle Beschneidungen, unabhängig von deren Motiven,
einbezogen, da eine Kindeswohldienlichkeit der Beschneidung aus unter-
schiedlichen Gründen gegeben sein kann.41
Nur medizinisch indizierte Beschneidungen42 und solche bei denen das Kind
bereits selbst einsichts- und urteilsfähig ist, sind ausgenommen.43
Voraussetzung für die Beschneidung ist, dass nach den Regeln der ärztli-
chen Kunst gehandelt wird. Die Regelung knüpft die Wirksamkeit der Ein-
willigung damit an die Mindestanforderungen des Ethikrates.44
Dies ist zum einen die fachgerechte Durchführung und eine effektive
Schmerzbehandlung, die mit der Formulierung „nach den Regeln der ärztli-
chen Kunst“ abgedeckt sein soll, da dies eine dem Einzelfall angemessene
und wirkungsvolle Betäubung gebietet.45
Zum anderen bedarf es einer umfassenden Aufklärung vor der Einwilligung.
Dieser Passus hat jedoch nur deklaratorische Wirkung, da auch das bereits
geltende Recht für medizinisch nicht indizierte Eingriffe in die körperliche
Unversehrtheit eine besonders umfassende Aufklärung fordert.46
Schließlich muss noch der Kindeswille beachtet werden, sofern dieser schon
gebildet werden kann, da es sich um einen irreversiblen Eingriff handelt.
Insbesondere ein entgegenstehender Wille eines nicht einsichts- und urteil-
fähigen Kindes ist zu beachten, genauso wie seine religiöse Überzeugung.47
Aufgrund seines Wächteramtes aus Art. 6 II 2 GG hat der Staat auf das Kin-
deswohl Rücksicht zu nehmen. Bei einer Gefährdung dessen muss dieser
eingreifen können, was durch die Klausel in Abs. 1 S. 1 in Extremfällen
40 BT-Drs. 17/11295, S. 16. 41 BT-Drs. 17/11295, S. 16. 42 In medizinisch indizierte Beschneidungen können Eltern, wie in jede andere notwendige Heilbehandlung auch, problemlos einwilligen. 43 BT-Drs. 17/11295, S. 17. 44 Pressemitteilung des Deutschen Ethikrates vom 23. August 2012. 45 BT-Drs. 17/11295, S. 17. 46 MüKoStGB/ Joecks, § 223 Rn. 83 m.w.N. 47 BT-Drs. 17/11295, S. 17 f.
7
weiterhin möglich ist. Klargestellt wird jedoch, dass bei einer aus kindes-
wohlgetragenen Gründen und fachgerecht durchgeführten Beschneidung
keine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Wohl jedoch bei Vorliegen bestimm-
ter Motive.48
Mit der sog. „Mohel“-Klausel in Abs. 2 soll weiterhin gewährleistet werden,
dass die aus religiöser Sicht konstitutiven Begleithandlungen von Personen
der jeweiligen Religionsgemeinschaft ausgeführt werden können. Dies ist
mit Hinblick auf Art. 4 I, II GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV nö-
tig, bleibt aber auf die Zeit von sechs Monaten nach der Geburt begrenzt
und darf auch nur von entsprechend befähigten Personen ausgeführt werden.
Damit soll der Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG nachgekommen werden.49
3. Änderungsantrag zum Gesetzentwurf der Bundesregierung
Zu diesem Gesetzentwurf gab es einen Änderungsantrag einzelner Abge-
ordneter50, der dem Vorschlag der Bundesregierung Unklarheiten vorwirft.
So könne die erforderliche Aufklärung nicht durch den Beschneider selbst
erfolgen, sondern nur durch einen approbierten Arzt51, insbesondere da bei
medizinisch nicht indizierten Eingriffen höhere Anforderungen an die Auf-
klärung zu stellen sind. Diesen Anforderungen könne nur ein Arzt gerecht
werden.52
Zudem bedürfe es eines Kataloges, der die maßgeblichen Ausbildungs- und
Prüfungsinhalte unter Berücksichtigung der erforderlichen medizinischen
Fachkenntnisse definiert, da der Zentralrat der Juden die Entwicklung eines
Ausbildungsganges in Deutschland angekündigt hat und hierfür Präzisie-
rungen erforderlich seien. Gleiches gelte für die Durchführung der Be-
schneidung, Schmerzbehandlung und Nachsorge.53
48 BT-Drs. 17/11295, S. 18. 49 BT-Drs. 17/11295, S. 18 f. 50 Änderungsantrag zu BT-Drs. 17/11295. 51 BGHZ 169, 364. 52 Änderungsantrag zu BT-Drs. 17/11295, S. 3 f. 53 Änderungsantrag zu BT-Drs. 17/11295, S. 4.
8
Darüber hinaus sollen Risikofaktoren54 für eine Beschneidung in einem
standardisierten Verfahren ausgeschlossen werden, z.B. im Rahmen der
Vorsorgeuntersuchung U2, die entsprechend früh stattfindet.55
Schließlich werden Rechtsverordnungen gefordert, die verbindliche Richtli-
nien und Maßgaben für den Umgang mit gegen die Beschneidung gerichte-
ten unmissverständlichen Willensbekundungen nicht einsichts- und urteils-
fähiger Kinder enthalten.56
4. Gesetzentwurf der Opposition
Der Gesetzentwurf der Opposition hat den gleichen Ansatz, wie der der
Bundesregierung, schränkt jedoch die Durchführung der Beschneidung er-
heblich ein.
So sollen nur einsichts- und urteilsfähige Kinder beschnitten werden, die das
14. Lebensjahr vollendet und der Beschneidung zugestimmt haben.57
Beschneiden darf nur ein Facharzt für Kinderchirurgie oder Urologie.58 Die
sog. „Mohel“-Klausel gibt es also nicht.
II. Inhalt des geltenden Gesetzes
Seit dem 28.12.2012 ist das Gesetz zur Beschneidung in Kraft, welches in
vollem Umfang dem ersten Gesetzentwurf der Bundesregierung entspricht.
D. Kritik am Gesetz
Sicherlich ist es unmöglich für ein Problem dieser Art eine perfekte Lösung
zu finden. Und so kommt es, dass auch an dem aktuellen Gesetz bereits Kri-
tik geäußert wurde.
Auf die einzelnen Kritikpunkte mit entsprechender Verbesserungsmöglich-
keit soll im Folgenden eingegangen werden. Dazu soll zunächst auf die Fra-
ge der Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung eingegangen werden.
Daraufhin gilt es zu betrachten, wo eine solche im geltenden Recht am bes-
54 Z.B. Auf Hämophilie (Bluterkrankheit) werden Neugeborene nicht vorsorglich, sondern nur bei Krankheitsverdacht untersucht. 55 Änderungsantrag zu BT-Drs. 17/11295, S. 5. 56 Änderungsantrag zu BT-Drs. 17/11295, S. 6. 57 BT-Drs. 17/11430 S. 9 f. 58 BT-Drs. 17/11430 S. 10.
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ten zu verorten wäre. Letztlich wird sich mit den einzelnen inhaltlichen As-
pekten der Regelung auseinandergesetzt.
I. Notwendigkeit
Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob das Gesetz überhaupt benötigt
wird, oder ob nicht vielleicht die vorherige Rechtslage bereits eindeutig war.
1. Umfang des Sorgerechts/ der Vertretungsmacht
Von einer bereits vorher eindeutigen Rechtslage geht insbesondere Klink-
hammer aus.
Seiner Meinung nach stellt das Wohl des Kindes in § 1627 S. 1 BGB keine
Beschränkung der gesetzlichen Vertretungsmacht der Eltern, sondern ledig-
lich des Innenverhältnisses zwischen Kind und Eltern dar.59 Das Außenver-
hältnis hingegen werde in § 1629 BGB geregelt und ist gerade nicht vom
Kindeswohl abhängig, also unbeschränkt. Das gelte, mit wenigen Ausnah-
men (z.B. § 1931c BGB), auch für die Einwilligung in einen Eingriff in die
körperliche Unversehrtheit.60 Es bedürfe auch keiner Abwägung etwaiger
Vor- oder Nachteile für das Kindeswohl. Erst, wenn eine offenkundige Ge-
fährdung des Kindeswohls droht, also ein Missbrauch der Vertretungsmacht
vorliegt, sei eine Einwilligung unwirksam. Ein Abwägung der sich gegen-
überstehenden Interessen wäre also sogar fehl am Platz und würde man im
Rahmen derer zu einem Verbot kommen, dann wäre dies eines, dass das
geltende Recht nicht kennt. Der richtige Ansatz stecke hier in § 228 StGB.
Die Frage nach der Sittenwidrigkeit sei zu verneinen, sodass auch nicht von
einer Kindeswohlgefährdung ausgegangen werden könne. Die Eltern kön-
nen also wirksam einwilligen und eines weiteren Gesetzes bedürfe es
nicht.61
Dies vermag jedoch nicht zu überzeugen. Klinkhammer selbst bringt ein
Beispiel an, dass die Schwäche seiner Theorie zeigt: Sollte der Vater als
(alleiniger) gesetzlicher Vertreter seines minderjährigen Kindes Geld vom
Sparbuch dessen abheben und dieses in einem Casino verspielen, dann hat
er nicht zum Wohl des Kindes gehandelt, das Kind jedoch gegenüber der
59 Klinkhammer, FamRZ 2012, 1913, 1913. 60 Klinkhammer, FamRZ 2012, 1913, 1914. 61 Klinkhammer, FamRZ 2012, 1913, 1915.
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Bank wirksam vertreten. Das Kind kann die Auszahlung des Geldes von der
Bank nicht mehr verlangen, ihm steht aber ein Schadensersatzanspruch ge-
gen den Vater zu.62 Überträgt man dies nun auf die Beschneidung wird
schnell deutlich, dass der Ausgleich im Innenverhältnis nicht ohne weiteres
möglich ist. Zwar kann das Kind Schmerzensgeld und ggf. Schadensersatz
verlangen, der körperliche Eingriff ist indes irreversibel, es muss also ein
Leben lang mit dem „Schaden“ zurechtkommen. Gar nicht auszudenken,
wie es wäre, wenn bei der Beschneidung Komplikationen auftreten. Die
Trennung von Innen- und Außerverhältnis der Vertretungsmacht mag also
zwar seine Berechtigung haben, kann jedoch auf einen solchen Fall keine
Anwendung finden.
Valerius wiederum schließt die eindeutige Rechtslage aus Art. 6 II 1 GG.
Dieser gewährt neben der Einwilligungsbefugnis für die medizinische indi-
zierte Beschneidung auch die für die medizinisch nicht indizierte. Dies folgt
aus dem Umkehrschluss zu § 1631c BGB, dessen ausdrückliches Verbot der
Sterilisation überflüssig wäre, wenn sich dieses schon aus der fehlenden
Indikation ergäbe63, zumal die Beschneidung in der Intensität weit hinter
den durch das Gesetz ausdrücklich verbotenen Handlungen, wie z.B. der
Sterilisation oder auch der Transplantation (§§ 8 f. TPG) zurück bleibt64.
Der Gesetzgeber und auch das Schrifttum gehen also in diesen Fällen von
einer Einschränkung des elterlichen Sorgerechts aus65, welche für die Be-
schneidung nicht gilt.
Auch diese Ansicht vermag nicht zu überzeugen, da die Beschneidung den
anderen genannten Fällen gerade nicht in so viel nachsteht. Alle drei sind
irreversible Eingriffe, in denen etwas Funktionstüchtiges entfernt bzw. zer-
stört wird.
Der Verlust der Vorhaut ist nicht unbedeutend, da ihr mehrere Funktionen
zukommen.66 Das Amputieren dieser, um z.B. Krankheiten vorzubeugen,
würde einer Amputation des Riechorgans zur Vorbeugung einer Nasenent-
62 Klinkhammer, FamRZ 2012, 1913, 1914. 63 Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 154; ders. JA 2010, 481, 484. 64 Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 155. 65 Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 154. 66 Stehr/ Putzke/ Dietz, Dtsch Ärztebl 2008; 105(34–35): A 1778–80; näher zur Funktion: BT-Drs. 17/11430, S. 5.
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zündung gleichkommen.67 Auch eine vorsorgliche Appendektomie68 wäre
wohl nicht zum Wohl des Kindes und damit nicht vom Recht der elterlichen
Sorge gedeckt.69
Deshalb bedarf es hierfür einer Regelung.
2. Sozialadäquanz
Religiöse Vorstellungen, die mit Straftatbeständen kollidieren, sind nur in
sehr engen Grenzen durchsetzbar, nämlich wenn ihre Auswirkungen gering-
fügig sind und den Bereich des Sozialadäquaten nicht überschreiten.70 Sozi-
aladäquanz wird als Instrument zur negativen Korrektur des Tatbestandes
verstanden.71 Da die Beschneidung dann rechtmäßig wäre, wäre auch in
diesem Fall die Notwendigkeit für ein Gesetz zur Klärung der Rechtslage
nicht gegeben.
Sozialadäquat bedeutet, dass Handlungen dann nicht tatbestandlich oder
zumindest nicht rechtswidrig sind, wenn sie üblich, von der Allgemeinheit
gebilligt und daher in strafrechtlicher Hinsicht im sozialen Leben gänzlich
unverdächtig, weil im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit liegend
sind.72 Zu dem muss jedoch noch die geschichtliche Üblichkeit hinzutre-
ten.73 Die Beschneidung im Judentum und im Islam soll demnach sozial-
adäquat sein.74
Die Sozialadäquanz könnte jedoch verlustig gehen, wenn zweifelsfrei fest-
gestellt werden kann, dass sie gesellschaftlich missbilligt wird, bzw. eine
deutliche empirische Ablehnung nachgewiesen werden kann.75 An der kont-
roversen Diskussion ist erkennbar, dass dies bereits heute der Fall ist.76 Dem
entspricht auch das Ergebnis einer von Focus in Auftrag gegebenen Emnid-
67 Herzberg, JZ 2009, 332, 334. 68 Operative Entfernung des Wurmfortsatzes (Blinddarm). 69 Herzberg, MedR 2012, 169, 172. 70 Rohe, JZ 2007, 801, 805. 71 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 101. 72 BGHSt 23, 226, 228. 73 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 133. 74 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 188; Rohe, JZ 2007, 801, 805. 75 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 191 und S. 164. 76 BeckOK/ Eschelbach, § 223 Rn. 9.8; Putzke, MedR 2012, 229, 230; ders. MedR 2012, 621, 622.
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Umfrage.77 Demnach sind 48% der Deutschen gegen die Legalisierung der
Beschneidung.
Die Sozialadäquanz ist zudem auch schon nicht gegeben, weil nicht nur eine
sozial allgemein tolerierte, sondern auch geringfügige Handlung gefordert
wird. Zum einen ist durch die Erfüllung des Tatbestands des § 223 StGB
diese Erheblichkeitsschwelle jedoch bereits überschritten78 und zum anderen
ist aufgrund des vorhandenen Komplikationsrisikos von ca. 6 %79 keine
Geringfügigkeit des Eingriffs mehr gegeben80.
Zusammenfassend ist die Figur der Sozialadäquanz also abzulehnen und die
Notwendigkeit eines klärenden Gesetzes weiterhin zu bejahen.
II. Verortung
Ein solches Gesetz kann an mehreren Stellen Eingang in unsere Rechtsord-
nung finden. Im aktuellen Fall wurde aus den bereits genannten Gründen
eine Regelung im Familienrecht gewählt.81
1. Im Grundgesetz
Einen anderen Ansatzpunkt hätte Herzberg gewählt, der Art. 140 GG i.V.m.
Art. 136 IV WRV für änderungsbedürftig hält. Hier müsste das bisherige
Verbot zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen zu
werden durch eine Formulierung ersetzt werden, die eine religiöse Be-
schneidung eindeutig zulässt. Dies hätte den Vorteil, dass wegen Art. 79 GG
eine Zweidrittelmehrheit erforderlich wäre, bei deren Vorliegen man wohl
auch von einer gesellschaftlichen Akzeptanz ausgehen könne.82
Dies vermag nicht gänzlich zu überzeugen. Das Problem wurzelt nicht dort,
andernfalls wäre auch die Taufe als aufgezwungene kirchliche Handlung
verfassungswidrig83, wovon man jedoch wohl nicht ausgehen kann. Mit
77 Wendt, in: Focus Online. 78 Fateh-Moghadam, RW 2010, 115, 122. 79 DAKJ, Stellungnahme zur Beschneidung von Minderjährigen, S. 1; die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie für Phimose und Paraphimose sprechen sogar von einer signifikanten Komplikationsrate, S. 2. 80 Valerius, Kultur und Strafrecht, S. 156. 81 BT-Drs. 17/11295, S. 16. 82 Herzberg, MedR 2012, 169, 174. 83 Zur grundsätzlichen Vergleichbarkeit von Taufe und Beschneidung OVG Lüneburg, 4. Senat, Beschluss vom 23.07.2002, 4 ME 336/02.
13
einer Änderung des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 IV WRV wäre somit nicht
der richtige Ort gefunden.
2. Im Strafgesetzbuch
Möglicherweise wäre jedoch eine Regelung am Ausgangspunkt der Proble-
matik sinnvoll. Dies würde bedeuten, dass man eine Strafbarkeit direkt im
Strafrecht ausschließt. Ein Tatbestandsausschluss, als wertneutrales Mittel
hätte dies erreichen können, ohne das Verhalten im Übrigen zu bewerten.
Dieser lässt nämlich offen, ob ein Verhalten verboten wird, weil es rechts-
widrig ist, oder obwohl es rechtswidrig ist.84 Allerdings wäre eine solche
Modifizierung wegen des verfassungsmäßigen Bestimmtheitsgrundsatzes
wohl nur schwer denkbar gewesen und hätte die richterliche Konkretisie-
rung unbestimmter Rechtsbegriffe erforderlich gemacht, was zu unüber-
sichtlicher Kasuistik geführt hätte.85 Eine solche Regelung kommt also auch
nicht in Frage.
3. Im Bürgerlichen Gesetzbuch (Familienrecht)
Die Verortung im Familienrecht, wie es aktuell der Fall ist, überzeugt je-
doch mit den bereits unter C.I.3.a. genannten Argumenten der Bundesregie-
rung.
III. Differenzierung nach Motiven in Bezug auf das Kindeswohl
Die Rechtmäßigkeit der Beschneidung hängt von der wirksamen Einwilli-
gung der Eltern ab. Eine solche Einwilligungsbefugnis ist grundsätzlich von
der elterlichen Sorge gedeckt, welche auch grundgesetzlich in Art. 6 II 1
GG geschützt ist. Allerdings führt die Auslegung im Lichte des Art. 1 I GG
dazu, dass die elterliche Befugnis begrenzt wird und stets eine kindeswohl-
konforme Erziehung gewährleistet werden muss. Damit erhält das Kindes-
wohl Verfassungsrang und ist folglich der Maßstab.86 Was wiederum dem
Kindeswohl entspricht ist eine Abwägung der sich gegenüberstehenden
Grundrechte.
84 Walter, JZ 2012, 1110, 1116. 85 Büscher, DRiZ 2012, 330, 330. 86 Beulke/ Dießner, ZIS 2012, 338, 344.
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Diesbezüglich ist es nötig zwischen den verschiedenen Motiven für eine
Beschneidung und deren Wohl für das Kind zu differenzieren.
Das aktuelle Gesetz nimmt auf den ersten Blick keine Differenzierung nach
den Motiven für eine Beschneidung vor, so dass auch jede nicht religiös
begründete Beschneidung rechtmäßig ist. Dies wurde bewusst so gehalten,
damit auch rituelle Beschneidungen, die nicht religiös, sondern rein traditio-
nell begründet sind, wie sie z.B. bei den Aleviten durchgeführt wird, um-
fasst sind. Außerdem ist auch eine rein medizinisch prophylaktische Be-
schneidung denkbar. Dies hat den Vorteil, dass eine Erforschung der Motive
im Einzelfall nicht nötig ist. Ausgenommen sind jedoch unter Ansehung des
Kindeswohls solche Beschneidungen, die aus rein ästhetischen Gründen,
oder zur Erschwerung der Masturbation vorgenommen werden sollen87,
sodass letztlich von den Gerichten doch eine Motivforschung betrieben
werden muss88, was in der Praxis jedoch nur dazu führt, dass Eltern sich
akzeptierte Gründe ausdenken oder aus dem Internet besorgen, sodass letzt-
lich alle Jungen zur Beschneidung freigegeben sind.89
Fraglich ist also, ob alle Motive dem Kindeswohl entsprechen und damit die
Beschneidung rechtmäßig werden lassen sollten.
1. Medizinische und hygienische Gründe
Aus medizinischer Sicht liegt keine Kindeswohlgefährdung vor, wenn es
sich um eine Heilbehandlung handelt. Dies kann auch in Form einer Vor-
sorge, z.B. eine Impfung, sein. In diesem Fall würde das Erziehungsrecht
der Eltern aus Art. 6 II 1 GG das hier kollidierende Grundrecht auf körperli-
che Unversehrtheit des Kindes aus Art. 2 II 1 GG überwiegen.
Fraglich ist also, ob bei der Beschneidung von einer entsprechenden Heilbe-
handlung in Form der Vorsorge ausgegangen werden kann.
Es wird insbesondere hervorgehoben, dass das Risiko an HIV zu erkranken
um 48-60 % niedriger ist.90 Hierbei wird jedoch verkannt, dass es sich nicht
87 BT-Drs. 17/11295 S. 18. 88 Rosenthal, AnwBl. 2012, 964, 965. 89 Walter, JZ 2012, 1110, 1113 f. 90 WHO/ UNAIDS, Male circumcision, S. 22.
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um eine generelle Empfehlung handelt, sondern diese in Abhängigkeit vom
Ansteckungsrisiko gilt.91 Da es sich bei der Grundlage dieser Empfehlung
um Studien aus Afrika handelt, mag an der Übertragbarkeit der Ergebnisse
auf deutsche Verhältnisse gezweifelt werden.92 Zudem bietet die Beschnei-
dung eben keinen vollständigen Schutz. Minderjährige sind im Übrigen da-
von gar nicht betroffen, da diese zumeist nicht sexuell aktiv sind.93
Des Weiteren wird ausgeführt, dass ein niedrigeres Risiko für Peniskrebs
besteht. Dieses Risiko ist jedoch ohnehin schon extrem niedrig, sodass mehr
Personen bei einer Zirkumzision als an Peniskrebs sterben.94 Ein ähnlich
geringes Risiko liegt auch bei anderen Krankheiten, wie Harnwegsinfekten
oder Phimosen, vor.95
Eine Senkung des Risikos von Gebärmutterhalskrebs und der Übertragung
von HPV muss indes gänzlich außer Acht bleiben, da eine Amputation der
Vorhaut zugunsten Dritter niemals zum Wohl des Kindes sein kann.96
Diesen geringen Vorteilen stehen dazu noch einige medizinische Nachteile
gegenüber. So ist bei Säuglingen, ein Alter, in dem die Beschneidung häufig
vorgenommen wird, die Schmerzschwelle deutlich niedriger als bei älteren
Kindern oder gar Erwachsenen und auch das Schmerzgedächtnis ist entge-
gen früherer Annahmen bereits ausgeprägt.97 Demnach ist die bekannte
EMLA-Creme98 allein nicht ausreichend für die Durchführung einer Zir-
kumzision.99 Es können dabei sogar erhebliche und nachhaltige Traumati-
sierungen sowohl bei Neugeborenen als auch bei älteren Kindern auftre-
ten.100 Folglich ist eine Allgemeinanästhesie101 mit Leitungsanästhesie nö-
tig.102 Die pädiatrische Anästhesie ist jedoch noch nicht ausgereift103 und
91 Putzke, MedR 2012, 621, 622. 92 Stehr/ Putzke/ Dietz, Dtsch Ärztebl 2008; 105(34–35): A 1778–80; Magheli/ Hakenberg, Religiöse Beschneidungen, S. 6. 93 Putzke, FS Herzberg, S. 689 f. 94 Putzke, FS Herzberg, S. 689. 95 Stehr/ Putzke/ Dietz, Dtsch Ärztebl 2008; 105(34–35): A 1778–80. 96 Herzberg, ZIS 2010, 471, 473; Putzke, FS Herzberg, S. 688. 97 Kretz/ Becke/ Reimann, Anästhesie und Intensivmedizin bei Kindern, S. 17. 98 Lokalanästhetikum mit den Wirkstoffen Lidocain und Prilocain. 99 Hartmann, Stellungnahme zur Anhörung zum Gesetzentwurf, S. 4. 100 DAKJ, Stellungnahme zur Beschneidung von Minderjährigen, S. 1. 101 Hartmann, Stellungnahme zur Anhörung zum Gesetzentwurf, S. 4. 102 Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie für Phimose und Paraphimo-se, S.2. 103 BeckOK/ Eschelbach, § 223 Rn. 9.5.
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führt ggf. zu Schäden am zentralen Nervensystem (ZNS)104. Dies macht
eine spezielle Anästhesie nötig, welche in Deutschland nur speziell ausge-
bildete Mediziner vornehmen dürfen.105 Von einem geringfügigen körperli-
chen Eingriff, der präventiv-medizinischen Vorteilen gegenüber steht106
kann hier also nicht die Rede sein.
Die geringen medizinischen Vorteile werden somit von den Nachteilen wie-
der aufgehoben. Demnach handelt es sich nicht um eine Vorsorgebehand-
lung, die einer Heilbehandlung gleichzusetzen ist, sodass andere Vorteile
vonnöten sind. Diese könnten hygienischer Art sein. Aus diesem Grund ist
der Ritus in den Ariden entstanden, wo wegen Hitze und Wassermangel
eingeschränkte Hygiene herrschte.107 Dies kann jedoch für Deutschland mit
seinen hohen hygienischen Standards nicht gelten.108
Von einer Beschneidung zum Wohl des Kindes kann also aus medizinischer
Sicht nicht gesprochen werden.109 Somit kann das Erziehungsrecht der El-
tern allein nicht über dem Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes
stehen110 und folglich kann die Einwilligung der Eltern in eine medizinisch/
hygienisch begründete Beschneidung nicht wirksam sein.
2. Religiöse Gründe
Möglicherweise ist jedoch eine religiöse Motivation der Beschneidung in
der Lage der Einwilligung zu Wirksamkeit zu verhelfen.
a. kollidierende Grundrechte
aa. Art. 4 I, II GG für die Eltern
In diesem Fall könnte zu dem Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 II 1 GG
noch deren Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG kommen. Czerner ist jedoch
der Meinung, dass schon der Schutzbereich von Art. 4 I, II GG nicht eröff-
net sei, da eine erlaubte Beschneidung einen Verstoß gegen den ordre public
104 Hartmann, Stellungnahme zur Anhörung zum Änderungsantrag, S. 1. 105 Ehrmann, DRiZ 2012, 331, 331. 106 Fateh-Moghadam, RW 2010, 115, 138. 107 Bruch, Religiöse Beschneidungen, S. 3. 108 Walter, JZ 2012, 1110, 1113. 109 AnwK-StGB/ Zöller, § 223 Rn. 22. 110 Wiater, NVwZ 2012, 1379, 1381.
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aus Art. 6 EGBGB darstelle, dessen Aufgabe es sei die Verfassungs- und
Rechtsordnung zu wahren. Diese innere Werteordnung des Staates sei nicht
disponierbar.111 Allerdings kann nicht ein einfaches Gesetz über die Eröff-
nung des Schutzbereichs eines Grundrechts aus der Verfassung bestimmen
und zudem fordert Art. 6 Satz 2 EGBGB selbst eine Abwägung der Grund-
rechte. Art. 4 I, II GG kann somit angewendet werden.
Dieses Grundrecht wird grundsätzlich schrankenlos gewährt, erfährt aber
eine Einschränkung durch verfassungsimmanente Schranken in Form von
kollidierenden Grundrechten Dritter.112 Eine zusätzlichen einfachen Geset-
zesvorbehalt enthält Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV.113
bb. Art. 6 II 1 i.V.m. Art. 4 I, II GG für die Eltern
Dazu könnte das Erziehungsrecht der Eltern noch eine Stärkung erfahren,
wenn der Schutz dieses Grundrechts durch den speziellen Freiheitsgehalt
des Grundrechts der Religionsfreiheit verstärkt wird.114 Dies gilt für Art. 6 II
1 GG, wenn eine zwingende religiöse Vorschrift vorliegt.115 Wie bereits
dargelegt, gibt es in beiden betroffenen Religionen (Judentum und Islam)
Vorschriften, die eine Beschneidungspflicht vorsehen. Diese erfährt zwar
auch Ausnahmen, z.B. in einigen Rechtsschulen des Islam, es reicht aller-
dings, wenn die betroffenen Personen selbst sie als verbindlich erachten.116
In dem Fall steht den Eltern also das durch die Religionsfreiheit gestärkte
Erziehungsrecht zu.
cc. Art. 2 II 1 GG für das Kind
Selbstverständlich steht dem Kind das Recht auf körperliche Unversehrtheit
aus Art. 2 II 1 GG zu. In dieses Grundrecht darf nur aufgrund Gesetzes ein-
gegriffen werden.
111 Czerner, ZKJ 2012, 374, 383. 112 BVerfGE 28, 243, 261. 113 Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rn. 577; a.A. BVerfGE 33, 23, 31. 114 BVerfGE 104, 337, 346. 115 Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 229. 116 Jarass/ Pieroth, Art. 4 Rn. 13.
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dd. Artikel 4 I, II GG für das Kind
Möglicherweise steht dem Kind jedoch noch ein weiteres Grundrecht, näm-
lich das der negativen Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG zu. Exner lehnt
dies wegen fehlender Grundrechtsmündigkeit ab und begründet es mit der
Altersgrenze in § 5 KErzG, die erst mit Vollendung des 14. Lebensjahres
volle Religionsmündigkeit zulässt.117 Dem kann jedoch nicht zugestimmt
werden, da Eingriffe des Staates in das Grundrecht des Kindes aus Art. 4 I,
II GG zugleich Eingriffe in das elterliche Erziehungsrecht sein können. In-
sofern ist eine Grundrechtsmündigkeit ab Geburt erforderlich.118 Gegenüber
den Eltern soll sich das Kind jedoch wegen fehlender Einsichtsfähigkeit und
wegen fehlender Religionsmündigkeit trotzdem nicht darauf berufen kön-
nen.119 Allerdings blendet dies die Grundrechtsinhaberschaft von Kindern
aus und würde zu einer unumkehrbaren Vereitelung künftiger Entscheidun-
gen des Minderjährigen führen.120 Dies kann nicht zugelassen werden, so-
dass auch unter 14-jährigen die negative Glaubensfreiheit zustehen kann.
Nach dem BVerfG ist es entscheidend, dass der Betroffene ohne Aus-
weichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlun-
gen, in denen er sich manifestiert, und den Symbolen, mit denen er sich dar-
stellt, ausgeliefert ist.121 Dies gilt selbst bei nicht invasiven Symbolen122 und
muss deswegen erst recht bei einer irreversibel invasiven Handlung Anwen-
dung finden123, welche hier mit der Beschneidung gegeben ist. Das Kind
kann sich also auf die negative Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG berufen.
ee. Art. 1 I GG für das Kind
Schließlich könnte noch die Menschenwürde des Kindes betroffen sein.
Sollte dies der Fall sein, findet eine Abwägung nicht statt, da dieses Grund-
recht schrankenlos gewährt wird.
117 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 47. 118 Starck, GG, Art. 4 Rn. 71. 119 Wiater, NVwZ 2012, 1379, 1380. 120 Czerner, ZKJ 2012, 374, 381. 121 BVerfGE 108, 282, 302. 122 BVerfGE 93, 1, 31. 123 Czerner, ZKJ 2012, 374, 381.
19
Hier wird zum einen die Ansicht vertreten, dass die Beschneidung eine kör-
perliche Stempelung ist, die das Kind zum Objekt der Handlung macht und
damit eine Kollision mit Art. 1 I GG hervorruft.124 Es handele sich dabei um
eine lebenslange sinnfällige Zuordnung, quasi eine „Brandmarkung“.125
Dieser starke Bezug auf die Menschenwürde gebiete der elterlichen Erzie-
hungsautonomie Grenzen, die zumindest das Recht auf Erziehungsfreiheit
nicht überschreiten kann.126
Dem kann jedoch nicht zugestimmt werden. Es liegt gerade keine Degradie-
rung zum Objekt vor127, da eine „Brandmarkung“ in dem Sinne nicht statt-
findet. Vielmehr gibt es auch Männer, die wegen einer medizinischen Indi-
kation beschnitten sind. Eine Unterscheidung ist nur denen möglich, die die
Gründe für die Beschneidung kennen. Rein optisch lässt sich aber nicht er-
kennen, dass aus religiösen Gründen beschnitten wurde.
Der Schutzbereich des Art. 1 I GG ist somit nicht berührt.
b. Abwägung
Nun gilt es die kollidierenden Grundrechte im Wege der praktischen Kon-
kordanz gegeneinander abzuwägen.
Das Grundrecht der Religionsfreiheit könnte hier eine Einschränkung durch
das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes erfahren, welches ein
kollidierendes Grundrecht eines Dritten darstellt.
Einer Ansicht nach soll die Einwirkung in die körperliche Unversehrtheit
nur geringfügig sein, wenn sie lege artis ausgeführt wird.128 Wie bereits
oben dargestellt, ist allerdings auch ein lege artis ausgeführter Eingriff aus
medizinischer Sicht gerade nicht geringfügig und kann somit auch nicht als
geringfügige Einwirkung gesehen werden.
Weiterhin solle die Waagschale sich zur strafrechtlichen Rechtfertigung
senken, weil die Religionsfreiheit und die elterliche Sorge schwerer wiegen
als das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die körperliche Unversehrtheit
124 BeckOK/ Eschelbach, § 223 Rn. 9.3; Staudinger/ Coester, § 1666 Rn. 126. 125 Jerouschek, NStZ 2008, 313, 319; Czerner, ZKJ 2012, 374, 381. 126 Exner, Sozialadäquanz im Strafrecht, S. 55. 127 Beulke/ Dießner, ZIS 2012, 338, 344. 128 Papier in: Stallmann, Focus Online.
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des Kindes, also gerade keine Kindeswohlgefährdung vorliegt.129 Dem kann
jedoch nicht entsprochen werden.
Die körperliche Unversehrtheit hat nämlich immer Vorrang vor Kultur, Tra-
dition und auch Religion.130 Insbesondere der Kindesschutz erleidet keine
Einschränkung durch die Religionsfreiheit.131
Doch auch allgemein lässt sich sagen, dass Art. 4 I, II GG nicht das Recht
verleiht Straftatbestände zu verwirklichen.132 Wer den Schutz der Gesetze
genießt, ist ihnen auch unterworfen, was auch die Pflicht zur Beachtung des
Verbots der Körperverletzung umfasst. Daran ändert auch die Tatsache, dass
die Verletzungshandlung eine Religionsausübung darstellt nichts. Eine Ver-
schiebung der Berechtigungs- und Verpflichtungsgrenzen findet gerade
nicht statt.133 Etwas anderes für die Beschneidung von Jungen anzunehmen,
wäre reine Willkür.134
Auch Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 WRV gebietet keine Beschränkung der
bürgerlichen Rechte und Pflichten, also auch nicht denen aus § 223 StGB.
Ein Widerstreit entsteht also gar nicht, weil durch die Religion kein Eingriff
gestattet wird.135 Diese isolierte Betrachtung der Norm ist jedoch unzuläs-
sig, sie muss ihrerseits wieder an den Maßstäben des Grundgesetzes ge-
messen und entsprechend ausgelegt werden, weil erst dann die Religions-
ausübung einschränkende Wirkung entfaltet, womit man wieder bei der
Ausgangsfrage wäre.136
Wenn es um das Kindeswohl geht, muss auch immer nach möglichen Alter-
nativen gefragt werden.137 Das Grundrecht der Eltern auf Religionsfreiheit
könnte „zeitlich verschoben“ werden.138 Mit entsprechendem Alter kann das
Kind später selbst seine Zustimmung dazu äußern und die Beschneidung
nachgeholt werden, was mit Hinblick auf die dem Kind zustehende negative
129 Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 229. 130 BeckOK/ Eschelbach, § 223 Rn. 9.12. 131 Staudinger/ Coester, § 1666 Rn. 163. 132 AnwK-StGB/ Zöller, § 223 Rn. 22; Herzberg, JZ 2009, 332, 338; Prantl in: Süddeut-sche.de. 133 Herzberg, JZ 2009, 332, 337 f. 134 Herzberg, JZ 2009, 332, 338. 135 Herzberg, MedR 2012, 169, 173. 136 Beulke/ Dießner, ZIS 2012, 338, 345. 137 Putzke, FS Herzberg, S. 706. 138 Jerouschek, NStZ 2008, 313, 319; LG Köln, 151 Ns 169/11.
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Religionsfreiheit auch nötig ist. Zumindest bei Muslimen wäre dies ange-
sichts der Altersgrenzen für die Beschneidung möglich.139 Im Judentum ist
jedoch eine Beschneidung eindeutig am 8. Tag nach der Geburt vorgesehen
und eine Ungleichbehandlung der Religionen kann nicht das Ziel sein
(Art. 3 I GG). Fraglich ist also, ob auch hier eine spätere Beschneidung
möglich ist. Immer mehr entscheiden sich sogar gänzlich gegen eine Be-
schneidung140 oder nehmen eine sog. Symbolische Beschneidung vor141.
Dafür spricht auch, dass zahlreiche Ge- und Verbote sich über die Zeit hin-
weg verändert haben und nicht mehr wörtlich genommen werden.142 Es wird
Zeit, die Religionsvorschriften an das 21. Jahrhundert143 und damit insbe-
sondere an innerstaatliche Rechte anzupassen144, wenn die Religionsge-
meinschaften in der Gesellschaft und vom Staat akzeptiert werden möch-
ten.145 Auch eine Tracht Prügel wurde früher als kindeswohldienlich ange-
sehen und ist heute in § 1631 II sogar ausdrücklich verboten146, obwohl die-
se in den meisten Fällen nicht einmal körperliche Schäden hinterlässt. Eine
Erlaubnis aus der jahrelangen Tradition und den Religionsvorschriften abzu-
leiten, also ein Schluss von Sein auf Sollen, kann demnach nicht richtig
sein.147 Von den Religionsgemeinschaften muss also ein Umdenken erwartet
werden können, insbesondere da bereits jetzt keine Einigkeit über die Not-
wendigkeit besteht. Dann könnte auch im Judentum eine spätere Beschnei-
dung möglich sein. Die Religionsfreiheit der Eltern muss also zugunsten der
körperlichen Unversehrtheit des Kindes aufgeschoben werden.
Auch ein drohender sozialer Ausschluss als Kindeswohlgefährdung vermag
nicht zu einem Überwiegen der Religionsfreiheit führen. Zum einen gibt es
auch jetzt schon unbeschnittene jüdische und muslimische Kinder mit einem
ganz normalen Leben148 und keine strikten einheitlichen Religionsgemein-
139 Jahn, JuS 2012, 850, 851. 140 BeckOK/ Eschelbach, § 223 Rn. 9.5. 141 Herzberg, MedR 2012, 169, 174. 142 Putzke, MedR 2012, 621, 624. 143 Herzberg, MedR 2012, 169, 174. 144 Czerner, ZKJ 2012, 374, 383. 145 Putzke, FS Herzberg, S. 702; Czerner, ZKJ 2012, 433, 434. 146 Herzberg, JZ 2009, 332, 333. 147 Herzberg, ZIS 2010, 471, 475; Hassemer ZRP 2012, 179, 180. 148 Walter, JZ 2012, 1110, 1114.
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schaften149 und zum anderen würde diese Argumentation im Kreis verlau-
fen, denn je mehr Jungen nicht beschnitten sind, desto geringer ist die
Wahrscheinlichkeit eines sozialen Ausschlusses.150 Zudem hat auch Kra-
mer, als Jude, es noch nie erlebt, dass „am Eingang der Synagoge das Ge-
schlechtsteil kontrolliert wurde“.151
Zum Wohl des Kindes kann es jedoch auch gerade sein in die Religion auf-
genommen zu werden und sich mit ihr zu identifizieren. Dies soll deshalb
dann gelten, wenn die mit der Beschneidung einhergehenden gesundheitli-
chen Risiken sich als gering erweisen und so kompensiert werden. Aus be-
reits genannten Gründen ist dies jedoch nicht der Fall und die Aufnahme des
Kindes in die Religion kann eben auch durch andere Handlungen gesche-
hen, sofern die Gelegenheit zum Umdenken, als was das Urteil des LG Köln
bereits von einigen Juden verstanden wird152, wahrgenommen wird.
Ein Verstoß gegen Art. 24 III KRK kann nicht angenommen werden. Zwar
liegt bei einer Beschneidung die Erfüllung des Tatbestandes von § 223
StGB vor, was der Gesundheitsschädlichkeit entspricht153, allerdings gilt
dieser Artikel nur in Bezug auf die Beschneidung bei Mädchen.154 Eine
Vergleichbarkeit beider Beschneidungen ist entgegen einiger Auffassun-
gen155 nicht gegeben, da zwar auch bei Mädchen eine „leichte Beschnei-
dung“ möglich wäre, sie aber de facto so nie stattfindet und die weibliche
Beschneidung insgesamt zudem keinerlei medizinische Vorteile bringt.
Es ist also festzuhalten, dass die Beschneidung im Kleinkindalter, mangels
überwiegender Grundrechte der Eltern, nicht verfassungsgemäß ist. Statt-
dessen soll nach unblutigen Alternativen gesucht, oder ein späterer Zeit-
punkt gewählt werden, zu dem das Kind sich selbst glaubhaft für eine Be-
schneidung aussprechen kann.
149 BeckOK/ Eschelbach, § 223 Rn. 9.9. 150 Putzke, MedR 2008, 268, 272. 151 Kramer in: Lau, Zeit Online. 152 Kramer in: Lau, Zeit Online. 153 Putzke, FS Herzberg, S. 704. 154 Schmahl, KRK, Art. 24 Rn. 20. 155 Putzke, MedR 2012, 621, 623; Herzberg JZ 2009, 332, 333.
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Doch selbst bei späteren Beschneidungen, muss erwartet werden, dass die
Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft nachgewiesen wird, weil nur
so plausibel begründet werden kann, dass die Religion tatsächlich das Motiv
der Eltern ist.156
Rein religiöse Motive der Eltern allein können also keine strafrechtliche
Rechtfertigung bewirken, vielmehr ist auch die Zustimmung des zu be-
schneidenden Kindes notwendig.
3. Traditionen
In einigen Ländern besteht der Brauch der Beschneidung unabhängig von
einer Religion und wird auch in Deutschland teilweise so ausgeführt. Da
hier jedoch wieder lediglich das elterliche Erziehungsrecht auf Seiten der
Eltern steht, und gerade nicht mehr die gewichtige nötige Religionsfreiheit,
reicht dies nicht, um den Eingriff zu rechtfertigen.157
4. sonstige Gründe
Zwar selten, jedoch auch vertreten, sind z.B. ästhetische Gründe, oder sol-
che zur Erschwerung der Masturbation. Diese entsprechen jedoch bereits
einer Kindeswohlgefährdung158 und sind insofern abzulehnen.
Festzuhalten bleibt somit, dass eine Beschneidung nur aus zumindest auch
religiösen Gründen stattfinden darf, jedoch nicht, ohne die Zustimmung des
Kindes. In anderen Fällen entspricht die Beschneidung nicht dem Kindes-
wohl und wäre demnach verfassungswidrig.
IV. Alter des Kindes/ Vetorecht
Wie bereits festgestellt, ist der Wille des Kindes bei der Beschneidung zu
berücksichtigen. Dabei stellt sich jedoch die Frage, in welcher Form und ab
welchem Alter dies überhaupt möglich ist.
In Betracht kommt zum einen ein Vetorecht, was zur Unwirksamkeit der
elterlichen Einwilligung führt, wenn das Kind sich gegensätzlich äußert.159
156 Walter, JZ 2012, 1110, 1116. 157 Wiater, NVwZ 2012, 1379, 1381. 158 BT-Drs. 17/11295, S. 18.
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Knüpft man dies jedoch nur an die Urteils- und Einsichtsfähigkeit, ohne ein
Mindestalter für die Beschneidung festzulegen, würde man damit praktisch
die Empfehlung aussprechen eine Beschneidung so früh zu machen, dass
das Kind eben noch keinen entgegenstehenden Willen äußern kann.160 Das
Vetorecht würde also bei kleinen Kindern nur ein wertloses Alibirecht
sein.161 Insofern kommt ein solches Vetorecht nicht in Betracht.
Das Kind könnte jedoch eine eigene Verfügungsbefugnis haben, mit der die
Beschneidung grundsätzlich erst mit Erreichen des Alters, in der diese be-
steht, möglich ist.
Dies wäre bei Erreichen der Volljährigkeit der Fall, welche auch Vorausset-
zung für die Einwilligung in eine ärztliche Heilbehandlung ist.162 Ein gene-
relles Verbot nicht indizierter kosmetischer Eingriffe an unter 18-jährigen
wäre jedoch die zu weit gegriffene Folge.163
Mit 12 Jahren164 ist es zu früh, da auch § 5 S. 2 KErzG nur ein Vetorecht
und gerade keine Verfügungsbefugnis gewährt.
§ 5 S. 1 KErzG gewährt auch mit 14 Jahren noch keine Verfügungsbefug-
nis. Dieser drückt gerade nicht aus, dass das Kind einwilligen kann, sondern
nur, dass es in der Lage ist, die religiöse Bedeutung der Beschneidung zu
erfassen.165 Diese Altersgrenze dient höchstens als im Einzelfall zu korrigie-
rende Orientierungsgröße.166 Maßgeblich kommt es auf die Einsichtsfähig-
keit an167, die wohl im Alter von 16-18 Jahren gegeben ist168, aber in einzel-
nen Bereichen der Medizin, z.B. auf dem höchstpersönlichem Gebiet sexu-
almedizinischer Maßnahmen früher angesetzt werden muss.169 Untergrenze
muss aber 14 Jahre sein, da darunter allgemein in der Medizin von einer
Einwilligungsunfähigkeit ausgegangen wird.170
159 Fateh-Moghadam, RW 2010, 115, 127. 160 Herzberg, ZIS 2010, 471, 475. 161 Czerner, ZKJ 2012, 374, 381. 162 NJW 1998, 3424, 3425. 163 Roxin/ Schroth, Medizinstrafrecht, S. 441. 164 OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 21.08.2007, 4 W 12/07. 165 Fateh-Moghadam, RW 2010, 115, 125. 166 Rixen, NJW 2013, 257, 259. 167 Lipp, Freiheit und Fürsorge, S. 84; Ulsenheimer, Arztstrafrecht, § 1 Rn. 109b/d. 168 Putzke, MedR 2008, 268, 270; Schramm, Ehe und Familie im Strafrecht, S. 225. 169 Deutsch/ Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 790. 170 Ulsenheimer, Arztstrafrecht, § 1 Rn. 109b.
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Gänzlich ohne Altersgrenze, also nur mit einer Orientierung an der Ein-
sichts- und Urteilsfähigkeit, würde man jedoch nicht auskommen, da dies zu
viel Rechtsunsicherheit hervorruft.
14 Jahre ist also eine angemessene Grenze zur Einwilligungsfähigkeit bei
einer Beschneidung.
V. „Mohel“-Klausel
Das aktuelle Gesetz gewährt in Abs. 2 während der ersten 6 Monate auch
eine Beschneidung durch eine von der Religionsgesellschaft dazu vorgese-
hene Person. Dies trägt dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesell-
schaften Rechnung.171 Allerdings widerspricht dies den in Abs. 1 genannten
Regeln der ärztlichen Kunst.
Zum einen verlangen diese Regeln, dass die Behandlung durch einen Arzt
erfolgt172, in der Regel gilt sogar Facharztstandard173. Und zum anderen
bedeutet dies auch eine adäquate Schmerzbehandlung, die ein Beschneider
nicht leisten könnte, da er die dafür erforderlichen Medikamente nicht erhält
und auch nicht verabreichen darf.174
Ein Abweichen von diesen Regeln zugunsten der Beschneider kann selbst-
verständlich mit Rücksicht auf das Kind auch nicht geduldet werden, sodass
Beschneidungen nur von approbierten Ärzten mit entsprechender Facharzt-
qualifizierung durchgeführt werden dürfen.
VI. Befristung
Das Gesetz sollte befristet werden, um zu zeigen, dass zum einen die Dis-
kussion noch nicht abgeschlossen ist und die Entwicklung beobachtet wer-
den soll und zum anderen der Gesetzgeber für Änderungen noch offen bleibt
und dem Wandel der religiösen Anschauungen Rechnung trägt.175
E. Stellungnahme/ Fazit
Das aktuelle Gesetz zur Beschneidung in Form des § 1631d BGB weist also
einige deutliche Schwächen auf, die behoben werden müssen. Insbesondere 171 Rixen, NJW 2013, 257, 261. 172 BeckOK/ Eschelbach, § 223 Rn. 9.3; Krüper ZJS 2012, 547, 551. 173 BGHZ 144, 296, 305 f. 174 Walter, JZ 2012, 1110, 1114 f. 175 Walter, JZ 2012, 1110, 1117.
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führt die Abwägung der gegenüberstehenden Grundrechte zu einer Verfas-
sungswidrigkeit des Gesetzes.
Eine zumindest vorübergehende Lösung, die aber die Kompromissbereit-
schaft der Religionsgemeinschaften voraussetzt, bestünde also in dem Ge-
setzentwurf der Opposition, der zudem nach den Motiven differenzieren und
befristet werden müsste.
Demnach wären Beschneidungen nur aus religiösen Motiven zulässig, die
bei Kindern nicht unter 14 Jahren vorgenommen werden. Diese müssen da-
zu ihr Einverständnis erteilen und die Beschneidung selbst darf nur von ei-
nem Facharzt vorgenommen werden. Selbstverständlich muss auch weiter-
hin die Kindeswohlgefährdung als Grenze bestehen.