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Nanao Hayasaka Robert Musil und der genius loci

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Nanao Hayasaka

Robert Musil und der genius loci

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Nanao Hayasaka

Robert Musil und der genius loci

Die Lebensumstände des„Mannes ohne Eigenschaften“

Lektoriert von Dr. Josef Strutz

Wilhelm Fink

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung vom Grant-in-Aid for Publicationof Scientific Results von der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS)

Der Autor:Nanao Hayasaka wurde 1947 in Shiroishi/Nordostjapan geboren.

Studium der Germanistik an der Tokyo-Universität sowie an der Universität Klagenfurt als Stipendiat der Österreichischen Regierung, Gastforscher an der Wiener Universität, Vortragender am Internationalen Robert-Musil-

Sommerseminar Klagenfurt (seit 1982). 1993 zum Professor an der Chuo-Universität, Tokyo, berufen. Veröffentlichungen u. a. „Ulrich und die

Wirklichkeit“ (Fink, 1983), „Musil-Rezeption in Japan“ (P. Lang 2005) sowie japanische Übersetzungen von Musil-Essays (2003) und der

Musil-Biographie Karl Corinos (2009 bis ca. 2011).

Abbildungen auf dem Umschlag:Filzmoos im September.

Mitte: die Aussicht aus dem Zimmer der ehem. Wohnung der Fam. Musil in der Augustinergasse 10, Brünn/Brno.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die

Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier,

Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2011 Wilhelm Fink Verlag, München(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MünchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

E-Book ISBN 978-3-8467-5057-5ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5057-9

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Inhalt

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1. ROBERT MUSILS GROSSELTERN UND DAS SCHICKSAL DES PLACHELHOFES IN GRAZ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Aus den Tagebüchern von Aloisia Musil (15) · Mathias Musils Dissertation „De facie humana“ (21) · Die Ehe der Großel-tern (25) · Die Geschichte des Plachelhofs (30) · Musils Herkunft und Verwandtschaft (36) · Rychtářov (41) · Alois Musil und Robert Musil (43) · Noch einmal die Tagebücher von Aloisia Musil (46)

2. DAS SAMEKHAUS IN KLAGENFURT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Robert Musils Geburtsurkunde (55) · Elsa Musils Geburtsur-kunde (57) · Das Samekhaus (60) · Die Eltern (71) · St. Ru-precht (72) · Das Industriegelände (74)

3. DIE KASERNE GENERÁL ZAHÁLKY, DIE EHEMALIGE MILITÄR-OBERREALSCHULE MÄHRISCH-WEISSKIRCHEN ZU HRANICE („TÖRLESS“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Einleitung (79) · Die Gebäude der Kaserne (81) · Die Militär-schulerziehung (86) · Aus den Tagebüchern des Generals Noghi beim Besuch in Mährisch-Weißkirchen (1911) (88) · Die Stadt Hranice, früher Mährisch-Weißkirchen (90) · Drei Božena-

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6 INHALT

Häuser? (92) · Schluss. Was blieb vom Zöglingsleben in Mährisch-Weißkirchen noch später im Autor zurück? (94)

4. WOHNUNGEN DER FAMILIE MUSIL IN BRÜNN/BRNO – DAS HAUS IN DER TIVOLIGASSE UND DAS HAUS IN DER AUGUSTINERGASSE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

Das Haus in der Tivoligasse 29 (heute Jiráskova), Modell für Ul-richs Elternhaus (101) · Informationen zum Haus in der Tivoli-gasse 29 (107) · Besuch in der Wohnung der Familie Musil, Au-gustinergasse 10, Tür 9 (110) · Informationen zum Haus in der Augustinergasse 10 (heute Jaselská) (116) · Anhang. Die Woh-nung in der Augustinergasse 10, Tür 10 (Familie Donath) (120)

5. UMZÜGE DER FAMILIE MUSIL MIT DER FAMILIE DONATH IN BRÜNN/BRNO – EIN KAPITEL, DAS NICHT INTERESSIERTE

RUHIG ÜBERSCHLAGEN DÜRFEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Die Umzüge der Familien (121) · Anhang 1. Genaue Recherche der Umzüge der Familie Musil und der Familie Donath (127) · Anhang 2. Ergänzung der Dokumente durch Mgr. Flodrová (130)

6. BRÜNN UND UMGEBUNGEN – DIE WIRKUNGSSTÄTTE UND ZWEI FRÜHE TEXTE DES AUTORS . . . . . . . . . . . . . . . 133

Die Gebäude der Stadt Brünn/Brno (133) · Das Deutsche Haus und sein Schicksal (135) · Die Tätigkeit des Deutschen Hauses (144) · Kiritein (145) · Die Schwedenschanze (149) · Die „Zeile“ und das Industriegebiet Brünns (153) · Herma (Hermine) Dietz („Tonka“) (155) · Franzensberg (159) · Exkurs. Zwei frühe Texte Robert Musils (164)

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7INHALT

7. „EIN SÜSS OHNMÄCHTIGES BRENNEN“ IN FILZMOOS UND SCHLADMING – WAS WAR MUSILS „VALERIE-ERLEBNIS“?. . 177

Schladming (177) · Filzmoos (182) · Der Sieger eines Pseudo-kampfes (185)

8. ROBERT MUSIL IN BERLIN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Die erste Wohnung Robert Musils in Berlin (193) · Dokumente des Studenten Musil (196) · Das Haus in der Matthäikirch-straße 1 (198) · Robert Musils Logis in Berlin (200) · Das „Amsel-Haus“ in der Mommsenstraße 64, 4. Stock (205) · Das Th eater in der Stadt (Urauff ührung des Schauspiel „Die Schwärmer“) (210) · Lustspielhaus, Friedrichstraße 236 (Urauff ührung des „Vinzenz“) (222) · Das Renaissance-Th eater (225) · Pension Stern (229)

9. DAS VERZAUBERTE TAL – ROBERT MUSILS „GRIGIA“ UND PALÙ DEL FERSINA, DER SCHAUPLATZ DER NOVELLE . . . . 233

Vorsichtige Annäherung (233) · Die Kirche St. Maria Magdalena von Palai (Palù) (234) · Robert Musil in Palù del Fersina (237) · Das Fersental (Palù del Fersina) (242) · Gold, Silber, Stollen und Höhlen in Palai (Palù del Fersina) (245) · „Mocheno“ in der Sprachinsel Fersental (248) · Die „Kromeri“ (Krämer) im Fersen-tal (250)

10. DIE VILLA ISIDORA UND DAS SCHLOSS RUNKELSTEIN – SCHAUPLATZ DER „PORTUGIESIN“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

Die Villa Isidora (255) · Der Ort Gries und seine berühmten Gastautoren (262) · Bozen mit Hotel Laurin und Hotel Greif (265) · Schloss Runkelstein (Castel Roncolo) (268) · Die Fresken (272) · Eleonore von Portugal (1436-1467) (277) · Kaiser Maxi-milian I (1459-1519) (282) · Der „Kopfstand“ von Max auf dem Turm des Ulmer Münsters (288) · Die kleine Geisterkatze von Bozen (290)

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8 INHALT

11. „POMPEJANISCH ROT MIT TÜRKISCHEN VORHÄNGEN“ – ROBERT MUSIL IN SLOWENIEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Die Wohnung in Postojna/Adelsberg (293) · „Stellungskrieg im Abschnitt Descla-Prapotno“ (299) · Slowenisches Dorfbegräb-nis“ (303)

12. DIE „SCHLAUCHFÖRMIGE, DÜSTERE“ WOHNUNG IN DER RASUMOFSKYGASSE WIEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Der Grundriss (307) · Der Sanitärraum (312) · Die Besitzverhält-nisse und die Adresse (316) · Geschichte des Hauses und das Pa-lais Rasumofsky (318) · Das Palais Salm (320) · Der unsichtbare Garten (325) · Das Lager in der Dresdner Straße 26-28 (329)

13. DIE VILLA IN DER POUPONNIÈRE (GENÊVE) – „DAS ABENDLICHE GRÜNBLAU DES SALÈVE IST (…) UNBESCHREIBLICH“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Die Wohnung im Chemin des Grangettes 29 (333) · Die Woh-nung im Chemin des Clochettes 1 (1. April 1941 – 15. April 42) (345)

14. ZUSAMMENFASSUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

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Vorrede

Das Projekt „Robert Musil und der Genius loci“ ist ein substantieller Beitrag zur biographischen Musil-Forschung, wie wir sie aus der Feder von Adolf Frisé, Karl Dinklage, Marie-Louise Roth, Helmut Arntzen, Karl Corino, Sibylle Mulot, Roger Willemsen ua. kennen. Es widmet sich der deskriptiven Erfassung all jener Faktoren, welche die Lebens-geschichte und den Schaff ensprozess von Robert Musil beeinfl usst haben. Der Schwerpunkt des Buches, der auf den Wohn- und Arbeits-bedingungen des Dichters liegt, resultiert aus Recherchen und Th emen-stellungen, die Nanao Hayasakas Arbeit seit Jahrzehnten bestimmen. Bei diesen „Vermessungen“ von Musils Lebensumfeld wurden zahlrei-che bisher unbekannte Dokumente und Texte entdeckt, die ein schär-feres Licht auf die Entstehungsbedingungen von Musils Romanen, Novellen, Skizzen, Dramen und Essays werfen und es der Wissenschaft ermöglichen, einzelne Werke oder Teile des „Mannes ohne Eigenschaf-ten“ von einem anderen Standpunkt aus wahrzunehmen. Die Einbe-ziehung systematischer, in sich geschlossener Interpretationsverfahren (wie sie bei H. G. Pott 1984, 1993; W. Moser 1990; G. Meisel 1991; R. D. Precht 1996; A. Kümmel 2001; Villö Huszai 2002 ua. zu fi nden sind) stand nicht in der Absicht Hayasakas, ganz konträr, Musils „ohne Eigenschaften“-Modell verpfl ichtet auch den Biographen oder „Ideo-graphen“ zu einer ‚off enen hermeneutischen‘ Darstellung, die Musils ‚Werk- und Lebenstext‘ immer wieder als Denkimpuls aufnimmt, ihn als „Schreiben ohne Ende“(Manfred Moser, Wien 1991) interpretiert, oder als „Reise ohne Ende“, wie dies Egon Naganowski getan hat („Podróż Bez Konca“, Krákow 1980).

Diese Reise setzt in Graz ein, wo der „Plachelhof“, das Puntigamer Landgut von Musils Großvater (väterlicherseits), als eine Art Schnitt-stelle und als Treff punkt der Musil-Familie zu betrachten ist, ein Ort, der den noch nicht siebenjährigen Musil (die Familie lebte von 1882 bis Ende 1890 in Steyr, Oberösterreich, also nicht allzu weit von Graz) als ‚kleine Welt in sich‘ nachhaltig geprägt hat. Nicht zufällig verwen-det Musil später als Essayist das von seinem, aus Rychtářov in Mähren stammenden Großvater Mathias Musil abgeleitete Pseudonym „Mat-thias Rychtarschow“(M. R.). Des Großvaters Abschied vom Militär, wo er längere Zeit als Arzt gedient hatte, und sein Wechsel zum Beruf des Landmannes und Bauern war für Musils Konzept, „sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen“ (MoE Kap. I, 13) und für seine

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10 VORREDE

Kritik an festgefahrenen Lebensbahnen (Ein Mensch ohne Charakter, „Nachlass zu Lebzeiten“, ed. Aline Rosenbaum, Zürich, Humanitas 1936) zweifellos ein stark wirksames Vorbild, das sich in vielen seiner Konzepte und Th eoreme widerspiegelt. Manche Stationen der Musil-schen Werk- und Lebensreise besitzen solche (mehr oder weniger) ver-borgenen Korrespondenzen, deren Nachweis die geistigen Isothermen und Isotheren, sozusagen das ‚Klima des Schreibens‘ an den Tag bringt. In diesem Sinne ist die wissenschaftliche Deskription von Musils Alltag und Umwelt gleichsam eine ‚meteorologische Leiter‘, die es uns er-möglicht, einen Blick hinter die Mauer in den ‚Paradiesesgarten‘ (den „zartgrünen Filter der Gartenluft“) zu werfen, den Musil für seine Hauptfi guren Ulrich und Agathe im „Mann ohne Eigenschaften“ er-schrieben hat und mit dem die Gärten in Brünn/Brno, Berlin, Sistiana mare/Triest, Wien, Genf/Genêve oder am Semmering („Th alhof“/Rei-chenau) korrespondieren, sozusagen der „locus amoenus“, die erdhafte Physis für die in den „Heiligen Gesprächen“ (MoE II) sich ergehende Psyche. Musils unendliche Schrift, der sich wie ein Garten ausbreiten-de Text, erhält durch diese „Lokalisierung“ eine neue Dimension, die man als ‚Erfi ndung des bereits Bestehenden‘ umschreiben könnte, als Sichtbarmachung des Inneren von Zeit und Raum. Der „Mann ohne Eigenschaften“ als konsequent ‚mystischer Roman‘ fände so sein Pen-dant im Reellen, ein Resultat, das die hier vorliegende Untersuchung anstrebt.

DR. JOSEF STRUTZ, im Februar 2011

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Einleitung

In seinen Nachlassentwürfen „Die Zwillingsschwester“ beschreibt Ro-bert Musil (1880 – 1942) einen Zustand, der vom Geschwisterpaar Anders (= Ulrich) und Agathe durch ihr verändertes seelisches Poten-tial wahrgenommen wird.

Und weiter wurden sie gewahr, daß die begrenzenden Kräfte in ihnen sich gar nicht verloren, sondern in Wahrheit verkehrt hatten, und mit ihnen hatten sich alle Grenzen verkehrt. Sie bemerkten, daß sie gar nicht stumm geworden waren, sondern sprachen, aber sie wählten nicht Worte, sondern wurden von Worten erwählt; es regte sich kein Gedanke in ihnen, aber die ganze Welt war voll wundersamer Gedanken; sie vermeinten, daß sie und ebenso die Dinge nicht mehr einander abwehrende und verdrängende, geschlossene Körper seien, sondern geöff nete und verbundene Formen. Der Blick[,] welcher zeitlebens nur die kleinen Muster verfolgt, welche Dinge und Menschen auf dem ungeheuren Untergrund bilden, war mit einemmal umgekehrt worden, und der ungeheure Grund spielte mit den Gebilden des Lebens wie ein Ozean mit Streichhölzchen. (Robert Musil, Entwurf zur „Reise ins Paradies“, KA VII/9/162, GW I, 1657)

Bei Robert Musil bildet so ein grenzüberschreitendes Format als Ge-dankenexperiment zweifellos den Kern seiner herausragenden Dich-tung, die sowohl das bürgerliche Leben am Beginn des 20. Jahr-hunderts – bis in die ‚kleinsten Falten‘ der Seele – kritisch analysiert als auch nach der Möglichkeit sucht, anders zu leben. So ein überdi-mensionales Format bietet auch der Buddhismus in seiner Lehre, dass Miroku (Maitreya-Bodhisattva, d. h. Buddha in der Zukunft) in 5 670 000 000 Jahren wieder in der Welt erscheinen wird, um die Lebewesen zu erretten. Man müsste sich von den Raum-Zeit-Maßen des Alltags befreien, um zu so einem religiösen bzw. mythischen Zu-stand zu gelangen. Robert Musil scheint insofern bemüht gewesen zu sein, in seinem Werk die Zeit- und Ortskoordinaten zu vermeiden –

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12 EINLEITUNG

mit Ausnahme des Jahres 1913 im „Mann ohne Eigenschaften“, was wohl unvermeidlich war. Sogar seine Heimatstadt Brünn/Brno wird nur mit Sternchen („ …*“) genannt (GW I, 671), ganz im Gegensatz zu Th omas Manns Lübeck. Th omas Mann beschrieb „den Mühlen-wall und den Holstenwall“ („Tonio Kröger“) mit aller Anhänglichkeit und Nostalgie, was seine ‚Bürgerlichkeit mit dem biedermeierlichen Steißbein‘ bestätigt. Eine Ausnahme bei Musil bildet „Kakanien“ als Symbol des Gemeinwesens, in dem er lebt und das er in aller Breite und mit großer Einlässlichkeit beschreibt. Dabei wird jedoch der Be-griff „Österreich“ nur als ‚umgangssprachlicher‘ Ausdruck kolportiert (MoE, Kap. I, 8).

Es wurde wiederholt behauptet, dass bei Musil konkrete Erlebnisse samt Ortsnamen oder historischen Zeitpunkten nur zufälliges Material bzw. der Stoff ist, aus dem der Ingenieur – einem Plan folgend – sein Werk erschaff t. Das wird im Allgemeinen zutreff en. Jedoch triff t man im Werke Musils unverhoff t auf Eigennamen, wie St. Orsola, Schweden-schanze, Ballhausplatz, Ancona, Amiens … Wahrscheinlich trug Musil solche Eigennamen als strategische Koordinaten in seinen Texten ein. Es scheint einerseits beinahe unmöglich, eine Novelle oder einen Ro-man aus völlig anonymen, abstrakten Bestandteilen zu konstruieren. Auf der anderen Seite scheint jedes Werk Musils seine Einmaligkeit ei-ner Besonderheit der jeweiligen Lokalität zu verdanken. „Die Verwir-rungen des Zöglings Törleß“ wären ganz anders geworden, wenn die Erzählung nicht in Mährisch-Weißkirchen/Hranice, sondern etwa im Wiener Th eresianum gespielt hätte. Wie würde „Grigia“ aussehen, wenn sich die Erzählung nicht in Mòcheni, ohne Sprachinsel und Berg-werksstollen, ereignete? Azwei in der „Amsel“ musste die Geräusche des „Berliner Hinterhofes“ hören und nicht jene eines Wiener Hinter-hauses. Die „Portugiesin“ musste vom „pfaublaue(n) Meer“ ins deutsch-sprachige Südtirol, zur steilen Festung der Herren von Ketten/delle Ca-tene gereist sein. Die Lokalität, der genius loci im Sinne des Naturgeists als einer zeugenden Kraft1, trägt bei Musil vieles bei – nicht als Bestand-teil der heimatlichen Erzählung oder im volkstümlichen Interesse, son-dern als eine Besonderheit, welche die außergewöhnliche Situation um den jeweiligen ‚Helden‘ konstituiert, damit er nach und nach zu seinem ‚Erlebnis‘ (‚Zustand‘) gelangt. Die Stoff e sind freilich zufällig und aus-tauschbar, es ist der Geist, der destilliert bleibt. Aber das Aroma, das von den Stoff en leise liegen bleibt, gehört dem Spiritus an, da in den Stoff en (wie in Epochen und Baustilen) bereits Geist enthalten ist. In diesem Sinne scheint Musil seine Sujets ganz sorgfältig ausgewählt zu haben.

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13EINLEITUNG

So erscheint es durchaus sinnvoll, die Realien, die konkreten Hin-tergründe zu recherchieren, die für Musil Baustoff , aber noch kein Kunstwerk waren. Das erkenntnisleitende Interesse ist vorwiegend biographisch, die Methode beinahe durchgängig positivistisch. Es gilt, Primärquellen zu fi nden, um zu vermeiden, dass aus dem Hören-sagen Leseerlebnisse konstruiert werden, was in der Forschung mit-unter der Fall ist. Die hier vorliegende Rekonstruktion lässt genügend Spielraum für andere (etwa werkimmanente) Interpretationen oder hermeneutische Analysen von Musils Werk. Man wird jedoch sehen, dass die Kenntnis der Realien vielen Spekulationen entgegenwirkt. Manchmal ergibt sich, dass eine ‚sonderbare Textur‘ keine imaginä-re, von Musil erstellte Textwelt darstellt, sondern die objektive Be-schreibung der ihm bekannten Realien ist. So kann man sich danach besser auf das Kunstwerk, auf den Kern von Musils Dichtung kon-zentrieren.

Es wird auch evident, dass ein positivistisches Verfahren allein noch zu keinem Ergebnis führt. Durch die minutiöse Betrachtung des Ge-genstandes wird man zu einer bestimmten Hypothese hingeleitet, die durch Assoziation und Phantasie bestätigt wird und zu weiteren Re-cherchen führt. Der Zusammenklang von Akribie, freier Assoziation und analytischem Entwurf ermöglicht eine fundierte Interpretation und somit substantielle Erkenntnisse.

Den Ariadnefaden bot Karl Corinos Buch „Robert Musil, eine Bio-graphie“. Parallel zu seiner Übertragung ins Japanische erfolgte die er-gänzende biographische Recherche. Über wiederholte Verbesserungen der (insgesamt von elf Kollegen mitbetreuten) Übersetzung lernte der Verfasser den Text von Corino zum Teil auswendig, so dass er sich bei jedem faktischen Detail des entsprechenden Hinweises bei Corino ent-sann. Die hier vorgelegte Arbeit soll freilich nicht den Umfang der Musil-Biographie von Karl Corino erreichen, möchte jedoch seine Un-tersuchungen weiterführen und damit zum Austausch der internatio-nalen wissenschaftlichen Arbeit beitragen.

Es ist zu wünschen, dass durch diese Reise auf den kleinsten Spuren Musils, die sich vom böhmischen Richtářov, dem Ursprungsort der Familie Musil, bis Genêve, der letzten Station Musils, erstreckt, dem Leser Musils Werk zugänglicher wird und sich ihm die Möglichkeit eröff net, das Leben und Schaff en des Dichters im größeren Maßstab nachvollziehen zu können.

NANAO HAYASAKA, Tokyo, November 2010

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1. Robert Musils Großeltern und das Schicksal des Plachelhofes in Graz

Aus den Tagebüchern von Aloisia Musil

6[.] Nov. Heute erhielten wir die frohe Nachricht[,] daß Alfreds Frau ihn mit einem Buberl beglückt; Gott gebe dem neuen Enkel Gedeihen. (Tagebuch von Aloisia Musil von 1878 bis 1881, S. 34)

Mit diesen Worten vermerkte Aloisia Musil, geborene Haglauer (17.1.1814 – 17.9.1893), die Groß mutter Robert Musils, im Jahre 1880 in ihrem Tagebuch die Geburt des späteren Schriftstellers und Autors des „Mannes ohne Eigenschaften“.

Es war ein reiner Zufall, dass der Verfasser im Jahre 1995 von einer „Nichte“ Robert Musils Kenntnis erhielt. Frau Ernestine Merwart, geb. Musil (8.11.1910 Wien – 30. 10.1998 Wien) ist die Großenkelin von Mathias Musil,1 Robert Musils Großvater. Ihr Vater, Dr. jur. Ru-dolf Musil (13. Dez. 1883 Klösterle/Arlberg − 29. Sept. 1958 Wien VI.) war eines der vier Kinder von Richard Musil (1848–1931, Graz), dem jüngeren Bruder von Robert Musils Vater Alfred Musil. Ernestine Merwart war also Robert Musils Cousine zweiten Grades.

Sie hat Robert Musil persönlich nicht gekannt. Aber von ihr sind außer den Tagebüchern von Aloisia Musil auch der Stammbaum, die Geburtsurkunden vieler Familienmitglieder, die Dissertation von Ma-thias Musil „DE FACIE HUMANA“, dessen Testament sowie vieleFotos und andere Dokumente in gutem Zustand aufbewahrt worden.2 Übermittelt wurden sie ihr von Hermine Schuch (1872–1962), der Tochter von Hermine Geyer, geb. Musil (Robert Musils Cousine).

In diesem Kapitel werden vor allem die jüngst aufgefundenen Mate-rialien vorgestellt, die ein neues Licht auf das Leben und Werk Robert Musils werfen. Dabei wird auch versucht, mögliche Merkmale und Ei-genschaften zu fi nden, die Robert Musil mit seinem „guten, lieben“

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16 1. MUSILS GROSSELTERN UND DAS SCHICKSAL DES PLACHELHOFES

Großvater (EM 2. 28), seiner „herzensguten“ Großmutter und auch dem Vetter zweiten Grades, Alois Musil, verbinden.

Als Aloisia Musil am 6. November 1880 jenen oben zitierten Satz in ihr Tagebuch eintrug, lebte sie mit ihrem Mann Dr. med. Mathias Mu-sil (10. Feb. 1806 – 8. Okt. 1889) in Graz. Er hatte im Jahre 1850, als 44jähriger, seinen Beruf als Regimentsarzt und Chefarzt im Hauptspi-tal aufgegeben und in Graz-Puntigam ein Bauerngut (den Plachelhof) gekauft.3

Seit ihrer Trauung im Januar 1838 (EM 17) hatten Mathias und Aloisia Musil fünf Kinder:

1. Rudolf (7. Dez. 1838 Salzburg – 16. Jan. 1922 Meran-Unter mais), Generalstabsoffi zier, geadelt 1890, Feldmarschalleutnant.

2. Viktor (20. Juli 1840 Salzburg – 2. Juni 1912 Graz), Buchhalter in Graz.

3. Hermine (30. Sept. 1842 Salzburg –20. Aug. 1925 Fronleiten), ver-heiratet mit Heinrich Geyer, Landesgerichtssekretär in Graz.

4. Alfred (10. Aug. 1846 Temesvár – 1. Okt. 1924 Brünn), Hofrat, o. ö. Professor der Deutschen Technischen Hochschule in Brünn (Ro-bert Musils Vater).

5. Richard (24. Okt. 1848 Graz – 1. Apr. 1931 Graz), Oberinge nieur bei den Staatsbahnen.

1. Porträt von Aloisia Musil,geb. Haglauer (EM 35).

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Im Tagebuch Aloisia Musils fi nden wir eine lebendige Beschreibungen des Alltags auf dem Plachelhof. Im Folgenden einige Auszüge daraus.

Ende September [1878] (…) Richard kam am Freitag v[origer] Woche von Paris zurück, um nun seine neue Lebensstellung anzutreten. Auch seine Zukunft ist noch unbestimmt. Denn als Assistent kann er nicht in die Länge bestehen u. vor der Hand ist keine Aussicht auf was Besseres – doch der Mann ist Herr seines Schicksals, besonders so lange er nicht Pfl ichten für [die] eigene Familie übernommen hat. 14. November [1878] Hermine hat sich gestern 1 Clavier gekauft um 340 Fr. bin froh, dass mehr Leben in ihre Räume kommt, da Heinrich seines Augenleidens wegen uns allen das Leben verbittert. 20. Nov. Erhalten 100 Fr. Vater [Mathias M.] für mich u. Familie zu Weihnacht. 22. Juni [1879] Heute war die Familie da u. waren alle ziem lich heiter. Den gestrigen Namenstag brachte ich bei Minka [Hermine] zu u. wurde reich beschenkt. Die Kleinen schrieben hübsche Wünsche u. machten mir viel Freude. Viki [Viktor] kam auch an. (EM 1.6.-1.16)

Auf diese Weise führte sie ihr Tagebuch, das vor allem ein landwirtschaft-liches Notizbuch war, in dem häufi g vom Düngen, Dreschen der Saaten, der Anzahl der Hühnereier usw. die Rede ist. Uns interessieren aber ins-besondere ihre Bemerkungen über Familienmitglieder. Öfter erwähnt sie

2. Seite 34 des Tagebuchs von Aloisia Musil.

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Minka (Hermine), ihre einzige Tochter, Heinrich (Geyer), ihren Schwie-gersohn, der wegen seines Augenleidens häufi g Sorgen verur sachte, Ri-chard, Viktor und Rudolf, manchmal (aber überraschend selten) auch Alfred Musil, der in diesen Jahren berufl ich stark gefordert war. Vom 9. November 1879 stammt eine der raren Eintragungen zu Musils Vater:

Alfred ist jetzt in Hamburg, seine Frau in Wien. (EM 1, 20)

Alfred Musil war wieder einmal auf Forschungsreise, deshalb hielt sich „seine Frau“, wie Aloisia ihre Schwiegertochter nennt, in Wien, viel-leicht bei Verwandten auf. Man sollte kein Problem dahinter vermu-ten, der Satz deutet allerdings auch an, dass etwas nicht ganz in Ord-nung gewesen wäre. Gab es noch einen anderen Grund, dass Aloisia Musil ihre Schwiegertochter, Alfreds Gattin, „seine Frau“ nannte, je-doch niemals „Hermine“ oder „meine Schwiegertochter Hermine“? In ihrem Tagebuch gibt es nur wenige Bemerkungen über Hermine Mu-sil, geborene Bergauer, Robert Musils Mutter. Nach Weihnachten des Jahres 1880 trug Aloisia ins Tagebuch ein:

28. Dezember: Nun sind auch Weihnachten glücklich vorüber gegan-gen. Gottlob ist alles ziemlich gesund, auch Vaters Husten ist besser. Wir waren diesmal allein, da keiner der Söhne kommen konnte (…) Alfreds Buberl, das leidend war − wahrscheinlich aus Mangel an Nahrung − er-holt sich auch wieder, weil ihm endlich Kuhmilch gegeben wird, was ich schon so lange als zweckdienlich anrieth. Der gute Rudolf u. Richard haben wieder wie voriges Jahr reiche Spenden gegeben, Minka hat mich auch mit Gaben überhäuft, kurz ich u. alle waren reich bedacht, die Kleinen überglücklich (…) (EM 1, 35 f., Hervorhebung v. Verf.)

Von Alfred und Viktor kamen keine Gaben. Da Viktor „es nicht zu einem einträglichen Beruf gebracht hatte“ (LWW 189), konnte er für die Eltern wohl nicht sehr viel tun. Viktor besuchte dafür sehr oft seine Mutter am Krankenbett (sie litt an Katarrh und später an Rheumatis-mus), meistens gemeinsam mit Richard.

Aus den Tagebüchern Aloisia Musils können wir keine allzu enge Beziehung zwischen Musils Großeltern und Eltern ableiten. Ob es eher an der Persönlichkeit Alfreds lag oder an der Hermines, ist nicht zu sagen. Vielleicht erklärt es die Tatsache, dass Alfred Musil als Maschi-nenbautechniker und Autor von Fachbüchern sehr beschäftigt war und sich auch als erster der Söhne verheiratet hatte, während die anderen Brüder sich in allem mehr Zeit ließen.4

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Wir haben erfahren, dass Robert im Dezember 1880 kränklich war. Eine Woche später, und noch drei Monate danach, notierte die Groß-mutter Folgendes über den kleinen Robert:

4. Jan. 1881. (…) Den Söhnen geht es gut, auch Fredis Buberl besser (…)5 21. März 1881 (…) Von den Söhnen u. Enkerl Robi gottlob gute Nach-richten, bis gegen End. d.[es] M.[onates] erwarten wir den Besuch un-seres lieben Richards. (EM 1,37-39, Hervorhebung durch den Verf.)

Robert war also seit den ersten Lebensmonaten „leidend“. Anderthalb Jahre danach fi nden wir die lang gesuchte Bestätigung, dass Musil als Kind immer wieder für längere Zeit in Graz gewesen ist. Es ist dies eine der heiteren und zukunftsfrohen Stellen im Tagebuch der Großmutter:

Nov. 1882. (…) Alfred u. Familie war 3 Wochen hier mit dem lieben Enkel Robi, der unser Aller Liebling wurde. Alfred hat das Glück nun Direktor der Versuchs- etz. Anstalt in Stadt Steyr zu sein (…) (EM 1, 55, Hervorhebung durch den Verf.)

Auf diese Stellen beschränken sich die Erwähnungen Robert Musils in Aloisias Tagebuch. Nach Karl Dinklage soll Robert „selbst Kindertage auf dem Plachelhof zugebracht und auch später gelegentlich im großelter lichen Hause in der Glacisstraße 61“ gewesen sein (LWW 189 f.). Die Familie Mathias Musils verließ den Plachelhof im Mai 1887, um den Lebensabend in Graz zu verbringen.6 Bis zum Tode von Mathias Musil (9. Okt. 1889) waren es noch etwa zweieinhalb Jahre.

Sei brav und fl eißig; Talent und gute Zeugnisse besitzt du ja. So unge-fähr lehrte Großvater M[athias]. Eine Ausnahme bei diesem (oder nicht) das harte Verhalten zu Viktor. (T I, 963)

Diese berühmte Aussage des Großvaters galt also seinen vier Kindern. Großvater Mathias lehrte aber wohl sicher den kleinen Robert Ähn-liches, wie Karl Dinklage schrieb (LWW 190). Es ist allerdings fraglich, ob Rob ert Musil selbst dem Großvater viele gute Zeugnisse vorweisen konnte. Er besuchte im Herbst 1886 die 1. Klasse der Volksschule an der Promenade in Steyr und litt von Januar bis Juli 1889 an einer Ner-ven- und Gehirnkrankheit (AZ 77f.). Robert Musil vermochte also nur bis Ende des Sommerhalbjahres des 2. Jahrganges dem Großvater „gute Zeugnisse“ vorzulegen, die normalerweise auch noch keine allzu gro-

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ßen Versprechen enthalten. Allerdings war Robert Musil zu dieser Zeit wohl der einzige Junge, mit dem Mathias als Opa und als ehemaliger Landwirt ruhig plaudern konnte.7

Dass Robert Musil später das Pseudonym „Matthias Rychtarschow“ wählte,8 beweist aber seine besondere, ‚sentimentale‘ Verbindung zum Großvater, dessen Tod den knapp Neunjährigen tief getroff en haben muss.

Man hat mir in meiner Kindheit u Jugend oft gesagt: du bist wie dein Großvater (vaterseits)! das hieß: eigensinnig, energisch, auch erfolgreich, schwer umgänglich, u. doch mit einem Unterton der Achtung gesagt (…) Ich habe es immer gern gehört. Solche Kindern gemachte Bemer-kungen sind wichtig; ungreifbar, werden sie zu Leitsternen, stärken die Eigenliebe auf fruchtbare Art usw. (T I, 936)

Bisher war es aber „nie ins Einzelne verfolgt, erklärt u. beurteilt“ wor-den (T I, 936), in welchen Merkmalen Robert Musil dem Großvater ähnlich war.

Wie Karl Dinklage schreibt, erschien Robert Musil an seinen Eltern und Großeltern einiges bemerkenswert. „(…) die Areligiosität, der Akatholizismus, den schon die Großeltern zeigten (…)“ (LWW 190). Bei seinem Vater Alfred war diese Areligiosität sehr deutlich zu beob-achten. Robert Musils Vermutung könnte wohl zutreff en:

„Viell. auch eine Art Vertrag zwischen der weicheren Mutter u. dem von Darwin beeindruckten Vater.“ (T I, 963)

Aloisia Musil war gar nicht areligiös,9 vom Darwinismus Mathias Musils wird später die Rede sein. Aloisia betete im Tagebuch immer zu Gott, für ihre Kinder, Enkelinnen und Enkel, und für ihren Mann. Häufi g ge-brauchte Worte, wie „Gottlob“ oder „Gott gebe, dass“, klingen weniger phrasenhaft als natürlich und ernsthaft, was wohl von ihrer Herzensgüte zeugt. Als Rudolf Musil als Offi zier nach Bosnien fuhr, schrieb sie:

10. Okt. ’80. (…) Rudolf wird heute in Mostar angelangt sein, Gott gebe, dass er die Kriege gut überstünd, mir ist recht bange um ihn. Der liebe Gott weiß, ob u. wann ich ihn wiedersehe. (EM 1. 32)

Am 1. Januar 1885 schrieb sie ein Gedicht im Tone Mörikes oder auch Heines. Nach dem Satz, „Was wird das neue Jahr uns bringen? Wird unsere traurige Zeit endlich ein Ende nehmen?“, heißt es:

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(…) doch will ich gottvertrauend in die Zukunft blicken, der Allgütige weiß ja, was mir u. den Meinigen heilsam ist!

Sei was du willst, o fremdes Jahr: Gott wacht um mich u. meine Lieben, Rauscht in der Zukunft mir Gefahr? Wird Kummer meine Stunde trüben?

Wie, oder strahlt mein besserer Stern, Wird mich des Glückes Zufall heben? Gleichviel! Ihr Sorgen, bleibet fern, Was gut ist, wird mein Gott mir geben. (EM 2, 10f.)

Mathias Musils Dissertation „De facie humana“

Mathias Musil hat seine 32-seitige Dissertation im Februar 1835, mit 29 Jahren, veröff entlicht.10 Er war damals medizinischer Assistent an der Klinik der Josephinischen Akademie und der Bürgerlichen Medi-zin-Chirurgie in Wien. Sein Doktorvater war Dr. Stephan Schroff von der Josephinischen Akademie (EM 11, 2). Das Th ema ist das Gesicht, die Physiognomie des Menschen. Die Dissertation ist wie folgt aufge-baut:

1. Section prima. [der erste Teil] De characteribus faciei constanti bus [Von den beständigen Charakteren des Gesichtes] § 1 ~ § 18

2. Sectio altera.[der zweite Teil] De characteribus Faciei mobili bus. [Von dem Charakter des beweglichen Gesichtes.] § 19~ § 25

3. Cautelae in aestimanda facie observandae. [Vorsicht beim Schätzen der beobachteten Gesichter.] § 26. 1-6

4. Prosoposcopia generalis. [Die allgemeine Betrachtung des Gesichts] A. Vultus. [Gesichtszüge] B. (Ablichtung fehlt) C. Motus musculorum Faciei. [Die muskuläre Bewegung des Ge-

sichtes] D. Volumen Faciei. [Die Krümmung des Gesichtes] E. Color Faciei. [Die Farben des Gesichtes] F. Temperatura Faciei. [Die Temperatur des Gesichtes] G. Effi orescentiae in Facie. [Die Hautausschläge im Gesichte] 5. Th eses defendendae. [Th esen zur Verteidigung] I. ~ XVI.

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Eine fachliche Bewertung der Dissertation ist den Medizinhistori kern zu überlassen. In unserem Zusammenhang erweist sich folgende Stelle als interessant. Auf Seite 13f. bespricht Mathias Musil den „angulus facies“, d.h. den Winkel des Gesichtes, sehr präzise.

§ 15. Supra, § 3., faciem in duas disjunximus partes (Vorhin, im Kapitel 3, haben wir das Gesicht in zwei Teile getrennt et evicimus, quod, quem admodum pars superior prominet, und bewiesen, dass, in dem Maße wie der obere Teil hervorragt, inferior pari semper passu recedit. Huic soli facto der untere Teil zurückbleibt. Auf dieser Tatsache allein innititur angulus facialis Camperi, beruht nach Camper der Gesichts-Winkel, quem facit linea per porum acusticum welchen die Linie, gezogen von der Ohrenhöhle ad marginem narium infi mmam ducta – linea horizontalis – bis zum untersten Rand der Nasenlöcher – die horizontale Linie –, cum altera linea maximam frontis prominentiam mit der anderen Linie bildet, den höchsten Vorsprung der Stirn et insimul dentes invisivos superiores und zugleich die unsichtbaren oberen Zähne in fi ne eorum superiori tangente – linea facialis (.)

3. Porträt von Dr. med. Mathias Musil, gemalt von Zoma in Venedig (s. LWW 187). (EM 35)

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in der Spitze berührend – die Gesichtslinie(.) J. Cloquet priorem lineam horizontalem ad J. Cloquet schreibt vor, die erste horizontale Linie bis inferiorem marginem dentium incisorum zum unteren Rand der geschnittenen Zähne usque ducere praecipit; uterque ergo, sumto pro idea hindurch zu ziehen; beides also, als Ideal angulo recto, prominentiam frontis relate vom rechten Winkel vorgestellt, vermisst den Vorsprung der Stirn ad illam maxillae superioris mensurus. Hac ratione bis zum oberen Kiefer. In dieser Ansicht mensuravit Camperus diversas calvarias et obtinuit angulum hat Camper verschiedene Schädel gemessen und den Winkel erhalten in cranio simiae 58 grad. ad summum im Schädel der Simia 58 Grad höchstens in cranio Aethiopis 70 grad. ad summum im Schädel des Äthiopiers 70 Grad höchstens in cranio Europei 80 grad. ad summum im Schädel des Europäers 80 Grad höchstens in statuis Graecorum et Romanorum 90 grad. et ultra. in den griechischen und römischen Statuen 90 Grad und mehr.

4. Erste Seite der Dissertation von Mathias Musil.

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Diese ausführliche Darstellung erinnert an die Beschreibung, welche Robert Musil am 11. Januar 1914 in seinem Tagebuch über den Indus-triellen und späteren Politiker Walter Rathenau (den „Arnheim“ im „Mann ohne Eigenschaften“) notierte:

„Etwas Negroides im Schädel. Phönikisches. Stirn und vorderes Schä-deldach bilden ein Kugelsegment, dann steigt der Schädel – hinter einer kleinen Senkung, einem Stoß – rückwärts empor. Die Linie Kinnspitze-weitestes Hinten des Schädels steht beinahe unter 45° zur Horizontalen, was durch einen kleinen Spitzbart (der kaum als Bart sondern als Kinn wirkt) noch verstärkt wird. Kleine kühne gebogene Nase. Auseinander-gebogene Lippen. Ich weiß nicht, wie Hannibal aussah, aber ich dachte an ihn.“ (T I, 295)

Hier handelt es sich vielleicht nur um Ausdrucksähnlichkeiten, die bei der Beschreibung eines Gesichtes wohl unumgänglich sind. Aber ge-braucht man normalerweise einen Ausdruck wie „die Linie Kinnspitze − weitestes Hinten des Schädels“ und lässt man diese Linie mit der „Horizontalen“ einen Winkel bilden, wenn man das Gesicht von Wal-ter Rathenau beschreibt? Musil hatte wohl schon vom „angulus facies“ gehört, deshalb war er auf das Kinn und auf den Winkel aufmerksam geworden. Er verfuhr nahezu medizinisch-geometrisch. Die Beschrei-bung rundet er mit einem Blick auf Hannibal ab, worin man ebenfalls etwas Typisches für Robert Musil erkennt. Die Anlage zum naturwis-senschaftlichen Verfahren hat er sicher vom Großvater Mathias und seinem Vater Alfred übernommen. Die andere Seite, die humanistische Tendenz und die Gefühlsneigungen, glaubte Robert von seiner Mutter Hermine Musil erhalten zu haben. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass er einige dieser Tendenzen auch der Großmutter väterlicherseits, Aloisia Musil, verdankt.

Das Zitat der vergleichenden Arbeit von Peter Camper erinnert uns an die Evolutionslehre Darwins, obgleich der erstere − nach der Mei-nung eines Sachkundigen − mit der Evolutionslehre wenig zu tun hat-te, die erst im Jahre 1859 veröff entlicht wurde. Es gab vor Darwin au-ßer Camper verschiedene Naturwissenschaftler, die uns auf Stufen bzw. Übergänge in der Natur aufmerksam gemacht haben. Gerade im Zeit-alter der großen Schiff fahrt und der Naturerforschung lagen (Musil beschreibt es im „MoE“) die neuen Gedan ken halb fertig in der Luft, wie etwa auch die Evolutionslehre. Deshalb muss Mathias Musil „von Darwin beeindruckt“ gewesen sein (T I, 963), als er später, als Militär-arzt und Physiologe, von seiner Th eorie erfuhr.

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Wir wissen nicht, ob oder wieweit Dr. med. Mathias Musil „areli-giös“ oder „akatholisch“ war. Das waren sicherlich − soweit wir es durch Robert Musil erfahren − die Eltern des Schriftstellers, die „nicht an die Weiter existenz“ glaubten, die sich nicht traditionell bestatten ließen, sondern deren Asche verstreut wurde (T I, 629f.). Alfred Musil kannte „keine Todesfurcht“ und war „ganz ohne Glauben.“ (T I, 911) Es fragt sich, ob Alfred Musil diese Tendenz unter dem Einfl uss des Vaters mit seinen Geschwistern gemeinsam hatte. Aus den Quellen können wir nur sagen, dass sowohl Aloisia wie Mathias Musil am Gra-zer Friedhof St. Peter bestattet wurden, und dass man sowohl Rudolf als auch Richard im feierlichen Ritus beerdigte.11 In seinem Testament schrieb Mathias selbst: „Gottes Segen walte über Euch“ (EM 25), was nicht nach Atheismus klingt. Vermutlich hatten diese Tendenz nur die Eltern Robert Musils, die vielleicht dem kleinen Robert gegenüber ihre Haltung auf eine gewisse säkulare Linie in der Familie zurückführten. Robert Musil selber versuchte später die Atmosphäre im Haus der Großeltern zu erahnen: „Vielleicht herrschte eine Art Th eismus, eine Art Gut- und Ordentlichsein; vielleicht auch eine Scheu, viel von Gott zu sprechen (…)“ (T I, 963).

Mathias Musil konnte die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft verstehen. Er war wohl frei von Konventionen.

Die Ehe der Großeltern

Mathias Musil war im Februar 1835 zum Doktor der Medizin promo-viert worden, zwei Jahre darauf heiratete er Aloisia Haglauer. „Das Sitten-Zeugnis von Fräulein Aloisia Th eresia Haglauer“ (EM 12) und die „Einwilligung des Vaters von Aloisia Haglauer“ (EM 13) sind mit dem 18. Sept. 1837 datiert. Inzwischen war Mathias Musil von 17. Februar 1835 bis 15. August 1836 dem 6. Dragoner-Regiment zuge-teilt (damals in Podiebrad/Poděbrady stationiert). Er wurde per 16. Au-gust 1836 zum Infanterie-Regiment nach Salzburg transferiert.12 Zum Zeitpunkt des Heiratsantrags war er „wirklicher Oberarzt“ des dritten Bataillons von Groß-Herzog von Baden Linien Infanterie Regiment No. 59 zu Salzburg (EM 13,14). Aloisia Musil war, soviel wir wissen, das einzige Kind von Josef Haglauer (17.03.1778 Ungarisch-Hradisch, Mähren–27.04.1844 Salzburg) und Anna, geb. Kovarczik (1779 Chru-dien–30.10.1836 Salzburg),13 sie wurde am 17. 01. 1814 in Schuschitz/Sušice in Böhmen geboren, ihr Vater war „Courir vom Haupt Feldspi-

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tal Nr. 3“.14 Dessen Vater, ebenfalls Josef Haglauer, war Soldat in Hra-disch,15 seine Mutter trug den Namen Jacobena (EM 20). Ansonsten fanden sich über seine Frau und Eltern keine Dokumente. 1818 wurde Josef Haglauer zum Infanterie-Rgt. 59 nach Salzburg transferiert. Alo-isia wohnte daher seit ihrem vierten Lebensjahre in Salzburg. Sie lernte u. a. Klavier spielen.16 Seit dem Tode ihrer Mutter hat sie sich wahr-scheinlich um den Haushalt gekümmert, was aber nur ein knappes Jahr (bis zur Trauung 23. Januar 1838) dauern konnte (EM 16). Seit Mitte August 1836, zwei Monate vor dem Tod der Mutter, war Dr. med. Mathias Musil in Salzburg ansässig. Es ist gut möglich, dass Hauptmann Rechnungsführer Josef Haglauer, der wohl schon lange mit dem Wesen des Feldspitals vertraut war, den jungen Arzt früh ken-nengelernt und seiner Familie zugeführt hat. Möglicherweise unter-suchte Dr. Musil ihre Mutter Anna, quasi seine Landsmännin, im Krankenbett. Sie litt an Luftröhrenschwindsucht (EM 21).

Es wäre für Musilforscher wohl von Interesse, welche Formalitäten Dr. med. Mathias als Oberfeldarzt des „löbl. k. k. Regiments“ erfüllen musste. Bei Ernestine Merwart sind außer dem oben genannten „Sit-ten-Zeugnis von Aloisia“17 und der „Einwilligung des Vaters“18 noch das Heiratsgesuch von „Dr. Musil Oberarzt an das Regiments Com-mando“ [19. Sept.], die Heirats-Bewilligung von Regiments-Com-mando zu Innsbruck [30.Okt.] (EM 13-14) und die Widmungs-Ur-kunde von Math. Rud. Musil [11. Nov. 1837] aufbewahrt.

Laut Widmungs=Urkunde musste er beim Regiment eine Kaution von 3.000 Fr. hinterlegen.19 Woher die Mittel für diese ‚Staatsschuld-verschreibung‘ vom 1. Mai 1831, als er noch Medizinstudent oder As-sistent war, kamen, muss ungeklärt bleiben. Es ist nicht ausgeschlos-sen, dass Josef Haglauer, der als Rechnungsführer mit solchen Formalitäten vertraut war, seinen Schwiegersohn durch die Mitgift unterstützte.20 Denn laut „Anzeigezettel zur Zählung der Bevölkerung und der wichtigsten häuslichen Nutzthiere nach dem Stande vom 31. Dezember 1880“ bestand der Haupterwerb Aloisias darin, „Mitbe-sitzerin“ (des Hauses und Gutes) zu sein.21 Die Vermutung Robert Musils, dass seines Großvaters Vermögen von Aloisia stamme (T I, 963), wird wohl damit bestätigt.

Die Handschrift von Josef Haglauer in der „Einwilligung des Vaters von Aloisia Haglauer“ sieht verworren, zittrig aus, er musste schließlich die einzige Tochter ziehen lassen. Die Geburt zweier Enkel (Rudolf 1838, Viktor 1840) und einer Enkelin (Hermine 30.09.1842 Salz-burg) durfte er noch erleben. Mathias Musil wurde schon am 16. Au-gust 1842 zum 21. Infanterie Regiment von Baron Paumgarten trans-

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feriert22. Die schwangere Aloisia blieb in Salzburg, während der Oberarzt Dr. Musil ohne Familie am Arbeitsplatz lebte. Man weiß nicht, wie lange noch das getrenntes Leben dauerte. Im Jahre 1844 starb Josef Haglauer und wurde auf dem Salzburger Friedhof St. Sebas-tian begraben.23 Mathias Musil diente als Regimentsarzt (01.10. 1845) 1846 in Temesvár und 1848 in Graz (KC 63). Dementsprechend wur-de Alfred 1846 in Temesvár, Richard 1848 in Graz geboren.Bis 11. Mai 1849 war Mathias Musil Chefarzt im Hauptspital zu Cone-gliano gewesen (EM 19). Es ist schwer vorstellbar, dass er in der Kriegs-zeit seine Familie mitnahm. Seine Frau Aloisia blieb vermutlich mit fünf Kindern in Graz, wohin er als zweite Heimat zurückkam. Mathias Musil hatte sich bei Beginn seines Studiums (1829) verpfl ichtet, nach Abschluss (1835) 15 Jahre Dienst zu tun. Diese Frist endete 1850 (KC 64). Er wurde „auf eigenes Ansuchen“ per 30.04.1850 entlassen.24 Ma-thias Musil bekam die 1837 erlegte Heiratskaution mit Zinsen zurück (KC 65). Der große Unterschied in den Beträgen (Heiratskaution 3000fr., Plachelhof 20.600 Gulden) könnte sich zum Teil aus der Infl a-tion aber auch durch die Berechnung mit Conventions-Münze (CM) oder Wiener Währung (WW) ergeben.25 Er war als Landwirt sehr spar-sam, so wie er sich etwa auch im Testament als ‚geizig‘ bezeichnete.26

Unter dem 20. 11. 1878 und dem 22. 11. 1880 ist im Tagebuch vermerkt, dass Aloisia Musil von Mathias für sich und die Familie für Weihnachten 100 Fr. erhielt (EM 1. 7, 34). Hier einige Passagen aus dem Tagebuch:

3. April. [1879] Richards Namenstag . (…) Ich gebe ihm 1 Cravate (sic), 1 Hosenträger u. 1 P(aa)r Handschuh, Vater 1 Piquet Gilet. Minka [Hermine] 1 Lampenschirm, Federwischer, Zündhölzlgestell u. schöne Zahnstocher. 10. April. [1879] Trübes Regenwetter. (…) Lilli [Dienstmäd chen] als Hochzeitsgabe Ö(h)l geschenkt. Vater 5 Fl in Silber. 21. April. Heute hatte Lilli ihre Hochzeit – ich werde sie wohl vermis-sen, da ich durch 7 Jahre an sie gewöhnt war. (EM 1, 12-14)

Laut Testament gab Mathias Musil dem zweiten Sohn Viktor als Präle-gat 1,000 Gulden (LWW 189). Andererseits versagte er es dem Schwie-gersohn Heinrich Geyer, das Erbe anzutreten. Das stimmt einigerma-ßen mit der Angabe Robert Musils überein, dass sein „Vater [Alfred] und seine Brüder (…) auf ihr väterliches Erbteil verzichtet“ hatten, „um die Mitgift ihrer Schwester zu vergrößern.“ (T I, 922) Dem Schwiegersohn war also schon vorher ausreichend Geld gegeben wor-

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28 1. MUSILS GROSSELTERN UND DAS SCHICKSAL DES PLACHELHOFES

den (28. Dez. 1869).27 1887, mit 81 Jahren, nach 37 Jahren landwirt-schaftlicher Arbeit, verkaufte schließlich Dr. Mathias Musil den Pla-chelhof für 40,000 Gulden.

Als Landwirt scheint Mathias Musil gut bewandert gewesen zu sein.

Nach Vaters Ausspruch ist besser gegen Ende des abnehmenden Mon-des an zu säen, was Wurzeln erzeugt. Salat ist besser bei aufnehmendem Mond auch Kraut, alles was über der Erde anwachsen soll. [20t. Okt. 1880]Wieder die Unannehmlichkeit, dass Vater den Hausknecht Ludwig als Oberknecht abrichten muss, da der undankbare Johann ohne alle Ursa-che uns Anfangs Feb. verließ. Vater wollte ihn nicht zwingen, sein Jahr auszudienen, da unter den Umstän den nichts an ihm verloren ist. [1. März 1886] (EM 2, 21, 33)

5. Anzeigezettel vom Plachelhof bei der Volkszählung im Jahr 1880. s. Anm. 21

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291. MUSILS GROSSELTERN UND DAS SCHICKSAL DES PLACHELHOFES

Mathias Musil, der als erster Sohn des Franz Musil Chalupners [Klein-bauers] in Rychtářov (Rychtárschow) geboren und aufgewachsen war, kannte sich in der landwirtschaftlichen Arbeit also gut aus. Aloisia da-gegen, die seit ihrem vierten Lebensjahr in der Stadt Salzburg lebte, musste diese Arbeit mühevoll erlernen. Sie hatte auch die Knechte und Mägde des Hofes zu kontrollieren und zu versorgen. Laut „Anzeigezet-tel“ der Volkszählung von Graz (1880) gab es am Plachelhof neun „im Jahreslohne“ bezahlte Bedienstete; fünf Männer und vier Frauen, die zwischen 18 und 34 Jahre alt waren. Auch die Größe des Hofes war nicht unbeträchtlich: Als „Nutsthiere“ wurden damals ein Wallach, 14 Kühe und 4 Ochsen gemeldet.28

„Nach der Familienüberlieferung“ hat Dr. Mathias Musil eine „Musterwirtschaft“ besessen (LWW 188). Wenn wir das Tagebuch sei-ner Frau lesen, wissen wir, wie schwierig und aufwendig die Landwirt-schaft war. Laut ihren Aufzeichnungen regnete es sehr oft.

Im Garten sieht’s schon traurig aus, wir haben noch Kohl u. Kraut drau-ßen. Wintersalat ist versetzt so wie Spinat u. Rapunzl angesät. Burgun-der Rüben werden ausgenommen, Kürbis eingeführt u. gefüttert, Boh-nen geklaubt, sind aber noch ganz zu dreschen draussen. Hühner mausern, legen höchstens 4-5 Eier. Behalte diesmal 10 Jungerl – dann habe 24 Kapaune. [20. Okt. 1880] (EM 1, 33)

Außerdem wurden „Kukuruz“, „Erdäpfel“, Rüben, Beeren, Pfl aumen, Weizen, Gerste, Hafer, Endivien, Petersil, „Zwifl “, Schalotten, Kohlra-bi usw. gezüchtet, Öl wurde gepresst. Die Mauer stürzte ein oder ihr Pferd traf plötzlich der Schlag (EM 2, 17). Der Hagel schadete dem Korn u. Weizen sehr [11. Aug. ’81]. Immer wieder wurde gestohlen: Kapaune u. viele alte Hühner [3. Nov. 1878], Mehldiebstahl [2. Nov. ’81], alles Schmalz [18. Jan. ’82], 24 Hühner [12. Apr. ’82] usw. Aloi-sia registrierte sorgsam die tägliche Feldarbeit. Manchmal klagte sie über die schlechte Ernte.

Da dies Jahr noch so viel Schaden brachte, so kommen wir mit der Ein-nahme herab, und müssen das wenige Ersparte zusetzen. Traurig im ho-hen Alter! Dazu Sorgen u. Ärger bei der Wirtschaft genug. [Nov. 1886] (EM 2, 22)

Mathias Musil sagte es seiner Frau nicht, als er am 25. Januar 1887 überraschend den Plachelhof verkaufte. Erst eine Woche später erfuhr Aloisia davon. Sie vermerkt trotzdem, „wir haben den Hof verkauft“:

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30 1. MUSILS GROSSELTERN UND DAS SCHICKSAL DES PLACHELHOFES

Ein großes unerwartetes Ereignis, wir haben den Hof verkauft, von Heute an geht er in des neuen Eigentümers Hr. Weidingers Hand über. [1. Feb. 1887] (EM 2, 24)

Aloisia war nicht traurig, sondern eher froh, endlich von der Feldarbeit und den Sorgen befreit zu sein. Das Ehepaar zog in die Stadtmitte von Graz, Glacisstraße 61, 2. Stock, wo es in Ruhe leben konnte. Ende Ja-nuar 1888 feierten die beiden die Goldene Hochzeit.

Am 23. feierten wir unsren goldnen Hochzeitstag nur im engsten Fami-lienkreis: alle Kinder waren um uns versammelt u. die lieben Enkelin-nen, da die kleinen Buben von Alfred u. Rich[ard] noch zu jung sind um Th eil an der Freude zu nehmen. (EM 2, 25f.)

Im Oktober 1889 starb Mathias Musil im 84. Lebensjahr.

Welch bitteren Schmerz hat mir u. uns das verfl ossene Jahr gebracht! Mein guter lieber Mann hat mich verlassen. Am 5. Okt. schlummerte er schmerzlos hinüber − er ließ mich allein − doch bei meinem hohen Alter werde ich ihm bald nachfolgen. (…) meinem Mann konnte ich alles klagen, alles mit ihm besprechen, wofür ja jüngere Leute keinen Sinn haben − die alte Großmutter stößt mit ihren Ansichten überall an u. das kränkt oft. (EM 2, 28f.)

Die Geschichte des Plachelhofes

Auf dem Stadtplan des Jahres 1825 ist der „Plachelhof“ klar zu erkennen. Er befi ndet sich südwestlich vom Stadtzentrum Graz, der steiermärki-schen Landeshauptstadt. Die Mur fl ießt hier von Norden (Bruck/Mur) nach Süden (Slowenien). Ihr südwestliches Ufer heißt „Gries“. Westlich von der Mur bis zum Gebirge hin erstreckt sich das Grazer Feld. Zwi-schen Gries und Grazer Feld liegt der Plachelhof. In einigem Abstand zu ihm befanden sich ein Pulverturm, ein Laboratorium, eine Geschirrfab-rik und ein Strafhaus. Die Umgebung hatte Vorstadtcharakter.

Der Stadtplan aus dem Jahr 1829 zeigt, wie der Hof angelegt war. Der östliche Teil des Hofes ist Wiese, wie sie heute noch als eine Park-anlage den Anwohnern zur Verfügung steht. Der südliche Teil, der fast die Hälfte des Gutes ausmacht, sieht aus wie ein französischer Garten. Das senkrechte Viereck am östlichen Rand des linken Geländes ist das

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