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Paradigmenwechsel übersehen. Eine Polemik gegen die Kunstorientierung der Kunstpädagogik Hamburg University Press Kunstpädagogische Positionen 19 Franz Billmayer

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Paradigmenwechsel übersehen. Eine Polemik gegen die Kunstorientierung der Kunstpädagogik

Hamburg University Press

Kunstpädagogische Positionen 19

Franz Billmayer

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EditorialGegenwärtig tritt die Koppelung von Kunst & Pädagogik,Kunstpädagogik, weniger durch systematische Gesamt-entwürfe in Erscheinung, als durch eine Vielzahl unter-schiedlicher Positionen, die aufeinander und auf die Geschichte des Faches unterschiedlich Bezug nehmen.Wir versuchen dieser Situation eine Darstellungsform zu geben.

Wir beginnen mit einer Reihe von kleinenPublikationen, in der Regel von Vorträgen, die an derUniversität Hamburg gehalten wurden in dem Bereich,den wir FuL (Forschungs- und Le[ ]rstelle. Kunst –Pädagogik – Psychoanalyse) genannt haben.

Im Rahmen der Bildung und Ausbildung von Stu-dierenden der Kunst & Pädagogik wollen wir Positionenzur Kenntnis bringen, die das Lehren, Lernen und die bildenden Effekte der Kunst konturieren helfen.

Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

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Franz BillmayerParadigmenwechsel übersehen. Eine Polemik gegen die Kunstorientierung der Kunstpädagogikhrsg. von Karl-Josef Pazzini,Andrea Sabisch, Wolfgang Legler,Torsten Meyer

Kunstpädagogische Positionen 19/2008Hamburg University Press

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Zunächst eine kleine GeschichteEnde der 1980er Jahre habe ich an der FachhochschuleWeihenstephan in Freising für angehende Landschafts-architektInnen ein Seminar zum Thema »Raum undFeuer« angeboten. An einem Nachmittag im Oktoberwaren wir in einem verwilderten Park zugange: die Stu-dierenden experimentierten mit Feuer, das sie mit ge-fundenen Ästen und Zweigen machten. Da traten zweiBuben im Alter von etwa 10 bis 12 Jahren aus dem Unter-holz, im Gürtel hatte jeder ein Schwert, auf dem Rückeneinen Bogen und in der Hand einen Speer, alles aus Hasel oder Weiden gefertigt. Sie starrten uns sprachloseine oder zwei Minuten an.

»Was macht Ihr denn da?« Sie beantworteten dieFrage auch gleich selbst: »Kunst oder was?« Damit zogensie beruhigt wieder ab ins Gebüsch.

Die Buben hatten also verstanden, worum es beimoderner Kunst geht …

AbsichtMich interessiert, wie wir Kinder und Jugendliche auf dieWelt der Bilder vorbereiten. Als »Kunst«lehrer interessiertmich, wie die »Kunst«pädagogik das macht, machen soll-te und machen könnte. »Kunst« in Anführungszeichen:Denn die Orientierung an der Kunst behindert diesesUnternehmen eher.

Die Skepsis gegenüber der Kunst als Gegenstandund Orientierungsdisziplin für das Schulfach Kunst istbei mir in den letzten Jahren immer größer geworden, sodass ich mittlerweile für mich den Satz von FranzBernstein akzeptieren muss: »Die schärfsten Kritiker derElche waren früher selber welche.«

Kunst existiert als (deutsche) Erfindung in Abhän-gigkeit vom Kunstsystem. Kunstwerke haben außerhalbdieses Systems keine eigene Existenz. Kunst, so wie wirsie heute kennen und in Ausstellungen sehen, ist dasErgebnis einer Anpassungsleistung an das Kunstsystem.

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Widerstand in der Kunstpädagogik und in der Kunst istwie die Kunst selbst eine Fiktion. Ich kenne keine isolier-bare Eigenschaft, die ausschließlich der Kunst zugespro-chen werden kann, außer der, dass sie im Kunstsystembehandelt wird. Das ist keine Eigenschaft, Kunst besitztin Form isolierter Werke keine eigene Identität.

Der gängige Ausweg aus diesem Dilemma ist zusagen: Kunst lässt sich nicht definieren … Überraschen-derweise hat daraus bisher kaum jemand den Schluss ge-zogen, dass es sie im essentialistischen Sinne nicht gibt.

Die Kunst spielt in der Welt der Kinder und Jugend-lichen und in der Welt der meisten Erwachsenen keineoder keine besondere Rolle. Es gibt auch keinen Nach-weis dafür, dass Menschen, die sich mit Kunst beschäf-tigen, glücklicher, gescheiter oder lebensklüger wären als andere.

Die Fachbezeichnung »Kunst« trifft schon langenicht mehr für das zu, was im Unterricht tatsächlich ge-macht wird. Und die Kunst als Bezugsdisziplin rückt Blick-weisen in den Fokus, die ich für wenig relevant halte.

Es gibt viele Bilder, nur verschwindend wenige werden als Kunst genutzt (Billmayer 2003).

Kunstorientierung verhindertWas verhindert die Orientierung an der Kunst? Schauenwir uns genauer das Kunst + Unterricht-Heft 298 zumThema Mode an. Es heißt »Kunst und Mode« und nähertsich dem Gegenstand mit einem Kunstblick. »Ist dochselbstverständlich«, sagt die community – ohne zu mer-ken, dass dies ein extrem enger Blick ist.

Im Modeheft zeigen genau zwei Abbildungen modisch gekleidete Jugendliche: »ausgeflippte« jungeJapanerInnen. Wenn der Alltag schon eine Rolle spielt,dann aber nur der exotische. Daneben gibt es viele Vorschläge, sich künstlerisch mit Kleidung und Mode zu beschäftigen. Das Künstlerische liegt vor allem imDilettieren und in der Unbrauchbarkeit, der Beliebigkeit

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und der schlampigen Ausführung der Entwürfe. »Harte«Designkriterien, die sich an der Funktion und Kommuni-kation von Kleidung orientieren, werden nicht aufge-stellt. Wo werden die Arbeiten landen? Wer wird siewann wegschmeißen?

Die Kunstpädagogik gefällt sich in ihrer Anti-haltung: Kleidung aus Papier oder aus Abfällen selbsthergestellt. Der Zwang zur originellen Praxis kommt vonder Kunstorientierung oder dem, was man als Möchte-gernkünstler dafür hält.

Was nicht behandelt wird: Kleidung als Zeichen,Kleider kaufen, Kleider probieren, Kleider kombinieren,Kleidung und Biografie, Kleidung und Geschlecht, Klei-dung und Situationen, Kleidung und Identität, Kleidungund Funktion, Kleidung und Gemeinschaft, H & M, Klei-dung und gesellschaftliche Stellung, Kleidung in Alltagund Freizeit, Uniformen, tragbare Kleidung usw. Beieinem Thema wie Mode, das nicht nur für die Jugend-lichen zentral ist, wäre es besser, im Unterricht nichtsPraktisches zu machen als derart ärmliche Arbeiten.

So wie die Kunst sich nach eigenen Angaben um dasAndere und das Besondere, das Nichtnormale (den Wider-stand) kümmert, so kümmert sich der Kunstunterrichtum das Un- oder Außergewöhnliche. Dadurch wird – allenanders gearteten Versicherungen zum Trotz – das Norma-le, das unser Leben wesentlich mehr bestimmt als das An-dere, weitgehend übersehen. In aktuellen Veröffentli-chungen zur Kunstpädagogik wird zwar regelmäßig mitder gesellschaftlich relevanten Bildkompetenz argumen-tiert, die Beispiele stammen allerdings fast ausschließlichaus der Kunst oder aus dem Bereich kunstinspirierterSchülerarbeiten (Bering, Kunibert und Heimann, Ulrich2004; Bering/Niehoff, Rolf 2005; Busse 2003).

Um es zusammenzufassen. Die Kunstorientierunghat Auswirkungen in zwei Richtungen:– Betonung der originellen gestalterischen Praxis – die

SchülerIn als KünstlerIn.

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– Aufmerksamkeit für das Besondere: Dies kommt einerproportionalen Umkehrung des Verhältnisses zwischenNetzhaut und blindem Fleck gleich.

Die Folgen dieser Blickverengung zeigen sich deutlich inaktuellen Bildungsplänen. Im Hamburger Rahmenplanfür die Grundschule heißt es:

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»1. Ziele des Unterrichts:

Das Fach bildende Kunst eröffnet Kindern einen wahrneh-

mungs- und gestaltungsbezogenen Zugang zu sich und

ihrer Welt. Indem Kinder darstellen und gestalten, verar-

beiten sie Gesehenes und Erlebtes. Sie machen Erfah-

rungen mit den Eigenschaften und Bearbeitungsmöglich-

keiten verschiedener Materialien, mit der Funktion und

Handhabung von Werkzeugen und sie lernen in der Aus-

einandersetzung mit der bildenden Kunst neue Gestal-

tungsmöglichkeiten und Sichtweisen kennen. Dabei

werden emotionale und sensomotorische Bedürfnisse

befriedigt und die Fantasietätigkeit und die Kreativität

der Kinder gefördert.

Der Unterricht regt zum Erkunden, Probieren, Erfinden

und Gestalten an, erweitert die bildnerischen Erfah-

rungen der Kinder und fördert ihre Sensibilität, die

Genussfähigkeit und das Urteilsvermögen im ästheti-

schen Bereich.

Die Kinder werden befähigt, ihrem Verständnis und

ihren Ausdrucksmöglichkeiten entsprechend bildnerisch

zu arbeiten, und sie lernen mit gestalteten Objekten

umzugehen.

Im Einzelnen heißt das:

– Der Kunstunterricht fördert den persönlichen

Ausdruck, […].

– Der Kunstunterricht fördert die Fähigkeit ästhetische

Produkte in Ruhe zu betrachten, genau hinzusehen, das

Ganze und die Teile aufeinander zu beziehen.

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Keine Rede von der kommunikativen Funktion von Bildern und Gestaltung, keine Rede von deren gesell-schaftlicher Rolle. Keine Rede von Unterhaltungsmedieno. ä. Der schaffende Künstler und der versunkene Kunst-betrachter haben hier offenbar Modell gestanden. Im-merhin heißt es etwas später:

»Gerade die Auseinandersetzung mit Medien ist einzentraler Inhalt des Kunstunterrichts. Zu ihnen gehörenneben den traditionellen Medien wie Geschichten undMärchen, Bildern und Bilderbüchern sowie Werken derbildenden Kunst auch die modernen Medien wie Filmund Fernsehen, Fotografie und Video und die computer-gestützten digitalen Medien.« (S. 9)

Ein aktuelles Beispiel aus einer anderen Ecke. In K + U302 / 303 stellt Hubert Sowa ein Unterrichtsprojekt zumZeichnen von Gebrauchsanweisungen vor und verteidigtes folgendermaßen:

»Es mag scheinen (und auch gleich zur Verurteilungführen): Derartige Zeichnungsübungen drängen jeglicheIndividualität und Emotionalität zurück, lassen keineSpielräume für Gestaltungsvorgänge, Inspiration, persön-liche Sichtweisen.« (S. 46)

Die Kunstorientierung behindert die Auseinander-setzung mit den »normalen« Bildern.

BegriffsverwirrungWelcher Kunstbegriff liegt dieser Kunstorientierung zugrunde? Kehren wir noch einmal zum Modeheft vonK + U 298 zurück.

Der Basisartikel geht sehr allgemein auf die Bedeu-tung der Mode für Kinder und Jugendliche ein: Kulturelleund semiotische Fragestellungen werden nur gestreift.

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– Der Kunstunterricht fördert das Bewusstsein darüber,

dass die Botschaft ästhetischer Produkte ganz wesentlich

von dessen Gestaltung abhängt.« (S. 5)

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Schon auf der zweiten Seite geht es um Kunst. Es heißt etwa:

»Mode ist dabei insofern als Teil einer visuellen,modernen Kunst zu begreifen‚ weil ihre formalen Verän-derungen diese Idee des Prozesses aus der Entfernungillustrieren, wie es andere moderne Kunst tut; sie istimmer eine Repräsentation […]. (Hollander 1997, S. 33)«(K + U 298, S. 5)

Mode wird hier dezidiert als Kunst verstanden. Dasgeht so: Der Kunst werden Funktionen und Methoden zu-geschrieben. Diese finden sich auch in der Mode, deshalbkann die Mode zur Kunst erklärt werden. Hier wird Kunsteher von der essentialistischen Seite verstanden. Es istgängige kunstpädagogische Praxis, Bereiche des Alltagsdurch die Verbindung mit Kunst zu adeln. Oder dient die-se Aussage dazu, wichtige Gegenstände im Rahmen desFaches »Kunst« mit einem entsprechenden Ambitions-niveau zu versehen, die ansonsten von der »Kunst«didak-tik als fachfremd ignoriert würden? Der Kunstcharakterals Werkzeug der Legitimierung von Unterrichtsinhalten?Was aber, wenn »die« Kunst ein wichtiges Thema zufällignicht behandelt?

Einige Sätze weiter heißt es dann: »Die Kunst öffnetsich der Mode gegenüber seit den frühen 80er-Jahren des20. Jahrhunderts mit Ausstellungen in den berühmtestenGalerien und Museen der Welt.« Hier wird mit einem in-stitutionellen Kunstbegriff operiert, und es wird gleichnoch die Aufgabe der Kunst aus Sicht der Künstler be-schrieben, »welche das Entwerfen von Kleidungsstückenals Gegenbewegung zu gängigen Modevorstellungen be-trachten«. – Kunst als der andere Standpunkt. – EinigeZeilen weiter wird vom bedeutenden Einfluss von Künst-lern auf die Mode berichtet.

Ein ganz normaler kunstpädagogischer Artikel,behaupte ich, mit zwei Kunstbegriffen: mit dem einenwird Kunst als Eigenschaft des Werks verstanden, mitdem anderen wird die Abhängigkeit der Kunst vomSystem benannt.

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Man kann mit Thomas Samuel Kuhn von einemästhetischen und einem institutionellen Paradigma spre-chen. Beide existieren fröhlich nebeneinander, obwohl sie sich widersprechen (vgl. Vilks 2001). Zur Erinnerung:Unter Paradigma versteht Kuhn ein Denkmuster, das dieSichtweise auf die Welt bestimmt.

Wie alle Wissensgebiete brauchen auch Schulfächereine Übereinkunft darüber, was ihr Gegenstand ist,und sie müssen unter den verwendeten Begriffen, dassel-be verstehen.

»In der Wissenschaft drohen aber terminologischeProbleme immer zur Ursache von Theorieproblemen zu werden. Denn wenn die grundlegenden Begriffe nicht stabil sind, dann kommt jedes Begriffssystem insWanken, das auf einem solchen Fundament aufbaut.«(Renner 2007, S. 19)

Ich möchte nun diese beiden Paradigmen kurz nebeneinander halten und dann unter der Fragestellungdieser Vortragsreihe »Widerstand« betrachten. (Dabeifolge ich vor allem dem Text von Lars Vilks, 2001). Wie kommt die Kunst dazu, sich selbst als widerständigzu verstehen?

Das ästhetische ParadigmaWie eingangs schon gesagt, ist die (moderne) Kunst zumgroßen Teil eine deutsche Erfindung. Obwohl die philo-sophischen Texte, die für die Herausbildung eines Kunst-begriffs entscheidend waren, in der Mehrheit recht kryp-tisch sind, hatte bisher keiner den Mut, sie als Unsinn auf sich beruhen zu lassen. Kant, Schiller u. a. werden bis heute gelesen und interpretiert. Vor allem die Tat-sache, dass Kunst von bedeutenden Autoritäten der Literatur und Philosophie behandelt wurde, hat dazu beigetragen, dass sie als wichtig betrachtet und an ent-sprechenden Orten behandelt wird und dass man sich ihr mit einer entsprechend unterwürfigen Haltung nähert(Ullrich 2004).

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Kunst ist im ästhetischen Paradigma eng verknüpftmit dem besonderen Kunstschönen. Die Schönheit ist dergemeinsame Nenner der verschiedenen Künste, die unterdem modernen Kunstbegriff zusammengefasst werden:Musik, Malerei, Literatur, Bildhauerei, Architektur, Tanz,Theater. Daneben spielt bald auch das Erhabene einewichtige Rolle. Die Eigenschaft »Kunst«, ihre Identität,findet sich im ästhetischen Paradigma in den Kunst-werken. Sie hat irgendetwas mit der Form zu tun undäußert sich ästhetisch, also in der Wahrnehmung. Dies istdas Entscheidende im ästhetischen Paradigma.

Kunst ist etwas Hohes (oder Tiefgründiges) undGeistiges, das analysiert und interpretiert werden kann,allerdings nie ganz und endgültig: ein Rest Geheimnisbleibt. Sie ist Ausdruck einer tieferen oder übersinnlichenWahrheit, die zu schaffen und zu formulieren das Genieim Stande ist. Durch Interpretation lässt sich diese Wahr-heit annäherungsweise gewinnen.

»Das spezifische Kunsterlebnis (das mit dem Werkdes Kunstgenies in Zusammenhang gebracht wird unddas im Werk liegt) wurde mit aller Wahrscheinlichkeitdurch die Etablierung des modernen Kunstbegriffs ge-schaffen. Das Erlebnis des Schönen, das früher eine Ange-legenheit des Kenners war, verwandelt sich in eine dyna-mische und romantische Erfahrung. Es handelt sich alsoum etwas, das sich aus der Institution Kunst (im moder-nen Sinn) entwickelt.« (Vilks 2001)

Dieses Erlebnis lässt sich auch an Werken machen,die vor der Etablierung des modernen Kunstbegriffs her-gestellt wurden, was zu dem Schluss führt, Kunst habe es schon immer gegeben. So wird der Kunstbegriff retro-aktiv angewendet. Die Geschichte der Malerei wird zur Kunstgeschichte, die Kunst (nicht etwa das Bilder-machen) zu einer anthropologischen Konstante. So istKunst » [… ] etwas, das an sich und außerhalb der Sphäredes menschlichen Bewusstseins existiert. Diese Ansichtwird immer noch vertreten, Malereien haben Qualitätenunabhängig von den Betrachtern, dies zeigt sich im

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Nachhinein an den vielen unerkannten Künstlern.« (Vilks2001) Die Frage »Was ist Kunst?« konnte vor diesem Hin-tergrund immer wieder diskutiert werden.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts kam diese Auffassungunter Druck: Die Forderung, dass Künstler innovativ seienund der Gesellschaft dienen sollten, führte zu einem Wi-derspruch zur Auffassung vom Schönen als einer beson-deren unabhängigen Qualität und Wahrheit. Wahrheitwurde im Laufe der Zeit durch Aktualität ersetzt. DieKunst wandte sich nicht mehr nur gegen die bürgerlicheGesellschaft, sondern zunehmend auch gegen sich selbstund damit früher oder später auch gegen das Ästhetische.

In der Pop Art wurden Themen zu Gegenständender Kunst, denen beim besten Willen keine geistige Tiefeund Transzendenz unterstellt werden konnte. Die Ober-flächen des Konsums und der Massenkommunikationwurden zu Kunstwerken, die Künstler – allen voran AndyWarhol – wurden nicht müde darauf hinzuweisen, dasses keine Tiefe in ihren Werken gäbe. Mit der fast gleich-zeitig auftretenden Minimal Art wurden banalste Formenund Materialien präsentiert, die Concept Art verabschie-dete sich gar vom real existierenden Werk.

Die Frage, was Kunst ist, ist seit dem beantwortet:Alles kann Kunst sein.

Damit hat Kunst ihre Identität verloren. Kunst istkeine Eigenschaft mehr, sondern eine Zuschreibung, unddiese macht das Kunstsystem. Niemand bestreitet heutediese Auffassung ernsthaft, wenn auch in den Formulie-rungen oft noch ein essentialistischer Blick durchschlägt.

Das institutionelle ParadigmaKunst ist das, was in der Kunstwelt (Danto) oder im Kunst-system (Luhmann) als solche akzeptiert und präsentiertwird. Nach wie vor genießt sie ein hohes Ansehen, sie giltals wichtig und das Kunstsystem verlangt, dass sie vonallen entsprechend ernst genommen wird (vgl. Demand,2007). Nachdem alles Kunst sein kann, auch das, was

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formalen Kriterien früher nicht entsprochen hätte, wirdKunst beliebig. Den Verlust an Relevanz, der sich darausergibt, versucht die Kunst in letzter Zeit auszugleichen,indem sie sich der Medien- und Sozialkritik widmet. Ausder unabhängigen Kunst des ästhetischen Paradigmaswird eine dienende, mehr oder weniger politische Kunst.Formale Fragestellungen treten zugunsten von wichtigenInhalten in den Hintergrund. Wer vor einer Videoinstalla-tion über eine Schiffskatastrophe von Bootflüchtlingenim Mittelmeer am Heiligen Abend formale Fragen disku-tiert, erscheint als inhuman. Kunstwerke sind sozialkri-tisch und dementsprechend Äußerungen zu außerkünst-lerischen Problemen. Wenn diese Probleme gelöst sind,dann haben die Werke ihren Zweck erfüllt: Kunstmuseenwerden so über kurz oder lang zu historischen Museen.

Die InstitutionKünstler, Sammler, Galeristen, Museumsleute, Ausstel-lungsmacher und Kritiker bilden das Kunstsystem. TomWolfe hat 1975 die Anzahl derjenigen, die in der bilden-den Kunst – ohne die Künstler – etwas zu sagen haben,die also bestimmen, was in der internationalen Kunst alssolche anerkannt wird, auf etwa 10.000 geschätzt. Wiranderen sind alle Zaungäste, die wie Touristen die ausge-suchte Kunst suchen und besuchen (Wolfe 1975, S. 27).

Das ästhetische Paradigma besteht neben dem institutionellen weiter, sie vermischen sich in der Argu-mentation und im Denken über Kunst. Allerdings habendie Vertreter des neueren institutionellen Paradigmas diegrößere Definitionsmacht.

BeispielNachdem einigermaßen klar ist, was das ästhetische unddas institutionelle Paradigma ist, ein Beispiel aus der»Kunstdidaktik« von Bering und Heimann (2004), daszeigt, wie das institutionelle Paradigma mit SchülerInnen

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funktioniert. Wie meine erste Geschichte spielt auchdiese im Wald.

Nachdem die Autoren feststellen, dass der Kunst-unterricht die Pluralität der Kunst zu akzeptieren hätte,wird an einen Unterrichtsbeispiel »der Umgang mit plu-ralen Erfahrungen« erläutert:

Einige Schülerinnen nehmen an einem Kunstevent»Coming out to nature art« des Kunstraum Ennepetal imSommer 2003 teil. Dabei legen sie offensichtlich eine ArtWeg mit Stöcken durch einen Buchenwald. Ihre Arbeitwird als gelungen bezeichnet. Sie kann sich durchausneben den Arbeiten der anderen teilnehmenden Künst-lerInnen aus Europa behaupten.

»Es [das Werk, F. B.] schlängelt sich aufwärts undabwärts zwischen etlichen Bäumen hindurch, überkreuztsich dabei und bildet ein geschlossenes System. Die vierjungen Künstlerinnen haben dieses Gebilde aus vielen, anOrt und Stelle gesammelten, möglichst geraden Ästenund Zweigen hergestellt. Den Weg, den es zurücklegt,haben sie dadurch bestimmt, dass zwei von ihnen mitverbundenen Augen an der derselben Stelle gleichzeitiglosgegangen sind und sich (mit etwas Hilfe) nach einergewissen Zeit wieder getroffen haben. So entstand einteils zufällig-planloser, teils gezielt herbeigeführterVerlauf.« (Bering und Heimann 2004, S. 96)

Schülerinnen als Künstlerinnen? Was haben sie dabei gelernt? Dass es möglich ist, ein Kunstprojekt ohneviel Anstrengung durchzuführen (Vilks/Schibli 2005,Kap. 5), dass alles Kunst sein kann, dass Kunst leicht zuverstehen ist?

Mission»Natürlich spiegelt […] die Kunst wider, was sich gesell-schaftlich tut. Aber damit ist nicht erschöpft, was Kunstgrundsätzlich ist. Sie war und ist […] immer auch gleich-zeitig Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen,«(Klaus Zehelein, Intendant der Stuttgarter Staatsoper,

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Süddeutsche Zeitung vom 17./18. Juni 2006). Wie kommtes zu dieser Idee des Widerstands?

In seinen Briefen »Über die ästhetische Erziehungdes Menschen« verfolgt Schiller Ziele der Aufklärung,»[…], sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mitdem Bau einer wahren politischen Freyheit zu beschäfti-gen.« (S. 9) Die Gesellschaft solle sich vom »Nothstaat«(der lediglich nach den Bedürfnissen begründet ist) hinzum »Vernunftstaat« (geleitet von Moral) entwickeln. Inseiner Gesellschaftsanalyse konstatiert er, dass seineZeitgenossen im Gegensatz zu den antiken Griechen ineiner entfremdeten Welt leben.

Die ursprüngliche ganzheitliche Gesellschaftsstruk-tur, die bei den alten Griechen ideal verwirklicht war,»machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, woaus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber leb-loser, Theile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. […] Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstückdes Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur alsBruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch desRades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie dieHarmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit inseiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruckseines Geschäfts, seiner Wissenschaft« (sechster Brief).Die Rettung aus diesem Dilemma sieht Schiller in derästhetischen Erziehung des Menschen.

Die Kunst hat damit die (alleinige) Verantwortungfür die Errichtung einer humanen Gesellschaft. Hier liegtder Grund für jene Erscheinung, die Christian Demand(2007) als »starken, utopischen Kulturbegriff« bezeich-net. Kultur in diesem Sinne ist die Summe künstlerischerÄußerungen, die den Anspruch erheben, für die ganze Ge-sellschaft und deren Belange zuständig zu sein. AnderenBereichen billigt man nur Teilaspekte zu.

Wie kann der Künstler und die Kunst, die für die gesamte Gesellschaft zuständig sind, mit Widerstand ver-knüpft werden? Ganz einfach: Die Gesellschaft als ganzelebt im falschen Bewusstsein. So ist es selbstverständlich,

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dass der Künstler und mit ihm die Kunst dazu in Opposition stehen müssen.

»Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aberschlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder garnoch ihr Günstling ist. Eine wohlthätige Gottheit reißeden Säugling bey Zeiten von seiner Mutter Brust, nähreihn mit der Milch eines besseren Alters [Zeitalters, F. B.],und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zurMündigkeit reifen. Wenn er dann Mann geworden ist, sokehre er, eine fremde Gestalt, in sein Jahrhundert zurück;aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen,sondern furchtbar wie Agamemnons Sohn, um es zu rei-nigen […] Hier aus dem reinen Äther seiner dämonischen[= göttlichen, F. B.] Natur rinnt die Quelle der Schönheitherab, unangesteckt von der Verderbniß der Geschlechterund Zeiten, welche tief unter ihr in trüben Strudeln sichwälzen.« (Neunter Brief)

Diese Mission ist auf das Genie angewiesen, das ankeine Gesetze gebunden ist, was sich daran zeigt, dassder Künstler geltende Regeln ignoriert und übertritt. BeiKlaus Zehelein klingt noch ein Schillersches Echo nach:

»Erst einmal wendet sich dieser Begriff [Verschwen-dung, F.B.] gegen die Durchrationalisierung unsererLebenswelt […] Was es zu bewahren gilt gegen die Un-menschlichkeit dieser Durchrationalisierung, ist genaudas, was ich als notwendigen Luxus bezeichne […] Damuss es eine Kraft geben […] die auf etwas anderes zieltals auf eine logische, verbindliche Kette von notwendigenLebenszusammenhängen […] Uns wird durch alles, wasuns umgibt, gesagt, dass wir nur leben, um zu konsumie-ren […] Was wir durch die Werke erfahren, ist, dass esetwas jenseits des Verbrauchens gibt, was uns tiefertrifft, dass etwas Unverbrauchtes spricht, das bis heuteAusdruck einer tiefen Verletzung ist […] Es ist dieser for-male Vorgang […] der Kunst grundsätzlich von demunterscheidet, was sonst Welt heißt. […] Das macht dieKunst zu einem unverzichtbaren Bestandteil vonLebenserfahrung« (SZ 17. / 18.6. 2006, S. 13)

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GeschichteNeben der Schönheit wird die Idee des Fortschritts in dieKunst eingebaut. Damit wird die Innovation ein wichtigerMotor. Der Künstler wird Teil der geistigen Avantgardeund muss sich notgedrungen im Widerstand zur jeweilsherrschenden Vorstellung und gegen die herrschendenWerte verhalten.

Das widerspricht der Idee der absoluten Schönheit,die man in der Aufklärung in der Kunst der Griechen ge-funden zu haben glaubte, und auch der Idee der unab-hängigen Wahrheit. Im Gegensatz zu anderen Bereichenhält man in der Kunst allerdings parallel dazu an der Ideeder unvergänglichen Schönheit fest. Die Meisterwerkeder Kunstgeschichte werden nicht durch neuere ver-drängt – wie etwa in der Wissenschaft neue Erkenntnisältere ersetzen, der Kanon wird einfach erweitert.

Die Idee ist ungefähr so: In den Meisterwerkenkommen tiefe Wahrheiten zur Erscheinung, die mandurch entsprechende Erlebnisse, Betrachtung und Deu-tung annäherungsweise erfassen kann; neben der ewi-gen Wahrheit kümmert sich die aktuelle Kunst um dieWahrheit, die in der jeweiligen Gegenwart sich manife-stiert. Die Künstler formulieren beides: den Zeitgeist unddie dauerhaften Wahrheiten.

Wenn die Wahrheit in der Aktualität liegt, dann fin-det sich noch mehr Wahrheit in der Zukunft. So ist es ver-ständlich, dass die Künstler danach streben, prophetischzu sein: Sie ahnen und formulieren etwas, das der ratio-nalen und begrifflichen Erkenntnis noch nicht zugänglichist. Schiller formuliert das schon am Ende des 18. Jahr-hunderts: »Ehe noch die Wahrheit ihr siegendes Licht indie Tiefen der Herzen sendet, fängt die Dichtungskraftihre Strahlen auf, und die Gipfel der Menschheit werdenglänzen, wenn noch feuchte Nacht in den Tälern liegt.«(Neunter Brief)

Der Zeit voraus zu sein, verlangt, sich gegen die Gegenwart zu stellen. Künstler des 19. und der erstenHälfte des 20. Jahrhunderts bekunden dies häufig ganz

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einfach durch eine unkonventionelle Lebensweise undausgefallene Kleidung. Der Künstler wird als mutig undheldenhaft konstruiert.

Von Seiten der Kunstkonsumenten ergibt sich dar-aus die Forderung, dass vor allem Kunst, mit der mannichts anfangen kann, die einen provoziert, die einemnicht gefällt, wichtig und angesagt ist.

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»Was schließlich erforderte mehr Mut, als ›die Zerstörung

von Werten gutzuheißen, die wir noch immer pflegen‹?

Die moderne Kunst […] entsteht immer aus der Angst‹.

Und nicht nur das. Seiner [des Kunstkritikers Steinberg,

F.B.] Meinung nach besteht die Funktion wirklich wertvol-

ler moderner Kunst genau darin, ›dem Betrachter diese

Angst zu vermitteln‹, so daß er bei ihrem Anblick in ein

›echt existentialistisches Dilemma‹ versetzt wird. Natür-

lich stimmte das im Grunde genommen mit Greenbergs

Aussage überein – ›jede wahrhaft originelle Kunst wirkt

auf den ersten Blick häßlich‹ – aber Steinberg verlieh dem

Gefühl größere Tiefe […] Steinberg setzte dem Ganzen

noch eins drauf, indem er gestand, ihm habe Johns Werk

anfangs nicht gefallen. Er hatte sich dagegen gewehrt. Er

hatte um seine alten Werte gekämpft – und dann erkannt,

daß er sich täuschte. Das wirkte wie eine Art Turbolenz-

theorem. Wenn ein Kunstwerk oder ein neuer Stil dem

Betrachter verstörte, handelte es sich vermutlich um eine

gute Arbeit. Und wenn er es nicht ausstehen konnte, war

es wahrscheinlich großartig.

Genauso entdeckte Robert Scull den Künstler Robert

De Maria. Scull ging eines Samstagnachmittags die

Madison Avenue hinunter und kam an einer Galerie vor-

bei, wo er einige fast blanke Zeichnungen sah. Er handel-

te sich um gerahmtes Zeichenpapier, und in einer Ecke

standen ein paar undeutliche Worte, die anscheinend von

einem Kranken mit einem so harten Bleistift geschrieben

worden waren, daß sie auf dem Papier fast nicht zu sehen

waren. ›Wasser, Wasser, Wasser […]‹ Scull verabscheute

diese Zeichnungen so sehr, daß er sofort den Künstler

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Die Widersprüche und Spannungen zwischen Schönheit,Wahrheit, Autonomie und Innovation können in derTheorie nur teilweise aufgehoben und erklärt werden.Allerdings: Wenn Systeme durch Kommunikation gebil-det werden, dann bieten gerade diese Widersprüchetreffliche Anlässe für Kommunikationsakte.

WiderstandIm Zuge des Missionsauftrages und der Verpflichtungzum Fortschritt fühlt die Kunst sich verantwortlich fürdie Gesellschaft. Die Gesellschaft ist seit Schiller undauch auf dem Hintergrund der Fortschrittsidee immerschon konservativ und im falschen Bewusstsein. DerKünstler muss also gegen sie opponieren.

Diese Opposition richtet sich bald nicht nur gegendie Gesellschaft sondern immer mehr gegen die in derKunst jeweils geltenden Vorstellungen. Die jeweils eta-blierte Kunst wird als besonders verabscheuungswürdigeManifestation des Bürgertums angesehen. Damit beginntlangsam aber sicher die Demontage der ästhetischenKunst. In der Kunstauffassung treffen seit jeher die Ideeder Ästhetik – früher hätte man gesagt der Schönheit –und die Idee der Freiheit des Künstlers aufeinander. DieFrage ist: Begrenzt die ästhetische Identität (Schönheit +Form) die Freiheit des Künstlers oder kann er sich über sie hinwegsetzen? Offensichtlich hat die Freiheit gesiegt.Künstler, die in der Minimal oder Concept Art das Ästhe-tische fast oder gänzlich hinter sich gelassen haben, be-hielten ihren Status als Künstler. Ihre Arbeiten wurden imKunstzusammenhang gezeigt und diskutiert.

Frühere Angriffe auf die Kunst, wie Dada und Sur-realismus, wurden von der Theorie als besondere Formendes Ästhetischen verstanden und erklärt. Auch die Kunst

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anrief und zu seinem Mäzen wurde. Das verschaffte

Walter De Maria seine erste Anerkennung als minimalisti-

scher Künstler.« (Wolfe 1992, S. 84)

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nach dem zweiten Weltkrieg wurde entsprechend alssehr avancierte Form des ästhetischen Paradigmas verstanden. Man denke etwa daran, wie Pop Art oderselbst der Fotorealismus als besonders flach verstan-den wurden, als autonome Malerei im Sinne Cézannes. So werden diese Arbeiten mit Müh und Not in das alteParadigma eingebaut, obwohl sie längst nicht mehr passen. (vgl. Wolfe 1975)

Dazu ist ein hoher theoretischer Aufwand nötig.Dieser nutzt durch die Verwendung einer sehr elaborier-ten, für viele schwer verständlichen Sprache dem Ansehen der Kunst.

Die Minimal Art gab zwar die ästhetische Seitenicht ganz auf, bestritt aber die geistige Komponente, diebisher für Kunstwerke entscheidend war. Mit der ConceptArt war klar, dass das Ästhetische nicht mehr als Identitätder Kunst herhalten konnte. Die Verquickung theoreti-scher Aussagen, Beschreibungen mit der Realisierungverabschiedete das Ästhetische endgültig. Alles konnteGegenstand eines Kunstprojekts sein.

Die Kunst ist Freiheit oder auch Beliebigkeit. DieFrage: »Was ist Kunst?« wird ersetzt durch die Frage:»Wozu ist Kunst gut?« Nach dem Verlust des ästheti-schen Wertes orientiert sie sich in Richtung Gesellschaft.Die Kunst macht sich – wie gesagt – nützlich, indem siesich der Medien- oder Sozialkritik widmet.

Kunst ist AnpassungKunst ist in jeder Beziehung von der Kunstwelt abhängig.Eine Identität oder ein wie auch immer gearteter Wertkann von außerhalb des Kunstsystems nicht gewonnenwerden. »Die Kunst ›gibt‹ es eigentlich nicht. Sie beruhtvöllig auf einer Übereinkunft und im Prinzip ist es derKunstwelt möglich, eine beliebige Bedeutung aufzubau-en, die sie der Kunst geben will« (Vilks). Die Kunst wirdaus Tradition immer noch als wertvoller und wichtigerBeitrag zum Wissen und zur Erkenntnis, zum Erleben und

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zur Erfahrung der Menschen betrachtet. Allerdings wirddas ziemlich allgemein und abstrakt behauptet – wie wir das im Interview des Stuttgarter Opernintendantengesehen haben. Nachweise lassen sich nicht erbringen.

Wenn die Kunst von der Kunstwelt abhängig ist,dann hängt ihre Qualität vom Erfolg in dieser Welt ab.Erfolg hat, wer sich den Regeln, die in dieser Welt herr-schen, anpassen kann. Grundlegend für Kunst sind vierKomponenten:1. unbestrittene Bedeutung der Kunst – Kunst handelt

von wichtigen und existenziellen Fragestellungen:Was ist das Leben? Was sind die Konditionen desMenschseins? Was ist wahr und richtig? Diese Fragen teilt sie mit der Wissenschaft und derReligion.

2. besonderes Verhältnis zwischen Sprachlichem und Nicht-Sprachlichem: die Kunst lässt sich bis zu einembestimmten Grade im Diskurs fassen, aber es bleibtimmer noch ein Erlebnis und ein nicht ganz aufgelö-stes Geheimnis zurück.

3. der Inhalt/aboutness (Danto 1991), Sozialkritik, Iden-tifizierbarkeit, Relevanz, Innovationsgrad, Referenzen(auf die Kunstgeschichte oder etwas anderes, was imKunstdiskurs relevant ist).

4. das soziale Netzwerk ist wertstiftend. Es ist die funk-tionelle Voraussetzung für Kunst.Wichtiger ist es z. B.,dass der Künstler von einem bestimmten Kritikerpositiv besprochen wird, als das, was dieser schreibt.Wichtiger als das, was man ausstellt, ist der Ort, andem man ausstellt.

Die Kunst, die wir in Ausstellungen und Kunstmagazinenzu sehen bekommen, ist das Ergebnis einer sozialen An-passungsleistung. Dass sie widerständig ist, ist lediglicheine Behauptung, die mit den Beobachtungen schwer zusammen passt:– Kunstsammler sind reiche Vertreter des Establishments.

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– Ausstellungsräume sind mit hochwertigen Materialienausstaffiert, entsprechen herrschenden Designmoden.

– Besucher verhalten sich auffallend konventionell undsind einheitlich schwarz gekleidet.

– Das Layout von Katalogen und Einladungskarten kom-muniziert Gediegenheit und Werthaltigkeit.

Alles erinnert an die Ästhetik von Edelboutiquen und Schi-ckimicki-Bars. So hat sich der Widerstand der Kunst ge-mäß dem Motto dieser Vortragsreihe als Mythos erwiesen.

SzeneDie Kunst hat ihren Anspruch auf universale Zuständig-keit nicht aufgegeben. Allerdings glaubt kaum jemandaußerhalb der Kunstwelt mehr an diese Mission, und es mehren sich die Zeichen, dass auch die Zweifel vielerBewohnerInnen der Kunstwelt wachsen. Demand (2007)vergleicht die Rhetorik der Kultur mit der des deutschenFußballbundes, wo das Heil der Welt im Fußball liegt.

Die Kunst hat den umfassenden Anspruch auf dieDefinition der Gesellschaft und Kultur längst verloren.Kunst wird damit zu einer Szene unter vielen, die ehervon der Sozial- als von der Kunstwissenschaft betreutwerden sollte. Ähnlich ließen sich Kunstwerke als Bilderunter vielen betrachten. Ein weiteres untrügliches Zei-chen: Kunstwissenschaften und Kunstgeschichte suchenintensiv nach Alternativen zu ihrem bisherigen Gegen-stand und werden in der Medientheorie und der neu insLeben gerufenen Bildwissenschaft fündig. Die Wissen-schaft einer Kunstszene sucht eine Verankerung in derWelt außerhalb der Szene.

Die Gesellschaft hat längst aufgehört, an die beson-dere Stellung der Kunst ernsthaft zu glauben. Kunsterzie-hung wird zurückgefahren und wohl nur noch aus Grün-den der Traditionspflege aufrechterhalten.

Einzelne Arbeiten in der Kunst können interessant,unterhaltsam, lehrreich, kritisch sein, genauso wie

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Gegenstände und Erscheinungen in der Medien- undFreizeitwelt. Weder die Gegenstände noch die Art, wieKunst die Gegenstände behandelt, können einen höherenErkenntniswert beanspruchen als andere Bereiche. Mankann im Gegenteil davon ausgehen, dass etwa die Wer-bung ein genaueres Bild über den momentanen Zustandder Kultur bietet als die Kunst, und der Tourismus eineumfassendere und intensivere »Erfahrung der Distanz«ermöglicht als irgendwelche Kunstwerke.

ParallelenWie sieht das nun bei der Kunstpädagogik aus? ZwischenKunst und Kunstpädagogik gibt es logischerweise paral-lele Entwicklungen und Denkmuster.

ErlösungAuch die Kunstpädagogik fühlt sich ganz im Sinne vonSchiller wie ihr Vorbild, die Kunst, für das Ganze beson-ders zuständig und verantwortlich. In vielen fachdidakti-schen Veröffentlichungen erscheinen die Kunsterziehungoder genauer deren Methoden als Garanten für die Ret-tung der Schule. Dabei dient man sich in den verschie-densten Problembereichen an: Integration von Einwan-dererkindern, Verbesserung der Lernleistungen hinsicht-lich PISA, Integration von verschiedenen Fächern (ähnlichwie bei Schiller wird die Schule als ein Bereich der sinnlo-sen Zerstückelung und Fachidiotie beschrieben), Schutzvor den schädlichen Wirkungen der Bilderflut, Steigerungder Kreativität, Verbesserung der Lernleistungen generell,ganzheitlicher multisensueller Zugang …

In der Kunstpädagogik war und ist das Behauptenvon Widerstand einfach, es funktioniert ungefähr nachfolgendem Muster: Die Schule versagt. Das Versagen der Schule muss an deren Methoden und Strukturen liegen. Wir haben andere Methoden, wir kritisieren dieSchule, also wenn die Schule sich nach uns richten

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würde, dann könnte sie besser oder vielleicht sogar gutwerden. Zum Glück ist die Kunstpädagogik so klein, dasssie nie wirklich den Beweis antreten musste. Und wenn …,dann würde sie sich sofort selbst kritisieren und so wie-der aus der Verantwortung ziehen … auch hier folgsamgegenüber der Kunst, deren Prinzip (bis vor kurzem) auchdas Spiel und damit die Verantwortungslosigkeit ist.Narrenfreiheit.

AlternativeÄhnlich wie die Kunst sich als Widerstand gegen denMainstream und die gängige bürgerliche Auffassung versteht, so versteht die Kunstpädagogik sich als andersund widerständig: Wo die anderen auf Anpassung, ein-seitige Betonung des Rationalen, Ausblenden des Kör-pers usw. setzen, da betont die Kunsterziehung dasErlebnis – gerne als ganzheitlich bezeichnet –, die ästhe-tische Rationalität, das Infragestellen des Diskursiven,die ästhetische Erfahrung …

Da ist sicher etwas dran, wenn wir die Kunstpä-dagogik mit den anderen Schulfächern vergleichen. Aber im Vergleich mit den Bildern, die unsere Freizeit be-stimmen, ist die oben beschriebene Kunsterziehung eherlangweiliger Mainstream. Diese Welt ist von Emotionen,sinnlichen Erlebnissen und einer betonten Körperlichkeitbestimmt. Damit kann Schulunterricht nicht konkurrie-ren. Wie die Kunst erweist sich auch die Kunstpädagogikals angepasst.

NormalfachWie die Kunst ihren umfassenden Anspruch aufgebenmuss und eine Szene unter vielen wird, so wird der Kunst-unterricht auch zunehmend als ein Schulfach unter ande-ren gesehen, mit spezieller Zuständigkeit, aber keinenumfassenden Verantwortungen und Ansprüchen.

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Konsequenzen

Ja-Nein EntscheidungBei der Kunst im ästhetischen Paradigma liegt die Quali-tät im Werk. Ein Kunstwerk kann auch ohne Publikum einMeisterwerk sein: Die Werke van Goghs waren, bevor sieauf den Dachböden entdeckt wurden, Kunstwerke, eben-so die Bilder von El Greco. So können auch Werke, die vom Kunstsystem nicht wahrgenommen werden, aberden entsprechenden ästhetischen Kriterien entsprechen,als Kunst verstanden werden. Bilder von Kindern und Geisteskranken sind zumindest in der Vergangenheit oftals Kunst bezeichnet worden – aufgrund ihrer formalenQualitäten. Der Kunstcharakter im ästhetischen Para-digma liegt in der (Form-)Qualität. Diese liegt zwischenden Polen »schlecht«, also keine Kunst, bis »heraus-ragend«, also Meisterwerk. So lässt sich etwa bei bild-nerischen Äußerungen eine mehr oder weniger großeNähe zu dem ausmachen, was ein Kunstwerk ist … etwaskann so gesehen kunstnah oder kunstähnlich sein. Aberim institutionellen Paradigma ist ein Werk entwederKunst oder nicht, es ist eine Ja-Nein-Entscheidung, diekeine Abstufungen kennt.

LegitimationIm institutionellen Paradigma ist Kunst abhängig vonÜbereinkünften eines sozialen Systems, das in seinenÜbereinkünften unabhängig ist. Kunst ist eine Glaubens-frage, die Gläubigen sind eine, wenn auch einflussreiche,Minderheit. Kunst ist ein gesellschaftlicher Teilbereichohne umfassende Geltung. So reicht es für die Kunstdi-daktik nicht mehr, in Fragen der Legitimation und der ver-handelten Gegenstände auf die Kunst zu verweisen.

Im ästhetischen Paradigma konnte man auf denVorwurf, Kunst sei nicht wirklich relevant, auf die unein-sichtige Masse, die im falschen Bewusstsein lebt, verwei-sen und darauf setzen, dass diese schon noch überzeugt

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werden könne. Aber seit wir wissen, dass Kunst einesoziale Übereinkunft ist, die jederzeit sich ändern kann,greift diese Argumentation nicht mehr.

Jedenfalls: Die Fachdidaktik muss deshalb jeweilsgenau benennen, was an der Kunst und den jeweiligenWerken für den Erwerb von Wissen und Bildung relevantist. Der Verweis auf die von der Kunstszene postulierteTiefendimension reicht nicht, denn diese lässt sich prin-zipiell auch allen anderen Erscheinungen unterstellen.Wenn die Kunst ihren automatisch gegebenen Wert ver-loren hat, dann muss sie sich nicht nur in der Kunstpä-dagogik gegen andere Gegenstände, an denen die obengenannten Fähigkeiten ebenso entwickelt werden kön-nen, behaupten. Der Verdacht, dass es für die einzelnenAufgaben andere, bessere Beispiele außerhalb der Kunstgibt, liegt auf der Hand.

Werbung, Mode, Fernsehprogramme usw. reagie-ren auf den Markt, sind damit aktueller und relevanter alsKunstwerke und spiegeln besser als diese den Zeitgeistwider. Ob sich Wahrnehmung nicht besser an verschiede-nen Varianten einer Layoutaufgabe als an einer Arbeitvon Thomas Demand schärfen lässt, ist nicht ausge-macht. Das meiste von dem, was die Kunstpädagogik fordert, macht der Tourismus besser.

Es reicht zu vermitteln, was Kunst im institutionel-len Paradigma ist. Wie wir an dem Beispiel der beiden Buben gesehen haben, ist es leicht zu verstehen, wieKunst funktioniert. Und die Mädchen, die im Buchenwald»Blinde Kuh« gespielt und den Weg mit Stöcken gelegthaben, zeigen, wie einfach sich Kunst im institutionellenParadigma machen lässt. Was Kunst ist, lässt sich in derOberstufe in einer oder zwei Doppelstunden vermitteln.

Kunstunterricht als Unterricht, der vermittelt, wiemit Kunst umgegangen werden kann/soll und was Kunstist, geht offensichtlich mit der Zeit sehr verschwende-risch um. Wenn KunstpädagogInnen regelmäßig die zugeringe Ausstattung mit Stunden beklagen, tun sie dasvielleicht mit Recht, weil sie institutionelle Kunst wie

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ästhetische behandeln und dieses Verfahren Zeit kostet:Wenn jedes einzelne Kunstwerk aufgrund seiner (ästheti-schen) Beschaffenheit erklärt und gerechtfertigt werdenmuss, dann nimmt das entsprechende Zeit in Anspruch.Kunst als (institutionelle) Gebrauchsregel ist dagegensehr leicht zu verstehen und zu vermitteln. Oder: Kunst-pädagogInnen betreiben eigentlich etwas anderes – etwaBild- oder Medienunterricht – und nennen es nur irrtüm-licherweise »Kunst«unterricht.

Kunstunterricht ist kein KunstunterrichtVor dem Hintergrund des institutionellen Paradigmas istKunstunterricht heute nur noch in Ausnahmefällen das,was er dem Namen nach zu sein vorgibt. Im Unterrichtwerden Bilder gemacht, mediale und semiotische Er-scheinungen untersucht und reflektiert, es werdenInformationen gestaltet und Techniken vermittelt underlernt … Auch die Bilder der Kunst werden vor allem alsBilder behandelt.

RettungDer Kunstunterricht kann sich, wenn das institutionelleParadigma gesehen und akzeptiert wird, endlich unver-krampft mit den Sachen befassen, die anstehen und diedie Schülerinnen und Schüler brauchen, ohne sich nochauf die Kunst im Speziellen beziehen zu müssen. Er kannseine trotzige Außenseiterposition aufgeben und die Ver-antwortung für die ganze Welt abschütteln.

Vortrag gehalten am 03.07.2006

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LiteraturBering, Kunibert; Heimann, Ulrich: Kunstdidaktik.Oberhausen 2004.Ders.; Niehoff, Rolf: Bilder – eine Herausforderung für dieBildung. Oberhausen 2005.Billmayer, Franz : »Schau’n ma mal«, Kunstwerke undandere Bilder. In BDK-Mitteilungen 4 / 2003, S. 2-4.Wolfe, Tom: Worte in Farbe. München 1992.Busse, Klaus-Peter: Kunstdidaktisches Handeln.Norderstedt 2003.Danto, A. C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen.Frankfurt a. M. 1991.Demand, Christian: Die Beschämung der Philister.Springe 2003.Ders.: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Für einen Aus-stieg aus der ästhetischen Apokalypse. In: BÖKWE1 / 2007, S. 25-30 (Vortrag gehalten am 05. Mai 2006 in Graz).Freie und Hansestadt Hamburg: Rahmenplan bildendeKunst, Bildungsplan Grundschule: Behörde für Bildungund Sport, Hamburg 2003. Siehe www.hamburger-bildungsserver.de/bildungsplaene 10.10.2008.Luhmann, N.: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997.Renner, K. N.: Fernsehjournalismus. Konstanz 2007.Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung desMenschen. Stuttgart 2005.Sowa, Hubert: Sachliche Bildsprachen. Gebrauchsanlei-tungen als zeichnerisches Verstehen von Realität. In:Kunst + Unterricht Heft 302 / 303, S. 43-46.Ullrich, Wolfgang: Tiefer hängen. (3. Aufl.) Berlin 2004.Vilks, L.; Schibli, M.: Hur man blir samtidskonstnär på tredagar. Nora 2005. (Titel lautet auf Deutsch: »Wie man indrei Tagen ein Gegenwartskünstler wird.«)Vilks, Lars: Gute Kunst 2001. Siehe http://www.moz.ac.at/user/billm/texte/others/lars-vilks-gute-kunst.pdf 1.9.2008.Wenrich, Rainer: Kunst und Mode – Basistext. In: Kunst +Unterricht 298, S. 4-9.

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Franz Billmayergeboren 1954 in Wartenberg /Oberbayern. ZunächstStudium der Germanistik, Geschichte und Politik an derUniversität München, dann Bildhauerei und Kunsterzie-hung an der Akademie der Bildenden Künste München,Kunsterzieher an verschiedenen bayerischen Gymnasien.1998-2003 Professor für Kunst und ihre Didaktik mit demSchwerpunkt Bildhauerei. Seit 2003 Professor für Bildne-rische Erziehung an der Universität Mozarteum, Salzburg.

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Bisher in dieser Reihe erschienen:

Ehmer, Hermann K.: Zwischen Kunst und Unterricht – Spots

einer widersprüchlichen wie hedonistischen Berufsbiografie.

Heft 1. 2003. ISBN 978-3-9808985-4-6

Hartwig, Helmut: Phantasieren – im Bildungsprozess?

Heft 2. 2004. ISBN 978-3-937816-03-6

Selle, Gert: Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten

Moderne? Über ein Kontinuitätsproblem didaktischen Denkens.

Heft 3. 2004. ISBN 978-3-937816-04-3

Wichelhaus, Barbara: Sonderpädagogische Aspekte der

Kunstpädagogik – Normalisierung, Integration und Differenz.

Heft 4. 2004. ISBN 978-3-937816-06-7

Buschkühle, Carl–Peter: Kunstpädagogen müssen Künstler sein.

Zum Konzept künstlerischer Bildung.

Heft 5. 2004. ISBN 978-3-937816-10-4

Legler, Wolfgang: Kunst und Kognition.

Heft 6. 2005. ISBN 978-3-937816-11-1

Sturm, Eva: Vom Schießen und vom Getroffen–Werden. Für

eine Kunstpädagogik »Von Kunst aus«.

Heft 7. 2005. ISBN 978-3-937816-12-8

Pazzini, Karl–Josef: Kann Didaktik Kunst und Pädagogik zu

einem Herz und einer Seele machen oder bleibt es bei ach

zwei Seelen in der Brust?

Heft 8. 2005. ISBN 978-3-937816-13-5

Puritz, Ulrich: nAcKT: Wie Modell und Zeichner im Aktsaal

verschwinden und was von ihnen übrig bleibt.

Heft 9. 2005. ISBN 978-3-937816-15-9

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Maset, Pierangelo : Ästhetische Operationen und

kunstpädagogische Mentalitäten.

Heft 10. 2005. ISBN 978-3-937816-20-3

Peters, Maria: Performative Handlungen und biografische

Spuren in Kunst und Pädagogik.

Heft 11. 2005. ISBN 978-3-937816-19-7

Balkenhol, Bernhard: art unrealized – künstlerische Praxis aus

dem Blickwinkel der Documenta11.

Heft 12. 2006. ISBN 978-3-937816-21-0

Jentzsch, Konrad: Brennpunkte und Entwicklungen

der Fachdiskussion.

Heft 13. 2006. ISBN 978-3-937816-32-6

Zacharias, Wolfgang: Vermessungen – Im Lauf der Zeit und in

subjektiver Verantwortung: Spannungen zwischen Kunst und

Pädagogik, Kultur und Bildung, Bilderwelten und Lebenswelten.

Heft 14. 2006. ISBN 978-3-937816-33-3

Busse, Klaus-Peter: Kunstpädagogische Situationen kartieren.

Heft 15. 2007. ISBN 978-3-937816-38-8

Rech, Peter: Bin ich ein erfolgreicher Kunstpädagoge, wenn ich

kein erfolgreicher Künstler bin?

Heft 16. 2007. ISBN 978-3-937816-39-5

Regel, Günther: Erinnerungen an Gunter Otto: Ästhetische

Rationalität – Schlüssel zum Kunstverständnis?

Heft 17. 2008. ISBN 978-3-937816-50-0.

Münte-Goussar, Stephan: Norm der Abweichung.

Über Kreativität.

Heft 18. 2008. ISBN 978-3-937816-51-7

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ImpressumBibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind imInternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kunstpädagogische PositionenISSN 1613-1339Herausgeber: Karl-Josef Pazzini, Andrea Sabisch,Wolfgang Legler, Torsten Meyer

Band 19ISBN 978-3-937816-57-9Bearbeitet von Katarina JurinDruck: Uni-PriMa, Hamburg© Hamburg University Press, Hamburg 2008http://sub.rrz.uni-hamburg.deRechtsträger: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky

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