rassismus und justiz

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Rassismus und Justiz Eine Veranstaltungsreihe des Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.

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Rassismus und Justiz

Eine Veranstaltungsreihe des Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.

Page 2: Rassismus und Justiz

ImpressumHerausgeberinnen: Angelina Weinbender, Iris Rajanayagam, Mahdis Azarmandi

Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.Oranienstr. 3410999 BerlinTel. 030 – 61658755Fax 030 – 61658756

Die Workshopreihe Rassismus&Justiz wurde gefördert von der Landeszentrale für politische Bildung

Titelbild: Bündnis Gegen Rassismus: http://buendnisgegenrassismus.org/

Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

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InhaltsverzeichnisRassismus und Justiz

l Vorwort 1 l Einleitung 4 l Workshop I: Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des «Beschneidungsurteils»

o Brauchen Richter_innen Fortbildungen zu Antirassismus? von Sanchita Basu 10 o Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des “Beschneidungsurteils” von Salih Alexander Wolter & Zülfukar Çetin 14

l Workshop II: Racial Profiling vor Gericht o Das Gesamtbild ist rassistisch - Rassismus und Justiz

von Biplab Basu und A.v.K. 18 o Initiative Schwarze Menschen in Deutschland mobilisiert gegen «Racial Profiling» von Tahir Della 22 l Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden. o Gemein, gefährlich, gesetzlos - Berlin-Neukölln im Spiegel der Medien von Sebastian Friedrich 26 o Der Intensivtäterdiskurs aus juristischer Sicht - Dethematisierung von Rassismus von Nadija Samour 35 l Workshop IV: «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt» o Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie/Islamfeindlichkeit. Eine vergleichende Einführung von Iman Attia 43 o «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt» von Eberhard Schulz 49 l Workshop V: «Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei Bewertung / Verurteilung von Straftaten» o Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei der Bewertung/ Verurteilung von Straftaten von Valentin Babuska 55 o Ein kritischer Gedanke zum Begriff Hasskriminalität von Maria Portugal 60

l Workshop VI: Was tun gegen Rassismus in der Justiz? - Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus

o «Die Zivilgesellschaft fordert mehr!» von Elena Brandalise 63 o Stellungnahme von Mbolo Yufanyi Movuh 70

l Sonderbeitrag des ADNB des TBB o Rassismus ist keine Meinung! Die Individualbeschwerde an den Anti-Rassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen als Instrument bei der Bekämpfung von Rassismus von Eva Maria Andrades 74 l Zusammenfassung 77 l Autor_Innen-Information 83

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VORWORTLiebe Leser_innen,

Rassismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die rassistischen Verhältnisse in Deutschland prägen die ganze Bevölkerung und teilen sie in zwei Gruppen ein: die Gruppe der von Rassismus betrof-fenen (rassifizierte Menschen) und die der von Rassismus profitierenden Menschen. Rassismus ist ein alltägliches Problem. Er ist der Alltag von rassifizierten Menschen, die ihm sowohl auf der individuellen als auch auf der Ebene der gesellschaftlich relevanten Einrichtungen als institutionellem Rassismus ausgesetzt werden. Das Justizwesen, die dritte Staatsgewalt, ist eine dieser Einrichtungen, in denen institutioneller Rassismus als Machtinstrument für die Beibehaltung der gesellschaftlichen rassistischen Verhältnisse zugunsten der davon Privilegierten, weißen oder als weiße imaginierten Menschen, existiert. Institutioneller Rassismus im Justizwesen führt zu einer Justiz, die für einige fairer ist als für andere und somit weit entfernt von der rechtmäßigen Ausübung der Staatsgewalt in einem Rechtsstaat. Diese Tatsache erklärt unsere Wahl des Umschlagbildes: ein bewusst als westlich wahrgenommenes Symbol, weil es um Rassismus in der westlichen bzw. deutschen Justiz geht. Diese erhebt den Anspruch, neutral und ‚color blind’ zu sein und wird auch von der weißen Mehrheitsgesellschaft so gesehen. Es ist aber eine Justitia, die nicht mehr blind ist, wenn sie es sein soll, und blind ist, wenn sie es nicht sein soll, zum Beispiel bei der Beurteilung von Fällen, in denen die Hautfarbe des Opfers ein Tatmotiv des Verbrechens war. Deshalb die Gegenüber-stellung zu dem Bild des ‘Bündnisses gegen Rassismus’ auf dem Umschlag. Es ist eine justitia, für die Karl Liebknecht, wäre er darauf gekommen, analog zum Begriff der Klassenjustiz, die es noch gibt, einen anderen Begriff geprägt hätte. Vielleicht hätte er stattdessen auch einen völlig anderen Begriff erdacht, um dem Justizwesen vorzuhalten, dass es durch seinen Aufbau und seinen Ablauf, durch die Handlungsweisen von Polizei, Richterschaft, Staatsanwaltschaft und auch der in diesem Rahmen tätigen Rechtsanwält_innen, die von einer westlich orientierten, christlich-säkularen Aus-bildung geprägt sind, Menschen intersektionell diskriminiert. Es ist eine Justitita, die in Skandalen, wie im Rahmen der Ermittlung und Aufklärung der NSU-Morde und der Missgeschicke seit Beginn des Gerichtsprozesses in München endet; die zu dem Kölner Beschneidungsurteil führt und die Racial Profiling leugnet, während sie es gleichzeitig begünstigt, wenn nicht gar absegnet. Am 15.03.2011 beschloss der Berliner Senat einen Landesaktionsplan gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung. An dessen Erarbeitung haben sich, koordiniert vom Migrationsrat Berlin Brandenburg, über 100 zivilgesellschaftliche Akteur_innen und Einzelpersonen beteiligt. Es war und ist immer noch das erste Mal bundesweit, dass ein Aktionsplan auf diese Weise entstand. Der LAPgR beinhaltet Maßnahmen für die verschiedenen Berliner Senatsverwaltungen, die bei bedarfsorientierter Umsetzung zur interkulturellen Öffnung und zum Abbau struktureller rassis-tischer und gegebenenfalls Mehrfachdiskriminierung in Berlin beitragen sollen. Die Zivilgesell-schaft hatte allerdings über 380 Empfehlungen abgegeben, 45 davon allein im Bereich Justiz. Für das Justizwesen in den Plan eingeflossen sind lediglich vier. Alle anderen wurden mit dem Hinweis abgelehnt, dass sie bereits umgesetzt oder nicht nötig seien. Die Berliner polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 20121, der Weihnachtsspot der Berliner Polizei, der vor Taschendieben warnt und People of Color als Täter und weiße Menschen als Opfer zeigt2, der jüngste Versuch seitens der1 Stellungnahme des Migrationsrats Berlin-Brandenburg zur polizeilichen Kriminalstatisk 2012. Abrufbar unter: http:// www.mrbb.de/index.php?option=com_content&view=article&id=237:informationen-fuer-pressefunk-und-fernsehen& catid=4:pressemitteilungen&Itemid=42 Aufruf gegen Racial Profiling vom 12.12.2013. Abrufbar unter: http://www.mrbb.de/dokumente/pressemitteilungen/Aufruf%20gegen%20Racial%20Profiling.pdf1 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

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2 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Polizeikräfte das neue Gutachtens im Fall des Mordes an Oury Jalloh, demzufolge die Möglichkeit eines Selbstmordes ausgeschlossen wird, zu diskreditieren, sind nur einige Beispiele davon, dass institutioneller Rassismus auch im Justizwesen hochaktuell ist. Deshalb muss aktives Vorgehen dagegen zu den Zielen aller demokratischen Programme gehören.

Die Veranstaltungsreihe, die der Migrationsrat Berlin-Brandenburg mit der finanziellen Unter-stützung der Berliner Landeszentrale für politische Bildung durchgeführt hat, gehört zu den Be-mühungen der Migrant_innenselbstorganisationen, dieses Problem sichtbar zu machen und wieder auf die politische Agenda zu bringen.

Wir haben uns diesmal zwei Ziele gesetzt:Jurist_innen, Migrant_innenselbstorganisationen und andere antirassistische Akteur_innen zu vernetzen und einen Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema „Rassismus und Justiz“ zu schaffen. Im Fokus der Diskussion standen zwei Leifragen:

1. Welche verwaltungs-, politik- und organisationsimmanenten Strukturen bedingen Rassismus und ethnische Diskriminierung in der Rechtspflege?

2. Was kann von nichtstaatlicher Seite getan werden, um Rassismus und ethnischer Diskriminierung in der Rechtspflege entgegenzuwirken?

Diese Broschüre fasst die Ideen, Vorschläge und Ansätze der Referent_innen zum Umgang mit Rassismus im deutschen Justizsystem zusammen und stellt die Ergebnisse der Diskussion-en mit dem Publikum, die im Anschluss an die Vorträge stattfanden, vor. Mit der Auswahl der Themen für die Workshops wollten wir die Bereiche abdecken, bei denen der Handlungsbedarf am dringendsten ist. Uns ist bewusst, dass wir hiermit der Komplexität und Breite des Themas nicht gerecht werden konnten und hoffen daher auf die Möglichkeit einer Fortsetzung des Projekts in Form weiterer Veranstaltungen, Workshops und Seminare, die sich z.B. mit der Asyl- und Einwanderungsgesetzgebung befassen und damit den Fokus von der Strafjustiz auf die generelle Rechtsprechung erweitern könnten.

Kein Wir ohne Uns!

Cristina Martin für den Vorstand

Migrationsrat Berlin-Brandenburg e.V.

VORWORT

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Wir bedanken uns bei Angelina Weinbender und Iris Rajanayagam für die Konzipierung und die Koordinierung dieser Veranstaltungsreihe sowie für die Erstellung dieser Broschüre, ohne deren kontinuierliche Unterstützung diese Veranstaltungsreihe nie zustande gekommen wäre. Ein besonderer Dank gilt auch an Anna Younes für ihre engagierte Moderation und an Mahdis Azarmandi für ihre inspirierende Mitarbeit bei der Erstellung der Broschüre.

Bei den Referent_innen Zülfukar Çetin, Salih Alexander Wolter, Sanchita Basu, Tahir Della, Biplab Basu, Sebastian Friedrich, Nadija Samour, Prof. Dr. Iman Attia, Eberhard Schultz, Maria Portugal, Valentin Babuska, Elena Brandalise, Yufanyi Mbolo möchten wir uns für den umfassenden Einblick in die von rassistischen Vorstellungen noch immer bestimmte Situation im deutschen Justizsystem bedanken. And last but not least vielen Dank an die Mitarbeiter_innen des Migrationsrats Berlin-Brandenburg e.V., ohne deren unermüdliches Engagement, das weit über ihre Arbeitszeiten hinausging, diese Veranstaltungsreihe und viele andere Projekte unseres Dachver-bandes nicht zustande kommen würden.

3 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

VORWORT

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Einleitung

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Mit dem Titel «Rassismus und Justiz» greift die Veranstaltungsreihe juristische Fälle ras-sistischer Diskriminierung auf, die in den letzten Jahren immer weiter auch in eine breite öffentliche Debatte gerückt wurden. Fragen kommen auf und werden gezielt aus der Zivilgesellschaft heraus, sowie auch auf internationaler Ebene gestellt. Gefragt wird, inwiefern Deutschland und seine Justiz tatsächlich eine objektive und rassismus-sensible Rechtssprechung verfolgen. Zeitgleich mit dem Beginn der Veranstaltungsreihe wurde am 6. Mai 2013 um 10 Uhr morgens der NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München eröffnet. Es war der Startschuss für die Gerichtsver-handlung von zielgerichteten Er-mordungen von acht Männern mit einem türkischen Hintergrund sowie einem Mann mit griechischem Hintergrund über einen Zeit-raum von 13 Jahren. Das Magazin Der Spiegel berichtete sofort von einem «Jahr-hundertprozess». Bis heute ist nicht klar, inwiefern Verfassungs-schutz, Polizei und Politik mit verantwortlich sind. Der Fall, der auch international diskutiert wurde, zeigte, dass Deutschland – sowie auch Europa – nicht in einem post-Rassismus Zeitalter leben, wie es sich oft-mals darstellen möchte. Ein postkoloniales Deutschland hat es noch nicht geschafft sein rassistisches «black-out» tatsächlich so zu hinterfragen, dass eine Vergesellschaft-lichung von Thema, Diskussion und Ideologiekritik konstruktiv möglich sind. Darüber hinaus hat die Debatte aber vor allem auch eines von vielen Gesichtern des Rassismus gezeigt: Prekäre Arbeitsbe-dingungen und Lebensweisen (ob in einem

Imbisstand oder einem Flüchtlingsheim) oder einfach auch nur ein nächtlicher Spaziergang durch die falsche Gegend, können ein Ausgesetztsein bedeuten, das körperlich bedrohlich werden kann – oder zum Tod führt. Es wäre aber falsch, anzunehmen, dass dies das einzige Gesicht des Rassismus ist, nur weil es auch oftmals das Sichtbarste ist, für die, die nicht betroffen sind. Ein anderes Beispiel für die Brisanz des Themas «Rassismus und Justiz» ist die Klage des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg gegen den Fall Sarrazin vor der UN. Überreicht im April 2013 sprach sich das UN Komitee für die Eliminierung von rassistischer Diskriminierung mit klaren Worten gegen die voreingenommene Haltung des deutschen Staates gegenüber Sarrazin aus. Daraus geht klar hervor: Deutschland und seine Politik haben ein Problem mit Rassismus. Punkt. Die Stellungnahme des deutschen Staates zum Falle Sarrazin beruhte hauptsächlich auf den Pfeilern von a) «freier Meinungsäußerung» sowie b) der Hervor-hebung der «Wichtigkeit von Sarrazins Thesen im Rahmen eines gesellschaft- lichen Diskurses über Integration». Letztere, laut deutschem Staat, sieht Sarrazins Äußerungen in einer wichtigen gesellschaft-lichen Debatte Deutschlands verankert und gerade deswegen nicht per se als rassistisch abzutun. Äußerungen Sarrazins, die viele Menschen als rassistisch empfanden, sind laut dem Dokument keine, wenn es einen breiten Konsens gibt, dass die Debatte relevant ist: Somit wurde weiter diskutiert, ganz demokratisch der Mehrheit nach-gebend.

Eine Einleitung zum Thema Rassismus und Justizvon Anna Younes

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Rassismus und Justiz

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Interessant war dabei auch die Rassismus-definition, die Deutschland der UN vorlegte: «The motivation to incitement of ethnic hatred is an inner attitude and measured objectively by actions and not by statements of the perpetrator.» 1 (UN Dokument Absatz 7.2) Daraus geht hervor, dass nur kognitiv bewusst geäußerte Taten und deren körper-liche Umsetzung als Rassismus gesehen werden. Worte können aber nur von ihrem (möglichen) Zusammenhang mit Taten getrennt werden, wenn Geschichte und Kollektivdynamiken außen vor gelassen werden. Ein solches Ausblenden funktioniert nur, wenn die unbewusste, über Jahrhunderte angelernte rassistische Wissensproduk-tionen, deren Umsetzung sowie deren Vermächtnis geleugnet werden. Im Falle Sarrazin ermöglicht ein solches Ausblenden, dass er juristisch sowie politisch nicht des Rassismus zu überführen sei. Laut Deutschlands Definition sei Rassismus eher ein psychologischer und somit individueller Tatbestand ohne historischen oder strukturell gewachsenen Kontext. Angela Merkel deutete dies sogar mit dem Adjektiv «dumm“». Rassismus sei ergo eine Pathologie und ein Problem derer, die es halt nicht besser wissen. Die Frage bleibt offen, wie ein als «dumm» markierter Mensch gesellschaftliche Debatten auf hoher politischer Ebene mitbestimmen kann. Dass Rassismus aber eben keine Meinung oder IQ-abhängig ist, wird in einem Sonderbeitrag von Eva Maria Andrades in dem es um die Individualbeschwerde des TBB an die UN geht, am Ende des Heftes nochmals aufge-griffen. 1 «Die Motivation zu Ethnischem Hass aufzurufen sei eine innere Haltung, die objektiv nach Aktionen und nicht nach den Äußerungen des Täters zu bewerten seien.»

Obgleich viele der Workshop-analysen hauptsächlich auf Deutschland konzentriert waren, wurde oftmals ange-dacht, dass ein transnationaleres Bild sowie auch ein europäischeres Verständnis heutiger Sicherheitspolitiken unternommen werden sollten. Vor einem hauptsächlich deutschen

Hintergrund wurde im ersten Workshop d i s -kutiert wie sehr ein polizeiliches sowierichterliches Selbstverständnis von Machtausübung beeinflusst ist von einer «weißen Deutungshoheit», oder auch einer «weißen Glaubwürdigkeit», wie sie Sanchita Basu benennt. Weiße Autorität führte in Deutschland auch dazu, dass ernsthaft debattiert wurde, ob die religiöse Beschneidung von Jungen im Islam und Judentum als barbarisch und somit kriminell stigmatisiert und verboten werden darf (siehe Wolter und Çetin). Kriminalität als eine von vielen wirkungsmächtigen Markierungspunkten weißer Deutungshoheit spielt auch beim Thema „Racial Profiling“ (Workshop II) eine Rolle, die erst gesamtgesellschaftlicher Kri-tik ausgesetzt war, nachdem sie durch zivil-gesellschaftliches Engagement von Aktivist*innen und Gruppen wie der ISD öffentlich skandalisiert wurde.

Einleitung

Daraus geht hervor, dass nur kognitiv bewusst geäußerte

Taten und deren körperliche Umsetzung, als Rassismus

gesehen werden.

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Das deutsche Kolonial-Blackout führt auch hier, wie so oft, dazu, dass die Betroff-enen selbst auf die Probleme der Mehr-heitsgesellschaft hinweisen müssen – oder aber, dass das Gericht, letztlich doch zu-gunsten der Polizei entscheidet. Dem Problem des Rassismus in und durch Institutionen und deren Vereinnahmung eines Themas hat Elena Brandalise mit einem Überblick über den Landesaktionsplan gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung (LAPgR) und das Partizipations- und Integra-tionsgesetz (PartIntG) von 2010 beleuchtet. Obgleich Instrumente wie diese ins Leben gerufen wurden, beschreibt Brandalise deren inhärente «Integrationslogiken», sowie Abwehr von konkreten Handlungspraxen, die Veränderungen auch längerfristig bringen könnten. Ein weiterer Kolonialfilmriss ist das Konzept des „Lebensraums“, das erst durch den Nazifaschismus national sowie interna-tional zu einem Teil deutscher Geschichte und Wissenskreativität wurde. Lebensraum – kulturell sowie ökonomisch – wurde fantasiert und entwickelt, bevor das Wilhel-minische Imperium in die Kolonien wanderte. Dies führt uns zu einem weiteren Beispiel der letzten Jahre im Bezug auf Recht und Rassismus: Der Fall der Herero, Maji Maji und Nama in deutschen Kolonien. Am 8.Dezember 2011 entschied die deutscheRegierung, dass das gezielte Töten der Nama und Herero im damaligen Deutsch-Südwest Afrika nicht in Retros-pektive als Genozid verurteilt werden kann.2

Hier argumentiert die Bundesregierung durchaus richtig. Das Humanitäre Völkerrecht mit dem Ausgangspunkt der ersten Genfer Konvention von 18643 kannte zwar den Tat-bestand der «Verbrechen gegen die Mensch-

2 Auswärtiges/Antwort - 08.12.2011, Bundes- regierung bewertet Niederschlagung des Aufstandes der Herero und Nama 1904 offiziell nicht als Völkermord. http://www.bundestag.de/presse/ hib/2011_12/2011_510/05.html3 Als historischer Ausgangspunkt des humanitären Völkerrechts in seiner gegenwärtigen Form wird die 1864 abgeschlossene erste Genfer Konvention (nach der Schlacht von Solferino, am 24. Juni 1859) angesehen. Internationales Völkerrecht hat als Basis, dass es (moderne) National-/ Staaten sind, die sich ihm verschreiben müssen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit (wie z.B. Völkermord) können somit gesetzlich nur begangen werden von einem Staat gegen seine legal anerkannten Sub jekte in seinem Territorium. Genozid wird erstmals aufgenommen und definiert als Menschenrechtsver letzung 1949 in der Zweiten Genfer Konvention, im Anschluss an den Nazi Genozid am Europäischen Judentum. Dieser führte auch zur Erschließung der UN Deklaration der «Universalen Menschenrechte», dem zweiten internationalen legalen Körper, der auch über Staatsgrenzen hinaus geht. Völkermord und Genozid sind somit historisch gewachsene unterschiedliche Tatbestände. Letzterer, der Genozid, ist erst fassbar seit 1949.

Das deutsche Kolonial-

Blackout führt auch hier, wie so oft, dazu, dass die Betroffenen selbst auf die

Probleme der Mehrheits-gesellschaft hinweisen

müssen.

Rassismus und Justiz

Einleitung

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lichkeit» an, diese waren allerdings nur an-wendbar in und für die (westlichen) Vertragsstaaten. Inwiefern auch heute noch sozialer Raum und Lebensqualität zusammen mit Justiz und Rassismus gedacht werden, wird in zwei Vorträgen von Sebastian Friedrich und Nadija Samour zusammengetragen. Friedrich betrachtet kritisch das in der post-Wiedervereinigung gewachsene Bild von Neukölln als Projektionsfläche von musli-mischer, schwarzer und «ausländischer» Kriminalität, in dem verhüllte Frauen neben Prostituierten über die Straßen huschen, während um die Ecke die Kugeln der Großkriminalität fliegen. Samour zeigt wie über eine Dekade später neue Krimina-lisierungsprogramme dazu führen, Jugend-liche of Color in Neukölln/Kreuzberg schnell und einfach hinter Gitter zu bringen.

Ohne die Benennung von ras-sistischen Strukturen wird diesen Jugendlichen so nach und nach ihre Chance auf einen fairen Prozess verwehrt. Gleichzeitig können wir darin eine Normali-sierung einer neuen Sicherheits- und Ver-wahrungspolitik sehen, die hier am Beispiel Neukölln-Deutschland beispielhaft fest-gemacht wird, aber ihre Vor- und Nebenläufer auch im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois, London Tottenham sowie in Italiens Lampedusa haben. In der «Stellungnahme an die Rich-terin und den Staatsanwalt» stellt Mbolo Y. Movuh Zusammenhänge zwischen einer

Protestaktion von Geflüchteten vor der nigerianischen Botschaft, Frontex und dem Problem, dass der Genozid an den Herero und Nama bis heute nicht von Deutschland anerkannt wurde, her. Es wurde gefragt, inwiefern institutionelle Mitarbeit nötig ist, um Strukturen zu ändern. Darüber hinaus wurde aber auch debattiert inwiefern Nicht-Kooperation bzw. Verweigerung vor Gericht, auch Möglichkeiten sind, Wider-stand zu leisten. Kritisch wurde angemerkt, dass eine Anerkennung des Gesetzes auch benutzt werden kann, um Widerstand zu vereinnahmen: Nämlich wenn das rassifizierte Subjekt sich selbst durch seine «Beichte» vor Gericht zur individualisierten Vereinnahmung bereitstellen muss und so, wenn auch ungewollt, eine rassistische Hegemonie der Partikularinteressen (-vertretung) zu stärken hilft. Recht und Justiz erscheinen hier somit als Machtsicherung und auch als geographisch-historischer Sicherheitsab-stand für die, die die Gesetze ohnehinselbst schreiben. Anders ausgedrückt: In den Kolonien war alles erlaubt und kann heute nicht mehr juristisch verfolgt werden. Jeden-falls nicht nach heutiger Rechtsauslegung, wie zum Beispiel Artikel 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der besagt: Keine Strafe ohne bestehendes Gesetz (Lat. «nulla poena sine lege»). In Deutschland ist dies in der Verfassung (Art. 103 Abs. 2 GG), sowie im Strafgesetzbuch festgehalten (§ 1 StGB). Einer gewissen «moralischen»Verantwortung ist sich der deutsche Staat allerdings durchaus bewusst und weist in der offiziellen Stellungnahme auf die erhöhte Entwicklungshilfe gegenüber dem heutigen Nambia hin.

In den Kolonien war alles erlaubt und kann heute nicht

mehr juristisch verfolgt werden.

Rassismus und Justiz

Einleitung

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Aus diesen wenigen Beispielen wird klar, dass Recht auf der einen Seite stark par-tikularistisch und exzeptionell wirken kann – national sowie auch international. Esweist auch darauf hin, dass Justiz und der mit und aus dem Kolonialismus heraus ge-wachsene Rassismus (und somit auch die strukturell gewachsene Macht von Weißsein als politischer Kategorie) Hand in Hand gehen, international relational waren und heute sein Vermächtnis weitertragen. Das Privileg, die legislative, judikative und exeku-tive Deutungshoheit zu haben, ist in diesen Fällen ganz klar Macht. Recht und Justiz hatten aber auch immer die Sprache und somit die Möglichkeit der Universalität in sich – der Gedanke war da, wenn auch nicht immer umgesetzt, bzw. par-tikularistisch gedacht. Für Genozide außerh-alb Europas zu einem Zeitpunkt, wo es das Konzept legal gar nicht gab, mag es schwer werden, über eine Anerkennung hinaus zu kommen. Dies sollte uns aber nicht davon abhalten, für weitere Verbesserungen und die Rechte derer, die nicht von globalisierten Partikularinteressen profitieren, zu kämpfen. So klagten im Oktober 2013 vierzehn karibische Länder Großbritannien, Frankreich und Holland für den Sklaven-handel an – Reparationszahlungen werden verlangt. Vor dem Hintergrund universaler Menschenrechte zum Beispiel konterte das UN-Komitee die Standpunkte des Deutschen Staates mit der Begründung, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung entfalle, wenn die menschliche Würde bedroht wird – individuell sowie auch kollektiv. Als Beispiele für eine Verletzung der menschlichen Würde führt der Report der UN auf, dass Abwertungen, Stigmatisierungen oder sozialer Ausschluss sowie andere Formen,

die das Recht auf Menschenwürde ver-letzten, als Maßstäbe für Rassismus gelten, und somit Priorität vor freier Meinungs-äußerung erhalten. Es erscheint erschreck-end, dass dies eine Antwort im 21. Jahr-hundert an den Deutschen Rechtsstaat und seine Demokratie ist. Diesmal wieder von einem internationalen Körper, nur ohne Militärmacht oder Umerziehungsmaß-nahmen.

Es war uns auch eine Ehre die ersten Verfechterin des Konzeptes von Anti-muslimischen Rassismus in Deutschland im Workshop begrüßen zu dürfen: In ihrem Bericht gibt Prof. Iman Attia eine Übersicht über die Unterschiedlichkeit von Islamo-phobie und Antimuslimischem Rassismus. Danach berichtete Eberhard Schulz aus jahrelanger Erfahrung als Menschenrechts-anwalt für als «Terroristen» oder «Hass-prediger» stigmatisierte Menschen, sowie der Klage gegen Sarrazin. Er plädiert dafür, inter-nationale Entscheidungen, wie die des UN-Ausschusses als Druckmittel für die deutsche Politik zu benutzen.

Vor dem Hintergrund

universaler Menschenrechte zum Beispiel konterte das UN-

Komitee die Standpunkte des Deutschen Staates mit der

Begründung, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung

entfalle, wenn die menschliche Würde bedroht wird –

individuell sowie auch kollektiv.

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9 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Rassismus und Justiz

Einleitung

Ein weiterer Problempunkt im Rahmen Deutschland und Justiz wird aufgezeigt von Valentin Babuska am Beispiel eines Strafver-fahrens: Detailliert zeigt er, wie wichtig, aber auch schwierig, eine Definition von «rassis-tisch motivierter Kriminalität» ist, im Prozess-verlauf an sich, sowie in seiner Kontrollier-barkeit vor Gericht. Maria Portugal beschreibt anschließend daran in einer präzisen Wort-klärung, dass der Begriff Hasskriminalität (Engl.: hate crime) Rassismus psycho-logisiert, «in dem er auf eine individuelle Verfehlung hinweist, die unterbunden oder geheilt werden soll». Die Workshopreihe sowie die Themen machten uns allen bewusst, wie dringend weitere Auseinandersetzungen zum Thema Justiz und Rassismus in Deutschland sind, aber auch, dass noch mehr Vernetzung, Literatur und transnationaler Austausch benötigt werden. Es war mir eine große Ehre diese Workshopreihe moderieren zu dürfen, und ich freue mich über die Initiative des MRBB, die zu mehr Vernetzung und Motiva-tion antrieb.

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Workshop I: Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des «Beschneidungsurteils»

Kann man in Punkto Antirassismus fortge-bildet werden? Ist es notwendig für hoch-gebildete Menschen wie Richter_innen und Staatsanwält_innen, sich mit eigenen Rassismen auseinander zu setzen? Haben sie nicht durch ihre intellektuelle Ausein-andersetzung mit der Gesellschaft per se eine Verinnerlichung gegen Rassismus und gegen jegliche Diskriminierung? Das wäre vielleicht möglich gewes-en, wenn antirassistische Pädagogik in schulische Curricula hierzulande aufgenom-men worden wäre und wenn im Kindergarten die Erzieher_innen den Kindern ihrer Obhut Demokratie zu lernen ermöglichen würden. Aber wir haben ja gelernt, dass man nie aus-gelernt hat. Dies bedeutet, dass auch dieses Versäumnis nachgeholt werden kann. Zumindest kann mensch strukturellen und institutionellen Rassismus in Deutschland thematisieren und andiskutieren. Wir können eine Debatte über Rassismus in deutschen Behörden, wie zum Beispiel beim Jobcenter, der Polizei oder gar in der Justiz anregen. Und wir können über Strategien gegen institutionellen Rassismus sprechen. Die Auswirkung von gelernten rassis-tischen Einstellungen, Stereotypisierung und Vorurteilen, die in der Gesellschaft existieren, fließen durch alle Lebenswege und Institutionen durch. Die Exekutive, die Administrative und die Judikative bilden da leider keine Ausnahme. Jedoch ist das Vertrauen an die Gerechtigkeit in Bezug auf das Justiz-system bei Bürger_innen in Deutschland unerschütterlich. Auch wenn es bekannt sein müsste, dass die Jurist_innen, Statsan-wält_innen sowie Richter_innen in Bezug auf Rassismus durch ihr Referenzsystem beein-flussbar sind. Sie handeln nicht selten selbst diskriminierend.

Ich werde zunächst einige Beispiele von Gerichtsurteilen vorstellen, in denen sich m.E. deutliche lineare Tendenzen von rassis-tischen Einstellungen zeigen. In Deutschland besitzen die Gerichte eine Hoheitsmacht, die nahezu unantastbar ist. In anderen Ländern, z.B. in den USA, werden die Gerichtsurteile öffentlich aber auch wissen-schaftlich diskutiert. Es gibt auch empirische Untersuchungen über tendenziöse Urteile. In den Universitäten wird über umstrittene Urteile debattiert, und die Gerichte und ihre Richter_innen sind für die Medien nicht heilig.Die Fragen, die ich hier zur Disputation stelle, sind:

- Warum ist Rassismus im Gerichtsaal kaum ein Thema für die Anti-Rassismus-Bewegung? - Warum werden die Urteile selten in Frage gestellt? - Lernt mensch die vorbehaltlose Akzeptanz des Rechtssystems in der Sozialisation? - Was für Möglichkeiten haben wir, rassistische Gerichtsurteile in die Öffent-lichkeit zu bringen?- Welche Strategien sind möglich, und welche sind geeignet, für eine fundierte Kritik gegen solche rassis-tischen Urteile und Urteilsbegründugen?

In dem Jahresbericht von Amnesty Inter-national über Österreich steht: «Die Zwei-gleisigkeit des österreichischen Justiz- und Polizeisystems widerspricht absolut dem Konzept einer gerechten Justiz». Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International Österreich, sagte bei der Präsen-tation des Berichts im vergangenen Jahr, dass «Vorurteile und Stereotypen bezüglich Ausländern oder religiösen und ethnischen Gruppen hier (bei der Justiz, anm. Autorin)

Brauchen Richter_innen Fortbildungen zu Antirassismus?

von Sanchita Basu

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11 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Workshop I: Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des «Beschneidungsurteils»

keinen Platz haben». Die Ursache für die bestehenden Misstände sieht Amnesty Inter-national im institutionellen Rassismus. Kön-nen wir an dieser Stelle Österreich mit der Bundesrepublik Deutschland austauschen oder mit einem beliebigen anderen euro-päischen Land? In Deutschland wird von Alltags-rassismus in einer Weise diskutiert, welche versucht, uns zu instruieren, dass Rassis-mus in der hiesigen Gesellschaft zwar im All-tag vorhanden ist, aber verantwortlich dafür seien die einzelnen «lonely wolves». Doch institutioneller Rassismus bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten als den zentralen Säulen der Rechtsstaatlich-keit sind nachwievor Tabu. Diese Säulen seien frei von jeglichen rassistischen und sexistischen Einstellungen, weil es durch die deutsche Verfassung verboten sei. Das Argument, dass nicht existiere, was nicht sein darf, ist ein sehr verbreitetes und akzeptiertes Gebot. Diese Grundhaltung erschwert eine angemessene Debatten-kultur über strukturellen und institutionellen Rassismus. Wir können hier eine Fülle von Bei-spielen des institutionellen Rassismus dar-legen, jedoch beschränke ich mich hier mit der Judikative. Das jüngste Urteil z. B bei Racial Profiling ist sehr bezeichnend dafür. Im Februar 2012 wurde das erste Urteil über Racial Profiling gefällt. In diesem Fall stufte der Richter die polizeiliche Personenkontrolle wegen der Hautfarbe als legal ein. Dieses Urteil wurde von OVG Rheinland-Pfalz aufge-hoben und als wirkungslos erklärt. Jedoch ist die rassistische Personalkontrolle durch das Bundespolizeigesetz gedeckt (s.Studie der DIM, 2013).

Die versprochenen Beispiele:

1. 2009 wurde ein ehemaliger Hausmeister einer Unterkunft für Flüchtlinge in Nürnberg beschuldigt eine Frau aus Uganda brutal vergewaltigt zu haben. Zwischen 2001 und

2002 soll er mit dem Generalschlüssel in das Zimmer der Frau eingedrungen sein, während sie schlief, und sie vergewaltigt haben. Der Beschuldigte, der mittlerweile in Rente ist, streitet dies ab und glaubt an einen Racheakt, da er bei ihrer Abschiebung mit-gewirkt hat. Die Staatsanwältin bewertete die Aussage der betroffenen Frau als glaub-würdig. Sie sah auch keinerlei Motivation seitens des Opfers, sich eine derartige Geschichte auszudenken. Weder aus Rache noch um im Asylverfahren Vorteile daraus zu ziehen. Obwohl drei glaubhafte Zeug_innen die Darstellung der betroffenen Frau mit ihren Aussagen stützten, sprach das Nürnberger Gericht am Donnerstag, den 15.01.2009 den Täter frei, weil die Frau doch ihr Asylverfahren durch diesen Prozess beeinflussen wollte.

2. Am 13. Juni 2003 wurde Maxim, am Tag seines 33. Geburtstages, von einem 76-jährigen Rentner auf offener Straße mit einem Springmesser in Köpenick erstochen. Der Täter hatte Maxims Freundin und Mutter seines Kindes zuvor in einem Super-markt zu Unrecht des Laden-diebstahls be-zichtigt. Daraufhin versuchte Maxim, den Rentner auf der Straße zur Rede zu stel-len. Der Freispruch des 76-Jährigen – wurde damit be-gründet, dieser sei mit der Situa-tion überfordert gewesen. Dass er mit einem Springmesser in der Tasche zum Einkaufen geht, wurde damit erklärt, dass er den zwei-ten Weltkrieg und die DDR überlebt hatte.

In Deutschland wird von Allagsrassismus in einer Weise

diskutiert, welche versucht uns zu instruieren, dass

Rassismus in der hiesigen

Gesellschaft zwar im Alltag vorhanden ist, aber verant-

wortlich dafür seien die einzel-nen «lonely wolves ».

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13 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

“Man liest und hört so viel im Fernsehen”, sagte der 76-Jährige zu seiner Entlastung vor Gericht. Nach der Tat wählt er 110 und ruft aufgeregt ins Telefon: “Hallo, ist dort die Volkspolizei?” Als frühere DDR Bürger seien sie nicht mit dem “lockeren Dasein” nach der Wende zurechtgekommen, sagt seine Ehefrau als Zeugin. Ihr Leben sei immer “ordnungsgemäß” verlaufen.

3. Eine Frau aus dem Senegal wurde von der Aschaffenburger Polizei erschossen. Hintergrund ist nach Aussagen der Polizei-direktion Aschaffenburg ein Streit zwischen einem in Trennung lebenden Ehepaar in der Aschaffenburger Schlossgasse. Der Ehe-mann, ein weißer Deutscher, hatte in der Nacht gegen 2.30 Uhr die Polizei gerufen, um seine Frau aus der Wohnung werfen zu lassen. Die Frau war in die Wohnung ihres Ehemannes gekommen, weil sie den zwei-jährigen Sohn abholen wollte, der einige Tage bei seinem Vater verbracht hatte. Der Sohn war aber bei den Eltern des Ehe-mannes. Als die Polizei auftauchte und sofort Partei für den Ehemann ergriff, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen den zwei Polizeibeamten und der 26-jährigen Frau. Im Verlauf dieser Ausein-andersetzung zog einer der Polizisten seine Dienstwaffe und erschoss die Frau,die nach notärztlicher Versorgung vor Ort wenig später im Klinikum Aschaffenburg verstarb. Nach ersten Recherchen haben wir von der Polizei erfahren, dass die Ermittlungen von der Kripo in Würzburg (“Kommissariat für Tötungsdelikte und Leichensachen”) geleitet werden. Die Unterlagen und sämtliche Ermittlungsprotokolle sind derzeit “nicht pressefrei!”. Weiterhin wurde uns mitgeteilt, dass die Polizei von “Notwehr” ausgeht und der Polizei-beamte, der die 26-jährige Frau ermordet hat, nicht vom Dienst suspendiert wurde, sondern weiterhin seinen Dienst bei der Polizei in Aschaffenburg leisten kann.

Workshop I: Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des «Beschneidungsurteils»

In allen drei Fällen gibt es eine Gemein-samkeit. Es wurde nach dem System der „weißen Glaubwürdigkeit“ gehandelt.

- Wer ist glaubwürdig vor Gericht? Diejenigen, die glaubwürdig ihr Anliegen darlegen, oder diejenigen, mit denen die Richter_innen oder die Staatsanwält_in-nen sich identifizieren können?- Was wäre eigentlich gewesen, wenn das Opfer eine weiße Angestellte, Beamt_in oder Student_in und der Täter ein schwarzer “Asylbewerber” gewesen wäre? Wie sieht es dann mit der Glaub-würdigkeit aus? Wem wird dann mehr geglaubt? - Hat die Glaubwürdigkeit nicht auch mit nüchternen Tatsachen zu tun? Oder hängt es mit der persönlichen Sozia-lisierung der jeweiligen Richter_innen zusammen?

In den beiden ersten Fällen sind die Rentner glaubwürdige deutsche Staatsbürger und die Geschädigte in einem Fall eine Geflüchtete und in dem anderen ein deutscher Staats-bürger mit einem ausländisch klingenden Namen!

Solche Urteile werden damit legitimiert, dass es eine „Gefahrenlage“ gäbe. Das Dasein von Maxim z.B. stellt für den Rentner eine Gefahr dar. Solche Urteile sind ein Hohn für Menschenrechte und eine Katastrophe am deutschen Rechtssystem, die grundlegende Veränderungen zwingend notwendig macht.

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14 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Workshop I: Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des «Beschneidungsurteils»

Die sogenannte Beschneidungsdebatte erfuhr in der BRD im Jahr 2012 mehr öffentliche Aufmerksamkeit als irgendein anderes Thema. Sie dauerte monatelang an und wurde nicht nur in allen Medien und etlichen Internetforen mit einem Höchst-maß an Erregung geführt, sondern sorgte auch für Kontroversen im Ethikrat und für ungewohnt persönliche Bekenntnisse quer zu den Parteilinien im Bundestag. Dieser verabschiedete schließlich mit denk-bar großer Mehrheit ein eilig erarbeitetes Gesetz, das allen Umfragen zufolge von einer ebenso großen Mehrheit der ethnisch deutschen Bevölkerung abgelehnt wird.

Charakteristisch für diese Debatte war, dass der konkrete Fall, durch den sie angeblich ausgelöst wurde, kaum noch eine Rolle spielte. Wir fassen dazu die exzellenten Recherchen des Tagesspiegel-Journalisten Jost Müller-Neuhof zusammen1: Eine Frau offenbar nordafrikanischer Herkunft hatte ihren vierjährigen Sohn in eine Kölner Notaufnahme gebracht, wo bei dem Kind Nachblutungen einer Beschnei-dung festgestellt wurden. Das Krankenhaus-personal, dem es nicht gelang, sich mit der Mutter sprachlich zu verständigen, rief nicht etwa eine_n Dolmetscher_in, sondern die Polizei und erstattete Anzeige wegen des Verdachts auf strafbare Körperverletzung.

1 Müller-Neuhof, Jost (2012): Chronik einer beispiel losen Debatte, in: Der Tagesspiegel vom 20. August 2012.

Rechtlich bedeutet jede Operation eine Körperverletzung und bedarf der Einwilligung dazu befugter Personen – bei Kindern sind das in der Regel die Eltern. Das Amtsgericht sprach den Arzt, der den Eingriff bei dem Vierjährigen unter Narkose vorgenommen hatte, deshalb frei, weil die Zirkumzision fachgerecht und auf Wunsch der Eltern erfolgt war. Diese hatten die Beschneidung mit der islamischen Tradition begründet. Die zuständige Ober-staatsanwältin ging jedoch in die Revision und berief sich dabei auf die 2008 im Deutschen Ärzteblatt publizierte Auffassung des Straf-rechtlers Holm Putzke, wonach Eltern nicht zu dieser Verfügung berechtigt seien; vielmehr solle ein Junge «mit Erreichen der erforder-lichen Einsichtsfähigkeit selbst für oder gegen die religiös motivierte, medizinisch nichtindizierte Amputation seiner Vorhaut entscheiden». Da durch das Urteil «möglicherweise die jahrtausendealten Riten von Juden und Muslimen kriminalisiert» würden, war das Verfahren nun von grund-sätzlicher Bedeutung, wurde aber entgegen den in NRW geltenden Justizrichtlinien nicht «nach oben», zur Ministerialebene, gemeldet. So bestätigte eine Kammer des Landgerichts Köln am 7. Mai 2012 unbemerkt von Politik und Medien zwar einerseits den Freispruch des Arztes, der sich in einem «Verbotsirrtum» befunden habe, schloss sich allerdings andererseits prinzipiell der Ansicht von Putzke an, die damit plötzlich zur «herrschen-den juristischen Meinung» wurde. Das Urteil konnte weder von dem Arzt – da er ja freigesprochen worden war – noch von den übergeordneten Stellen der Justiz – die schlicht nichts davon wussten – innerhalb der vorgeschriebenen Frist angefochten werden. Nachdem diese verstrich und das Urteil damit rechtskräftig geworden war, gelang es Holm Putzke über einen befreundeten Journa-

Da durch das Urteil “möglicher-

weise die jahrtausende-alten Riten von Juden und

Muslimen kriminalisiert” würden, war das Verfahren nun von grundsätzlicher Bedeutung

Rassismus und Justiz am Beispiel des “Beschneidungsurteils”von Salih Alexander Wolter& Zülfukar Çetin

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15 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

listen, den Fall auf der Titelseite der Financial Times Deutschland vom 26. Juni 2012 zu lancieren und sich selbst als «Experte» in Szene zu setzen. Die Aufmachung des Artikels, mit dem die Debatte dann – erst sieben Wochen nachdem Urteil – schlagartig begann, zeigt die intendierte Stoßrichtung. Als Illustration diente nämlich ein Bild des populären neuen Staatsoberhaupts Joachim Gauck, darunter sein Satz: «Die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland.» Gauck, der erst im Frühjahr 2012 nach einer Medienkampagne, getragen vor allem von der Bild-Zeitung, gegen seinen Amtsvorgänger Christian Wulff zum Bundespräsiden-ten gewählt worden war, hatte mit dieser Wen-dung dessen bekanntesten und um-strittensten Ausspruch – «Der Islam ge-hört zu Deutschland» – nicht unwesentlich variiert. Nach unserer Auffassung war die poli-tische Intention derjenigen, die diese Debatte inszeniert haben, eine Fortsetzung und Ver-schärfung des herrschenden deutschen «Integrations»-Diskurses. Dessen «Höhe-punkte» bis dahin waren die «Kopftuch»-Debatte und die rassistischen Thesen des Ex-Bundesbankers und SPD-Politikers Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab) und als dessen politisches Instrument erwies sich leider immer wieder die sogenannte Deutsche Islam-Konferenz. Indem man die «Muslime, die hier leben», vom Islam zu trennen ver-sucht, will man sie als «Minderdeutsche» für die imaginierte «Volksgemeinschaft» ver-einnahmen, deren «Werte» – vermeintlich die Trennung von Staat und Religion, die «Selbstbestimmung» der Individuen und natürlich die Rechte von Frauen, Schwu-len und neuerdings eben auch Kindern – sie unter Aufsicht erlernen sollen, um dann vielleicht irgendwann auch «dazuzuge-hören». Indes nie ganz, wenn es z. B. nach Putzke geht, der in einer Fachrezension droht, dass auch wenn «Straftaten deutscher Staatsbürger mit Migrationshintergrund statistisch nicht ausdrücklich als solche aus

Workshop I: Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des «Beschneidungsurteils»

Indem man die “Muslime, die hier leben”, vom Islam zu

trennen versucht, will man sie als “Minderdeutsche” für

die imaginierte “Volksgemein-

schaft” vereinnahmen

gewiesen und als solche erfasst werden», ihr «Verhalten noch lange nicht ‹unüberprüfbar›» sei. Das heißt nichts anderes, als dass rassistische Kriterien bestimmend bleiben. Wir warnen deshalb ausdrücklich vor dem Irrweg der«Assimilation» und wollen vor dem Hinter-grund der deutschen Geschichte an Worte von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno über das Schicksal derjenigen Juden erinnern, die sich auf ein solches Angebot eingelassen hatten: «Die den Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten, sind nun zur Spezies degradiert. Die das Bürgerrecht, die ihnen die Qualität der Menschheit zusprechen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften, heißen wieder Der Jude [Großschreibung im Original], ohne Unter-schied.”2

Genau an diesem Punkt – der faktischen Interessensgleichheit von Jüd_innen und Muslim_innen in der BRD – scheiterte indes die geplante Kampagne – zumindest formaljuristisch (dank dem vom Bundestag gegen die überwältigende Mehrheit der ethnisch Deutschen verabschiedeten Gesetz!), während sie das Klima, «nach-haltig» noch weiter vergiftet hat. Der Grund dafür ist, dass das Kölner Urteil von maßgeb-lichen Sprecher_innen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland auch als Angriff auf sie verstanden und attackiert wurde. Was von Muslim_innen oder als mus-limisch markierten Menschen hierzulande

2 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. 2006, S. 184.

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16 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

in der Kontinuität eines immer maßloser werdenden antimuslimischen Rassismus gesehen wurde (und es sei hier ausdrücklich anerkannt, dass sich der Zentralrat der Juden z. B. auch schon in der «Kopftuch»-Debatte eindeutig hinter die Muslim_innen gestellt hatte!), war für Jüd_innen in Deutschland ein Novum: Erstmals seit Jahrzehnten, in denen so getan wurde, als sei die Frage nach dem Antisemitismus in Deutschland vor allem eine der Haltung zum Staat Israel, war die Möglich-keit oder Unmöglichkeit jüdischen Lebens in der BRD überhaupt Thema. Dieser Punkt hat am Ende zur un-populären Entscheidung des Bundes-tags geführt, die nun auch muslimisches Leben in Deutschland weiter möglich macht. Am 28.12.2012 entschied der Bundestag, «religiöses Leben in Deutschland möglich» zu machen. Auf der Internetseite der Bundes-regierung heißt es:

«Religiöse Motive der Eltern für eine Beschneidung ihrer Jungen sollen nicht erforscht werden. Eine Person, die von einer Religionsgemeinschaft dafür vorgesehen ist – wie etwa ein jüdischer Beschneider – darf in den ersten sechs Monaten nach der Geburt eine Beschneidung vornehmen. Voraus-setzung dafür: Er muss entsprechend ausgebildet und wie ein Arzt befähigt sein […] Damit stellt Deutschland erneut unter Beweis, dass es ein welt-offenes und tolerantes Land ist und bleibt. Juden und Muslime sind willkom-men. Denn Religionsfreiheit und religiöse Toleranz sind tragende Pfeiler unserer demokratischen Gesellschaft.»

Durch diese gesetzliche Regelung, wie es sie vor dem 28. Dezember 2012 nie gegeben hat, wurde die Beschneidung zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik legalisiert, was auf den ersten Blick als ein «Fortschritt» interpretiert werden kann.

Workshop I: Einführung in die Auseinandersetzung zu «Rassismus und Justiz» am Beispiel des «Beschneidungsurteils»

Dass die «Legalisierung» auch ihren Gegen-satz «Illegalisierung» mit sich bringen und dadurch zu einer Rekriminalisierung der jüdischen und muslimischen Eltern führen könnte, wird außer Acht gelassen. Aufgrund der vorherrschenden rassistischen Verhältnisse sowohl im globalen als auch regionalen Kontext können die Betroffenen der Beschneidungsdebatte zum einen immer wieder unter dem Deckmantel mangelnder medizinischer Fachlichkeit mit erneuten Kriminalisierungsversuchen konfrontiert werden. Zum anderen kann es nicht immer als Zeichen des demokratischen Fortschrittes verstanden werden, solange die Mehrheits-gesellschaft Menschen oder Menschen-gruppen durch gesetzliche Regelungen ständig neu reguliert, indem ihnen etwas erlaubt wird und sie wieder als etwas, was nicht christlich ist, verstanden werden.

Wir hoffen inständig, dass Muslim_innen und Jüd_innen hierzulande in Zukunft enger zusammenarbeiten, statt sich weiter über auswärtige Angelegenheiten auseinander-dividieren zu lassen!

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DiskussionspunkteBeschneidungsdebatte

Wie kam es zum Urteil? Gab es vorab eine Lobbyarbeit oder ging das erst in Folge des Urteils los?

l 2002 und 2006 gab es Versuche einer «Männerrechtsbewegung», die behauptete, sie vertrete Betroffene. Dies war nicht wirklich der Fall, es war keine selbstorganisierte Gruppe von Betroffenen. Das hat es in Deutschland nicht gegeben. In anderen Ländern schon.

l In Deutschland ist die anti-Beschneidungsdebatte aus einem rassistischen Kontext heraus entstanden und nicht als Selbstorganisation von Betroffenen.

l Die rassistischen Assoziationen, die in Deutschland abgerufen wurden sind sehr alt. Es geht um einen kolonial-rassistisches Bild vom «Orient» (Orientalismus): Arabische Männlichkeit wurde häufig feminisiert, als weniger männlich und aus weißer Sicht dargestellt. Diese Darstellungen bedienen sich bis heute rassistische Klischees über People of Color (PoC)1 Männer.

l Konstruktion eines absoluten Gegensatzes: die weiße Männlichkeit und das Patriarchat, die verteidigt werden müssen. Feminisierung der Männer durch Beschneidung steht dazu im Widerspruch. Dies speist einen rassistischen Kriminalisierungsdiskurs von PoC Männern und gleichzeitig einen heteronormativen Diskurs.

l Funktionsweise von Rassismus lässt sich an der Beschneidungsdebatte sehr gut zeigen. Verschiedene gesellschaftliche Schlüsselinstitutionen greifen ineinander und bestimmen so die Alltagsdiskurse.

l Es gibt große Ähnlichkeiten zum Homophobie-Diskurs. Die Verknüpfung beider Bilder ist eigentlich widersprüchlich (die durch die Beschneidung feminisierten Muslime versus die den Muslimen und ihrer «Kultur» inhärente Homophobie.) Aber die rassistische Logik kann folgenden Sinn daraus ziehen: «Jetzt wissen wir warum sie solche Machos sind, weil sie durch die Beschneidung traumatisiert sind.»

1 Der “People of Color”-Begriff entstammt der Selbstbenennungspraxis rassistisch unterdrückter Menschen. Er wurde im Laufe der 1960er Jahre durch die “Black Power”-Bewegung in den USA als politischer Begriff geprägt, um die Gemeinsamkeiten zwis-chen Communitys mit unterschiedlichen kulturellen und historischen Hintergründen zu benennen. Dadurch sollte eine solidarische Perspektive quer zu rassistischen Einteilungen … eröffnet werden, die anti-rassistische Allianzen befördert. (Kien Nghi Ha: “’People of Color’ als solidarisches Bündnis” - http://www.migrazine.at/artikel/people-color-als-solidarisches-b-ndnis)

17 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

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Workshop II: Racial Profiling vor Gericht

18 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Das Gesamtbild ist rassistisch - Rassismus und Justizvon von Biplab Basu und A.v.K.

Auch weiße Aktivist_innen werden auf Demonstrationen oder Kundgebungen oft von Polizeibeamten gewalttätig misshandelt. Dieses Phänomen ist zur Genüge bekannt. Aber der Polizeiapparat verbindet keine Kriminalität mit dieser «Hautfarbe». Es handelt sich hier nicht nur um eine Hautfarbe im konkreten Sinne, sondern um gesellschaft-liche Positionierungen, die damit verknüpft werden. So wird eine Gruppe als „die Anderen“ erklärt und ihnen werden die Eigen-schaften von Straftaten zugeschoben. Diese Gruppe der «Anderen» umfasst Schwarze Menschen und People of Color.

Racial Profiling

Racial Profling beschreibt die Praxis der Polizei und anderer Beamt_innen, Schwarze Menschen und People of Color anhand von phänotypischen Merkmalen zu kontrol-lieren, ohne einen konkreten Anhaltspunkt für die Kontrollen zu haben. Diskriminierende Zuschreibungen sind in der Hinsicht aus-schlaggebend für diese Art von rassistischen Kontrollen. Dabei ist Racial Profiling der Komplex eines Verständnisses, das einerseits Straftat und Kriminalität und andererseits die Ver-bindung von Hautfarbe, Ethnizität, Religion und Sprache begreift. Die konstruierte Verbindung ist in der gesamten Gesellschaft so weit vorhanden, dass auch die Polizei-beamt_innen, die Polizeiführung und schließlich der gesamte Polizeiapparat in ihrer Arbeit davon geprägt sind und entsprechend vorgehen: Kriminalität musste eine Hautfarbe und eine Ethnizität haben.

Rassismus und Justiz geht über Racial

Profiling hinaus

Racial Profiling ist nur ein Teil von dem, was Rassismus und Justiz ausmacht. Dabei geht es nicht nur um die Polizei, sondern um einen Kreis, der im englischsprachigem Raum mit dem Wort «criminal justice system» beschrieben wird. Es umfasst das gesamte System von Polizei - der sogenannten Ordnungsbehörde - zur Ermittlungsbehörde über die Staatsanwaltschaft bis hin zur Gerichtbarkeit. In diesem Kreis stützt jeder der be-teiligten Pfeiler sich gegenseitig. So unter-stützt die Polizei die Vorstellung von Kriminalität und Hautfarbe, die Staatsan-waltschaft unterstützt die Arbeit der Polizei, und die Gerichtbarkeit unterstützt die Handlungen der Polizei und die Arbeit der Staatsanwaltschaft durch die sogenannte Verwissenschaftlichung. Der Fakt, dass alle zusammen-arbeiten, bedeutet jedoch nicht, dass sie sich miteinander absprechen und entsprechend handeln. Es bedarf keiner Vorabsprache, denn es herrscht bereits ein Konsens. Der-selbe wird mit einem Zitat Richard Dyers auf den Punkt gebracht: «Racial imagery and racial representation are central to the organization of the contemporary world[...]»1. Diese Gesellschaft und ihr Verständnis von der Welt ist durch Rassismus organisiert; und weder die Polizei, noch Staatsanwaltschaft, noch Gerichtbarkeit sind frei davon: auch sie leben und atmen in dieser rassistisch organisierten Gesellschaft. Dadurch entsteht das größte Problem: dass in der Struktur für die Beseitigung des

1. “rassische Symbolik und rassische Repräsentation sind von zentraler Bedeutung für die Organisation der modernen Welt [...]

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19 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Workshop II: Racial Profiling vor Gericht

Problems keine Maßnahmen ent-wickelt werden können. Auch dass Rassismus ein Phänomen ist, welches als ein Unterdrückungsmechanismus von Kolonia-listen und Imperialisten entwickelt wurde, wird soweit ausgeblendet - auch in der Wissenschaft - dass kein Zusammenhang zwischen der kolonialen Vergangenheit und den heutigen Handlungen der Behörden gesehen wird.

Amare B.s Geschichte

Im Oktober 2012 steht ein junger Schwarzer Mann am Tempelhofer Damm und tele-foniert. Plötzlich wird er von zwei zivilge-kleideten Männern überfallen. Später stellt sich heraus, dass die beiden Beamte der Kriminalpolizei sind. Der Betroffene zeigt die beiden später an und der Fall wird vor Gericht verhandelt. Das Gericht entscheidet aufgrund der Aussagen. Auf der einen Seite stehen die Aussagen von zwei weißen Polizeibeamten, den Angeklagten, und zwei Zeugen, eben-falls weiße Polizeibeamte, und auf der anderen Seite ist der Betroffene, ein Schwarzer Mensch. Das erste, untere Gericht stellt fest, dass die Handlungen der beiden Polizisten eine nicht notwendige Maß-nahme und Körperverletzung darstellten. In zweiter Instanz spricht ein oberes Gericht die Angeklagten mit der Begründung frei,dass die Maßnahmen weder übermäßig noch gesetzeswidrig gewesen seien, weil kurz vor der Polizeimaßnahme tatsächlich eine Straftat in der Nähe stattgefunden hatte. Die Polizeibeamten sahen jemanden, der telefonierte und interpretierten dies als komplizenhaft – somit hätte Amare B. die Straftäter warnen sollen. Aus diesem Grund spricht das Gericht diese Polizeibeamten frei, erklärt aber auch, dass die Ermittlung schlecht gelaufen sei und wenn sie genau fest-stellen könnten, wer von diesen Angeklagten in welchem Moment was getan habe - wenn

der Geschädigte dies hätte sagen können - dann wären sie vielleicht zu einem anderen Urteil gekommen.Aber was hier fehlt, ist das Gesamtbild.

Die Color Line im Fall des Amare B.

Die zwei Polizeibeamten sind Drogenfahnder. Sie waren im Dienst und suchten Drogen-dealer. Nur zufällig waren sie im Supermarkt, um ihr Flaschenleergut zurückzubringen, und erfuhren dort von einem versuchten Süßwarendiebstahl; die Täter seien «süd-ländisch aussehend». Die Polizisten verstanden, welche Art von Dieben das sein können und verfolgen sie. Zwar waren sie erfolglos, weil die vermeintlichen Diebe durch ein offenes Fenster eines Hauses kletterten und flohen, doch dann sahen sie einen Schwarzen Mann mit einem Handy telefonieren. Weil das Gericht Rassismus nicht bedenkt, konnte es natürlich nicht in dem Moment sagen: «Aha, ihr seid Drogen-fahnder, und Drogen dealen, Drogen konsum-ieren, Drogen kaufen, verkaufen etc, dieser ganze Bereich ist doch ganz klar verbunden mit Schwarzen Menschen.» Nicht ohne Grund wird in der Hasenheide und im Görlitzer Park jeder Schwarze Mensch kontrolliert: rassistische Zuschreibungen verorten Drogen fast explizit bei Schwarzen Menschen. Gerade die Polizisten lernen, besonders als Drogenfahnder, fast aus-schließlich Schwarze Menschen nach Drogen zu durchsuchen. Das ist nicht nur der Fall, weil sie Rassisten sind - vielleicht sind sie keine Rassisten, das kann eine außenstehende Person nicht beurteilen. Doch ihr Auftrag lautet: wenn du Schwarze Menschen siehst, sind diese verdächtig Drogendealer zu sein. Und so werfen sie Amare B. zu Boden und finden auch einen Grund, warum sie ihn in dieser Weise miss-handeln müssten. Aber das Gericht nimmt all dies nicht

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20 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Workshop II: Racial Profiling vor Gericht

wahr. Auch hier bedeutet es nicht, dass die einzelnen Richter Rassisten seien. Vielleicht sind sie es, vielleicht sind sie es auch nicht. Aber sie sehen Rassismus gar nicht als Thema; sie haben kein Verständnis dafür, dass die Gesellschaft rassistisch organisiert ist, dass die Polizei und die Ermittlungsbehörde rassistisch agiert, indem sie zum Beispiel manche Fälle auf-nehmen und manche Fälle einstellen. Das alles blenden sie aus. Das deutsche Justiz-system hat keinen Begriff von Rassismus. Das bedeutet, dass sie im Gerichtssaal ein Phänomen nicht als rassistisch definieren können. Gleichzeitig empfinden sie sich als neutral.

Justizia ist nicht neutral

Eins der größten Probleme ist der in Deutschland stark herrschende Mythos, dass Gerichtbarkeit neutral sei; diesen Mythos gilt es zu dekonstruieren. Die Polizei, Ermittlungsbehörde,Staatsanwaltschaft und Gerichtbarkeit sind keine neutralen Institutionen; auch sie sind in dieser rassistischen Gesellschaft verankert. So müssen sie, wenn sie diese nicht bekäm-pfen, rassistisch agieren be-ziehungsweise rassistisch nicht-agieren: entweder sie verleugnen Rassismus, oder sie agieren rassistisch. Heute wird kein bedachter Polizei-beamter, Staatsanwalt oder Richter sich eine offene rassistische Bemerkung erlauben. Was allerdings geschieht, ist die ständige Verleugnung von Rassismus in den Institu-tionen und in der Struktur. Indem Rassis-mus auf individuelle Rassisten und auf die Neonazis geschoben wird, können Institu-tionen als frei von rassistischem Agieren erklärt werden. Was in Amare B.s und andere Fälle in Bezug auf Gerichtbarkeit auszeichnet ist, dass das Gericht kein ein einziges Mal die Möglichkeit thematisierte, Rassismus könne

eine Rolle spielen. Stets wird so geurteilt, als ob Rassismus gar nicht existiere. Weil die Verfassung vorschreibt, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien und kein Mensch wegen ihrer/seiner «Rasse» diskriminiert werden dürfe, erscheint es dem Justizsystem so, als ob es tatsächlich keine Diskriminierung gebe – weil das Gesetz sie verbietet. Das aber ist nicht nur Verleugnung, sondern auch ein großer Feind einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft. Mit dieser Annahme der Colorblindness/ Farbenblindheit herrscht die Annahme, es gebe keinen Rassismus. Und diese Colorblindness in dem gesamten System spielt eine der Hauptrollen. Ein weiteres Problem ist, dass die überwiegende Mehrheit der im juristischen Komplex beteiligten Personen nicht von Diskriminierung betroffen sind und deswegen das Problem auch nicht sehen. Sie mögen das Phänomen vielleicht diskutieren oder sich theoretisch und wissenschaftlich für das Thema interessieren, aber sie erleben keine Diskriminierung. Aus diesem Grund investieren sie nicht viel in diesen Bereich. Das geschieht nicht aus bösem Willen, sondern weil Diskriminierung für sie kein Thema darstellt. Das mag auch er-klären, weshalb Diskriminierung im gesamten justiziellen Bereich nicht als ein Phänomen verstanden wird.

Ausblick

Die Gerichtbarkeit und alle beteiligten Institutionen könnten sehr viel kompetenter agieren, wenn sie, anstatt zu verleugnen, dass Rassismus als ein Phänomen in der Gesellschaft existiert, sie dieses wahr-nehmen und akzeptierten. Damit könnten sie auch Aussagen entsprechend auswerten. Eine Möglichkeit dazu sind Veranstaltungen wie diejenigen in der Reihe «Rassismus und Justiz», die in der politischen Arbeit«Sensibilisierung» genannt werden.

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21 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Workshop II: Racial Profiling vor Gericht

Es ist sinnvoll, auch zu anderen Ländern zu schauen, wie dort die Lage ist. So fällen auch in einem Land wie den USA, wo die Bürgerrechtsbewegung bereits so lange existiert, Gerichtsurteile in der Mehrheit der Fälle nicht anti-rassistische Urteile. In offensichtlichen racial profiling Fällen ent-scheiden Gerichte zugunsten der Polizei-beamten und zu Ungunsten für die Betrof-fenen. Es wäre deshalb illusionär anzu-nehmen, dass sich die Lage in Deutschland bald verbesserte. Doch es muss begonnen werden, dass die Gerichte Rassismus thematisieren,Rassismus als ein vorhan-denes Phänomen erkennen oder im gesamten Justizsystem Rassismus als ein Phänomen sehen und entsprechend ihr Ausbildungssystem ändern. Zuversicht und Hoffnung bietet in jedem Fall die gesellschaftliche Debatte. Im kleinen Raum Berlin ist es KOP zum Beispiel auch durch ihre Arbeit gelungen, dass sich viel mehr Menschen als vor zehn Jahren damit beschäftigen. Doch dies ist nicht in erster Linie KOPs Verdienst: es sind die Men-schen, die stark davon betroffen sind, die in den Vordergrund kommen und das ganze System in Frage stellen, indem sie die juris-tische Auseinandersetzung suchen. Und das ist die Sache, die immer unterstützt werden muss; diese Debatte muss ständig forciert werden.

Page 24: Rassismus und Justiz

Workshop II: Racial Profiling vor Gericht

22 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Initiative Schwarze Menschen in Deutschland mobilisiert gegen «Racial Profiling »

von Tahir Della

Seit März 2012 läuft eine groß angelegte Kampagne gegen die Praxis des Racial Profiling, die von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland maßgeblich gefüh-rt wird. Ausschlagebend war ein Fall, bei dem sich ein Betroffener gegen die rassistischen Kontrollmethoden der Polizei zur Wehr set-zte. Im Dezember 2010 war ein Schwarzer Deutscher auf der Bahnstrecke Koblenz/Frankfurt/M. von der Bundespolizei auf-gefordert worden, sich auszuweisen. Er hatte dies verweigert, weil er schon häufiger von der Bundespolizei gezielt kontrolliert worden war, während weiße Mitreisende sich nicht ausweisen mussten. Daraufhin wurde er zur Feststellung der Personalien auf das nächstgelegene Polizeirevier gebracht. In Folge strengte der Betroffenen eine Zivilklage gegen die Bundespolizei an. Mit der Klage-abweisung schloss sich das Verwaltungs-gericht Koblenz der polizeilichen Einschätzung an: Es sei legitim, den Kläger allein aufgrund seiner äußeren Merkmale zu kontrollierten, weil «diese Merkmale ins Raster gefallen» waren. Durch Entscheidung des Gerichts wurde die Praxis des Racial Profiling zum einem erstmalig als Handlungs-praxis eingestanden und zum anderen als angemessene Polizeiarbeit eingeschätzt. Dies widerspricht in gravierender Weise internationalen Menschenrechtsstandards, die diese Praxis als äußerst kritisch einstufen, da sie Rassismus manifestiert. Racial Profiling wird seit Jahren von den unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Gruppen kritisiert und stellt für Schwarze Menschen und People of Color (PoC) kein neues Phänomen dar. Diese Art der Personenkontrollen wird regelmäßig von der Polizei in Zügen, an Bahnhöfen und Flughäfen sowie an anderen öffentlichen Plätzen durch-geführt.

Schwarze Menschen und PoC werden somit immer wieder zu Verdächtigen erklärt, die als vermeintlich Illegalisierte in Deutschland leben. Damit wird die längst widerlegte These tradiert, dass Deutschland sich aus einer homogenen weißen Bevölkerung zusammensetzt. Diese Zuschreibungen sind und waren nie zeitgemäß und gehen an der gesellschaftlichen Realität Deutschlands vorbei. Diesen Menschen wird durch die Stig-matisierung als «ausländisch» die Gleich-heit vor dem Gesetzt entsagt und verdeut-licht, dass Deutschland sie bis heute immer noch nicht als gleichgestellte Mitglieder der Gesellschaft betrachtet.

Im Oktober 2012 entschied das Oberver-waltungsgericht Koblenz, dass Personen-kontrollen, die ausschließlich aufgrund äußerer Merkmale wie der Hautfarbe durchgeführt werden, nicht mit dem Grund-gesetz Artikel 3 Absatz 3 vereinbar sind. Mit seiner Entscheidung sprach sich das Gericht gegen die Praxis des so genannten Racial Profiling aus und hob die erstinstanz-liche Entscheidung vom Februar 2012 auf. Dabei bezog es sich klar auf Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes, der ein Diskrimi-nierungsverbot beinhaltet. Hinzu kommend entschuldigte sich die Bundesregierung bei dem jungen Mann.

Schwarze Menschen und PoC werden somit immer wieder

zu Verdächtigen erklärt, die als vermeintlich

Illegalisierte in Deutschland

leben.

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23 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Workshop II: Racial Profiling vor Gericht

Der Kläger, sein Anwalt und wir als Aktivist_in-nen verbuchen dies als einen ersten Etappen-sieg. Dennoch ist noch keine gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung erreicht, die uns zu vollwertigen Teilhaber_innen erklärt. Mit der offiziellen Kampagne «Stop Racial Profiling» setzt sich die ISD nicht nur für den durch das Grundgesetz garanti-erten Gleichstellungsgrundsatz ein, sondern fordert auch den Aufbau von unabhängi-gen Meldestrukturen und die Abschaffung von verdachtsunabhängigen Kontrollen. Die Forderungen wurden in zwei Petitionen von mehr als 25.000 Petent_innen unterstützt. Die Thematik soll nun durch gezielte Öffentlich-keitsarbeit, Podiumsdiskussionen und Ak-tionen weiter vorangetrieben und demnächst auch auf parlamentarischer Ebene behandelt werden.

Weitere Informationen zum Thema und der Initiative der ISD finden Sie unter:www.isdonline.de

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24 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

DiskussionspunkteRacial Profiling for GerichtWie kann das System von Racial Profiling durchbrochen werden?l Zentrales Problem: In Deutschland wird Rassismus immer noch ausgeblendet. Beispiel NSU: Der öffentliche Diskurs um die Thematik hat deutlich gemacht, dass Rassismus nicht als gesamtgesellschaftliches Problem angesehen wird.

l Es herrscht die Angst, Rassismus als grundsätzliches, in der Gesellschaft tief verankertes und historisches Problem anzuerkennen, da dies bedeuten würde, dass weder einzelne Verurteilung und Gesetzesverschärfung, noch spezifische Programme oder «interkulturelle Diskussionen» ausreichen werden, um das Problem zu beseitigen.

l Deutsche Behörden, ob Justiz oder Ermittlungsbehörden, sind Teil der Gesellschaft und spiegeln/verkörpern den Rassismus, der darin herrscht, Strukturen sind rassistisch geprägt.

l Nach 1945 wurde der Blickwinkel nicht wirklich verändert. Die Amtsträger_innen und Strukturen sind im Wesentlichen die gleichen, nur der Handlungsspielraum hat sich etwas verschoben.

l Die Verarbeitung der Shoah war und ist unzureichend, es wird selten thematisiert, inwieweit die Gesellschaft beteiligt war. So gibt es in Deutschland weiterhin einen großen Anteil bekennender antisemitisch eingestellter Personen bzw. Menschen mit antisemitischer Einstellung.

l Die weiße Mehrheitsgesellschaft ist, ob bewusst oder unbewusst, Teil des Problems bzw. dafür verantwortlich. Erst wenn sich die Gesellschaft verändert, kann sich auch strukturell etwas verändern.

Wie kann das Thema Rassismus in der Polizei von Jurist_innen in das Gericht hineingetragen bzw. dort sichtbar gemacht werden?l Was sich als sehr fruchtbar erweist ist der Austausch von Wissensbeständen zwischen Aktivist_innen und Anwält_innen. Die Arbeit beider Parteien sollte möglichst aufeinander abstimmt werden. Die juristischen Perspektiven sollten in der Kampagnenarbeit mitberück- sichtigt werden und vice versa.

l Das grundlegende Problem ist, dass Rassismus an sich kein Straftatbestand ist; weder ein_e Anwält_in, noch das Gericht sich daher auf einen solchen beziehen kann.

l Es gibt jedoch Wissen und Forschungen, die dazu Aussagen treffen. Dieses Wissen muss von Aktivist_innen an Anwält_innen weitergetragen werden, damit sie Aktivist_innen zu arbeiten können.

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25 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Weiteres Problemfeld: Fehlen von eigener Rassismuserfahrungen von Personen, die im deutschen Justizsystem tätig sindl Oft herrscht eine diffuse Vorstellung des Phänomens Rassismus. Da ein Großteil der Personen, die im juristischen Komplex beteiligt sind, nicht von Rassismus betroffen sind, bleibt das Problem unbeachtet.

l Diese Personen beschäftigen sich zwar eventuell auf einer theoretischen Ebene mit Rassismus, erleben jedoch selber keine auf Rassismus basierende Diskriminierung. Daher ist auch hier eine Sensibilisierung wichtig.

Befürchtung bei solch einer Sensibilisierungsarbeit bspw. in Form von «Diversity Training» ist, dass von Juris_tinnen sowie Polizeibeamt_innen die Teilnahme an derartigen Fortbildungen als Absolution für weiteres rassistisches Handeln gehandhabt wird. D.h.:l Polizist_innen und Jurist_innen könnten Vorwürfe von rassistischen Denkweisen oder Handlungsmethoden jederzeit von sich weisen, indem sie sich auf solche Trainings beziehen.

l Das gleiche Problem gilt für sogenannte «Quoten Migrant_innen» in der Justiz und vor allem in der Polizei. Auch hier kann immer darauf verwiesen werden, dass auch Menschen, die potenziell von Rassismus betroffen wären, im juristischen- bzw. polizei- lichen Betrieb tätig sind, und aus diesem Grunde Rassismus in diesen Bereichen weitest- gehend ausgeschlossen werden kann.

l Ferner handelt es sich bei diesen „Quoten“ in der Regel um weiße Migrant_innen.

DiskussionspunkteRacial Profiling for Gericht

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

Trotz massiver Mieterhöhungen, unkontrol-lierter Ausbreitung einer einkommens- und interessensstarken alternativen Mittelkasse, trotz unerhört boomendem Immobilien-markt und schrecklich innovativer Zwischen-nutzunsagenturen mit all ihren negativen Begleiterscheinungen, kurz gesagt: trotz dieser und vielen weiteren alarmierenden Veränderungen wird Neukölln von Seiten der überregionalen, reißerischen Medien auf die öffentliche Bühne gezerrt, um die angebliche Existenz gefährlicher »Parallelgesellschaften« und einer außer Kontrolle geratenen »Unter-schicht« zu beweisen. Neukölln ist nachwievor repräsenta-tiver und territorialer Bezugspunkt, um die Vorstellungen von Terrorgefahr, Kriminalität, Angriffen auf Freiheitsrechte, Integrations-verweigerung und Faulheit zu veranschau-lichen. Gleichzeitig wirkt der Neukölln-Diskurs zurück auf diese Themen, indem durch die vermeintliche Sichtbarkeit eher ab-strakte Problemdeutungen veranschaulicht werden. Neukölln ist somit sichtbarer Beweis und zugleich stichhaltiges Indiz für einen gesellschaftlichen Diskurs, der (Post-)Migrant_innen und arme Menschen zum Problem erklärt. Berlin-Neukölln ist Ausgangs-punkt und Ergebnis für alles gesellschaftlich Bedrückende, Bedenkliche und Bedrohliche.Grund genug, sich die Fragen zu stellen, wann die Karriere von Neukölln als »Prob-lembezirk« begann und was hinter der wirk-mächtigen Erzählung von »Neukölln als Problem« steckt. Um den Diskurs über Neu-kölln fein säuberlich in seine Bestandteile zu zerlegen, orientiere ich mich an den wegweisenden Arbeiten des Demontage-Experten Michel Foucault und verwende die darauf aufbauend hergestellten handlichen Werkzeuge der Kritischen Diskursanalyse des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS).

Gemein, gefährlich, gesetzlosBerlin-Neukölln im Spiegel der Medien

von Sebastian Friedrich

26 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Das Vorhaben wird in die Tat umgesetzt, indem ich mich exemplarisch der medialen Repräsentation von Neukölln im Nachrichten-magazin Der Spiegel annehme. Seit 1990 bis einschließlich 2011 erschienen insgesamt 334 Artikel im Spiegel, in denen mindestens einmal der Begriff Neukölln fiel. Diese Artikel sind Ausgangspunkt für die Ermittlung der Einzelteile des Neuköllndiskurses, die mit einer Betrachtung der Oberfläche beginnt, wodurch die Häufungen und die Bezeich-nungspraxis sichtbar werden. Anschließend stehen zwei zentrale tragende Pfeiler des Diskurses im Fokus, die anhand zweier Artikel exemplarisch untersucht werden (»Endstation Neukölln« und »Rütli«).

Es wird sich zeigen, in welcher Weise Probleme in Neukölln gedeutet werden und welche Effekte diese Problemwahr-nehmungen haben. Dabei wird eine Choreo-graphie der Konstruktion eines »Problem-bezirks« deutlich, die über Neukölln hinaus-geht: Zunächst wird in dramatisierender Weise problematisiert, bevor (zumeist repressive) Handlungsmöglichkeiten als alternativlos präsentiert werden. Außerdem wird deutlich, dass das medial geschaffene Label Neukölln Rassismus und Klassenver-hältnisse dethematisiert, was abschließend am Beispiel der populären Forderung nach »sozialer Mischung« aufgezeigt wird.

Berlin-Neukölln ist Ausgangs-

punkt und Ergebnis für alles

gesellschaftlich Bedrückende, Bedenkliche und Bedrohliche.

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

Probleme statt Arbeiter

Die Anzahl der Artikel über Neukölln nimmt im Zeitverlauf stark zu. Während bis ein-schließlich 2005 Neukölln lediglich im Durch-schnitt in knapp zehn Beiträgen pro Jahr erwähnt wird, ist mit dem Jahr 2006 ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Zwar ebbt das Interesse an Neukölln im Spiegel 2007 im Vergleich zum Vorjahr deutlich ab. Insgesamt stabilisiert sich die Zahl der Nennungen pro Jahr jedoch. Zwischen 2006 und 2011 wird Neukölln jährlich durchschnittlich in fast 30 Beiträgen erwähnt. Das zunehmende Interesse hängt mit einer gesteigerten Problematisierung zusammen, was sich exemplarisch an den Bezeichnungen für Neukölln darstellen lässt. Ein Blick auf die Attribute, mit welchen Neu-kölln versehen wurde, zeigt, dass der Stadtteil in den 1990er Jahren zunächst als »Arbeiter-viertel« beschrieben wird, ab 2006 setzt sich allerdings das Attribut des »Problembezirks« durch.

Dass Neukölln nicht als »Problemviertel«, sondern als »Problembezirk« bezeichnet wird, ist nicht beliebig. Das Morphem »Bezirk« verweist auf einen örtlichen Zuständigkeitsbereich, zum Beispiel einen Regierungsbezirk. Ein »(Stadt-)Viertel« bezeichnet hingegen nicht eine Verwal-tungseinheit, sondern ein in den meisten Fällen aus von viel befahrenen Straßen oder Flüssen begrenztes soziales Bezugssystem, das räumlich und sozial durch die jeweiligen Bewohner_innen zu anderen (Stadt-)Vierteln abgegrenzt wird. Eine ähnliche Konnotation hat ein »Kiez«. Dieser verweist jedoch auf-grund der regionalen Bezeichnung noch mehr auf die von der dort lebenden Bevölkerung gezogenen Grenzen. Dass sich die Bezeichnung »Bezirk« durch-setzen konnte, lässt auf zweierlei schließen: 27 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Einerseits werden die Politiker_innen angerufen, die für die Verwaltungseinheiten zuständig sein sollten, andererseits werden den Bewohner_innen eines Bezirks weniger Handlungsfähigkeiten eingeräumt. Im Falle des »Problembezirks« sind sie nicht die-jenigen, die etwas ändern können, sondern die Politiker_innen sind gefragt. Mehr noch: Es wird sich zeigen, dass viele der Bewoh-ner_innen vielmehr als Teil des Problems angesehen werden.

High-noon bei der Endstation

Neukölln

Bis 1997 lassen sich allerdings keine thematischen Schwerpunkte in der Bericht-erstattung über Neukölln ausfindig machen. Das »Arbeiterviertel« Neukölln erscheint im Wesentlichen als unauffälliger Stadtteil. So wird in mehreren Beiträgen Neukölln als Wohnort vieler Künstler_innen, besonders aus der ehemaligen Sowjetunion, her-vorgehoben. Neukölln ist hier ein Ort, an dem schöne Piano-Konzerte stattfinden (Der Spiegel 47/1990) oder wo es sich bekannte Schauspieler_innen wie Katja Riemann gemütlich machen, da in Neukölln »großräumig und luxuriös« gewohnt werden kann. Eine Wende in der Berichterstattung markiert eine sechsseitige Reportage über Neukölln, die am 20.11.1997 erschien. Der vom Spiegel-Redakteur Peter Wensierski verfasste Beitrag »Endstation Neukölln« (Der Spiegel 43/1997) dient heute noch als Bezugspunkt, wenn über das Image von Neu-kölln diskutiert wird. Der Beitrag war auch Anstoß für zahlreiche kulturelle Angebote. So wurde etwa das Kulturfestival 48 Stunden Neukölln im Jahr 1999 als Reaktion auf das negative Bild von Neukölln in Folge des Spiegel-Artikels ins Leben gerufen. Der Beitrag dramatisiert die soziale Situation in Neukölln, das als Bezirk erscheint, in dem alles verloren scheint und es keinen Ausweg mehr gibt. Das Ausmaß der Dramatisierung offenbart bereits der Spiegeltypische

Neukölln nicht als

»Problemviertel«, sondern als »Problembezirk«

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

szenische Einstieg: »High-noon in Rixdorf: In der Neu-köllnischen Allee peitschen mehrere Schüsse über die belebte Straße. Wer kann, geht in Deckung. Einer bleibt auf dem Boden liegen. Wenig später berichtet eine Passantin der Polizei, was dann geschah: ›Ein Mann lief weg, ein anderer kam noch einmal zurück, setzte den Lauf seiner Waffe auf das Genick des Wehrlosen und drückte ab.‹ Vor dem Genickschuß hatte der Täter noch einmal seelenruhig nach-geladen, obwohl er bereits beobachtet wurde. Szenen wie diese gehören zum Alltag im Berliner Bezirk Neukölln. In den vergangenen Monaten registrierte der Polizeibericht nahezu wöchentlich eine Schießerei. Mal wird in der Fuldastraße aus einem fahrenden Auto heraus auf den Gehweg geschossen, mal müssen Notärzte in der Herrfurth-straße gleich mehrere Verletzte nach einem minutenlangen Feuergefecht abtransportieren. Im Frühjahr löschten bei einer wilden Schießerei in der Wissmannstraße mit insgesamt fünf Toten zwei Nachbarfamilien sich gegenseitig aus. Die blutigen Ausein-andersetzungen markieren den sozialen Niedergang im größten Bezirk der Hauptstadt«.

Der letzte Satz dieses Einstiegs deutet zunächst darauf hin, dass im Beitrag die beschriebene Kriminalität nicht ethnisiert wird, d.h. nicht in einer rassistischen Weise gedeutet wird. Auch die Einleitung zum Artikel lässt derlei nicht vermuten. Dort heißt es: »Im Zentrum boomt und glitzertBerlin. Doch an den Rändern verslumt die Metropole. Im Arbeiterbezirk Neukölln zeigen Verwahrlosung, Gewalt und Hunger den sozialen Niedergang an«. Verwahrlosung, Gewalt und Hunger erscheinen lediglich als Symptome für ein grundlegendes soziales

Problem. Die Deutung, warum es die Symptome oder das übergeordnete Problem gibt, ist an dieser Stelle noch offen. Erst im weiteren Verlauf werden Erklärungsangbote für die sozialen Probleme geliefert. Hier bietet der Autor im Wesentlichen drei Deutungen an: Zum einen wird immer wieder, wenn-gleich auch sehr vage, festgestellt, dass »die Politik« zu wenig gemacht habe. Die Angriffe auf die Kommunalpolitiker_innen und den Staat, der sich zurückziehe, lassen auf die Forderung einer irgendwie anderen Politik schließen.

Ein anderes Erklärungsmuster bezieht sich auf den Raum. Insbesondere im Norden Neu-köllns konzentriere sich das »Elend«: »Nirgendwo sonst in der Hauptstadt hocken die Menschen so dicht aufeinander wie hier«, erfahren die Leser_innen. Die, die dort leben, seien die Wendeverlierer, die massenhaft nach 1989 nach Neukölln gezogen sind. Hier scheint das Erklärungs-muster der »Entmischung« durch, wonach soziale Probleme insbesondere dann auftauchen würden, wenn sich zu viele Erwerbslose, arme Menschen, (Post-)Migrant_innen und andere als problematisch identifizierte Personengruppen »ballen«.Damit korrespondiert die im Teaser vorge-nommene räumliche Verortung ins Außen (»An den Rändern verslumt die Metropole«).

28 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Um den Zusammenhang von »Asyl« und »Ausländer-kriminalität« zu illustrieren, wird Neukölln anschließend als »›Untertauchgebiet‹ für

Schwarzarbeiter, abgelehnte Asylanten und Prostituierte

ohne Aufenthaltserlaubnis«

problematisiert.

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

Drittens werden implizit (Post-) Migrant_innen bzw. People of Color verantwortlich gemacht, was zwar an wenigen Stellen offen geschrieben wird, dennoch suggerieren die Verbindungen von Themen genau das. Das Deutungsmuster »Ausländerkriminalität« ergibt sich zum einen durch den Kontext der nur wenige Wochen zurückliegenden Debatte um Gerhard Schröders Forderung »Kriminelle Ausländer raus« und zum anderen durch die weiteren Beispiele für Kriminalität, bei denen die (vermeintlichen) Täter_innen hinsichtlich ihrer (angenom-menen) Herkunft markiert werden. Es wird etwa vom Versuch von »100 türkische[n] Straßenkids« berichtet, die gemeinsam mit ihren Eltern Festgenom-mene befreien wollten. Der einzige Akteur, der als »Jugendkrimineller« mehr als ein-mal zu Wort kommt, ist ein Jugendlicher, der gemeinsam mit seinen Freunden als die »jungen Türken« bezeichnet wird. Außer-dem wird »Asyl« mit »Ausländerkriminalität« verbunden. Die als Drogenverkaufsplatz identifizierte Hasenheide sei »fest in schwarz-afrikanischer Hand«. Um den Zusammen-hang von »Asyl« und »Ausländerkriminalität« zu illustrieren, wird Neukölln anschließend als »›Untertauchgebiet‹ für Schwarzarbeiter, abgelehnte Asylanten und Prostituierte ohne Aufenthaltserlaubnis« problematisiert. Hier wird Kriminalität mit Einwanderung bzw. der vermeintlichen oder tatsächlichen Herkunft verknüpft. Effekt dieser Verknüpfungist eine Ethnisierung von Kriminalität: Wird über Kriminalität berichtet, wird reflexartigeine Verbindung zur vermeintlichen oder tatsächlichen Herkunft der Täter hergestellt. Durch diese Verknüpfung wird suggeriert, die Herkunft sei ursächlich für Kriminalität. Die Ethnisierung von Kriminalität führt etwa dazu, dass rassistische Vorstellungen mit Begriffen wie »Drogendealer« oder »Organisierte Kriminalität« verbunden werden. Nach der bereits 1998 erschienenen und nachwievor sehr lesenswerten Studie »Von deutschen

Einzeltätern und ausländischen Banden des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozial-forschung (DISS) werden bei der Bericht-erstattung über Kriminalität in der Tendenz Straftaten von (Post-) Migrant_innen in Zusammenhang zu organisierter Kriminalität und »Bandenkriminalität« gesetzt, während Straftaten von Deutschen als Einzelfälle behandelt werden. Der Tenor von »Endstation Neukölln« prägt fortan die Berichterstattung, wenngleichdie Beiträge längst nicht so dramatisierend sind wie dieser. Bestimmend bis 2006 ist die Problematisierung von Neukölln, obschon die diagnostizierten Problem-felder sich ausdifferenzieren: Armut, die Existenz einer nutzlosen »Unterschicht« und vermehrt − nicht erst seit dem 11.9.2001 − »Islamismus« sowie »Ausländerkriminalität«. Zugleich werden kaum Handlungsmöglich-keiten thematisiert. Vor diesem Hintergrund erscheint der Titel des Beitrags »Endstation Neukölln« in einem besonderen Licht. Das Bild der »Endstation« lässt den Glauben an Entwicklungsmöglichkeiten nicht zu − es kann im Grunde nichts mehr getan werden. In Neukölln ist Fortschritt unmöglich, es liegt am Rand, in der Peripherie, wo die Bahnlinie endet und der einzige Ausweg ein Ticket zurück ins Zentrum ist.

Bombenalarm in der verlorenen Welt

Im weiteren Verlauf rückt Neukölln allerdings nicht als abgeschriebener Bezirk ins Zentrum, sondern als Bezirk, in dem etwas getan werden muss. Diese Verschiebung hat sogar geo-graphische Konsequenzen für Neukölln. 2011 schrieb der gleiche Spiegel-Redakteur, der 1997 die »Endstation Neukölln« schuf, über ein Neukölln, das zwar heute noch zentral als sozialer Brennpunkt wahrgenommen werden würde, wo sich allerdings auch viel geändert habe. Mehr noch: Heute blickten viele ehe-malige Neuköllner_innen »mit Wehmut auf den berüchtigten Bezirk.

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Denn das Elend zieht um, und viele Prob-leme der Stadt verlagern sich in die Peri-pherie, in neue Ghettos, die nun dem gefürchteten Beispiel der Pariser Banlieue ähnlicher werden« (Der Spiegel 9/2011). In diesem Beitrag wird Neukölln nicht mehr als Randbezirk, sondern im »Zentrum« der Stadt verortet. Dieser veränderten − wenngleich auch keinesfalls dominanten − Vorstellung von Neukölln ging ein lange Phase voraus, in der zwar weiterhin in dramatisierender Weise Neukölln problematisiert wurde, in der aber zugleich (meist) repressive Handlungs-vorschläge gemacht wurden. Ein einschneidendes Ereignis für den Diskurs über Neukölln ist in diesemZusammenhang die Debatte um den Inhalt eines Briefs des Kollegiums der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln Ende März 2006. Die Lehrer_innen beklagten die Situation an ihrer Schule. Nicht zu vergessen ist der Kontext der »Rütlidebatte«, der häufig über-sehen wurde. Die Debatte um den Brief der Rütli-Lehrer_innen reiht sich ein in eine intensive öffentliche Diskussion um »Gewalt an Schulen«. Ereignisse, bei denen Lehrer-_innen und Schüler_innen durch Schüler-_innen getötet wuden, verstärkten die bereits vorher etablierte Wahrnehmung, dass die Gewalt an Schulen ständig steige. Im April 1999 kam es zu einem Amoklauf an der Columbine High School in der US-amerika-nischen Stadt Littleton, der auch in Deutschland für Aufsehen sorgte. Zentrales Ereignis war allerdings der Amoklauf eines 19-Jährigen im April 2002 an einem Gym-nasium in Erfurt, bei dem insgesamt 17 Menschen starben. Etwa ein Jahr später schoss ein 16-Jähriger in einer Realschule auf eine Lehrerin, nahm eine Schülerin als Geisel und tötete sich anschließend selbst. Die Ereignisse zogen jeweils Debatten um Themen wie Jugendgewalt, »Killerspiele« und das scheinbare Versagen »antiautoritärer Pädagogik« nach sich. Das Thema Einwanderung wurde bei den genannten Diskussionen nicht themasiert, auch weil die

Täter_innen nicht in rassistischer Weisemarkiert wurden. Vor diesem Hintergrund stellt die »Rütlidebatte« nicht nur für den Neukölln-diskurs ein einschneidendes Ereignis dar, sondern auch für die Themenkomplexe Jugendgewalt und Schule, da diese im Verlauf der Debatte mit der Deutung von »Integrationsmissständen« verbunden wer-den, was sich beispielhaft am Titel-Beitrag des Spiegel kurz nach der Veröffentlichung des Briefes der Lehrer_innen der Rütli-Schule darstellen lässt. Der zwölfseitige Beitrag »Die verlorene Welt«, der am 03.04.2006 erschien (Der Spiegel 14/2006), markiert eine Wende im Neuköllndiskurs, da zum einen bereits etablierte Vorstellungen bedient und zugleich neue Erklärungen für die diagnosti-zierten Probleme ausgemacht werden sowie mögliche Handlungsoptionen im Zentrum stehen. Sowohl der Inhalt als auch die Problemdeutung werden bereits im Teaser präsentiert: »Es sind Brandbriefe, Bankrotterklärungen und Hilferufe: Die Lehrer mehrerer Berliner Hauptschulen klagen über die Unmöglich-keit ihrer Aufgabe«. Zwar finden sich im Text sehr widersprüchliche Erklärungsmuster, dennoch wird überwiegend ein Zusammen-hang zwischen der Gewaltbereitschaft und der (sozialen und »ethnischen«) Herkunft der Schüler hergestellt. An einer Stelle zur Problemdeutung heißt es: »Das Problem ist ein soziales: Die da oben haben die dort unten längst abgehängt. Reich wird reicher, arm wird ärmer, klug wird klüger, dumm wird dümmer, das ist die Welt, wie sie die Schüler von der Rütli-Schule sehen«. Diese Aussage wird direkt verbunden mit einem Absatz, der Gewalt mit der Herkunft begründet:

»Natürlich, manchmal und viel zu oft geht es um Schulen mit hohem Ausländer-anteil. Dass es gerade dort Probleme gibt, hat mit Integration zu tun oder ihrem Scheitern. Integration, gebaut auf Selbst-bewusstsein und Toleranz, findet kaum statt, von beiden Seiten aus nicht.

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›Rational wissen wir, dass unsere Gesell-schaft Zuwanderung braucht, emotional aber sind wir davon überzeugt, dass es zu viele Ausländer in Deutschland gibt‹, so der Berliner Schriftsteller Zafer Senocak«.

Das Versagen der Integration sei auf fehlendes Selbstbewusstsein und Toleranz»auf beiden Seiten« zurückzuführen. Diese rhetorisch als ausgewogen getarnte Aussage wird durch das unkommentierte Zitat eines Berliner Schriftstellers, der aufgrund seines Namens migrantisch markiert ist, in den Schatten gestellt. Der Sprechende spricht im Namen des kollektiven »Wir«, weil eine solche Aussage eine andere Bedeutung hat, wenn sie etwa von einem weißen Jugendamts-mitarbeiter getätigt wird. Von der Sprechendenposition losgelöst dient die Aussage aber dazu, Rassismus auf Ängste und Emotionen zurückzuführen und zum anderen dazu, Einwanderung als (rational) notwendiges Übel zu erklären. Dieses Fragment ist sinnbildlich für die Erklärungsmuster im gesamten Beitrag: Es werden verschiedene Erklärungen ange-boten (ohne sie zu vertiefen); es dominiert allerdings das Erklärungsmuster, wonach die (vermeintliche) Herkunft ursächlich für das diagnostizierte Problem der Gewalt an Schulen ist. Anhand der Beschreibung des All-tags einer Lehrerin zeigt sich, dass ins-besondere männliche Migranten als zentrale Problemgruppe ausgemacht werden. Wenn die Lehrerin in einer Klasse eine Ver-tretungsstunde machen muss, sitzen da »alles Mustafas und Alis, und alle sprechen sie an mit Ey Alte – wenn sie höflich sind«. Zuvor wird der Kriminologe Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) zitiert, der von einer »Macho-Kultur« spricht und meint, dass diese »besonders Migranten präge«. An anderen Stellen wird diese Deutung auf den vermeint-lichen muslimischen Glauben zurückgeführt. Hier deutet sich eine Ethnisierung von

Sexismus an, die die sexistischen Effekte des gesamtgesellschaftlichen Geschlechterver-hältnisses als Phänomen von (muslimischen) Migranten fokussiert. Zusätzlich werden die aufgewor-fenen Probleme in dramatisierender Weise mit dem Stadtteil erklärt. Betrachte man die Rütli-Schule, die für viele andere Schulen in Berlin und im Bundesgebiet stehe, sehe es so aus »wie einstmals in der Bronx« oder wie Städte, »die nicht mehr zu kontrol-lieren, nicht mehr zu regieren« sind. Auf das Ghetto-Symbol wird quer durch den Beitrag Bezug genommen. Mehrmals wird darauf verwiesen, Bewohner_innen würden Neukölln selbst »zum härtesten Ghetto der Stadt, des Landes, der Welt« stilisieren. An keiner Stelle finden sich allerdings selbst-kritische Positionen zur Verantwortung von Medien, die dieses Bild zumindest allzu gerne bereitwillig aufnehmen − oder gar mit hervor-bringen. Am Vergleich mit dem Amoklauf von Erfurt im April 2002 wird der Unter-schied der Problemdeutung deutlich: »Immer wieder mal sind in den vergangenen Jahren Schulen ins Blickfeld gerückt, Schulen wie das Erfurter Gutenberg-Gymnasium, das war nach Verbrechen, nach Katastrophen − dass der ganz normale Irrsinn des Alltags zur öffentlichen Kapitulation eines Kolle-giums führt, das war neu«. Der Unterschied zwischen dem Gutenberg-Gymnasium und der Rütli-Schule liegt darin, dass der Amoklauf in ersterer als ein Ausnahme-fall markiert wird, die an der Rütli-Schule diagnostizierten Zustände hingegen den alltäglichen Ausnahmezustand darstellen. Zudem verweist der Begriff der »Katastrophe« auf Unvorhersehbarkeit und Verschulden der Natur, der Begriff der »Kapitulation« auf die bewusste Aufgabe von Subjekten. Handelnde oder zumindest handlungs-willige Subjekte sind hier allerdings in erster Linie Sozialarbeiter_innen, Lehrer_innen und Verwaltungsangestellte, die machtlos erscheinen. Eher als Objekte erscheinen die Eltern der Schüler_innen der Rütli-Schule,

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die hauptsächlich als jene beschrieben werden, die sich nicht um ihre Kinder kümmern würden.

Zur Beseitigung der Probleme werden ins-besondere autoritäre Interventionen vorge-schlagen. So werden etwa die Vorschläge von Lehrer_innen einer anderen Schule referiert, die neben einer Diskussion über das dreigliedrige Schulsystem fordern: »die Präsenz eines Polizisten, der Schüler-konflikte deeskaliert und Ansprech-partner für Lehrer ist; die zügige, konsequente Durchsetzung von Strafen bei Regelverstößen; Eltern für die Vernach-lässigung ihrer Erziehungspflicht zur Verantwortung ziehen zu können; den Ein-satz aller juristischen Möglichkeiten zum verschärften Umgang mit jugendlichen Gewaltstraftätern; und die bessere Absicherung des Schulgebäudes, die schul-fremde Personen fernhält«. Auch der Einsatz zweier zentraler Symbole im Beitrag verstärkt sowohl die ethnisierende Problemdeutung als auch die Notwendigkeit harten Durchgreifens: Erstens werden die Deutungen von »Parallelgesell-schaften« im »Problembezirk« Neukölln durch das Symbol der »[anderen] Welt« verstärkt. Zweitens wird der als notwendig begriffene erhöhte Handlungsbedarf einer stärkeren Kontrolle und Repression durch militärische Metaphern gestützt. Das bereits im Titel verwendete Symbol einer abgeschotteten Welt wird im Beitrag häufig wiederholt und ist schon rein quantitativ auffällig: Insgesamt 14mal wird der Begriff »Welt« im Sinne der Welt der Schüler_innen, und einer Welt, in der die Rütli-Schule sich befindet, verwendet.

Das Symbol »Welt« steht hier für ein geschlossenes System. So wird als Welt wahlweise die Hauptschule bezeichnet, die Welt der »männlichen Migranten«, die »Ghetto-Welt« insgesamt oder der Stadtteil. Nicht nur die Welt der Anderen wird markiert, auch die Welt des Eigenen, so etwa die »Welt der Deutschen« oder, gleichbedeutend, die»Welt jenseits des Ghettos«. Die kon-krete Position der anderen Welt wird nicht verdeutlicht. So ist wahlweise vom »Neben-planet« und von der »Unterwelt« die Rede. Dass die »Welt« allerdings näher ist als gewollt und daher eine direktere Gefahr darstellt, zeigt folgendes Fragment: »Das Ganze [hier gemeint: die Rütli-Schule] ist eine Welt, die sieben Kilometer vom Bundes-tag entfernt ist und drei Kilometer vom Hotel ›Estrel‹, aus dem ›Wetten, dass ...?‹ und der ›Echo‹ übertragen werden«. Das Eigene wird hier repräsentiert durch den Bundestag und das Hotel Estrel, aus dem die Leitmotive deutscher Alltagskultur übertragen werden. Durch die Existenz der »Welt« von Rütli und Neukölln mitten unter der »Welt der Deutschen« besteht erhöhter Handlungsbe-darf. Das wird an der militärischen Sprache deutlich. Bereits im Teaser wird der Brief der Rütli-Lehrer_innen als »Brandbrief« bezeich-net, womit »die Bombe platzt[e]«. An ander-er Stelle ist von der »Terrorschule« und von einem »Zermürbungskrieg« zwischen Leh-rer_innen und Schüler_innen die Rede. Der»Brandbrief« der Lehrer_innen sei eine öffentliche »Kapitulation« und hätte »Spreng-kraft«. Wenn die Lehrer_innen vor einer Klasse stünden, gehe es um nichts anderes als darum, »zu überleben«. Anhand dieser Bezeichnungen werden implizit staatliche Institutionen angerufen, sich dieser kriegerischen Welt anzunehmen. In Anschluss an die Rütli-debattewerden proportional häufiger Zukunfts-und Handlungskonzepte thematisiert, wobei zumeist autoritäre Lösungsstrategienim Zentrum stehen. Die von Heinz Buschkowsky geforderte Kita-Pflicht (vor

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Deutungen von »Parallelgesell-schaften« im »Problembezirk«

Neukölln werden durch das Symbol der »[anderen]

Welt« verstärkt

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allem für Kinder »mit Migrationshintergrund«)oder das schnellere Durchgreifen gegen delinquente Jugendliche durch Jugend-richterin Kirsten Heisig zeigen beispielhaft die Popularisierung von Maßnahmen der Disziplinierung und Kontrolle von (Post-) Migrant_innen und sozial Marginalisierten(siehe dazu auch den Beitrag von Nadija Samour). Hinzu kommt, dass spätestens seit der Rütli-debatte Neukölln als zentraler Repräsen-tant eines »Problembezirks« im gesamtge-sellschaftlichen Diskurs etabliert wurde. Diese Deutung wirkt bis heute nach. Zwar wird − wie im erwähnten Beitrag, in dem sich Neu-kölln vom Randbezirk zum Innenstadtbezirk entwickelt − vermehrt auch darauf hinge-wiesen, dass Neukölln mittlerweile hipp sei und dort viele Künstler_innen und Student_innen wohnten, allerdings frischten die »Sarrazin-debatte« 2010 und die Debatte um das Buch von Heinz Buschkowsky (»Neukölln ist überall«) das Bild von Neukölln als »Problembezirk« wieder auf. Die Hauptthemen bleiben: Kriminalität, Migration und soziale Ungleichheit.

Mit der richtigen Mischung gegen Rassismus und Armut

Die Analyse des Neuköllndiskurses zeigtinsgesamt, dass Strukturen sozialer Ungleichheit bzw. Klassenverhältnisse in eine Art mediale Blackbox verschoben werden. Strukturelle Ursachen, wie die veränderte Produktionsweise im aktuellen neoliberalen Kapitalismus, der Umbau des Sozialstaats zum Workfare-Staat, Deregulierungen, Privatisierungen usw. werden kaum bis gar nicht thematisiert. Diese Deutungen spiegeln sich in den postulierten Lösungsvorschlägen wider. Deulich wird das bei der zentralen Problembeschreibung der »sozialen Ballung« bzw. der Forderung nach »Entmischung«. Die Vorstellung: Konzentrierten sich zu viele Arme an einen Ort, verfestigt sich eine »Unterschichtenkultur«. Ein Stadtteil mit

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zu vielen Armen drohe dann »immer weiter abzurutschen«. Aus dieser Beschreibung folgt die Forderung nach einer ausgewogenen »sozialen Mischung«. Wissenschaftlich fundiert wurde diese Vorstellung in der der deutschen Stadtsoziologie in den 1990er Jahren. Einige führende Stadtsoziolog_innen warnen seither vor wachsenden städtischen Segregationstendenzen oder gar vor latentem Bürgerkrieg. Auch in der Politik hat diese Perspektive schon lange großen Einfluss, wie die unzähligen Quartiersmanagements zei-gen. Finanziert werden sie vor allem durch »Soziale-Stadt«-Programme, denen es um-die »Revitalisierung« der Stadtteile und die Durchbrechung der »Abwärtsspirale« geht. Andrej Holm kritisierte bereits im Jahr 2009 in einem Beitrag in der Zeitschrift »Forum Wissenschaft« den Mythos der sozialen Mischung. Der Stadtsoziologe zeigte auf, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis für die Annahme gibt, dass soziale Mischung die Lösung für soziale Probleme darstelle. In einer jüngst erschienenen Studie »Quartiers-effekte in der Stadtforschung und in der sozialen Stadtpolitik« weist auch Anne Volk-mann darauf hin, dass für viele Menschen das Wohnumfeld keineswegs mit dem Sozialraum zusammenfällt, womit die zentralen Annahmen der Quartierspolitik in Frage gestellt werden. Das Argument der sozialen Mischung ist aber nicht nur aufgrund der praktischen Wirkungslosigkeit zu kritisieren. Zu kritisieren sind vor allem seine ideologische Funk-tion und seine praktische Konsequenz: die Verdrängung von Menschen. Sowohl im Spiegel als auch in den Richtlinien des aktuellen rot-schwarzen Berliner Senats heißt es in Bezug auf Mietenpolitik, das politische Ziel sei die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der »Berliner Mischung«. Damit ist die Stadt-planung Mitte des 19. Jahrhunderts gemeint, der die Annahme zu Grunde liegt, Arme und Reiche im Kiez würden sich gegenseitig

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wunderbar ergänzen und stützen. Der »Trick« des Entmischungs-arguments liegt darin, dass es soziale Un-gleichheit zwar thematisiert, allerdings in einer kulturalisierenden Weise. Weder nimmt es gesellschaftliche Ursachen von Armut in den Blick noch stellt es die Frage nach Verteilung von Ressourcen. Hinzu kommt, dass die Rede von der Entmischung mit der integrationspolitischen Figur der »Parallel-gesellschaften« verknüpft ist. »Parallel-gesellschaften« sind − wie schon aufgezeigt − im herrschenden Verständnis geprägt durch »Ausländerkriminalität«, »soziale Verwahrlo-sung« und »islamischen Fundamentalismus«. Doch nicht nur eine Ethnisierung von Kriminalität findet statt, auch eine Ethnsierung der Unterschicht ist festzu-stellen. Wie beim entsprechenden Dis-kurs um »faule Arbeitslose« soll auch die »migrantische Unterschicht« wegen eigen-er Versäumnisse selbst schuld sein an Armut und Erwerbslosigkeit. Doch diese Be-schreibung verbindet sich mit rassistischen Begründungen, etwa wenn ein angeblich mangelndes Leistungsverständnis bei Musli-men und Muslimas mit der Kultur des Islams begründet oder gar die Leistungsfähigkeit aufgrund genetischer Disposition generell in Frage gestellt wird (so wie es Thilo Sarrazin notorisch tut). All diese Positionen produ-zieren und stützen Rassismus und haben zur Folge, dass struktureller Rassismus als eine mögliche Erklärung für die soziale Margina-lisierung von Migrant_innen und ihren Kindern ausscheidet. Dass es eigentlich gar nicht um »soziale Mischung« geht, zeigt sich an der Auswahl der Stadtteile, über die überhaupt gesprochen wird. So sind zwar Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh und andere »Problembezirke« Thema, nicht aber jene Stadtteile, in denen sich die bürgerliche Klasse in eine Parallelgesellschaft abschottet, wie etwa Berlin-Zehlendorf oder Hamburg-Blankenese. Ob die sich abschottende Klasse an einer Mischung mit sozial Marginalisierten

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interessiert ist, darf angesichts der vielen gut situierten Eltern in zunehmend attrak-tiven, aber noch teilweise »problematischen« Bezirken wie Berlin Kreuzberg oder Neukölln, die ihre Kinder auf Schulen in bürgerlichen Stadtteilen schicken, bezweifelt werden. Die Forderung nach sozialer Mischung wird offensichtlich selektiv erhoben, und das ver-weist auf ihre repressive bzw. kontrollierende Funktion. Ein Beispiel dafür, wie Ausbeutung und Unterdrückung sowie der Zusammen-hang von Rassismus und Klassenverhält-nissen umfassend thematisiert werden kann, sind die Proteste gegen Mieterhöhungen am Kottbusser Tor, das zwar nicht in Berlin-Neukölln liegt, aber in einem Bezirk, der ebenfalls traditionell als »Problembezirk« gilt. Auch die Mieter_innen des Protest-Gecekondus mussten sich von Anfang an mit dem Mischungsargument auseinander-setzen, weil von Seiten des Senats immer wieder mehr soziale Mischung am Kottbusser Tor gefordert wurde, womit effektiv Miet-erhöhungen und Privatisierungen gemeint sind. Auf einer Veranstaltung Ende Oktober2012 unter dem Titel »Miete Mischung Mehrwert« meinte eine Aktivistin des Gecekondu dazu treffend und knapp: »Wir haben kein Problem mit der Mischung, sondern mit der Miete.« Seit Mai 2012 tragen die Aktivist_innen am Kottbusser Tor mit ihrer sichtbaren Präsenz dazu bei, die Kritik an herrschen-den Wohnverhältnissen, Rassismus und Klassenverhältnissen medial und politisch zu verankern. Das Gecekondu entwickelte sich nach kurzer Zeit zu einer Art sozialem Zentrum, in dem nicht nur die von steigen-den Mieten betroffenen Anwohner_innen sich begegnen, sondern ebenso Unterstützer_in-nen aus anderen Kiezen. Das Gecekondu ist ein eindrückliches Beispiel für alltägliche Kämpfe, durch die spaltende Diskurse unter-laufen werden.

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Zunächst ist festzustellen, dass die Auf-arbeitung des Themas sich deshalb als schwierig erweist, weil es im deutsch-sprachigen Raum kaum Veröffentlichungen oder gar Problembewusstsein diesbezüglich gibt. Zwar wird das Thema sowohl in den Medien, als auch in juristischen Veröffent-lichungen permanent bezüglich Migration als ein Faktor beleuchtet, aber obwohl ras-sistische und rassifizierte Positionen zum Thema ständig auftauchen, scheint bisher die rassismuskritische Auseinandersetzung – ja, die Kehrseite der ganzen Aufarbeitung – dethematisiert. Vor diesem Problem steht z.B. auch eine von der «Landeskommission Berlin gegen Gewalt»1 beauftragte Arbeitsgruppe, die sich aus Vertreter_innen migrantischer Commu-nities und Berliner Verwaltungsbehörden zusammensetzte, wenn sie schreiben «für die Arbeit der AG war es darüber hinaus von Bedeutung, dass es in Berlin in verschie-denen Bereichen an statistischen Materialien mangelt, die für eine differenzierte Analyse des Problems notwendig gewesen wären.» 2

Wenn von Kritiker_innen des Intensivtäterbegriffs diese Problematik überhaupt aufgegriffen wird, dann lediglich in der Hinsicht, dass es sich um eine Problemverlagerung oder diffamierendePauschalisierung3 von Migranten

1 Die Landeskommission ist ein von der Senatsver- waltung für Inneres eingesetzter Think Tank.2 S. 10, Bericht und Empfehlungen einer von der Landeskommission Berlin gegen Gewalt einge- setzten Arbeitsgruppe Gewalt von Jungen, männ- lichen Jugendlichen und jungen Männern mit Migrationshintergrund in Berlin (zu finden auf https://www.berlin.de/lb/lkbgg/gewalt_und_krimi nalitaetspraevention/jugend-und- gewaltpraeven tion/intensivtaeter/index.html)3 So z.B. Helmut Frenzel «Des Kaisers neue Kleidung oder das Neuköllner Modell» in Zeitschrift für Ju gendkriminalität und Jugendhilfe (ZJJ) 2011, S. 70.

Der Intensivtäterdiskurs aus juristischer SichtDethematisierung von Rassismus

von Nadija Samour

35 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

handele.4

Aufgrund dieser Ausgangslage, kann im Fol-genden an einigen Stellen nur mit Thesen gearbeitet werden, die aber hoffentlich zukünftig von interessierten und progressiven Bearbeiter_innen aufgegriffen werden.

Der Intensivtäterbegriff aus kriminologischer Sicht

Tatsächlich taucht der Intensivtäterbegriff in der Kriminologie auf, auch wenn er mit Skepsis verwendet wird. Zwar gibt es keine einheitliche Definition, aber generell wird er dafür benutzt, um das Phänomen zu beschreiben, dass viele Straftaten von einer kleinen und bestimmten Tätergruppe be-gangen werden. Allerdings wird in der Krimi-nologie hier weiter differenziert5, was die mediale, polizeiliche und justizielle Aufarbei-tung vermissen lässt. In Deutschland wurde der Begriff 1973 durch das LKA Nordrhein-Westfalen erstmals aufgegriffen. Hintergrund für das Interesse an dem kriminologischen Phänomen war die Logik: wenn diese kleine Tätergruppe, die für viele Straftaten verantwortlich ist, früh erkannt wird, und folglich dementsprechend behandelt wird, dann auch mehr Sicherheit herrschen würde. Doch schnell erkannte man, dass der Begriff des Intensivtäters zu unscharf ist, um diesem Phänomen zu begegnen, und dass

4 Im Folgenden werden Begriffe wie «Migrant» oder «Migrantionshintergrund» verwendet, weil sich der Diskurs hauptsächlich darauf bezieht. Damit soll aber nicht die Kritik an den Begriffen außer Acht gelassen werden. Auch wird im Folgenden die grammatikalisch männliche Form verwendet, weil sich der Intensivtäterbegriff hauptsächlich auf männlich sozialisierte Menschen bezieht.5 Eine gute Übersicht findet sich erstellt von Andrea Kopp in «Die Genese des Begriffs «Intensivtäter» in der kriminologischen Forschung», ZJJ 12, S. 265.

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

36 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

es das Problem nicht zu lösen vermochte.Nichtsdestotrotz erlebte der Begriff eine Renaissance nach der deutschen Wieder-vereinigung und der damit einhergehenden Neuordnung der Länderpolizeien. Der Intensivtäterbegriff etablierte sich nach und nach in der Kriminalpraxis. Gleich-zeitig widmete sich die Forschung auf Initiative der LKA’s und der Politik vermehrt diesem Problem6: ihr wurden die Daten aus der Praxis zur Verfügung gestellt, im Gegenzug erhielten die LKA’s Sonderaus-wertungen zur effizienteren Kriminalitäts-bekämpfung. Anhand der Untersuchungsergeb-nisse von Forschungsprojekten der LKA’s Sachsen und Bayern bspw. sollten Definitions-kriterien für den Intensivtäterbegriff ab-geleitet werden.7 Die LKA’s schafften mit diesen Sonderauswertungen eine Datenba-sis, auf deren Grundlage nun Universitäten und andere Forschungsinstitute arbeiten.8

Nicht nur diese engmaschige Verzahnung von Polizei und Forschung scheint fragwürdig, sondern auch die Heran-gehensweise, mit der aus Daten über sog. Intensivtäter erst Definitionskriterienfür diese geschaffen werden sollen.Die Befürchtung liegt nahe, dass sich die – grundsätzlich unabhängige – Forschung mit den ihr aus der Polizeiarbeit ausgewählten und vorgelegten Daten Analysen vornimmt, die der Polizei dienen, um ihre Maßnah-men effizienter zu gestalten. So wird der Verfolgung und Stigmatisierung eine wissen-schaftliche Basis verliehen.

6 Vgl. bspw. die Reihe «Jugendkriminalität und Jugendgefährdung in Nordrhein-Westfalen» im Auf trag des LKA NRW.7 Kopp, ZJJ 11, S. 267.8 aaO.

Kritik des Begriffs

Diese Überlegungen sollen die These un-terstützen, dass der Intensivtäterbegriff ein selbstkonstruiertes Problem beschreiben soll.Wie Eisenberg9 feststellt, ist der Begriff irreführend «auch im Hinblick auf eine ter-minologische Beeinflussung nicht nur der Öffentlichkeit, sondern ggf. z.B. auch von Laienrichtern, da es sich um – auf exekutiver Selektion beruhende - intensivverfolgte Tat-verdächtige handelt.»10

Damit spricht Eisenberg einen wichtigen Kern der Kritik an dem Intensivtäter-begriff an: der Begriff beschreibt nicht, sondern er erschafft und grenzt eine Gruppe ein, die wiederum erst dadurch entsteht, dass sie unter der besonderen Beobachtung der Ermittlungsbehörden gestellt wird. Hier wird auch deutlich, wie Racial Profiling dazu führt, dass vermeintlich Nicht-Deutsche bzw. Nicht- Weiße die Mehrheit der Intensivtäter darstellen. Eisenberg vermutet sogar, dass der Intensivtäterbegriff dazu dient, der Exekutive mehr Befugnisse zu erteilen, und verweist dabei auf § 27 ASOG, der es der(Berliner) Polizei erlaubt, als Intensivtäter geführte Personen unter polizeiliche Beobachtung zu stellen, und sie und deren Begleiter (z.B. bei einer Verkehrskontrolle) bei Antreffen anderen Polizei- und Zollbehörden zu melden. Des Weiteren wird aus kriminolo-gischer Sicht kritisiert, dass der Begriff es nicht schafft, das für die sogenannte Jugend-kriminalität übliche episodenhafte Auftreten zu fassen und hinsichtlich der Qualität der

9 Emeritierter Professor für Strafrecht, Krimino- logie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Freien Universität Berlin.10 Eisenberg, Rn. 85a, § 5 JGG Kommentar, 15. Auflage.

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

37 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Kriminogenese11 kaum aussagekräftig ist: es gilt in der Kriminologie als gesicherte Erkenntnis, dass (überwiegend männliche) Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren Straftaten begehen, was durchaus als Teil des Reifeprozesses zu bewerten ist. Das deutsche Jugendstrafrecht beruht auf dieser Erkenntnis, und reagiert daher auf Jugend-kriminalität mit der Maxime «Erziehen vor Strafen». Wenn nun aber Jugendliche als Intensivtäter gebrandmarkt werden, so er-hielte diese «isolierende Personalisierung ein nachhaltig stigmatisierendes Potential».12

Aufgrund der festgestellten Stigma-tisierungsgefahr, bevorzugt die kritische Kriminologie Begriffe wie «Persistenz» oder «Mehrfachauffällige». Auch die oben erwähnte Berliner Landeskommission gegen Gewalt sieht die Kritik und führt aus: «So ist insbesondere zu fragen, ob die Kategorisierung als Inten-sivtäter eine Beschleunigung des Krimina-lisierungsprozesses nach sich ziehen könnte, da hier eine wahrnehmungswirksame Bewer-tung der Täter - Person und nicht des Täter - Handelns erfolgt, die das Selbstbild der so Kategorisierten verändern könnte.»13

Hier wird auch ein weiteres Problem aufgeworfen: wer einmal als Intensivtäter ka-tegorisiert (oder stigmatisiert) wird, bei dem steigt die Wahrscheinlichkeit der «Eskalation» der Strafen. Folglich sind Freiheitsstrafen

11 Die Kriminogenese beschreibt auf der Grundlage einer expliziten oder impliziten Theorie den Lebenslauf des Delinquenten von der Geburt bis aktuellen Tat und bewertet diesen anhand von Kriterien, die ihrerseits wiederum zum Teil auf Kriminalitätstheorien beruhen; vgl. http://www.kriminologie.uni-hamburg.de/wiki/ index.php/Kriminogenese.12 aaO.13 S. 7, Heft Nr. 26, Landeskommission Berlin gegen Gewalt: Intensivtäter Teil I Ergebnisse der Analyse von «Intensivtäterakten» der Staatsanwaltschaft Berlin (zu finden auf: https://www.berlin.de/lb/ lkbgg/gewalt_und_kriminalitaetspraevention/ jugend-und- gewaltpraevention/intensivtaeter/in dex.html)

wahrscheinlicher als Verfahrenseinstellun-gen, Geld- oder Bewährungsstrafen. Und das obwohl das Jugendstrafrecht Verfahren zur informellen Erledigung vorsieht (Diversion),um der Stigmatisierung und der Gefahr erhöhter Rückfallquoten durch schwer-wiegender Sanktionierungen entgegen zu wirken. Dieses Problem soll weiter unten berlinspezifisch konkretisiert werden. Folg-lich sind Freiheitsstrafen wahrscheinlicher als Verfahrenseinstellungen, Geld- oder Bewährungsstrafen. Und das obwohl das Jugendstrafrecht Verfahren zur informel-len Erledigung vorsieht (Diversion), um der Stigmatisierung und der Gefahr erhöhter Rückfallquoten durch schwerwiegender Sanktionierungen entgegen zu wirken. Dieses Problem soll weiter unten berlin-spezifisch konkretisiert werden.

Verwendung in Berlin

So, wie der Begriff heute benutzt wird, haben sich folgende Kriterien herauskristallisiert: Anzahl der Delikte, Dauer der Auffälligkeit, Art der Delikte und Spezialisierung sind von Bedeutung. Für Berlin wurde daher mit der am 25.03.2010 von der Senatsverwaltung für Inneres die sogenannte Intensivtäterrichtlinie erlassen, in der folgende Definition für Berlin Anwendung finden soll:«Intensivtäter sind Straftäter, die verdächtig sind, entweder den Rechtsfrieden besonders störende Straftaten, wie z.B. Raub, Rohheits- und / oder Eigentumsdelikte in besonderen Fällen, begangen zu haben oder innerhalb eines Jahres in mindestens zehn Fällen Straf-taten von einigem Gewicht begangen zu haben und bei denen die Gefahr einer sich ver-festigenden kriminellen Karriere besteht».14

Um Intensivtäter besser erfassen und

14 Gemeinsame Allgemeine Verfügung zur Strafver folgung von Intensivtätern, Abl.Nr. 15/16.04.2010, 539,540.

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

38 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

«behandeln» zu können, wurde zudem in Berlin eine Spezialabteilung bei der Staats-anwaltschaft gegründet, Abteilung 4715. Hier wird die Intensivtäterkartei geführt, dessen Funktionsweise und Problematik in einem Artikel von Birte Brodkorb verdeutlicht werden.16 Brodkorb hatte 2005 für die Berliner Landeskommission gegen Gewalt an der Auswertung der Intensivtäterkartei mitgewirkt. Nach Ansicht des Justizsenats soll die Kartei dazu dienen, der Kriminalitäts-erscheinung der «Jungen Intensivtäter» effizient zu begegnen. Jeder Intensivtäter hat einen Staatsanwalt/ eine Staatsanwältin als «Betreuer_in», d.h. also wer bereits in der Kartei geführt wird, wird immer wieder von der/demselben Staatsanwalt/ Staatsanwältin angeklagt. Klare Kriterien für die Aufnahme in die Intensivtäterkartei scheint es nicht zu geben; ausschlaggebend sei nach Brodkorb grundsätzlich die Vielzahl der Straftaten. Die Aufnahme in die Kartei erfolge aber auch wegen der Bekannt- oder Verwandtschaft mit bereits vorhandenen Intensivtätern in der Kartei. Die gewissermaßen assoziierten Personen werden vorsorglich aufgenommen, und unterliegen so der Beobachtung durch die Staatsanwaltschaft. Neben den lücken- oder floskelhaften Begründungen für die Aufnahme in die Kartei, zeigt Brodkorb ein weiteres schwerwiegendes Problem auf. In der Kartei werden kindliche Normabweichungen aufgeführt, also «straf-bares» Verhalten während der Strafunmün-digkeit (unter 14 Jahren, vgl. § 19 StGB).

15 Siehe die Pressemitteilung 31/2004 des Justiz- senats vom 27.05.2004, http://www.berlin.de/sen/justiz/presse/ar chiv/20040527.20582.html 16 Brodkorb: „Berliner Umgang mit »Intensiv- tätern«“, ZJJ 06, S. 62.13 S. 7, Heft Nr. 26, Landeskommission Berlin gegen Gewalt: Intensivtäter Teil I Ergebnisse der Analyse von „Intensivtäterakten“ der Staatsanwaltschaft Berlin (zu finden auf: https://www.berlin.de/lb/ lkbgg/gewalt_und_kriminalitaetspraevention/ jugend-und- gewaltpraevention/intensivtaeter/in dex.html)

D.h. also das Jugendlichen ein Verhalten vorgeworfen kann, dass selbst gar nicht strafrechtlich verfolgbar ist, da sie es womöglich als Kinder begangen haben. Als Begründung für die («vorsorg-liche») Aufnahme in die Kartei oder sogar als Begründung für eine härtere Strafe, wird dieses kindliche Verhalten mit aufgeführt, und erfährt damit eine rechtswidrige, nachträgli-che Sanktionierung. Um an dieser Stelle bereits mit den Worten von Andrea Kopp Kritik zu üben: «Junge Erwachsene, die bereits erheblich in Formen gewinnorientierter oder sogar organisierter Kriminalität verstrickt sind, finden sich neben Strafunmündigen, für die die Prognose zukünftiger Gefährlichkeit fürdie Kategorisierung als Intensivtäter maß-geblich ist. Die Qualifizierung als Intensivtäter ist somit in hohem Maße Ausdruck der Annahme besonderer Eigenschaften durch Dritte und trägt somit sozial konstruktive Züge.»17

Weil die Aufnahme in die Intensivtäterkartei eine Eskalation darzu-stellen scheint, spricht Brodkob von einem «Rekrutierungapparat für zukünftige Rezidivisten18». Denn es gilt als gesicherte kriminologische Erkenntnis, dass schwer-wiegende Rechtsfolgen wie bspw. Freiheitsstrafen die Wahrscheinlichkeit für Rückfälle erhöht.

Rassistische Verstärkung des Intensiv-täterdiskurses

Die Berliner Landeskommission hingegen entkräftet die oben ausgeführte Kritik damit, dass Sanktionsentscheidungen ja weiterhin bei den Gerichten liegen, die sich mit dem Problem jugendlicher Delinquenz zu befas-sen haben, und das JGG mit der Möglichkeit

17 Kopp: Die Genese des Begriffs»Intensiv- tätern« in der kriminologischen Forschung, ZJJ 12, S. 265.18 Rückfällige.

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Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

39 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

der Jugendstrafe unabhängig von der Diskussion zu und über «Intensivtäter» Gren-zen für die erzieherische Beeinflussung in Freiheit sieht und setzt.19 Damit soll unter-stellt werden, dass die Justiz unabhängig von der politischen und medialen Aufarbeitung des Themas reagiert, und die Normen des JGG unbeschadet eines – im Folgenden als rassistisch klassifizierten – Diskurses ange-wendet werden. Es kann aber nicht unterstellt werden, dass sich die Justiz als Institution und Rich-ter_innen und Staatsanwält_innen als Teil dieser Institution frei von dem Diskurs wähnen. Vielmehr muss eine Wechsel-wirkung zwischen zwischen Justiz, Gesell-schaft und des Diskurses gesehen werden. Die Justiz ist Teil des Diskurses, mit der Tendenz ihn zu verstärken. Sie reagiert auf ihn, und gibt ihm auch Impulse durch Urteile, Pressemitteilungen oder auch durch bewusste Nichtverfolgung bestimmter Sachverhalte20. Hinsichtlich der Normen (also Gesetzgebung) ist eine Wechsel-wirkung zwischen Justiz und Gesellschaft aus Sicht der Rechtssoziologie anerkannt. Die Gesellschaft, ihre Vorstellungen und Prin-zipien beeinflussen das Recht und umgekehrt. Aus kriminologischer Sicht gilt es als gesichert, dass strafrechtliche Regelun-gen nicht unabhängig sind von außerrecht-lichen Normen, sondern dass der Grad ihrer Geltung von der Übereinstimmung mit diesen abhängt.21

Hinsichtlich der Normanwendung erscheint die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Wissen zur wesentlichen inhaltlichen Grundlage auf der Norman-

19 S. S. 7, Heft Nr. 26, Landeskommission Berlin gegen Gewalt: Intensivtäter Teil I Ergebnisse der Analyse von «Intensivtäterakten» der Staatsan- waltschaft Berlin.20 Aktuelles Beispiel: Nichtverfolgung von Sarrazin wegen Volksverhetzung durch Verfahrenseinstel lung durch die Staatsanwaltschaft.21 Singelstein, S. 122, Diskurs und Kriminalität, Duncker & Humblot 2008.

wendungsebene wird, noch schwer zu beantworten. Der Begriff der Anwendung verdeutlicht ja gerade, dass das Gesetz noch eines Anwendungsaktes bedarf.22

Die Normen unterliegen für die Anwendung eines Interpretationsvorgangs, der das Wissen des Anwenders, also der Justiz bedarf. So führt Singelnstein, Professor für Strafrecht und Strafverfahrensrecht an der FU Berlin aus: «Die Rechtsanwendung findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern im von gesellschaftlichen Wissensbeständen vorgegebenen Interpretationsrahmen.»23 Die Rechtsanwendung hat zudem Einfluss auf das gesellschaftliche Bild von Kriminalität, z.B. wie entsprechende Verhaltensweisen im Leben wahrgenommen werden und was unter den gesetzlich typisierten Formen abweichenden Verhalten verstanden wird. Die Strafverfolgungsinstanzen und ihre Subjekte agieren nicht nur aufgrund ihrer gesellschaftlichen Funktion von einer beson-deren Sprecherposition aus, sondern gerade weil sie auch als Institution sprechen; auch das einzelne Mitglied handelt als Teil der Institution und wird so wahrgenommen.24

Zur Veranschaulichung des aus-geführten soll ein prominentes, wenn auch vereinfachtes, Beispiel angeführt werden. Der ehemalige Abteilungsleiter der Abteilung 47 der Berliner Staatsanwalt-schaft Roman Reusch hatte 2007/2008 von sich Reden gemacht. Als sog. Hard-liner, vertrat er die Ansicht, jugendliche Intensivtäter müssten härter bestraft werden, und machte dies in Vorträgen und Fernseh-auftritten deutlich. Auch die Boulevard-medien25 und (andere) rechts-offene Medien

22 aaO.23 aaO.24 aaO. 25 «Deutschlands mutigster Oberstaatsanwalt» http:// www.bild.de/news/vermischtes/news/aus weisung-3399890.bild.html

Page 42: Rassismus und Justiz

Workshop III: Das Label «Neukölln» – Wie Intensivstraftäter gemacht werden.

40 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

(pi-news26, DeutschlandWoche27, Achse des Guten) interessierten sich sehr für seine Position «Kriminelle Ausländer ausweisen», und griffen diese dankend auf. Entgegen der deutlich rückläufigen Zahlen bezüglich (Jugend-)Kriminalität28, ließen sich Medien zu Dramatisierung hinreißen, und antworteten ihrerseits mit rassistische bzw. rassifizierte Darstellung. Warum gerade Reuschs Verlaut-barungen auf solch ein Interesse stießen, liegt auf der Hand: als Staatsanwalt und damit «Experte» wird ihm zugeschrieben, er wisse ja, wovon er rede. Die damit einher-gehende besondere Sprecherposition ver-stärkt zum einen den bereits vorhandenen rassistischen bzw. rassifizierten Diskurs; zum anderen wird deutlich, dass durch die (mediale) Aufmerksamkeit dieser Diskurs wieder in die Institution hinein getragen wird. Dass gerade Reusch der Abteilungsleiter für die Intensivtäterabteilung ist, und gleichzeitig die Auffassung (oder besser: Wahrnehmung) wie «die Masse der Intensivtäter wird von orientalischen Migranten gestellt»29 vertritt, lässt befürchten, welcher Art von Behandlung er den Intensivtätern zukommen lässt. Die oben erwähnte Stigmatisierung wird nun in eine rassistische bzw. rassifizierte übersetzt. Dabei werden andere rassistische bzw. rassifizierte Strukturen gänzlich außer Acht gelassen.

26 http://www.pi-news.net/2008/01/roman-reusch- migration-und-kriminalitaet/.27 http://deutschlandwoche.de.dd25630.kasserver. com/2008/01/05/berlins-justiz-maulkorb-fuer- mutigenoberstaatsanwalt/28 Vgl. nur Erkenntnisse des Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V http://www.kfn.de/Publikationen/KFN-Forschungs berichte.htm29 Vortrag Reusch bei der Hanns-Seidel-Stiftung zum Thema „Migration und Kriminalität“ Dezember 2007, interessanterweise zu finden auf der Web page des CDU Politikers Wolfgang Bosbach http://wobo.de/news/vortrag- des-ehemaligen- berliner-oberstaatsanwaltes-roman-reusch.

Probleme wie Racial Profiling, und die Tat-sache, dass Nicht-Deutsche/ Nicht-Weiße einem erhöhten Anzeigerisiko ausgesetzt sind, und daher die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diese als Beschuldigte von der Justiz verfolgt werden, finden keine Erwähnung. Auch die Tatsache, dass in gewissen Stadtteilen wie Neukölln, Wedding, Kreuzberg mehr Polizeipräsenz (und andere Formen der Überwachung und Repression) zu verzeichnen sind, als inanderen Stadtteilen, und dass dieses mit rassistischen bzw. rassifizierten und einkom-mensbezogenen30 Gründen zusammenhängt, und dadurch abweichendes Ver-halten sofort registriert und verfolgt wird, wird an keiner Stelle erwähnt. Auch wird eine Dethematisierung von Rassismus forciert, wenn z.B. unterschlagen wird, dass der «nicht-migrantische» Teil der in der Intensivtäterkartei Geführten, rechts-offene Deutsche sind. Die Auseinandersetzung mit dem Diskurs rund um sogenannte Intensivtäter zeigt eine Konzentration vieler Themen: Rassismus auf verschiedensten Ebenen, Repression durch Polizei und Justiz, eine korrumpierte Medienlandschaft, und das Funktionieren all dessen Hand in Hand. Die kritische Kriminologie hat hier bereits Fortschritte in der Demaskierung dessen gemacht, an denen die rassismuskritische Forschung und Direkte Aktion gut anknüpfen können.

30 Vgl. Vortrag Reusch bei der Hanns-Seidel-Stiftung zum Thema «Migration und Kriminalität», in dem er ausführt «...wobei das Gros der in Neukölln be- heimateten Täter aus Neukölln-Nord stammt, einem alten Berliner Arbeiterbezirk, und nicht etwa aus dem Süden Neuköllns, der eine überwiegend bürgerliche Sied lungsstruktur aufweist.»

Page 43: Rassismus und Justiz

41 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

DiskussionspunkteDas Label »Neukölln«

Gibt es eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff «Intensiv-straftäter», und was wird ausgeblendet, wenn der Begriff verwendet wird?

l Der Begriff wird dahingehend kritisiert, dass er einen rechtspolitischen Hintergrund hat.

l Mit dem Begriff findet eine Ausblendung und Dethematisierung von Rassismus statt: Es gibt auch weiße deutsche Intensivstraftäter, die bspw. auf Grund rechtsoffensiver Straftaten registriert wurden und oft auch aus der Hooliganszene stammen.

l Der Diskurs zu «Intensivstraftätern» ist sehr auf den Bezirk Neukölln fokussiert.

Welche Motivationen gibt es für das Schüren von Angst?l Ablenkung von anderen Problemen. Profilierung von Politikern.

l Legitimierung bestimmter Vorgehensweisen in der Politik.

l Kriminalisierung zur besseren Regierbarkeit bzw. Kontrolle.

l Legitimation von Kontrolle und Repression.

Wie wird Kriminalität in Bezug auf weiße Deutsche in den Medien verhandelt und wie in Bezug auf so genannte «Ausländerkriminalität»?

l Als Antwort dient auch der Titel eines 2000 von der DISS herausgegebenen Buches: «Von deutschen Tätern und ausländischen Banden». Bei «Ausländerkriminalität» findet sofort eine Vergruppung statt. Es ist nicht von Einzeltätern die Rede, mit Erwähnung von möglichen Gründen für straffälliges Verhalten, wie bei Neonazis im Osten keine Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit etc., sondern direkt von einem kollektiven Problem. Bei weißen deutschen Einzeltätern gibt es hier eine größere Differenzierung.

l Undifferenzierte Kriminalstatistiken weisen häufig einen überproportionalen Anteil an so genannter «Ausländerkriminalität» auf. So werden bspw. Straftaten wie die Verletzung der Residenzpflicht registriert, die jedoch von Deutschen nicht begangen werden können. Auch der Vergleich der Täter_innenprofile ist in diesem Zusammenhang nicht differenziert und inkohärent.

Page 44: Rassismus und Justiz

42 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Welche Rolle spielt die meist weiße und gutsituierte Richter_innenschaft in

diesem Kontext? Wer regiert hier wen?

l Die Staatsanwaltschaft kann beim «Neuköllner Model» von einer Anklageschrift und ihrer Teilnahme am Verfahren absehen; das Zwischenverfahren entfällt und auf Formen und Fristen kann verzichtet werden.

l Problem: noch schneller kann von Seiten der Justiz nicht gehandelt werden, daher wird im Wesentlichen das Ermittlungsverfahren verkürzt. Die Polizei soll entscheiden, ob der Straf- bestand diversionsgeeignet oder für das Neuköllner Modell geeignet ist.

l Kritik: Neukölln-Model strebt mit nicht Beschleunigung engere Kooperation von Jugendhilfe und Jugendstrafjustiz (Erziehen statt Strafe) an, will somit beschleunigen - damit Strafe schneller folgt. Neukölln-Model will das formelle Verfahren zügig durchziehen, und drängt das informelle Verfahren in den Hintergrund; Diversion und Jugendhilfe treten in den Hintergrund; Gefahr von Sanktionseskalation�  →�   je öfter vor dem Richter, umso öfter Strafe, desto höher wird diese jedes Mal ausfallen, desto geringer die Chance auf straffreies Leben, umso höher die Rückfallquoten.

l Das Neukölln-Modell führt zu einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen Polizei und Richter_in nen, was Auswirkungen auf eine „objektive Rechtsprechung“ hat. Problem: Die deutsche Justiz erscheint als unantastbar, neutral etc. Ein erster Schritt wäre einzugestehen, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass auch die Justiz von Diskursen beeinflusst wird. Richter_innen sind Subjekte, die als Teil einer Institution sprechen, die immanent rassistisch sind.

Abschlussgedanken/Fragen/Anstöße für weiteres Vorgehen

l Etwas zu problematisieren ist ein Mittel, um Hierarchien in der Gesellschaft aufrechtzuer- halten und somit Teil der Herrschaft.

l Welche Rolle spielt die Justiz in diesem Kontext für die Aufrechterhaltung von Kontrolle und Macht im Rahmen von Nationalstaaten?

l Ein Schritt, um kritische Weißseins- und Rassismusforschung und Justiz zusammenzu- bringen, wäre die Ablösung von der Vorstellung, die Justiz sei hinsichtlich rassismus- relevanter Fragen normenlos.

DiskussionspunkteDas Label »Neukölln«

Page 45: Rassismus und Justiz

Workshop IV: «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt»

In den letzten Jahren ist in öffentlichen, medialen und politischen Kontexten zu-nehmend die Rede von einer spezifischen Diskriminierung, die Muslim_innen trifft. Worum es sich dabei im Detail handelt, wen und was dabei thematisiert wird, wie und warum diskriminiert wird, dafür gibt es in All-tagsdiskursen sowie in den Medien und in politischen Debatten unterschiedliche Aus-sagen. In bundesdeutschen literatur- und kulturwissenschaftlichen Studien wurden mit diesem Phänomen zusammenhängende Diskurse im Anschluss an Edward Saids Studie «Orientalism» Anfang der 1980er Jahre als Orientalismus analysiert. Im Zuge des ersten Golfkriegs kamen politik- und islamwissenschaftliche Studien hinzu, die unter dem Label «Feindbild Islam» die poli-tischen und medialen Debatten in Deutschland analysierten. Anfang der neunziger Jahre gab es erste qualitative Studien zum anti-islamischen Alltagsdiskurs in der Bundes-republik, der heute antimuslimisch genannt wird. Erste empirische Studien zur Verbreitung von Islamophobie bzw. Islamfeindlichkeit in Deutschland folgten zehn Jahre später. In-zwischen liegen mehrere Studien vor, die sowohl auf der Befragung von Muslim_in-nen zu ihren Diskriminierungserfahrungen beruhen als auch auf der Befragung von sog. Mehrheitsangehörigen zu ihrer Einstellung gegenüber Muslim_innen und Islam1.

Diskriminierung von Muslim_innen

Zusammengenommen geht aus den Studien hervor, dass Muslim_innen in allen Lebens-bereichen diskriminiert werden; auf der Suche nach Wohnung oder Arbeit, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Behörden und

1 S. Studien im Literaturverzeichnis43 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Betrieben, in öffentlichen Verkehrsmitteln und im öffentlichen Raum, im Wohnumfeld und in der Familie, in Mainstream- und in Szene-Kontexten etc. Sie werden beschimpft, beleidigt, verdächtigt, belehrt, herabge-setzt, bevormundet, geschlagen, aus- und eingesperrt. Sie werden daran gehindert, gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilzu-nehmen, es wird ihnen schwer gemacht, ihr Leben zu organisieren und sie werden mit stereotypen Vorstellungen über sich konfron-tiert. Sie erfahren auf vielfältige Weisen, dass sie nicht hierher gehören und an einer Reihe von Missständen in Deutschland Schuld seien: An Gewalt an Schulen und schlechten PISA-Ergebnissen, an Gewalt gegen Frauen und Homosexuelle, an Antisemitismus und Terrorismus u.v.a.m. Diesen Äußerungen und Erfahrungen, aber auch solchen, die die herzliche Gastfreundlichkeit, verbindliche Familienbande und tiefe Religiosität heraus-stellen, liegt eine Vorstellung zu Grunde, die Muslim_innen als eine in sich geschlossene Gruppe imaginiert, die ganz anders als die eigene sei. Dabei werden auch Menschen als Muslim_innen angesprochen oder behandelt, die sich selbst nicht oder nicht in erster Linie als solche beschreiben, Verhaltensweisen werden als religiös-kulturelle interpretiert, die in anderen («eigenen») Kontexten als gesell-schaftliche gedeutet werden. Die Bildungs-situation in Deutschland wurde beispiels-weise im Zuge von PISA und anderen Untersuchungen mehrfach als eine analy-siert, die mit institutioneller Diskriminierung einhergeht und Schüler_innen systematisch benachteiligt, die in sog. bildungsfernen Haushalten oder migrierten Familien leben.Dennoch wiederholen (weiße deutsche) Leh-rer_innen und (weiße deutsche) Eltern, dass Schüler_innen mit sogenanntem Migrations-

Antimuslimischer Rassismus und

Islamophobie/Islamfeindlichkeit. Eine vergleichende Einführung

von Iman Attia

Page 46: Rassismus und Justiz

Workshop IV: «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt»

hintergrund und hier insbesondere solche, die als muslimisch wahrgenommen werden, für das niedrige Niveau an Schulen und das unangemessene Sozialverhalten der Schüler_innen verantwortlich seien. Insgesamt kommt in den genannten Vorwürfen zum Ausdruck, dass rechtliche und politische Restriktionen sowie kulturelle und soziale Wissensbestände nicht berück-sichtigt werden, wenn es darum geht, tatsächlich unterschiedliche Lebensum-stände in ihrer Bedeutung für die genannten Phänomene zu reflektieren. Gleichzeitig werden Lebens- und Verhaltensweisen, die von diesen Diskursen abweichen, als Aus-nahmen ignoriert, so dass sie das homogene (alle gleich), essentialistische (immer gleich-bleibend) und dichotome (ganz anders als wir) Bild nicht zu irritieren vermögen.

Erklärungsversuche

Die wahrgenommene Distanz zwischen Men-schen, die als Muslime markiert werden und solchen, die der Mehrheitsbevölkerung an-gehören, wird häufig damit erklärt, dass der Islam nicht nur als Religion, sondern auch als Kultur nicht zu dem passe, was hier üblich sei (christliche Leitkultur). Demgegenüber betonen andere, der Islam gehöre zwar nicht hierher, wohl aber Muslime, die die Aufgabe hätten, den Islam an europäische Gepflo-genheiten anzupassen (Euro-Islam). Andere Stimmen meinen, die Kritik richte sich ge-gen den Islam als Religion, deren Anhän-ger_innen ähnlich wie Christ_innen lernen müssten, damit umzugehen und sich danach zu richten, dass Deutschland eine säkulare Gesellschaft sei (Religionskritik). Dagegen deuten wieder andere die Fokussierung auf Arbeitsmigrant_innen als Muslim_innen Ideologie in dem Sinne, dass dadurch von den eigentlichen Problemen und ihren Ursachen abgelenkt würde, welche politischer und ökonomischer Natur seien (Kapitalismus- bzw. Neoliberalismuskritik).

44 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Den ersten drei SituationsbeschreibungenInterpretationen und Erklärungen des Phänomens ist gemeinsam, dass sie von der bedeutenden und herausragenden Rolle von Religion für Menschen, die als Muslim_innen wahrgenommen werden, ausgehen. Während sie den Islam und das Muslimsein betonen, hält die vierte Position diese Fixierungfür irreführend, das eigentliche Problem liege woanders und habe mit Religion nichts zu tun. Diese Perspektiven sind in unter-schiedlichen politischen und gesellschaft-lichen Kontexten verbreitet, werden jedoch in Bezug auf Äußerungen und Handlungen ge-gen Muslim_innen nicht durch sozialwissen-schaftliche Studien gestützt. Quantitative Studien (s. Lit.) beziehen ihre Erkenntnisse aus Umfragen, deren Entwicklung meist evi-denzbasiert und nicht theoretisch begründet ist. Sie bieten allgemein bekannte Äußerun-gen zum Islam und zu Muslim_innen ihren Befragten zur Bestätigung, Verneinung oder Enthaltung an. Zwei Studien dagegen, eine quantitative und eine qualitative, sind in einem theoretischen Modell entwickelt worden, die ich zur Diskussion stellen möchte.

Islamophobie/Islamfeindlichkeit als Element der gruppenbezogenen

Menschenfeindlichkeit

Das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung erhob von Anfang 2000 zehn Jahre lang das Ausmaß der «gruppenbezogenen Menschenfeindlich-keit» (kurz GMF) und veröffentlichte sie in der Reihe «Deutsche Zustände»2. Der Langzeit-untersuchung liegt die Annahme zu Grunde, dass moderne Gesellschaften human seien und von der Gleichwertigkeit aller Menschen ausgingen und sie zu verwirklichen suchten.Demnach sei es erklärungsbedürftig, warum Personen ganzen Menschengruppen gegen-über feindlich gesinnt seien und sie ab werteten. Aussagen von Personen, die auf

2 Vgl. Heitmeyer 2012, Leibold/Kühnel 2006, zur Kritik: Attia 2013a, 2013b.

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Workshop IV: «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt»

der Ungleichwertigkeit von Gruppen beruhen oder sie einfordern, werden als Vorurteile bezeichnet. Durch Vorurteile würde Ein-heit herzustellen versucht, indem ausge-grenzt werde3. Dies geschähe, indem als anders wahrgenommene Gruppen pauschal negativ bewertet würden und damit ihre Diskriminierung legitimiert werde. Vorurtele nähmen zu (so die Ergeb-nisse der Befragung) in einer Zeit, in der demokratisch legitimierte Parlamente nicht mehr in der Lage seien, das Finanzkapital zu kontrollieren, sondern von diesen entmachtet und erpresst würden. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ginge verloren, wer kann, der versuche sich zu retten. Hinzu käme ein ver-breitetes Gefühl von Bedrohung und Unkon-trollierbarkeit durch islamistisch legitimierten Terror, vor dem die Politik ihre Bürger_in-nen nicht ausreichend schütze. Insgesamt käme in der gruppenbezogenen Menschen-feindlichkeit zum Ausdruck, dass Menschen versuchten «[…] eigene soziale Privilegien durch die Abwertung und Desintegration von als nutzlos etikettierten Menschen zu sichern und auszubauen, sowie um eine kulturelle Abwehrhaltung (etwa im Hinblick auf die Islamfeindlichkeit)» (Heitmeyer 2012, S.19 f.). Das Modell GMF unterscheidet ver-schiedene Formen der «gruppenbezo-genen Menschenfeindlichkeit». Sexismus, Homophobie, Abwertung von obdach-losen Menschen, Abwertung von behinderten Menschen, Fremdenfeindlichkeit etc. Sie werden etwa durch folgende Items zu erheben versucht: «Es leben zu viele Ausländer in Deutschland» (Fremdenfeindlichkeit), «Wer schon immer hier lebt, sollte mehr Rechte haben als die, die später zugezogen sind» (Etabliertenvorrechte), «Aussiedler sollten besser gestellt werden als Ausländer, da sie deutscher Abstammung sind» (Rassismus), «Muslimen sollte die Zuwanderung nach

3 Vgl. Zick 1997, zur Kritik: Terkessidis 2004.

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Deutschland verwehrt werden» (Islamfeind-lichkeit). Die Formen seien klar voneinander zu unterscheiden und bildeten zusammen genommen ein «Syndrom», in dem die Ver-arbeitung von Krisen zum Ausdruck gebracht würde. Islamfeindlichkeit wurde zunächst als Islamophobie bezeichnet und zusätzlich zur Wirtschaftskrise im Zusammenhang mit «9/11» gedeutet. Befragte, die im Laufe des Interviews als «AusländerInnen» oder als «Personen mit Migrationshintergrund» identifiziert wurden, wurden in der Auswer-tung nicht berücksichtigt.

Antimuslimischer Rassismus

In einer qualitativen Befragung weißer, deutscher, christlich-sozialisierter junger Erwachsener, die Anfang der 1990er Jahre erhoben wurde, wurden die Äußerungen zu Islam und Muslim_innen als rassistisch gedeutet4. Rassismus5 wurde definiert als gesellschaftliches Verhältnis, das struk-turell bedeutsam, diskursiv hervorgebracht und institutionell verankert ist. In Othering-prozessen werden Gruppen als solche kons-truiert, indem sie homogenisiert, essentialisiert und dichotomisiert werden. Diskursiv werden Wissensbestände hervor-gebracht, die den Effekt haben, eine Gruppe zu konstruieren, die über spezifische Merkmale verfüge, die sie von anderen unterscheide (z.B. «Muslim_innen»). Dies geschieht, indem auf historisch tradierte kulturelle Repräsen-tationen Bezug genommen wird und die wiederholt, aktualisiert und umgeformt werden (Performativität). Sie werden mit wei-teren Otheringprozessen (etwa zu «Frauen», «Unterschicht» oder „Migrant_innen“) ver-woben (Intersektion, Interdependenz) und finden Eingang in formalisierte Abläufe und organisatorische Routinen (Institutio-nalisierung).

4 Vgl. Aufsätze aus den Jahren 1994 und 1995 wurden wieder abgedruckt in Attia 2009.5 Zur Einführung s. Rommelspacher 2009.

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Aus der Machtposition heraus haben spezi-fische, historisch-gesellschaftliche (also konstruierte) Gruppen die Möglichkeit, ihre Deutungen durchzusetzen und davon zu profitieren, während andere verändert und diskriminiert werden. In der Studie interpretierten die Be-fragten ihre Erfahrungen mit Menschen, die sie als muslimisch identifizierten, vor dem Hintergrund von Diskursen über «den Islam », «den Orient», «die Türken» und «die Araber». Benannt wurden unterschiedliche Quellen ihres «Wissens » wie «Die Märchenaus 1001 Nacht», Karl Mays Abenteuer-romanen, Sachbücher und -filme, Nach-richtensendungen, politische Ereignisse, Gespräche in der Familie und der Peergroup, Schulunterricht usw. Es zeigte sich im Ver-lauf der Interviews, wie die Befragten ihre Er-fahrungen in die Diskurse einwebten, wie die Erfahrungen vor dem Hintergrund der Dis-kurse interpretiert wurden und damit zur Bestätigung und Aktualisierung der Diskurse beitrugen. Es zeigte sich auch, wie un-terschiedliche Diskurse miteinander ver-flochten sind, wie der Islamdiskurs mit dem Geschlechterdiskurs verwoben ist und die eigene Positionierung als säkular oder gar atheistisch in eine christliche übergeht, so-bald sie mit «dem Islam» kontrastiert wird und beide Religionen kulturalisiert werden. In der Deutungsarbeit der Befragten im Interview wurden sowohl die Otheringprozesse sicht-bar gemacht als auch die Machtposition, aus der heraus sie argumentierten und die sie zu legitimieren und zu festigen suchten. Während die GMF-Studie also die Ein-stellungen Einzelner als Vorurteile in einer grundsätzlich humanen Gesellschaft unter-sucht, geht meine Studie davon aus, dass in Äußerungen Einzelner die unterschied-lichen Ebenen von Rassismus analysiert werden können und müssen. Die Befragung bildet dabei lediglich einen möglichen Aus-gangspunkt, der im vorliegenden Fall aus-geweitet wurde auf die Analyse struktureller,

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institutioneller und diskursiver Dimensionen des antimuslimischen Rassismus. Es konnte gezeigt werden, dass etwa der Diskursstrang «Kopftuch» auf eine lange Geschichtezurückgreift (orientalistischer Diskurs über Haremsschleier, kolonialistische Diskurse über die Entschleierung der maghrebinischen Frauen), zur institutionellen Diskriminierung führen kann (faktisches Berufsverbot für Kopftuch tragende Frauen durch ent-sprechende Gerichtsurteile sowie Neutra-litätsgesetze) und als kulturelles Symbol für den Emanzipationsgrad von Frauen heran-gezogen wird. Die Verwobenheit der unterschied-lichen Ebenen, das Geflecht an Äußerungen, kulturellen Repräsentationen, Gesetzen und Regelungen etc. verdichtet sich zu einem Dispositiv. Darin spielen verschiedene Faktoren und Aspekte eine Rolle, die in ein-dimensionalen Erklärungsversuchen teil-weise benannt werden, in der Regel aber mit einem Kriterium alles zu erklären versuchen. Religion, Kultur, Klasse, Geschlecht, Nation, Ethnie, Rasse werden hier dagegen in einer spezifischen Weise aufeinander bezogen. Die Analyse der Beziehung dieser (und weiterer) Dimensionen auf den unterschied-lichen Ebenen (strukturell, institutionell, dis-kursiv, subjektiv) eröffnet eine Sichtweise, die weder die Äußerungen Einzelner individua-lisiert (Einstellungs- und Vorurteils-forschung) noch die Handlungen vonGruppen kulturalisiert (Leitkultur). Aus dieser Forschungsperspektive werden Bildungs-defizite, Kriminalität, Armut, Gewalt, aber auch Zusammenhalt, Körperbezogenheit, Zufriedenheit usw. nicht als (national-) kulturell-religiöse Merkmale, sondern als gesellschaftliche analysiert. Muslim_innen sind in ihrem Verhältnis zur und ihrer Positionin der Gesellschaft und damit auch in der Relation zu den «anderen», «eigentlichen» Gesellschaftsmitgliedern zu verorten. Das Reden über «Andere» beinhaltet immer auch ein Reden über «sich selbst », die Hand-lungsmöglichkeiten der «Anderen» stehen

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Workshop IV: «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt»

mit den «eigenen» in enger Beziehung, die Armut der Einen mit dem der Reichtum der Anderen usw. Im antimuslimischen Rassis-mus werden diesem Verständnis folgend Muslim_innen zur Sicherung von Privilegien ebenso benötigt wie zur Revitalisierung einer nationalen Identität. Im Unterschied zum Modell der GMF, das moderne Gesellschaften als grundsätzlich human und auf Gleich-wertigkeit zielend beschreibt, wird im rassismuskritischen Modell die moderne Gesellschaft selbst als Teil des Problems analysiert.

Folgen für die Praxis, Diskussion

Praxis und Politik, die der Diskriminierung von Muslim_innen begegnen wollen, werden also an unterschiedlichen Ebenen ansetzen, je nachdem, wie sie die Diskriminierung beschreiben und zu begründen versuchen. Im Wesentlichen unterscheiden sich die beiden hier vorgestellten Modelle durch folgende Aspekte, die jeweils unterschied-liche Folgen für Praxis und Politik haben:

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- Die Differenz zwischen Muslim_innen und Deutschen ist der Feindlichkeit vorgängig. Versus: Die Markierung als Muslim_in ist Effekt des machtförmigen Othering- prozesses.- Islamophobie findet seinen historischen Anfang mit den islamistischen Terror- anschlägen. Versus: Antimuslimischer Rassismus hat eine lange Tradition und ist mit anderen Gesellschaft strukturierenden Verhält- nissen verwoben.- Islamfeindlichkeit ist ein Vorurteil (subjektive und evtl. diskursive Ebene), das durch politische und ökonomische Fehlentwicklungen begünstigt wird. Versus: Strukturelle, institutionelle, diskursive und subjektive Ebenen greifen ineinander.

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Literatur

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Workshop IV: «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt»

Heitmeyer, Wilhelm (Hg.) (2012): Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt/M.Leibold, Jürgen/Kühnel, Steffen (2006): “Islamophobie. Differenzierung tut not“. In: Heit-meyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 4, Frankfurt/M., S. 135-155Open Society Institute (2010): At Home inEurope. Muslime in Berlin, LondonPollack, Detlef (Hg.) (2010): Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt, http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/religion_und_politik/aktuelles/2010/12_2010/studie_wahrnehmung_und_akzeptanz_religio-eser_vielfalt.pdfRommelspacher, Birgit (2009): „Was ist eigentlich Rassismus?“. In: Melter, Claus/Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und –forschung, Schwalbach/Ts., S. 25-38Said, Edward W. (1978): Orientalism, LondonSchulze, Reinhard (1991): „Vom Anti-Kommunis-mus zum Anti-Islamismus: Der Kuwait-Krieg als Fortschreibung des Ost-West-Konflikts“. In: Mattes, Norbert (Hg.): „Wir sind die Herren und ihr unsere Schuhputzer!“ Der Nahe Osten vor und nach dem Golfkrieg, Frankfurt/M., S. 207-219Shooman, Yasemin (2014): „...weil ihre Kultur so ist“ - Das Zusammenspiel von Kultur, Religion, Ethnizität, Geschlecht und Klasse im anti-muslimischen Rassismus, BerlinTerkessidis, Mark (2004): Die Banalität des Rassismus, BielefeldZick, Andreas (1997): Vorurteile und Rassismus. Eine sozialpsychologische Analyse, Münster/New York

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1. Der Fall Sonja B. oder die Über-wachung einer Berliner Muslimin im Alltag

Zu Beginn ein «Fall», der mich als Rechts-anwalt mehrere Jahre beschäftigt hat, und den manch eine Zuhörerin auf Veranstal-tungen einfach nicht glauben wollte. Wer ist Sonja B.? Eine deutsche Erzieherin, geboren in der Nähe von Hannover, aufgewachsen in einer sog. «bio-deutschen» Familie und die bis zur Pubertät nicht wusste, dass sie einen arabischen Vater hat. Später hat sie ihn dann im Nahen Osten besucht, einen Araber geheiratet und ein Kind bekommen; die Eltern trennten sich und Sonja B. kehrte nach Deutschland zurück, lebte und arbeitete in Berlin; sie hatte nur noch sporadisch via Internet mit dem Vaterihres Kindes Kontakt, der in einem Straf-verfahren in Wien als mutmaßlicher «Terrorist» geführt wurde. Ein Kollege, der sie damals als RA vertrat, berichtet, was ihr 2006 widerfuhr so:«Eine von Polizei und Gesundheitsamt vor-bereitete Aktion überraschte sie am hell-lichten Tage. Aufgrund richterlicher An-ordnung wurde ihr das Kind weggenom-men und in eine Pflegefamilie gegeben. Ihre Wohnung wurde durchsucht und sie selbst in die Psychiatrie gebracht. Zu Begründung beriefen sich Polizei und Gesundheitsamt darauf, daß die junge Frau ein Selbstmord-attentat im Namen des Jihad vorge-habt habe, bei dem sie sich, ihr Kind undweitere Menschen in den Tod reißen wollte. Sie habe dies in einem Internet - Chatroom mit anderen gläubigen Muslimen disku-tiert.» (aus dem Bericht eines RA-Kollegen) Als ich den Fall später übernahm, ergab die Akteneinsicht, dass die zuständige General-bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen der Vorbereitung eines Sprengstoff-anschlages aufgrund des Hinweises eines

US-amerikanischen Geheimdienstes ein-geleitet hatte, aber trotz monatelangem Ermittlungen nicht einmal einen ausreichen-den Tatverdacht für die Anordnung eines Durchsuchungsbeschluss durch den Ermitt-lungsrichter beim BGH ermitteln konnte. In dem Bericht heißt es weiter:«Nachdem der Versuch, sie in die Psychia-trie zwangseinzuweisen, gescheitert war - die Fachärzte fanden keinerlei Anhaltspunkte für eine Fremd- oder Selbstgefährdung - wurde sie in ihre Wohnung entlassen. Bald darauf stellten sich ihr mehrere Beamtinnen und Beamten einer Dienststelle des Berliner Landeskriminalamts vor, die schwerpunkt-mäßig mit der islamischen Szene befasst ist. Sie folgten der Betroffenen nunmehr Tag und Nacht auf Schritt und Tritt im Abstand von einem Meter. Sie konnte ihre Wohnung nicht mehr verlassen, ohne durchsucht zu werden.

Jederzeit fanden sich in ihrer unmittelbaren Nähe Polizeibeamte, die auch ohne weiteres erkennbar waren. Ein Polizeifahrzeug stand Tag und Nacht vor ihrer Haustür. Nicht nur beim Einkaufen, sondern auch vor dem Ein-tritt in die Kanzlei ihrer Rechtsanwältin und bei ihrem Verlassen wurde sie einer inten-siven Leibesvisitation unterzogen.[…] Kurzum: die junge Frau verfügte außerhalb ihrer vier Wände nicht mehr über den Hauch eines Privatlebens. Sie muss auch davon aus-gehen, dass ihre Telekommunikation lücken-los überwacht wird: Ihr Handy war ihr mehr-fach von der Polizei abgenommen und unter-sucht worden. Im Telecafé drängte sich eine Beamtin mit in die Telefonkabine und jede

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«Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt » von Eberhard Schulz

Es stellt sich die Frage:

krasser Einzelfall oder Spitze des Eisberges?

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Workshop IV: «Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt»

Telefonnummer wurde vor dem Wählen notiert - wenn die Beamten das Telefonat nicht gleich selbst tätigte. Die absolut entnervte Betroffene rief schließlich das Berliner Ver-waltungsgericht an. Die mündliche Verhand-lung über ihren Eilantrag im Juni 2006 dauerte nicht lange, dann verpflichtete sich der Polizeipräsident in Berlin, die ganz offen-sichtlichen Maßnahmen einzustellen.« Erst im Februar 2007 wurde diese Form der Überwachung – nach Beendi-gung des strafrechtlichen Ermittlungsver-fahrens wegen des Vorwurfs der «versuchten Beteiligung an der Herbeiführung eines Sprengstoffanschlages» - eingestellt. Trotz-dem hörten Schikanen, Überwachung und Behördenwillkür nicht auf. Im Dezember 2006 bestätigte ein vom Familiengericht eingeholtes Gutachten die Kindererziehungsfähigkeit der Frau B. und im Februar 2007 entschied das Familiengericht, ihr das Kind - unter Auflagen – zurückzu-geben. Nach einer Rückführungsphase hatte Frau B. am 26. März 2007 - nach weiteren 11 Monaten - ihr Kind endlich wieder bei sich. Die Auflagen des Familiengerichts ver-pflichteten Frau B. aber noch jahrelang, eine Familientherapie durchzuführen, das Kind in den Kindergarten zu geben und mit der Familienhilfe und anderen Fachdiensten zusammenzuarbeiten. Die Auflagen gipfelten in dem »guten Rat« einer Vertreterin des Jugendamtes, doch einfach das Kopftuch ab-zulegen. Im Mai 2007 erhielt Frau B. das Angebot, in einem Krankenhaus im Jemen zu arbeiten. Sie kaufte Flugtickets für das Bewerbungsgespräch. Ihre Wohnung wurde am 25. Mai 2007 erneut von 2 Beamten gestürmt und Pässe und Flugtickets beschlagnahmt. Obwohl das Ermittlungs-verfahren längst eingestellt war und das psychiatrische Gutachten ihre Ungefährlich-keit bestätigte, verhängte das Familien-gericht ein Ausreiseverbot, mit dem Hinweis, Frau B. könne das Wohl ihres Sohnes ge-fährden.

Im Herbst 2007, nachdem sie nach nach Bremen gezogen war, um dort zu arbeiten, kam es zu einer weiteren Durchsuchung ihrer Wohnung nach Reisedokumenten. Frau B., denen die Gutachter Er-ziehungsfähigkeit und neben einer über-durchschnittlichen Intelligenz die Abwesen-heit psychischer Krankheiten und Defekte bescheinigt hatten, ist seitdem mit ihren Nerven am Ende, finanziell ruiniert und auf die Hilfe anderer angewiesen. Aus Angst, ebenfalls mit unbegründeten Antiterror-maßnahmen überzogen zu werden, haben sich viele Menschen aus ihrem früheren Bekanntenkreis zurückgezogen. In einigen Berichten in den Massenmedien wurde sie als Beispiel dafür angeführt, dass auch west-liche Frauen, als «Konvertiten» und Unter-stützer von Al Qaida und anderen islamis-tischen Fundamentalisten nicht vor Selbst-mordanschlägen mit ihren Kindern zurück-schreckten. Nie wurde auch nur mit einem Sterbenswörtchen erwähnt, dass alle Vor-würfe sich als haltlos herausgestellt hatten. Eine Entschädigung hat Sonja B. nie erhalten, ohne Spenden von muslimischen Gemeinden wäre sie vollends ruiniert…

Es stellt sich die Frage: krasser Einzelfall oder Spitze des Eisberges?

Auch wenn mir so krasse Einzelfälle einer hautnahen Überwachung mit Kindes-entzug nicht bekannt sind, vertrete ich eine Reihe sog. «Hassprediger» und anderer Muslime, die mit Ermittlungsverfahren we-gen «Terrorismus» überzogen wurden und die vom Verfassungsschutz und anderen Ge-heimdiensten umfassend jahrelang überwacht wurden und werden und sich dagegen nur äußerst schwer zur Wehr setzen können. All dies obwohl die strafrechtlichen Ermitt-lungsverfahren längst mangels irgendwelcher tragfähiger Beweise eingestellt werden mussten. Trotzdem entscheiden die Gerichte meistens, dass die Betroffenen öffentlichals „Hassprediger“ diskriminiert werden.

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Workshop IV: “Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt”

dürften. Kein Wunder angesichts der recht-lichen Dimension des Generalsverdachts für Muslime seit dem 11.9.2001. So z.B. durch die Benutzung des Merkmals «Religion» etwa bei der Rasterfahndung, obwohl dies ver-fassungsrechtlich unzulässig sein müsste – ganz zu schweigen von dem perfiden Konstrukt des »Schläfers« - also des «netten Nachbarn, der der Oma beim Einkaufen hilft, ordentlich gekleidet ist und einem Beruf nach geht» als der gefährlichste «Terrorverdächtige» oder der «salafistische Muslim», der laut Bundesinnenminister Friedrich aufgrund einer pseudo-wissen-schaftlichen Radikalisierungsthese dem Bild des »gewaltgeneigten Islamisten« heute am ehesten entspricht.

2. Der Fall Sarrazin

Die öffentliche Debatte um das Buch «Deutschland schafft sich ab» ist bekannt.Für das Thema institutioneller Rassismus in der Justiz sind von Bedeutung:

- das Schicksal der bisherigen Strafver-fahren gegen seine pseudowissen-schaftlichen rassistischen Thesen: keine Ermittlungsverfahren wegen fehlender Störung des öffentlichen Friedens und Meinungsfreiheit - die neue bahnbrechende Entscheidung des UN Ausschusses gegen rassistische Diskriminierung (CERD) gegen Deutschland und die Konse-quenzen für die antirassistische Arbeit- Definition von Rassismus im Sinne der UN Konvention gegen rassistische Diskriminierung

2.1 Die bisherigen Strafverfahren gegen Thilo Sarrazin

Ich hatte bei der Berliner Staatsanwaltschaft namens und in Vollmacht der früheren Migrantenbeauftragten von Charlottenburg-Wilmersdorf, Frau Azize Tank, und Gabriele

Gün Tank, der Integrationsbeauftragtenvon Tempelhof-Schöneberg, Strafanzeige gegen Thilo Sarrazin erstattet aufgrund der pseudowissenschaftlichen Thesen seines Buches «Deutschland schafft sich ab» gestellt, weil damit mehrere Straftat-bestände erfüllt werden, insbesondere:- der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 Nr, 1, 2 StGB wegen der Verbreitung von Schriften, die zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt und deren Menschenwürde ebenso angreift (§ 130 Abs. 2 StGB), und - der Beleidigung, übler Nachrede und Verleumdung nach §§ 185 ff. StGB.Die Anzeigenerstatterinnen sehen durch die rassistischen und antimuslimischen Äußerungen das friedliche Miteinander in der Bevölkerung gefährdet. Der Strafanzeige hatten sich über hundert Personen ange-schlossen. Die Staatsanwaltschaft Berlin hat die Einleitung eines strafrechtlichen Ver-fahrens mit dem Argument abgelehnt, die Äußerungen Sarrazins erfülle den Straftatbe-stand der Volksverhetzung nicht; insbeson-dere sei der öffentliche Frieden nicht gestört, sie seien jedenfalls wegen des Grundrechts der Meinungsfreiheit nicht zu verfolgen. Eine Beschwerde zur Generalstaatsanwaltschaft blieb ohne Erfolg, obwohl wir auf Hassmails und Morddrohungen gegen Sarrazin-Kritiker verwiesen hatten. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung beim Kammergericht wurde durch Beschluss des Kammergerichts vom 12.10.2011 abgelehnt. Die anschließende Verfassungsbeschwerde durch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 01.06.2012 wurde ohne Begründung nicht zur Entschei-dung angenommen. Auch die anschließende Beschwerde zum Europäischen Gerich-tshof für Menschenrechte wurde ohne jede Begründung als unzulässig abgelehnt (vgl. auch die früheren Pressemitteilungen). Deshalb musste der UN-Anti-rasismus-Ausschuss eingeschaltet werden, der

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Workshop IV: “Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt”

Deutschland bereits im Verfahren des TBBwegen des Interviews Sarrazins in der Zeitschrift «Lettre» Deutschland verurteilt hatte, weil es ein Strafverfahren unter Berufung auf die Meinungsfreiheit abgelehnt hat (die Medien berichteten). Dadurch wirdnicht nur die Bundesregierung gezwungen, endlich durchgreifende Maßnahmen auch gegen anti-muslimischen und kulturell verbrämten Rassismus zu ergreifen, sondern auch die Berliner Justiz, ihre Scheuklappen abzulegen.

2.2 Die bahnbrechende Entscheidung des UN-Ausschusses gegen rassistische

Diskriminierung

Der UN-Antirassismus-Ausschuss CERD kommt hinsichtlich der Beschwerde wegen der Nichtdurchführung eines Strafverfahrens gegen Thilo Sarrazin in seiner Entscheidung vom 04.04.2013 in Sachen Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg e.V. (TBB) Sarrazin gegen Deutschland zu dem Schluss:«dass das Versäumnis einer effektiven Untersuchung … durch den Vertragstaat (d.i Deutschland).)…eine Verletzung der Konven-tion (d.i. internationales Übereinkommen. vom 21.12.1965/07.03.1966 zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, veröffent-licht im Bundesgesetzblatt 1969 II, 961-d. Verf.) darstellt».

In der Begründung heißt es u.a.:Der Ausschuss hat den Inhalt der Äußerungen Herrn Sarrazins in Bezug auf die türkische Bevölkerung Berlins zur Kenntnis genom-men und stellt insbesondere fest, dass Herr Sarrazin äußert, dass ein Großteil der türkischen Bevölkerung keine produktive Funktion außer dem Obst- und Gemüse-handel erfülle, dass sie weder in der Lage noch dazu bereit sei, sich in die deutsche integrieren und dass sie eine kollektive, angestammte, aggressive Mentalität fördere. Herr Sarrazin benutzt Attribute wie

Produktivität, Intelligenz und Integration, um die türkische Bevölkerung und andere Migrant/-innengruppen zu charakterisieren» (…)Herr Sarrazin führt aus, dass er niemanden, der vom Staat lebe und gleichzeitig eben diesen Staat ablehne, akzeptieren müsse, noch jemanden, der sich in keiner Weise bemühe, seine Kinder zu erziehen und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziere, was auf 70% der türkischen Bevölkerung zutreffe. Herr Sarrazin kreiert auch eine Rechtfertigung, um seine Auf-fassungen von der Unterlegenheit der türkischen Bevölkerung zu begründen und erklärt, man könne in anderen Segmenten der Bevölkerung, inklusive der Deutschen, «ein ‚türkisches‘ Problem erkennen.» Er gibt außerdem an, dass er generell die Zuwanderung von Migrant/-innen verbieten würde, außer im Falle hochqualifizierter Individuen, und dass er aufhören würde, Immigrant/-innen Sozialleistungen zur Verfügung zu stellen. Der Ausschuss ist der Auffassung, dass die oben genannten Äußerungen Vorstellungen rassischer Überlegenheit im Sinne von Artikel 4 der Konvention enthalten, namentlich die Verweigerung von Respekt als Menschen, eine generalisierende negative Darstellung der Eigenschaften der türkischen Bevölkerung sowie eine Aufstachelung zur Rassendiskriminierung, um ihr den Zugang zu Sozialleistungen zu verwehren, sowie die Empfehlung eines generellen Verbots von Einwanderung mit der Ausnahme hoch-qualifizierter Individuen. (…)

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Workshop IV: “Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt”

Der Ausschuss verweist auf seine Recht-sprechung und erinnert daran, dass die Ausübung der Meinungsfreiheit spezielle Aufgaben und Verantwortlichkeiten mit sich bringt, insbesondere die Verpflichtung, kein rassistisches Gedankengut zu verbreiten. Er stellt außerdem fest, dass Artikel 4 der Konvention die Verantwortung des Vertragsstaats kodifiziert, die Bevölkerung gegen Aufstachelung zum Rassenhass, aber auch gegen Formen rassistischer Dis-kriminierung durch die Verbreitung jeglicher Auffassungen, die auf einem Gefühl der rassischen Überlegenheit oder Rassenhass beruhen, zu schützen.»

Die Strafanzeige des TBB war aufgrund von Sarrazins Äußerungen in der Zeitschrift«Lettre International» gestellt worden.

In einer ersten Pressemitteilung hat das Deutsche Institut für Menschenrechte hierzu mitgeteilt: Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, erklärt: «Der Ausschuss hat klargestellt, dass Deutschland seinen menschenrecht-lichen Schutzpflichten aus der Antirassismus-Konvention nicht nachgekommen ist. In dem Ermittlungsverfahren gegen Sarrazin sei nicht ausreichend der Frage nachgegangen worden, ob seine Äußerungen rassistisches Gedankengut beinhalteten. Damit habe Deutschland seine menschenrechtliche Ver-pflichtung zu effektivem Rechtsschutz gegen rassistische Äußerungen verletzt. Der Ausschuss hat unter Hinweis auf seine bestehende Spruchpraxis hervorgehoben, dass die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung Grenzen hat. Zu diesen Grenzen gehört insbesondere die Verbreitung rassistischen Gedankenguts.

Der Ausschuss hat keinen Zweifel daran ge-lassen, dass die Aussagen Sarrazins in dem Interview rassistisch waren. Überdies hätten sie nach der Anti-Rassismus–Konvention auch sanktioniert werden müssen. Der Ausschuss ist insbesondere zu der Auffassung gelangt, dass die Aussagen Sarrazins rassistisches Gedankengut beinhalten, die den Betroffenenihren Achtungsanspruch als Menschen ab-sprechen und ihnen in verallgemeinernderWeise negative Eigenschaften zuschreiben.Die Entscheidung des Ausschusses hat über den Einzelfall hinaus Bedeutung: Gesetzes-lage und Praxis im Bereich der Strafver-folgung von rassistischen Äußerungen sind im Lichte der Entscheidung auf den Prüfstand zu stellen, um die von solchen Äußerun-gen unmittelbar Betroffenen wirksam zu schützen und die Menschenwürde als Grundlage unseres Gemeinwesens zu vertei-digen.»

Der antimuslimische Rassismus kann und sollte daher auf der juristischen Ebene mit Hilfe dieser Entscheidung und ihrer Begrün-dung, die noch viel zu wenig bekannt sind, bekämpft werden.

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Diskussionspunkte“Die Verdächtigen sind als Muslime bekannt”

Wie hat sich das Bild des Islams in der «Neuen Weltordnung» verändert? Wie wurde in dieser Zeit diskursiv eine vom Islam ausgehende Bedrohung konstruiert?

l Das politische Feindbild Islam ist vor allem nach dem Ende des Kalten Krieges virulent geworden. Das Feindbild des Kommunismus wurde durch das Feindbild Islam «ersetzt». Anfang der 90er wäre Abrüstung weltweit möglich gewesen, aber dies war nicht im Sinne der außenpolitischen Vorstellungen der USA und Europa.

l Debatten in den USA und Europa liefen globalpolitisch darauf hinaus, einen anderen internen, aber vor allen Dingen externen Feind zu schaffen, um weiterhin Rüstungsaus- gaben zu legitimieren und sich als „Weltpolizei“ zu generieren. In diesem Zusammenhang entstanden wahrscheinlich Paragraph 129b sowie viele weitere «Anti-Terror-Maßnahmen», die nach innen gerichtet waren, bspw. die Schleier- und Rasterfahndungen. Insgesamt tendierte die Entwicklung hin zu immer stärkerer Sicherheitspolitik.

Problem der Festschreibung von vermeintlichen Zugehörigkeiten, wenn explizit von antimuslimischem Rassismus die Rede ist.

l Der Begriff des Rassismus ist immer einer, der skandalisiert, dass soziale Gruppen zu Rassen «konstruiert» werden. Rassismus hat verschiedene Konjunkturen, Formen und teilweise auch Spezifika angenommen, bezieht sich auf unterschiedliche Geschichten und gesellschaftliche Verhältnisse. Deshalb ist eine Spezifizierung notwendig, die verdeutlicht, dass z.B. ein antischwarzer- Rassismus ein anderer ist als - aber Schnittstellen aufweist zum - kolonialen Rassismus, der wiederum ein anderer ist als – aber Schnittstellen auf weist zum - antimuslimischen Rassismus.

l Als Oberbegriff steht der Rassismus: Die Konstruktion von Menschengruppen entlang phänotypischer und kultureller Merkmale, die essentialisiert und dichotomisiert werden, um eigene Privilegien zu sichern und eine nationale Gruppenidentität zu schaffen. Das ist allen Rassismen eigen und deshalb der Oberbegriff.

Abschlussthesen

l Das Feindbild Islam wurde und wird fortwährend (re)konstruiert, um bestehende Macht- strukturen aufrechtzuerhalten.

l Medien spielen eine wichtige Rolle bei der Produktion bzw. Reproduktion von (antimuslimischem) Rassismus

l Eine Spezifizierung/Differenzierung des explizit antimuslimischen Rassismus ist wichtig, da Rassismus immer wieder neue und verschiedene Formen und Konjunkturen annimmt und es, insbesondere in den letzten 20 Jahren, in der Bundesrepublik zu einem verstärkten Rassismus gekommen ist, der sich speziell gegen Menschen muslimischen Glaubens

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Workshop V: «Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei Bewertung / Verurteilung von Straftaten»

A. Einführung / Vorüberlegungen:

Das Thema stellt meiner Auffassung zu-gleich eine Arbeitshypothese dar, die es zu überprüfen gilt.Ist es objektiv / empirisch nachprüfbar der Fall, dass rassistische Beweggründe / Tatmotive bei der Bewertung / Verurteilung von Straf-taten nicht ausreichend berücksichtigtwerden? Oder gibt es diesbezüglich lediglich ein eher diffuses subjektives Gefühl, dass ebensolche Bewegründe bei der Ermitt-lung, Verhandlung und Verurteilung nicht angemessen gewürdigt werden. Mir sind diesbezüglich zumindest keine wissenschaftlichen Studien bekannt, welche sich mit der konkreten Fallfrage dezidiert auseinandersetzen. Um dies zu überprüfen, müsste man möglicherweise den Umgang in Bezug auf die Ermittlung und die Aburteilung rassistisch motivierter Straftaten beleuchten und feststellen, ob in jeweils vergleichbaren Deliktsgruppen ohne rassistischen Hinter-grund generell anders verfahren wird. Gegenstand der weiteren Überlegung muss in diesem Zusammenhang dann selbst-verständlich die Erörterung der Frage sein, wie eine angemessene, eben gerade nicht «mangelhafte» Würdigung dieser Beweg-gründe aussehen soll. Ist damit gemeint, dass dem justizförmigen, formalisierten Strafver-fahren hier eine präventive, politische oder gar gesellschaftsbildende Rolle zukommt, die derartige Straftaten öffentlich stigmatisiert? Oder ist unter dem Terminus «ausreichende Würdigung» vielmehr der - bescheidene - Wunsch zu verstehen, dass mit derartigen Straftaten zumindest nicht anders verfahren wird, als mit allen sonstigen Straftaten?

Dennoch gibt es - und diesbezüglich sollte kein Zweifel bestehen - zahllose Fälle rassistisch motivierter Gewalt in Deutschland, die im Rahmen justizförmiger Verfahren ermittelt, verhandelt und verurteilt werden, dass die Untersuchungshypothese nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, wenn man «Frontarbeit» betreibt und den Umgang der Strafjustiz mit einigen dieser unzähligen Fälle selbst miterlebt hat. Sei es auf Seiten der Verteidigung, der Nebenklage oder der Opferbegleitung. Bei der Erörterung unserer Thematik wird deshalb zu klären sein, wie die strafge-setzlichen und strafprozessualen Rahmenbe-dingungen im Umgang mit (rassistisch) motivierten Straftaten ausgestaltet sind und wie eben diese den, z. T. mangelhaften Umgang mit derartigen Tatmotivationen begründen können. Im Ergebnis werden es neben der strukturellen Ausgestaltung des Strafjustizwesen, möglicherweise aber auch gesellschaftspolitische Motive und die Interessenslagen einzelner sein, die diesem mangelhaftem Umgang zugrunde liegen.

B. Begriffsbestimmungen:

Rassistische Straftaten:

Es gilt zu klären, wie rassistisch motivierte Kriminalität überhaupt zu definieren ist. In kriminologischer Hinsicht scheint eine Ein-ordnung in den Bereich der sog. Hasskrimina-lität als schlüssig und nachvollziehbar. In der Kriminologie wird Hasskriminalität verstanden als «Gewaltkriminalität, die gegen eine Per-son oder gegen eine Sache allein oder vor-wiegend wegen der Rasse, der Religion, der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der politischen oder sexuellen Orientierung, des Alters oder der geistigen oder körper-

Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei der Bewertung/ Verurteilung von Straftaten

von Valentin Babuska

Page 58: Rassismus und Justiz

56 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

lichen Behinderung dieser Person oder desEigentümers oder Besitzers dieser Sache gerichtet ist.»

Strafjustiz: Unter Strafjustiz versteht sich das staatlich institutionalisierte Justizwesen zur Ermittlung und zur Ahndung von Straftaten. Ziel ist es nach meiner Auffassung, die rechts-philosophisch determinierten Strafzwecke zu verwirklichen und die - mehr oder weniger - befriedeten Gesellschaftsverhält-nisse aufrechtzuerhalten. Die Definition straf-baren Verhaltens ist der Legislative vorbe-halten, die Ermittlung der Exekutive und die Ahndung der Judikative.

Strafzwecke:Die Idee stattlichen Strafens verwirklicht sog. absolute und relative Strafzwecke. Unter relativen Strafzwecken / Straftheorien versteht man general- und spezialpräventive Ideen. Dem generalpräventiven Gedanken folgend, dient Strafe dem Erhalt und der Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Normtreue. Ein spezialpräventiver Zweck zielt auf die – ab-schreckende oder fördernde - Einwirkung auf den einzelnen Bürger ab. Die absoluten Straftheorien verwirk-lichen die z. T. «alttestamentarischen» und naturrechtlichen Bedürfnisse auf Schuldaus-gleich, Vergeltung, Sühne und Buße. Die berechtigen Interessen der Opfer von Straf-taten sind in diesem Bereich einzuordnen.

C. Ablauf Strafverfahren und Probleme:

Das justizförmige Strafverfahren kennt im Wesentlichen zwei Verfahrensabschnitte: Das Erkenntnisverfahren und das Vollstreckungs-verfahren. Der Hauptaugenmerk soll hier auf dem Erkenntnisverfahren liegen, also auf dem Verfahrensabschnitt, in welchem möglicher-weise strafrechtlich relevante Handlungenermittelt und sanktioniert werden.

Das Erkenntnisverfahren ist wiederum in drei Verfahrensabschnitte gegliedert. Das Ermitt-lungsverfahren, das Zwischenverfahren und das Hauptverfahren.

Ermittlungsverfahren:Das Ermittlungsverfahren steht unter der Herrschaft der Staatsanwaltschaft, die sich zur Ermittlung angeblicher Straftaten der Polizei bedient. Eingeleitet werden Ermitt-lungsverfahren entweder durch die Erstattung von Strafanzeigen seitens der Bürger oder von Amts wegen. Ein angeblich strafrechtlich relevanter Sachverhalt sollte von der Staats-anwaltschaft, als angeblich objektivster Be-hörde der Welt, ergebnisoffen und neutral ermittelt und zur Abschlussentscheidung gebracht werden. Hält die Staatsanwaltschaft nach Abschluss der Ermittlungen eine Verurteilung für wahrscheinlicher als einenFreispruch klagt sie den Sachverhalt an, andernfalls erfolgt eine Einstellung.

Problemfeld 1: unergiebige

Kontrollierbarkeit

Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist nur in einem sehr begrenztem Maß überprüfbar und gerichtlich kontrollierbar. Das diesbezügliche Klageerzwingungs-verfahren (§ 172 StPO) ist an kurze Fristen gebunden und extrem formalis-tisch ausgestaltet. Derartige Verfahren haben in der Praxis nur eine äußerst geringe Aussicht auf Erfolg. Bis eine bayerische Staatsanwaltschaft ein eingestelltes Körperverletzungsver-fahren gegen einen Ihrer Polizeibeamten wiederaufnimmt und zur Anklage bringt, muss salopp gesagt «schon sehr viel Wasser die Isar heruntergeflossensein».

Workshop V: «Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei Bewertung / Verurteilung von Straftaten»

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57 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Problemfeld 2: falsch verstandener Chorgeist / individuelle charakterliche Defizite der Amtsträger

Gerade in spezifischen Deliktsbereichen - z. B. Polizeigewalt - herrscht ein falsch verstandener Chorgeist und eine z. T. völlig unangemessene Solidarisierung mit den Amtsträgern. Derartige Probleme sind gesellschaftspolitisch und sozio-logisch nicht überraschend und möglicherweise nur durch veränderte rechtliche Rahmenbedingungen zu bekämpfen. Die politische Erziehung der Staatsbediensteten scheint zudem augenscheinlich völlig unzureichend/ unergiebig. Es herrschen die gleichen Ressenti-ments und Vorteile gegenüber People of Color, z. T. sogar offen zur Schau ge-stellter Rassismus. Gerade PoC Mitbür-ger erleben tagtäglich Verdachtskontrol-len (Stichwort racial profiling) und ähnliches. Anzeigen werden nicht ernst genommen, z. T oft gar nicht aufgenommen.

Problemfeld 3 : Abhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden von und Einflussnahme durch externe Institutionen und Stellen

Die Amtsträger_innen der Staatsan-waltschaften sind abhängig von der öffentlichen Meinung und in der Praxis den Ent-scheidungsträgern in der Justizverwaltung untergeordnet. Hierzu folgende Hypothese: Veröffentlicht ein Landes-justizministerium eine Studie in Bezug auf die angeblich erfolgreiche Be-kämpfung rechtsextremer Gewalt in der jüngeren Vergangenheit, könnte dies ohne weiteres Einfluss auf den Umgang mit eben solchen Taten haben.

Auch der wenig nachvollziehbare und nahezu nicht zu kontrollierende Umgang mit den sog. V-Leuten gerade im Bereich rechtsextremer Kriminalität belegt diese Problematik exemplarisch. Dass zum Schutz angeblich wertvoller V-Leute die Ermittlung einzelner rassistisch motivierter Straftaten auf der Strecke bleibt, ist nicht hinnehmbar. Welche Rolle die Verfassungsschutzbehörden in dem derzeit verhandelten sog. «NSU-Verfahren» spielen, wäre in diesem Zusammenhang interessant zu erfahren.

Zwischenverfahren:Im sog. Zwischenverfahren prüft das er-kennende Gericht die Anklagehypothese der Staatsanwaltschaft und eröffnet das Verfahren nur dann, wenn eine Verurteilung wahrschein-licher erscheint als ein Freispruch. Im Haupt-verfahren hat man es dann strukturell bedingt mit einem voreingenommenen Gericht zu tun.

Hauptverfahren:

Das Hauptverfahren besteht im Wesent-lichen aus der Beweisaufnahme, der Beweis-würdigung und der Urteilsfindung. Im Rahmen der Beweisaufnahme werden die zur Verfügung stehenden Beweismittel erhoben, demnach Zeugen gehört, Urkunden verlesen, der Angeklagte gehört usw....Eine möglicherweise rassistische Motiva-tionslage des Angeklagten wird in diesem Verfahrensabschnitt zu Tage treten. Nach Beendigung der Beweisaufnahme würdigt das Gericht sämtliche Beweisergebnisse und macht dieses Ergebnis zur Grundlage eines etwaigen Schuldspruchs und zur Bemessung der konkret angemessenen Strafe. Hierzu an späterer Stelle mehr.

Workshop V: «Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei Bewertung / Verurteilung von Straftaten»

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58 Veranstaltungsreihe: Rassismus

D. Materielle Straftatbestände:Das deutsche Strafrecht kennt den Begriff «Hasskriminalität“ nicht. Straftatbestände die dezidiert rassistisch motiviertes Handeln unter Strafe stellen, existieren nur verein-zelt. Dies jedoch vornehmlich im Bereich kommunikativer Verhaltensformen. Aufzuzählen sind hierbei z.B. die folgenden Vorschriften: - Volksverhetzung: § 130 StGB- Verwenden verfassungsfeindlicher Symbole: § 86 a StGBHinzukommen eine Vielzahl differenzierter Straftatbestände, die z.B. gewalttätiges oder aggressives Verhalten generell mit Strafe bedrohen; im Bereich rassistisch motivierter Straftaten sind hierzu vor allem die folgenden Straftatbestände zu nennen:- Körperverletzungsdelikte: §§ 223 ff. StGB- Delikte gegen das Leben: §§ 211 ff. StGB- Delikte gegen Ehre und persönliche Inte-grität: §§ 195 ff. StGB - Brandstiftungsdelikte §§ 306 ff. StGBUm auf Hassmotivationen, rassistische Tat-motive und Opfererniedrigungen zu reagieren kennt das Strafjustizsystem weitreichende Möglichkeiten, dies aber vornehmlich im Rahmen der Strafzumessung, wobei der Aspekt der Schuld des Täters dabei stets eine besondere Rolle spielt. Hierzu sogleich mehr.

Problemfeld 4: fehlende Implemen-

tierung in das materielle Strafrecht

Sicherlich auch in Deutschland Teil der öffentlichen Diskussion, spielt das Thema Minderheitenschutz in an-deren Rechtskreisen eine größere Rolle. So hat die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung z.B. in den USA zu einer Anti-Hate-Crime Gesetzgebung auf mehreren Ebenen geführt. Für die United States Sentencing Commission, die verbindliche Strafzu-

messungsrichtlinien für Bundesgerichte erarbeitet, folgte daraus eine Schärfung der Strafe um mindestens drei Straf-stufen, wenn der Täter nachweislich aus rassistischer Motivation gehandelt hat. Bis 1990 haben 40 US-Bundesstaaten Gesetze gegen «hate crimes» erlas-sen, die im Wesentlichen einer Definition eines Modellentwurfes der «Anti-Defa-mation League» folgen: Danach begeht eine Person eine durch Vorurteile motivi-erte Straftat, wenn sie auf Grund der an-genommenen oder tatsächlichen Rasse, Hautfarbe, Religion, nationalen Herkunft, sexuellen Orientierung, des Geschlechts eines anderen Individuums oder einer Gruppe von Individuen, handelt.Die Europäische Union hat mit der Kahn-Kommission 1995 ebenso wie die Europäische Kommission gegen Rassis-mus und Intoleranz 1997 vorgeschlagen, rassistische und fremdenfeindliche Motive bei Straftaten besonders zuberücksichtigen. Hinzuweisen gilt es auf die Bestrebungen der EU-Kommission; diese fordert ein einheitliches Vor-gehen gegen den Rassismus. Auch in den letzten Jahren konnten be-grüßenswerte Bestrebungen auf Seiten der EU-Kommission festgestellt werden, die ein einheitliches Vorgehen gegen Rassismus fordert. Mit dem Vorschlag zur Harmonisierung der Gesetze will die EU-Kommission beispielsweise er-reichen, dass in allen Mitgliedsländern ein gemeinsamer Mindeststrafrahmen für bestimmte rassistische oder fremden-feindliche Handlungen eingeführt wird. In allen Mitgliedsländern sollen rassistische Handlungen auf derselben gesetzlichen Grundlage verfolgt und bestraft werden können. Auch die Verbreitung von ent-sprechenden Inhalten soll als Straftat geahndet werden können. Auch in Deutschland gab und gibt es ähnliche gesetzgeberische Initiativen;

Workshop V: «Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei Bewertung / Verurteilung von Straftaten»

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59 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

eine nachhaltige Implementierung in das materielle Strafrecht bzw. das Straf-prozessrecht hat jedoch nicht oder nur sehr begrenzt stattgefunden.

E. Berücksichtigung rassistischer Tatmotivationen im deutschen Strafjustizsystem:

Wie bereits angedeutet, findet die Berück-sichtigung rassistischer Tatmotive vornehm-lich im Rahmen der sog. Strafzumessung statt. Steht für das Gericht fest, dass eine bestimmte Straftat begangen wurde, hat das Gericht die konkrete Strafe innerhalb desjeweiligen deliktsspezifischen Strafrahmens zu ermitteln. Bei dieser Strafbemessung hat das Gerichtsämtliche tat- und täter-spezifischen Aspekte zu ermitteln, die in der Beweisaufnahme zu Tage getreten sind. § 46 StGB nennt hier ausdrücklich die Beweggründe des Täters. Eine ausdrück-liche Erwähnungrespektive Hervorhebung rassistischer Beweggründe ergibt sich aus dem Gesetz hingegen nicht. An anderer Stelle - hier wiederum im materiellen Strafrecht § 211 StGB - qualifiziert das Gesetz ein Tötungsdelikt zum Mord, wenn die Tötung aus besonders niedrigen Beweg-gründen stattgefunden hat. Eine rassistische Motivationslage stellt ohne jeden Zweifel einen derartigen besonders niedrigen Beweg-grund dar. Andere besonders verwerfliche Beweggründe, wie Heimtücke oder Habgier, werden in § 211 StGB hingegen explizit auf-geführt. Nicht verschwiegen werden darf jedoch die Tatsache, dass sich gerade die obergerichtliche Rechtsprechung wiederholt und umfangreich mit der Würdigung rassis-tischer / neonazistischer Tatmotive ausein-andergesetzt hat.

Workshop V: «Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei Bewertung / Verurteilung von Straftaten»

Problem: Wir haben festgestellt, dass eine ausdrückliche Berücksichtigung rassistischer Motive - von wenigen Aus-nahmen abgesehen - weder im materiellen Strafrecht noch in den straf-prozessualen Verfahrensvorschriften erfolgt. Natürlich ist der Richter in der Strafzumessung gezwungen, sich mit der Tatmotivation des Angeklagten auseinanderzusetzen. Dennoch hätte eine normative Verschriftlichung der-artiger Tatmotivationen ein anderes Maß an tatrichterliche Auseinandersetzung zu Folge, möglicherweise auch eine anders strukturierte Beweisaufnahme. Mit anderen Worten, wäre der Tatrichter gezwungen derartige (rassistische) Beweggründe explizit zu erforschen.

Problem: Die fehlende Kodifizierung der-artiger Motivationslagen führt auch dazu, dass bei einer Verurteilung im Schuld-spruch nicht kenntlich wird, ob eine Tat rassistisch motiviert begangen wurde. Unter generalpräventiven (abschreckend/ oder die Normtreue fördernd) Gesichts-punkten wäre dies aber möglicherweise angezeigt.

F. Gesellschaftspolitische, soziologische und individual- psychologische Aspekte

Nicht zuletzt liegt folgender Umstand auf der Hand: Die rechtlichen Rahmenbe-dingungen sind selbstverständlich nur der Überbau über einen aktuellen gesamt-gesellschaftlichen Wertekonsens. Zudem ist stets der einzelne Amtsträger oder die Gesamtheit aller Amtsträger, die das Justiz-system mit Leben füllen. Will man eine ge-sellschaftliche Sensibilisierung im Sinne der Arbeitshypothese erreichen, ist davon auszugehen, dass es politische Über-zeugungsarbeit, erzieherische Maßnahmen und substantiierte Ausbildungskonzepte sind, was nachhaltige Erfolge nach sich ziehen wird.

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60 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

«Hassverbrechen sind der gewalttätige Aus-druck von Vorurteilen, die in der Gesellschaft weitverbreitet sind».

Als Hasskriminalität oder Verbrechen aus Hass werden Straftaten bezeichnet, deren Opfer von Tätern gewählt werden, weil sie tatsächlich oder vermutlich einer vom ihnen abgelehnten gesellschaftlichen Gruppe an-gehören. Der Begriff stammt aus den USA (im Englischen «hate crimes»), und wurde im Rahmen der dortigen Schwarzen Bürger-rechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre entwickelt. Obwohl das Konzept viel kritisiert wurde, findet es in den USA seit den 80er Jahren in fast allen Staaten juristische Anwendung. In Deutschland gibt es bis heute keine gesonderten «hate crime» Gesetze, noch hat das Konzept in dem Strafgesetzbu-ch direkte Relevanz. Im Jahr 2012 gab es vom Bundesrat eine Gesetzinitiative gegen Hassverbrechen; die Länderkammer verabschiedete daraufhin den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches durch die «Aufnahme menschenverachtender Tatmotive als besondere Umstände der Strafzumessung ». Die Gesetzentwürfe der Fraktionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen dazu, wurden auch im selben Jahr vom Bundestag abgelehnt. Befürworter einer «hate crime»Gesetzgebung weisen, u.a. auf folgende sich daraus ergebende Möglichkeiten hin:

- Ein höheres Strafmaß hätte eine abschreckende Wirkung;- Ermittlungsbehörden und Gerichte müssten geschult werden, Hassverbrech-en zu erkennen und würden außerdem dazu verpflichtet zu prüfen, ob eins vorliegt und dementsprechend dazu gesondert zu ermitteln.

Workshop V: «Mangelnde Berücksichtigung rassistischer Beweggründe bei Bewertung / Verurteilung von Straftaten»

Ein kritischer Gedanke zum Begriff Hasskriminalitätvon Maria Portugal

Kritiker des Konzepts hingegen stellen es u.a. mit folgenden Argumenten in Frage:

- Ob höhere Strafen tatsächlich potenzielle Täter abschrecken, sei umstritten; außer-dem sei es gegenwärtig schon möglich, bei der Strafmaßzumessung nach § 46 StGB, «die Beweggründe und Ziele des Täters» wie auch «die Gesinnung, die aus der Tat spricht» zu berücksichtigen. - Schulungen für die Ermittlungsbehörden und Gerichte könnten auch ohne neue Ge-setze konzipiert und durchgeführt werden; Der Begriff sei zu vage: in dem alle aus Hass begangenen Verbrechen unter ihm zusammengefasst würden, auch indivi-duelle Taten (wie z.B. eine «Eifer-suchtstat»), würde die historische sowie die aktuelle, gesellschaftliche und poli-tische Dimension von z.B. rassistischen Delikten ausgeblendet.

Wenn in der Praxis Opferberatungs-stellen eine mangelnde Berücksichtigung ras-sistischer Beweggründe bei der Bewertung bzw. bei der Verurteilung von Straftaten beklagen, und wenn es nicht an einer Rechts-grundlage fehlt, scheint die Antwort nicht nur in neuen Gesetzen oder in einer Gesetzän-derung zu finden zu sein. Jedoch, eine Erweiterung der bereits zur Ver-fügung stehenden Paragraphen des StGBs durch u.a. die zusätzliche, explizite Nennung «menschenverachtenden, rassistischen oder fremdenfeindlichen» Beweggründen, würde deutlich machen, dass diese Motive nicht außer Acht gelassen werden dürften. Des Weiteren bedarf es weiterhin einer Sensibilisierung, durch Aufklärung, nicht nur der Strafverfolgungsbehörden und der Gerichte, sondern auch der Gesellschaft: Denn Hassverbrechen sind der gewalttätige Ausdruck von Vorurteilen, die in der Gesell-schaft weitverbreitet sind.

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DiskussionspunkteSchlagwort “Hatecrime”

In wieweit ist die Verwendung des Oberbegriffs «Hasskriminalität» kritikwürdig?

l Unter dem Begriff «Hasskriminalität» werden eine Vielzahl von Tatmotiven subsumiert, die machtfrei beschrieben werden. Machtverhältnisse, die bei rassistischer Gewalt sehr wichtig sind, werden dadurch ausgeblendet. Es besteht also die Gefahr, dass es bspw. zu einer Gleich setzung eines rassistisch motivierten Angriffs auf eine Schwarze Person oder eine Person of Color mit einem deutschenfeindlichen Angriff auf eine weiße deutsche Person kommt. Der Begriff «Hasskriminalität» würde somit entpolitisiert Verwendung finden. Der gesamtgesell- schaftliche und insbesondere geschichtliche Kontext von Rassismus wird ausgeblendet und dient dadurch auch nicht mehr dem Schutz der betroffenen Gruppen. Wir versuchen eher die Tatmotive direkt und konkret zu benennen, da nur so der politische Rahmen rassistischer Gewalt mitbedacht werden kann. Positiver Aspekt der Verwendung des Begriffs wäre die Auswirkung auf die Strafzumessung und die Tatsache, dass Behörden verpflichtet wären, sich mit der Motivation der Tat und somit mit Rassismus in der Gesellschaft zu beschäftigen. Ob jedoch eine härtere Strafe in solchen Fällen auch tatsächlich bzgl. eines «Abschreckungseffekts» sinnvoll ist, wird teilweise in der kriminologischen Forschung bezweifelt.

Welchen Unterschied macht es für die weiteren Ermittlungen und für das tatsächliche Verfahren, ob eine Anzeige an das Landeskriminalamt weitergeleitet wird. Was bedeutet dies für die Zuständigkeiten?

l Im Fall von rassistisch motivierten Straftaten wäre die Abteilung Politisch Motivierte Kriminalität Rechts des Landeskriminalamtes zuständig. D.h es würde gezielt in diese Richtung weiter ermittelt werden.

l Konkret heißt dies, dass in Kreisen organisierter rechter Kriminalität bzw. einschlägig bekannter rechter Straftäter_innen ermittelt wird.

l Problematisch ist dabei, dass rassistisch motivierte Straftaten in sehr vielen Fällen nicht aus diesem Spektrum kommen, sondern von Einzeltäter_innen begangen werden, die weder vorbestraft noch speziell organisiert sind. In solchen Fällen wird meist nicht von einer «politisch motivierten» Tat ausgegangen, sondern bspw. von einfacher Körperverletzung o.ä.

l Gleichgültig, ob in Richtung politisch motivierte Straftat ermittelt wird oder nicht, sollte ein Fall, der als rassistisch motiviert definiert wurde, in die Statistik eingehen.

l Psychologisch ist die Ermittlung durch das Landeskriminalamt aus der Opferperspektive auf jeden Fall sinnvoll, da dadurch zumindest eine angemessene Würdigung der Schwere der Tat besteht.

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62 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Das Problem bleibt weiterhin die Frage: Wie schaffen wir es, ideologisch motivierte Taten zu sehen und zu verstehen, ohne dass sie politisch motiviert sein müssen?In was für eine Gesellschaft führt es, wenn wir immer mehr Kontrollen einführen, ohne dass in der Mehrheitsgesellschaft ein Bewusstsein für Rassismus vorhanden ist?

l Rassistischen Einstellungen in der Polizei entgegenzuwirken bleibt ein großes Problem, jedoch wird durch die Einführung von Kontrollen zumindest der Machtspielraum der einzelnen Polizist_innen eingrenzt.

l Muss Hand in Hand mit einer starken und nachhaltigen antirassistischen Bewegung gehen.

l Erstellung eines Infoblatts, welche Schritte bei rassistischer Beleidigung oder Gewalt unter- nommen werden können. Wie müsste der ordnungsgemäße Verlauf von der Strafanzeige bis zum eigentlichen Verfahren und Urteilsspruch aussehen? Ein solches Infoblatt gibt es noch nicht. Diese Information wird angeboten, wenn eine Beratungsstelle aufgesucht wird, wurde aber noch nicht zu Papier gebracht. Es könnte eine Anregung sein. Von der Opferperspektive Brandenburg gibt es ein Infoblatt dieser Art bereits.

Ein Fazit, welches aus allen Workshops gezogen werden kann, ist, dass eine gesamt-gesellschaftliche Veränderung hinsichtlich eines Bewusstseins für strukturimmanenten Rassismus einer rassismusbewussteren Rechtsprechung, vorangehen muss.

l Eine Kodifizierung von rassistisch motivierten Tatbeständen kann nur sinnvoll und effektiv sein, wenn im Vorhinein (oder: im Vorfeld) eine gesamtgesellschaftliche Veränderung in Bezug auf Rassismus in der Bundesrepublik stattfindet.

l Straftaten müssten als ideologisch motiviert anerkannt werden, ohne dass die Täter dabei politisch organisiert sein müssen.

l Zivilistenschutz durch bessere Arbeitskontrollen von Polizeibeamt_innen.

l Nur durch eine gesamtgesellschaftliche Veränderung kann eine nachhaltige Veränderung im Justizsystem stattfinden.

DiskussionspunkteSchlagwort “Hatecrime”

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63 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

Der Berliner Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen hat 2010 zwei «historische»Instrumente ins Leben gerufen: Den Landesaktionsplan gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung (LAPgR) und das Partizipations- und Integrationsgesetz (PartIntG). Sie entstammten vorwiegend der Initiative von Angehörigen der Berliner Zivilgesellschaft in Zusammenarbeit mit der Berliner Verwaltung2. In diesem Beitrag wird der Ent-stehungsprozess beider Instrumente beleuchtet. Seine Vorstellung im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Rassismus und Justiz» gab Anlass über Themen wie «Integration», Partizipation, interkulturelle Öffnung (Schwerpunkt des PartIntG) und institutionellen Rassismus (Schwerpunkt des LAPgR) zu reflektieren. Das Ergebnis der Diskussion war, dass «Integration», interkulturelle Öffnung, Partizipation und institutioneller Rassismus nicht von einander getrennt betrachtet werden können, sondern Hand in Hand gehen. Sie sind alle Variablen eines Diskurses um einen («verneinten») Zugang zu Ressourcen für POC3, der institutionell verankert ist. Bisher fehlen in der Gesetzgebung Instrumente, die alle diese Aspekte berücksichtigen und «den Betroffenen» konkrete Handlungsmöglich-keiten gegen Diskriminierung bieten.

1 Vgl. mrbb (2011a)2 Der Entstehungsprozess beider Instrumente zwischen 2003-11 kann auf der Seite der Beauf- tragten des Senats von Berlin für Integration und Migration chronologisch durch die Beschlüsse im Landesbeirat online nachgelesen werden. 3 Zur Definition von POC siehe mrbb (2010), S. 7f.

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

Entstehungskontext

Seit der Gründung des Berliner Landes-beirats (2003) kennzeichnet das Motto «Integration erfordert Teilhabe4» den politi-schen Diskurs in Berlin. Es ist ein Teil der sogenannten «Integrationsdebatte» und der Bestrebungen einer interkulturellen Öffnung der Verwaltung (IKÖ) Gestalt zu verleihen5. Das Selbstverständnis des Landes-beirates gründet bis dato in der Weiter-entwicklung der „Berliner Integrationspolitik“6. «Die Sitzungen des Landesbeirats dienen der Beratung, Information und Anhörung zu Fragen der Integrations- und Migrationspolitik des Berliner Senats. Der Landesbeirat erarbeitet Empfehlungen zur Integrations-politik für die Arbeit des Senats, sowie für gesellschaftliche Gruppen» 7. Auf der Internet-seite der Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration kann man nachlesen, dass die Eröffnung einer politik-nahen Partizipationsmöglichkeit für POC auf Landesebene, dem Versuch gleichkommt

4 Vgl. Beauftragte des Senats von Berlin für Integra- tion und Migration (2013) 5 Die (damalige) Senatsverwaltung für Arbeit, Inte gration und Soziales ist bis dato (aktueller Name: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen) federführend für die interkulturelle Öffnung der Verwaltung. Diese Aufgabe wurde zu jener Zeit vorwiegend durch den Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration vor angetrieben. Die Landesstelle für Gleichbehand- lung – gegen Diskriminierung (LADS) beteiligte sich daran und verantwortete dann den LAPgR..6 Vgl. Beauftragte des Senats von Berlin für für Integration und Migration (2013) 7 Ebda. Ein weiterer Blick über die Arbeit des Landesbeirates zwischen 2003 und 2009 bietet die Broschüre «Der Berliner Landesbeirat für Inte- grations- und Migrationsfragen –Berlin gemeinsam gestalten» (2009) des Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration.

«Die Zivilgesellschaft fordert mehr!» 1 von Elena Brandalise

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64 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

«in Berlin lebende Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft eine Einflussmöglichkeit auf das politische Leben der Stadt » zu erteilen. Damit beabsichtigt der Berliner Senat (erst-malig durch die Einrichtungen des Landes-beirats8), «das existierende Partizipations-defizit für Migrantinnen und Migranten (zu) kompensieren» 9. Die Teilnahme an diesem Gremium hat einen empfehlenden Charakter. Für die Prüfung bzw. Umsetzung von Empfehlungen oder/und Maßnahmen sind die jeweiligen Häuser bzw. der Senat zuständig .

PartIntG

Im PartIntG sind u.a. der rechtliche Status und der Bedarf von POC formuliert, die den Rahmen für deren Partizipationsmöglich-keiten und Integrationsförderung setzen. § 1erörtert Ziele und Grundsatz des Gesetztes: Einerseits besteht das Ziel darin Menschen mit Migrationshintergrund (MH10) die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teil-habe in allen Bereichen des gesellschaftlichen

8 Ebda.9 Ebda.10 Mitglieder des Landesbeirates sind Migrant/innen, Vertreter/innen anderer Organisationen, der Senatsverwaltungen, der Bezirksbeauftragten, des Rats des Bürgermeisters, des Senats und des für Integration zuständigen Mitglieds. Vgl. Beauftragte des Senats von Berlin für Migration und Integration (2013), S. 2. Diese treffen sich in der Regel vier Mal im Jahr in Plenarsitzungen. Hier werden aktuelle Themen diskutiert und Beschlüsse gefasst. Die «richtige» Arbeit findet in Arbeitsgrup- pen statt, die sich alle sechs Wochen Treffen und Themen vertiefen. Migrant/innen sind in der Regel AG-Sprecher/innen und berichten in den Plenar- sitzungen, wie die Arbeit verläuft. Die Mitglieder der Zivilgesellschaft erhalten per (Plenar-)Sitzung 20¤. Die Beratung erfolgt auf ehrenamtlicher Basis. Bis 2012 wurden vorwiegend folgende Themen in AGs beraten: politische und soziale Partizipation von Migrant/innen (darunter auch von Flüchtlingen), positive Maßnahmen gegen Diskriminierung, Jugendliche und Sozialisation, Schule und Arbeit, Medien.

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

Lebens (jenseits jeglicher Benachteiligung und Bevorzugung11) zu geben, andererseits setzt dieses Ziel die Mitwirkung aller Bürger/innen voraus. «Integration ist ein gesamt-gesellschaftlicher Prozess (…).Erfolgreiche Integration setzt sowohl das Angebot an die Bevölkerung mit MH zur Beteiligung als auch den Willen und das Engagement der Menschen mit MH zur Integration voraus» 13. §4 erklärt, dass die Einrichtungen der öffentlichen Hand, die im Geltungsbe-reich benannt werden, die Aufgabe haben «im eigenen Zuständigkeitsbereich für gleichberechtigte Teilhabe und interkulturelle Öffnung zu sorgen» 15. Grund dafür ist «die Vielschichtigkeit der Einwanderungs-gesellschaft» 14, die eine Bedarfs- und Ziel-gruppenorientierung der verwaltungs-technischen Aufgaben bedingt, und der die Prüfung von Gesetzes- und Verordnungs-vorhaben folgen soll. Um diesen Prozess in Gang zu setzen, wertet der Senat interkulturelle Kompetenz des Personals auf und deklariert sie zur «Schlüsselqualifikation» bei Neueinstellungen und Beförderungen. Sie ist als Fortbildung für alle Beschäftigte sicherzustellen und umfasst «eine auf Kenntnisse über kulturell geprägte Regeln, Normen, Werthaltungen und Symbole beruhende Form der fachlichen und sozialen Kompetenz»16 . Die Umsetzung der interkulturellen Öffnung sieht auch die Erhöhung vonMenschen mit MH im öffentlichen Dienst

11 Im PartIntG wird Menschen mit Migrationshinter- grund als Begriff unter § 2 eingeführt. Vgl. Beauftragter des Senats von Berlin für Integration und Migration (2010), S. 2.12 Hierbei wird auf das Grundgesetz und auf die Berliner Verfassung Bezug genommen.13 Vgl. Beauftragter des Senats von Berlin für Integration und Migration (2013) 14 Ebda.15 Ebda.16 Ebda.

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65 Veranstaltungsreihe: Rassismus und Justiz

(und in den Gremien aller Einrichtungen) vor. Sie soll durch ein Benchmarking und anhand einer kontinuierlichen Berichter-stattung erfolgen17.

Der LAPgR

2009 beauftragte die Landesstelle für Gleich-behandlung – gegen Diskriminierung (LADS) eine Interessenvertretung für die externe Koordination eines Aktionsplanes gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung18. Es sollte geprüft werden, welcher Hand-lungsbedarf beim Zugang zu Ressourcen wie Bildung, Arbeit, Wohnung, Justiz, usw. für POC besteht. Das Ergebnis dieses Prüfantrags ergab 360 Empfehlungen, die den Bedarf per Senatsverwaltung abbildeten. Der Maß-nahmenkatalog hob hervor, dass POC nicht nur vom individuellen Rassismus, der aus Denkweisen und Handlungen von Personen, die rassistisch diskriminieren, betroffen sind. POC sind auch Zielscheibe mittelbarer und unmittelbarer Benachteiligungen infolge der Anwendung von Verordnungen und Gesetze seitens der Verwaltung19. «Unter institu-tionellem Rassismus lassen sich rassistische Praxen verstehen, die aus Institutionen hervorgehen. Institutioneller Rassismus be-wirkt unbewusst (oder bewusst) benachtei-ligende Handlungspraxen gegenüber POC und ethnischen Minderheiten, aber auch

17 Ebda.18 Bei der Auswahl einer Interessenvertretung wurde darauf Wert gelegt, dass sie jenseits von Merkmalen wie Herkunft, Religion, Geschlecht oder sexueller Orientierung agierte. Der Migrationsrat Berlin Brandenburg e.V. (mrbb) erhielt den Auftrag, weil er als Dachverband über 76 Migrant/innenselbstorganisationen vereint und somit unterschiedliche Bevölkerungs- gruppen in Berlin und Brandenburg repräsentiert. Mehr Informationen über den mrbb sind abrufbar unter: www.mrbb.de19 Vgl. mrbb (2010), S. 10.

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

bewusste, wissentliche Ausgrenzungen»20. Auf die Einreichung des Aktionsplanes sei-tens der LADS folgte eine beinah vollstän-dige schriftliche Ablehnung der Maßnahmen seitens der Verwaltung. Das führte dazu, dass im Landesbeirat die Fortführung der Verhandlungen durch eine Priorisierung21 im Sinne einer als kurze, mittel und längerfristige Umsetzung der Empfehlungen beschlossen wurde. Die darauffolgende Rückkoppe-lung der Stellungnahmen der Verwaltung mit der Zivilgesellschaft mündete in einem Schattenbericht22. Die LADS händigte schließlich dem Abgeordnetenhaus - in Einvernehmen mit allen Senats-verwaltungen-, einen Maßnahmenkatalog mit 44 Maßnahmen aus23. Die 44 Maß-nahmen sind das Ergebnis der internen Verhandlungen der Verwaltung und geben Auskunft über die geplanten Schritteim Rahmen der IKÖ bis 2011. Sie umfassen vorwiegend die Organisation von runden Tischen zu bestimmten Themen oder/und Weiterbildungen für das Personal.

Fazit

Die Zusammenarbeit zwischen der Landes-regierung, der Verwaltung und der Zivilge-sellschaft in Berlin kann zwar als ein erfolg-reiches Beispiel gewertet werden, dennoch hat sie zum Teil auch Handlungspraxen verfestigt, die institutionellen Rassismus reproduzieren. Die Definition von «Integration» von POC im PartIntG ist ein Beispiel, denn «Integration» wird dem Ermessen über-lassen und als eine arbiträre Entscheidung von Menschen mit MH definiert. Sie wird nicht als Frage des verwehrten Zugangs zu Ressourcen aufgrund eines (zuge-

20 Ebda, S. 6. 21 Vgl. mrbb (2011b).22 Vgl. mrbb (2011c).23 Vgl. LADS (2010)

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zugeschriebenen) rechtlichen Status erörtert.Partizipation zu gewähren ist daher nicht Sache des Landes, in dem man die Institutionen zielgruppennah öffnet, sondern Sache der jeweiligen Person, die diese in die Hand nehmen soll. Gleichberechtigung bleibt also ein Element im Rahmen eines «struggle of the fittest». Auch der Ansatz der IKÖ ist vage gehalten und lediglich als «in progress» einzuordnen. Konkrete Schritte gehen aus dem PartIntG kaum hervor. Ihr Fokus ist auch eher die Sensibilisierung des Personals für das konstruierte Andere als «zukünftige Aufgabe» 24 der Verwaltung. Der LAPgR, welcher einerseits konkrete Maßnahmen für die IKÖ und andererseits zur Erhöhung der Partizipation von POC durch die Benennung von Barrieren und Alternativen enthält, hat den Status «Ergebnis eines Abstimmungspro-zesses» 25 durch den Senat erhalten. Er wird zwar im PartIntG genannt26, bindet die Verwaltung aber nicht. Die IKÖ setzt voraus, dass Institu-tionen der öffentlichen Hand die Hetero-genität der Bevölkerung anerkennen und Maßnahmen einführen, die eine mono-kulturelle Organisation mit dem Ziel öffnen, einer heterogenen Gesellschaft gerecht zu werden. Im Rahmen einer strategischen Organisationsentwicklung wird Vielfalt als Maßstab für interne und externe Bereiche zu einer Querschnittsaufgabe. Diese ist in der Berliner Verwaltung noch nicht zu erkennen. Denn die Bereiche, die von der IKÖ profitieren, sind z.B. das Leitbild, die in-terkulturelle Orientierung des Qualitäts-management, die kultursensible Ausrich-tung von Angeboten, die Beschäftigung von

24 Vgl. Flyer der Evangelischen Akademie Bad Boll in Kooperation mit dem Deutschen Juristinnenbund (djb), (2011). 25 Vgl. Abgeordnetenhaus Berlin, (2010), S. 4.26 Vgl. Beauftragter des Senats von Berlin für Inte gration und Migration (2010), S. 2.

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

Menschen mit MH, die Bildung von hetero-genen Teams, die Durchführung von Fort-bildungen für das Personal, die Einrichtung eines Diskriminierungsschutzes und die in-terkulturelle Vernetzung mit externen stake holders27. Die bisherige Implementierung der interkulturellen Öffnung durch den Berliner Senat zeigt vor allem, dass lediglich die (bedingte) kultursensible Ausrichtung von Angeboten (möglich je nach Grad der bisher erreichten - Sensibilisierung der Einrichtung), die (bedingte) Beschäftigung von Menschen mit MH (bei Stellenausschreibungen werden Menschen mit MH «bei gleicher Qualifikation» angestellt)28, die (bedingte) Durchführung von Fortbildungen für das Personal (je nach Finanzhaushalt und eigenem Interesse bzw. Engagement) und die (bedingte) interkultu-relle Vernetzung mit externen stake holders (vorwiegend als ehrenamtliche Berater/innen) den Ton angeben. Die Umsetzung und eine kontinuier-liche Überprüfung der Maßnahmen (auch im Sinne eines Qualitätsmanagements) durch ein Monitoring gehören zur Begleitung und als Kontrollinstrument dazu29. Die IKÖ braucht deswegen mehr als nur einen Ansatz, der auf interkultureller Kommunikation basiert. Sie braucht «eine politische Kultur, die soziale(n) Privilegien

27 Vgl. Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg- schlesische Oberlausitz e.V. (2007) (Hrsg.), S. 6-8. 28 Dies erfolgt vorwiegend auf der Ebene der Aus- bildung durch die Kampagne „Berlin braucht nicht“. Vgl. http://www.berlin-braucht-dich.de/29 Seit dem Regierungswechsel im Jahre 2012 scheint der LAPgR auf Eis gelegt worden zu sein. Die Steuerungsrunde, die im Rahmen des Landes beirates die Implementierung der 44 Maßnahmen durch Monitoring begleiten sollte, ist bisher einmal (2013) zustande gekommen. Es existieren zum heutigen Datum keine Anfragen seitens des Abgeordnetenhauses über die Im- plementierung des LAPgR und des PartIntG. Weder auf der Seite der LADS noch auf der des Beauftragten des Senats für Integration und Migra- tion sind weitere Schritte dokumentiert.

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und kulturalistische(n) Hierarchien sichtbar macht und sich in einem neu auszuhandeln-den Gesellschaftsvertrag schonungslos für deren Abbau einsetzt»30. Das setzt allerdings eine Auseinander-setzung mit (institutionellem) Rassismus voraus! Bojadzijev (2008) weist auf die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Denken und Handeln ohne auf Parallelität einzuspielen hin. Diese Parallelität ist einerseits in der Kontinuität der sogenannten «Integrationsdebatte», die die Gesellschaft in «wir und sie» spaltet (wobei POC mit einer Bringschuld aufgebürdet werden), anderer-seits in der Verstetigung einer Ungleichbe-handlung in Gesetzen, verankert. POC (und Interessenvertretungen) brauchen Rechtsinstrumente, die konkrete Schritte gegen Behörden und Verwaltungs-einrichtungen ermöglichen31. Nghi Ha (2009) hat durch seine Unter-suchungen gezeigt, dass bisher die Teilhabe von Minderheiten am öffentlichen Diskurs von der Zustimmung der mehrheitsdeutschen Strukturen und Institutionen abhängig bleibt. Ihre Teilhabe ist begrenzt, bzw. fremd-bestimmt. Dies hat zur Folge, dass sowohl Diskurse als auch Ihre Vertreter/innen in marginale Positionen gedrängt werden. Dies wurde in der Diskussion um die Ablehnung der 360 Maßnahmen des LAPgR exem-plarisch gezeigt. Der LAPgR hat den dringenden Handlungsbedarf gegenüber der Berliner Gesellschaft of Color durch die Benennung von Benachteiligungen, die POC durch Verwaltungspraxen entstehen, kenntlich gemacht. Er hat zugleich aber auch die Schieflage zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft of Color markiert. Bei den schriftlichen Antworten der Verwaltung auf die Empfehlungen im Rahmen des LAPgR

31 Hier wäre z.B. die Einführung eines Landes- antidiskriminierungsgesetz wichtig. Vgl. ADNB des TBB (2011).

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

fällt diese Distanz zwischen dem geäußerten Handlungsbedarf der Zivilgesellschaft und dem Handeln der Verwaltung auf. Es fehlt ein Konsens über Diskriminierungspraxen32. Das macht deutlich, dass individuelle und institu-tionelle Rassismen in der Mitte der Gesell-schaft zu verortende Phänomene sind. Diese Rassismen prägen sowohl den Alltag von POC als auch den Alltag der Verwaltung. Die Uhren ticken anders. Damit Migration als Querschnitts-thema gesetzlich verankert wird, müsste der Prozess der IKÖ zusammen mit den Diskursen um Partizipation und institutio-nellen Rassismus einhergehen. Die hier eingeführten Instrumente würden vielmehr ihrer Vision gerecht, wenn sie z.B. Bestandteil eines Gesetzes wären, also wenn der LAPgR33 dem PartIntG gleichgestellt und/oder in einem «revisited» PartIntG integriert werden würde. Ziel wäre es das bestehende Verwaltungssystem im Sinne des ange-meldeten Handlungsbedarfs der Zivilge-sellschaft zu optimieren und POC Partizipation (im Sinne von Gleichstellung) zu ermöglichen.

32 Vgl. Nghi Ha, (2009), S. 67. Im seinem Beitrag zeigt der Autor, dass es in Deutschland keinen Konsens über Diskriminierungsfreiheit und anti- rassistische Kultur herrscht.33 Vgl. mrbb (2011b)

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Literatur- und Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Bojadzijev, M., (2008), Die windige Interna-tionale. Rassismus und die Kämpfe der Mi-gration, Münster.

Khien Nghi Ha (2009), The White German’s Burden. Multikulturalismus und Migration-spolitik aus postkolonialer Perspektive. In: Hess, S. et al. 2009, No Integration?! Kultur-wissenschaftliche Beiträge zur Integrations-debatte in Europa, S. 51-72.

Quellenverzeichnis

Abgeordnetenhaus Berlin, (2011), Vorlage – zur Kenntnisnahme – Landesaktionsplan gegen Rassismus und ethnische Diskrimi-nierung mit Schwerpunkt auf den Arbeits- und Handlungsfeldern der Senatsverwaltungen, Drucksache 16/3969 vom 17.03.2011, online unter: www.parlament-berlin.de/ados/16/IIIPlen/vorgang/d16-3969.pdf

ADNB des TBB (2011), Statement des Antidiskriminierungsnetzwerks Berlin des TBB (ADNB des TBB) zu einem Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG), (13.07.2011), online unter: berlin.de/downloads_adnb/Statement_ADNB_LADG_ueberarbeitete_Endversion.pdf

Der Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration (Hrsg.), 2009: Der Berliner Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen – Berlin gemeinsam gestalten, online unter: http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb-integration-migration/publika-tionen/beirat/beirat_broschuere_2009_bf.pdf?start&ts=1254991639&file=beirat_bro-schuere_2009_bf.pdf

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

Ders. (2010), Gesetz zur Regelung von Partizipation und Integration in Berlin, verkündet im Gesetz- und Verordnungs-blatt für Berlin am 28. Dezember 2010, online unter: www.berlin.de/imperia/md/con-tent/lb-integration-migration/publikationen/re-cht/partintg_bf.pdf?download.html

Ders. (2013), online unter: www.berlin.de/lb/intmig/beirat/aufgaben/index.html

Ders. (2013), online unter: www.berlin.de/lb/intmig/beirat/beschluesse/index.html

Diakonisches Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. (Hrsg.), 2007, Interkulturelle Öffnung. Was ist das? Wem bring es was? Wie geht das?, Berlin, online unter: www.diakonie-hamburg.de/export/sites/default/.content/downloads/Grundfragen-der-Interkul turel len-Oef-fnung.pdf (abgerufen am 31.10.2013)

LADS (Hrsg.), 2009, Handlungsfelder der öffentlichen Verwaltung zur Bekämpfung von Rassismus und ethnischer Diskriminierung mit Fokus auf Aspekten, die die Berliner Verwaltung betreffen, Expertise für die Sen-atsverwaltung für Integration, Arbeit und So-ziales , erstellt von Stanislawa Paulus, online unter: http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/rassismus/expertise_paulus_korr_bf.pdf?start&ts=1287065929&file=expertise_paulus_korr_bf.pdf

Ders. (Hrsg.), 2010, Bestandsaufnahme im Rahmen des Projekts «Berlin – Stadt der Viel-falt. Implementierung wirksamer Diversity-strategien durch die Berliner Verwaltung», online unter: http://www.berlin.de/imperia/md/content/lb_ads/materialien/bericht_zur_be-standsaufnahme.pdf?start&ts=1302522284&file=bericht_zur_bestandsaufnahme.pdf

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Evangelischen Akademie Bad Boll (2011) mit dem Deutschen Juristinnenbund (djb). Flyer über die Tagung: Interkulturelle Öffnung der Justiz als zukünftige Aufgabe. Zum Umgang mit fremden Kulturen vor Gericht, online unter: www.forumjustizgeschichte.de/fileadmin/user_upload/Tagung_in_Bad_Boll.pdf

MRBB (Hrsg.), 2010, Empfehlungen zum Landesaktionsplan gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung(LAPgR) in Berlin von Seiten zivilgesell-schaftlicher Akteur_innen, online unter: www.migrationsrat.de/doku-mente/positionen/LAPgR_Stand150610_MRBB_Endfassung.pdf

Ders. (Hrsg.), 2011a, Pressemitteilung des mrbb vom 11.04.2011, online unter: www.mrbb.de/index.php?option=com_content&view=article&id=131:aufruflapgr&catid=4:pressemitteilungen&Itemid=4

Ders. (Hrsg.) 2011b, Priorisierung der im Maß-nahmekatalog enthaltenen Empfehlungen der Zivilgesellschaft im Rahmen des Landesak-tionsplanes gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung (LAPgR), online unter: www.mrbb.de/dokumente/po-sitionen/Priorisierung%20der%20im%20M a % C 3 % 9 F n a h m e n k a t a l o g % 2 0 e n -thaltenen%20Empfehlungen%20der%20Zivilgesellschaft%20im%20Rahmen%20des%20Landesaktionsplans%20gegen%20Rassismus%20und%20ethnische%20Dis-kriminierung%20%28LAPgR%29_Endf.pdf (abgerufen am 31.10.2013)

Ders. (Hrsg.), 2011c, Institutioneller Rassis-mus. Ein Plädoyer für deutschlandsweite Ak-tionspläne gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung, online unter: www.mrbb.de/doku-m e n t e / p r e s s e m i t t e i l u n g e n / L A P g R _Brosch%C3%BCre.pdf

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

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Sehr geehrte Frau Richterin, sehr geehrter Herr Staatsanwalt

ich werde den Prozesstag dazu nutzen, um die Rechtmäßigkeit unseres Protestes sowie die Angemessenheit unserer Ausdrucksmittel und Reaktionen auf polizeiliche Übergriffe zu belegen und im Gegenzug eine Anklage gegen die gewalttätige Polizeipraxis und die mani-pulative Konstruktion der Anklage zu etablieren. Ich möchte an dieser Stelle auch, dass die Stellungnahmen von Thomas Ndin-dah, Claudio Feliziani, Mahdiye Tayefeh Kalhori und Hatef Soltani in mein Verfahrens-protokoll eingebracht werden. Die deutsche Staatsanwaltschaft und das Gericht wollen uns einzeln verfolgen, indem sie versuchen, unsere Prozesse individuell und nicht gemein-sam zu behandeln. Hier möchte ich beweisen, dass wir am 15.10.2012 einen gemeinsamen, friedlichen, politischen Protest durchgeführt haben, bis die Polizei gewaltvoll eingegriffen hat. Ich bin als politischer Flüchtling vor fünfzehn Jahre nach Deutschland gekommen und musste zweieinhalb Jahre im Asyllager in ständiger Angst vor Abschiebung leben. Vier Jahre nach meiner Ankunft und der Stellung meines Asylantrags wurde mein Asylantrag vor Gericht verhandelt. Der Antrag wurde schließlich vom BAMF abgelehnt, obwohl ich in meinem Land politisch verfolgt wurde. Auch vom Gericht habe ich eine Ablehnung bekommen. Wäre es mir nicht möglich gewesen, aus familiären Gründen in Deutschland zu bleiben, wäre ich schon län-gst ins Elend abgeschoben worden. Vielleicht hätte mensch von mir nichts mehr gewusst. Ich kenne also die Angst vor Abschiebung und habe sie am eigenen Leib erfahren. Ich bin ein Aktivist der Flüchtlingsselb-storganisation The VOICE Refugee Fo-rum und arbeite seit fünfzehn Jahren

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

mit Flüchtlingen und MigrantInnen in ganz Deutschland. Ich kenne Flüchtlinge, die Selb-stmord begangen haben aus Angst vor einer Abschiebung. Ich kenne auch Flüchtlinge, die über ein Jahr im Gefängnis verbracht haben, weil sie in Ihre Heimatländer zurückgeschickt werden sollten. Ich kenne auch afrikanische Flüchtlinge, die nicht in ihre eigenen Länder abgeschoben wurden, weil eine andere afri-kanische Botschaft falsche Papiere ausges-tellt hatte. Wir (The VOICE Refugee Forum) haben in den vergangenen Jahren auch Be-richte bekommen, dass Flüchtlinge nach ihrer Abschiebung gefoltert und sogar ermordet wurden. Ich will hier nur eines sagen: Ich kenne den Schmerz, der uns durch Abschiebung zugefügt wird. Abschiebung ist Folter, Ab-schiebung ist Mord, und solange ich lebe, werde ich alles in meiner Kraft stehende tun, um diese koloniale (und neokoloniale) Verfol-gung und Verbrechen zu stoppen. Bezüglich kolonialer Verfolgung möchte ich dieses Gericht, die Richterin und die Staatsanwaltschaft daran erinnern, dass Deutschland verantwortlich für den Genozid in Namibia (von 1904 bis 1908) war, welcher in der Wissenschaft als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts gilt. Der Völkermord in Deutsch-Südwestafrika kostete laut Historik-erInnen zwischen 65.000 bis 85.000 Herero sowie etwa 10.000 Nama das Leben. Über die Verluste anderer afrikanischer Völker-schaften, z.B. in Kamerun oder Togo durch deutsche Kolonialverbrechen liegen keine zu-verlässigen Zahlen vor. Der Genozid wurde durch die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 beschlossene Kon-vention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes als solcher anerkannt. Dennoch hielt die Bundesregierung auch noch 2012 daran fest, dass es sich ihrer Ansicht nach nicht um einen Völkermord

Stellungnahme - im Gericht 26.09.13von Mbolo Yufanyi Movuh

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gehandelt habe. Heute vor zwei Jahren, also am 26. September 2011, reisten etwa 50 Mitglieder einer Delegation aus Namibia nach Berlin, um hier die sterblichen Überreste ihrer Ah-nen, der Herero und Nama, abzuholen. Ich und einige Schwarze AktivistInnen haben uns mit dieser Delegation getroffen. Einer der Stammesältesten hat mich gefragt, woher auf unserem Kontinent ich stamme. Als ich ihm geantwortete, dass ich aus Kamerun bin, hat er mir erzählt, dass einige Hereros in der Kolonialzeit nach Kamerun abgeschoben wurden. Abschiebung ist eine deutsche kolo-niale Tradition. Schon seit vielen Jahren gibt es De-monstrationen, Diskussionen und Aufrufe in Deutschland, um gegen die Kollaboration zwischen einigen afrikanischen Regierun-gen und den EU Ländern zu protestieren – besonders gegen die enge Kooperationzwischen der nigerianischen Botschaftund den deutschen Abschiebebehörden.Das Problem ist seit mindestens 10 Jahren bekannt. Unsere Kenntnisse als Flüchtlings-organisation, die seit Jahren gegendiese Kollaboration politisch protestiert, bestätigen die Feststellungen vonMahdiyeh Tayefeh Kalhori, die in ihrer Erklärung vom 13.08.2013 schreibt: «Für jede Abschiebung aus Deutschland durch die Zuordnung der nigerianischen Na-tionalität kassiert die nigerianische Botschaft 500 Euro, 250 Euro für das Verhör und 250 Euro nach Erfolg, wenn sie Papiere der ni-gerianischen Staatsangehörigkeit ausstellt. Es werden auch dort Asylbewerber aus an-deren afrikanischen Staaten anerkannt, um sie später von Nigeria aus nach Togo, Libe-ria, Uganda, Sudan oder Sierra Leone weit-erzuschieben. Hierbei handelt es sich um ein reines Geschäft mit Menschenleben, ein Verbrechen und die Missachtung der Rechte dieser Menschen.» Wir wissen aus Erzählungen und Beobachtungen, auf welche Weise dieFlüchtlinge teilweise zu diesen Anhörungen

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

gebracht werden. Mit polizeilichem Zwang wurden in der jüngsten Vergangenheit Afrikaner_innen von Montag bis Freitag aus der ganzen Republik zur Landesaufnahme-stelle für Flüchtlinge in Karlsruhe transpor-tiert. Die nigerianische Botschaft mit Sitz in Berlin führt solche Abschiebeanhörungen immer wieder in verschiedenen Städten durch. Sie sind Teil eines korrupten und neo-kolonialen Abschiebehandels zwischen der nigerianischen Botschaft und den deutschen Behörden auf Kosten der Flüchtlinge. Gegen solche sogenannte «Identitätsfestellungen», die eigentlich jeglichen internationalen Rech-ten widersprechen, protestieren wir von The VOICE Refugee Forum seit über sechs Jah-ren. Vom 9. bis 11. Mai 2012 haben wir in Berlin eine friedliche Kundgebung vor der nigerianischen Botschaft abgehalten und Rex Osa und andere Aktivisten haben den Beamten in der Botschaft eine Petition über-reicht. Die Zeit vom 9.–11. Mai 2012 wurde in Berlin auch genutzt, um die Rolle der EU-Grenzschutzagentur Frontex bei Mas-senabschiebungen zu thematisieren und zu skandalisieren. Mehrere Tausend Menschen wurden mit international koordinierten Fron-tex-Sammelcharterflügen nach Nigeria abge-schoben. Im Januar 2012 schloss Nigeria mit Frontex einen neuen Kooperationsvertrag für Rückführungsoperationen ab. Verpflichtun-gen zur Rückübernahme von Abgeschobenen und Kontrolle von Migration sind heute Bestandteil der Kooperationsabkommen zwischen EU-Staaten und afrikanischen Staaten. Deutschland ist Hauptsponsor von Frontex und nimmt eine Vorreiterrolle dabei ein, von anderen Ländern Kollaboration bei Abschiebungen zu erzwingen. Es ist das Anliegen von The VOICE und unseres Pro-testes, die neokolonialen Elemente der EU-Migrationsabwehr bloßzustellen. Die afri-kanischen Regierungen müssen aufhören, den europäischen Staaten, die bis heute von der Zerstörung unserer Länder profitieren,

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beim Abschieben zu helfen. Abschiebungen sind nicht nur rassistisch, sondern eine Praxis kolonialistischer Verfolgung! Vor diesem Hintergrund ist der Pro-test in der nigerianischen Botschaft, den Sie als Besetzung bezeichnen, gegen unrecht-mäßige, korrupte und menschen-verachtende Praktiken legitim. Mit weniger spektakulären Mitteln konnte bislang dieser menschenver-achtenden Praxis kein nachvollziehbarer Einhalt geboten werden. Damit es für das Gericht klar wird: Die Protestaktion in der nigerianischen Botschaft vom Oktober 2012 richtete sich gegen die Abschiebeanhörun-gen, die im normalen Sprachgebrauch auch als «Botschaftsanhörungen» bezeichnet werden – ein verschleiernder Begriff, der das Verbrechen der Abschiebung nicht benennen soll. Es ist nach wie vor fragwürdig, warum am 15.10.2012 die deutsche Polizei in die Botschaft eines anderen Landes eindrang und begann, die Bürger dieses Landes zu verhaften, zu deren Schutz die Botschaft eigentlich verpflichtet wäre. Es war genau zu diesem Zeitpunkt, dass die polizeiliche Brutalität begann.

Workshop VI: «Was tun gegen Rassismus in der Justiz? – Handlungsstrategien gegen institutionellen Rassismus»

Brutalität und rassistische Gewalt durch die Polizei und juristische Straflosigkeit sind in Deutschland kein Einzelfall. Um diese ge-walttätige Polizeipraxis aufzuzeigen, möchte ich zuerst ein paar Namen von Schwarzen Menschen nennen, die durch Polizeigewalt ermordet wurden. Genauso wie in den Fäl-len von Christy Schwundeck, Ndeye Mariem Sarr, Laye Conde, Dominique Koumadio sind auch im Falle des qualvoll in einer Polizei-zelle in Dessau-Roßlau verbrannten Asylbe-werbers Oury Jalloh 2005 die Täter nicht für ihre Tat bestraft worden. Im letzteren Fall ist das Gerichtsverfahren mit einem Freispruch für einen angeklagten Polizisten und einer geringen Geldstrafe für einen anderen Poliz-isten zu Ende gegangen. Nach wie vor gibt es zahlreiche Widersprüche, Lügen seitens der Angeklagten sowie Einschüchterungsver-suche gegen die Nebenkläger. Vertuschun-gen und die Unterdrückung von Beweisen, die während des Prozesses von Staatsanwalt und Richtern erlaubt wurden, sind immer eine übliche Praxis. Alles weitere, was ich zu sagen habe, erzähle ich frei und möchte aber, dass es auch in das Protokoll dieser Verhandlung auf-genommen wird.

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DiskussionspunkteWas tun gegen Rassismus in der Justiz?

Wie sinnvoll ist der «Weg durch die Institutionen»? Kann das System mit dem System bekämpft werden? Wie kann verhindert werden, dass wir bei unseren Bestrebungen, institutionellen Rassismus zu bekämpfen, kooptiert werden?

l Wichtig ist es aufzuzeigen, dass das «System» in der jetzigen Form nicht funktioniert. Dies kann durch permanenten Widerstand gegen rassistische Maßnahmen und Praxen sowie durch die Dokumentation und das Öffentlichmachen dieser geschehen.

l Wie sinnvoll ist dafür Lobbyarbeit? (Wichtig: Schnittstellen von Rassismus, Kapitalismus und Kolonialismus aufzeigen.)

Was ist das «System»? Wie kann es greifbar gemacht werden? Entsteht es durch bestimmte Gesetze, Ideen, Vorstellungen? Wo können wir anfangen, um dieses neu zu gestalten, wenn nicht durch Gesetzgebung? Wie können in diesem Kontext verschiedene Formen von Selbstorganisation aussehen?

l Wichtig: Bündnisse zwischen Poc, Schwarze Menschen, Migrant_innen und Geflüchteten schaffen; aus gemeinsamer Erfahrungen schöpfen, um somit Ideen für den Umgang mit Rassismus in der Justiz zu entwickeln.

l Es ist auch wichtig, weniger Energie in Veränderung von Behördenabläufen als in Verhalten der betroffenen Personen zu investieren. «Sensibilisierung» der «Betroffenen» z.B. durch Hand- bücher: «So verhalte ich mich bei einer rassistischen Polizeikontrolle» oder «So kann ich mich gegen rassistische Kontrollen/Rassismus in der Justiz wehren». Anderer Ansatz – andere Politik: eher auf das eigene Handeln als auf Hoffnung auf Veränderung von der «anderen Seite» setzen. Das hieße: selber Macht in die Hand nehmen und nicht Veränderung erwarten und somit Macht abgeben.

l Druck von außen (von der Zivilgesellschaft) ist essentiell, um Veränderung herbeizuführen. (Dies zeigt Reaktion auf LAPgR: Alle Empfehlungen bzgl. Rassismus in der Justiz und Polizei wurden abgelehnt.).

Themenfeld AGG:

l Futter (Daten, Dokumentation, Ressourcen) um Rassismus in der Justiz benennen zu können.

l Kritik: Problem der rassistischen Diskriminierung wird individualisiert. Keine Verbandsklagen möglich (Class Suits wie in den USA)

l Frage: In wie weit trägt das AGG dazu bei, Betroffene zum Schweigen zu bringen, nicht weiter zu kämpfen, sich zu vernetzen?

l Immerhin: Das AGG ist nicht nur ein Vorschlag oder eine Empfehlung (wie im Falle des LAPgR) sondern allgemeingültiges Gesetz.

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SonderbeitragDas Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg

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Der Ausschuss zur Beseitigung rassistischer Diskriminierung der Vereinten Nationen (CERD, Commitee on the Elimination of Racial Discrimination) hat eine Beschwerde des Türkischen Bundes in Berlin-Branden-burg (TBB) gegen die Bundesregierung für begründet erachtet, da kein effektives Strafverfahren gegen Thilo Sarrazin wegen seiner rassistischen Äußerungen durchge-führt wurde. Diese Entscheidung ist weg-weisend für die Zivilgesellschaft bei der Bekämpfung von Rassismus in Deutschland, da sie neue Möglichkeiten für Verbände und zivilgesellschaftliche Akteur_innen in derArbeit gegen rassistische Diskriminierung eröffnet.

Der TBB setzt sich als überpartei-licher Dachverband von Organisationen und Einzelpersonen in Berlin seit über 20 Jahren als Interessensvertretung türkeistämmiger Menschen für eine gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Gesellschaft ein und tritt dabei allen Formen des Rassismus und der Diskriminierung entschieden entgegen.Der TBB ist Gründungsmitglied des Migrationsrat Berlin-Brandenburg. Hintergrund der Entscheidung des Ausschusses vom April 2013 ist die Strafanzeige, welche der TBB gegen Thilo Sarrazin wegen Volksverhetzung und Belei-digung aufgrund seiner Äußerungen in einem Interview in der Kulturzeitschrift Lettre Inter-national im September 2009 gestellt hatte.

Dort hatte sich Thilo Sarrazin rassistisch über Berliner Türkinnen und Türken und auch arabischen Menschen geäußert, in dem er diesen «Gruppen» negative Attribute

zuschrieb und diese zum Teil mit biologis-tischen Gegebenheiten erklärte. Des Weit-eren stellte Sarrazin ihren Wert für die hiesige Gesellschaft mehr als in Frage. Die Berliner Staatsanwaltschaft sah darin jedoch nicht den Tatbestand der Volksverhetzung und der Beleidigung erfüllt und entschied, dass seine Äußerungen von der Meinungsfreiheit ge-deckt sind. Auch die Beschwerde des TBB bei der Generalstaatsanwaltschaft gegen die Einstellung des Verfahrens blieb erfolglos. Diese argumentierte, dass seine Äußerungen zwar drastisch und polemisch seien. Als ehe-maliger Finanzsenator Berlins sei Sarrazin jedoch unstreitig mit den Problemen Berlins vertraut und habe sich im Rahmen des Inter-views lediglich mit den wirtschaftlichen und sozialen Strukturproblemen der Stadt be-schäftigt. Da dem TBB als Verband weder ein Klageerzwingungsverfahren noch andere Rechtsmittel zur Verfügung standen, war der innerstaatliche Rechtsweg damit erschöpft. Mit der im Mai 2010 eingereichten Individual-beschwerde beim UN-Anti-Rassismus Aus-schuss machte der TBB geltend, dass die Bundesregierung ihre Verpflichtung aus der Anti-Rassismus-Konvention verletzt habe, in-dem sie Sarrazins rassistischen Äußerungen nicht strafrechtlich verfolgt haben. Deutschland hat das 1965 verab-schiedete Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskrimi-nierung (ICERD) 1969 ratifiziert und sich dem Individualbeschwerdeverfahren unterworfen. Damit hat sich Deutschland verpflichtet effektiv gegen rassistische Diskriminierung und die Verbreitung von rassistischem Ge-

Rassismus ist keine Meinung! Die Individualbeschwerde an den Anti-Rassismus-Ausschuss der Vereinten

Nationen als Instrument bei der Bekämpfung von Rassismusvon Eva Maria Andrades

Der Ausschuss entschied im

Februar 2013 und stellte zunächst fest, dass

Thilo Sarrazins Äußerungen eindeutig rassistisch im Sinne

der Konvention sind.

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dankengut vorzugehen. 2011 führte der TBB eine Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte in das Verfahren ein, welches die grundsätzliche Bedeutung des Falles für den Schutz vor rassistischer Dis-kriminierung in Deutschland hervorhob. Der Ausschuss entschied im Februar 2013 und stellte zunächst fest, dass Thilo Sarrazins Äußerungen eindeutig rassistisch im Sinne der Konvention sind. Ferner habeDeutschland durch die Einstellung des Ermit-tlungsverfahrens gegen Sarrazin die Verp-flichtung aus der Anti-Rassismus Konvention, nämlich effektiv gegen rassistische Diskrimi-nierung und die Verbreitung rassistischen Gedankenguts vorzugehen, verletzt. Der Ausschuss argumentierte, dass das hier kollidierende Recht auf freie Meinungs-äußerung einhergeht mit der Pflicht und der Verantwortung, keine rassistischen Ideen zu verbreiten. Im Folgenden sprach der Aus-schuss konkrete Empfehlungen aus. Un-ter anderem muss die Bundesregierung die Entscheidung der Kommission breit veröffent-lichen, auch unter den Strafverfolgungs-behörden, und sowohl die Gesetze und Ver-fahren als auch ihre Politik in Bezug auf die strafrechtliche Verfolgung rassistischer Dis-kriminierung überprüfen. Als Interessensvertretung und zivilge-sellschaftlicher Akteur wollte der TBB mit dieser Beschwerde auf den unzureichenden Schutz vor rassistischer Diskriminierung in Deutschland aufmerksam machen und zu einer gesamtgesellschaftlichen Bewusst-seinsschärfung und insbesondere zur Sen-sibilisierung für Rassismus in der Justiz be-itragen. Denn der losgetretene öffentliche Diskurs über Sarrazins Äußerungen fand im Allgemeinen ein Konsens darin, dass die Äußerungen zwar überspitzt und polemisch

1 http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/uploads/ tx_commerce/Stellungnahme_DIMR_im_Verfahren_ vor_dem_UN_Antirassismus_Ausschuss_TBB Deutschland.pdf

seien, aber «dass man ja wohl noch sagen dürfe, was man denkt». Als Interessensver-tretung musste der TBB beobachten, dass im Laufe der Diskurse die rassistischen Thesen in der Öffentlichkeit nicht nur Zuspruch fan-den, sondern diesen menschenrechtsver-letzenden Thesen durch die enorme Bericht-erstattung eine große Bühne geboten wurde. Selbst die Tatsache, dass sich rechtsextreme Parteien Sarrazins Thesen und Positionen zu Eigen gemacht haben, schien nicht zu einer Abkehr zu führen.

Die Debatte über Integration im Allgemeinen und speziell bezüglich der hier lebenden türkeistämmigen Menschen hatte damit eine Verschärfung im Ton erfahren, die nicht nur verletzend für die Betroffenen war, sondern insgesamt dem gesellschaft-lichen Klima und Miteinander geschadet hat. Die rassistischen Äußerungen wurden damit salonfähig. Ebenso wurde in der Argumen-tation der Staatsanwaltschaft wieder einmal deutlich, dass Rassismus, selbst wenn er so offenkundig erscheint wie in diesem Fall, nicht als solcher erkannt wird und Äußerun-gen relativiert werden, wenn sie nicht von rechtsextremer Seite stammen. Dieses zu eng gefasste Rassismus-Verständnis wurde bereits sowohl von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) als auch durch den UN-Sonderberich-terstatter über Rassismus kritisiert.2

2 http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/country-by- country/germany/DEU-CbC-IV-2009-019-DEU.pdf

Der TBB machte geltend, dass die Bundesregierung ihre

Verpflichtung aus der Anti-Rassismus-Konvention verletzt

habe, indem sie Sarrazins rassistischen Äußerungen nicht

strafrechtlich verfolgt haben.

SonderbeitragDas Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg

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Mit der Beschwerde an den Ausschuss zur Beseitigung von rassistischer Diskriminierung und den daraus entstehenden Prozessen sieht der TBB die Möglichkeit, diese Defizite in der Rassismus-Bekämpfung sichtbar zu machen. Die Individualbeschwerde ist dabei ein geeignetes Instrument, um auch interna-tional Druck zu erzeugen und auf effektiveren, innerstaatlichen Rechtschutz vor Rassismus hinzuwirken. Nicht zuletzt wollte der TBB den hier in Deutschland lebenden und durch die rassistischen Äußerungen betroffenen Menschen auch ein Signal senden und alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um das Recht auf Nichtdiskriminierung und Wahrung der Menschenwürde zu verteidigen. Der positive Ausgang des Verfahrens wie-derum ist mit großer Freude aufgenommen worden und ist ein enormes Empowerment, nicht nur für die türkeistämmige Community, sondern für alle, die rassistische Diskrimi-nierung in Deutschland erfahren. Letztlich bedeutet diese Entschei-dung auch eine grundsätzliche Stärkung der Argumentation im Kampf gegen Rassismus, denn dieser Fall hat weitreichende Bedeutung über den Einzelfall hinaus und macht die struk-turellen Defizite im Schutz gegen Rassismus sichtbar. Im besten Sinne können hierdurch Veränderungen sowohl in der Gesellschaft als auch in der Justiz bewirkt werden, auch wenn die öffentlichen/medialen Reaktionen auf die Entscheidung zunächst sehr zurückhaltend waren. Im Vergleich zu Sarrazins Äußerungenund seiner Buchveröffentlichung hat die magere Berichterstattung insbesondere den Eindruck hinterlassen, dass Rassismus, wenn er denn als solcher benannt und geächtet wird, ein unerwünschtes Thema ist.

http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/UN-Dokumente/Sonder-berichterstatter/report_Muigai_mission__Germa-ny__2009.pdf

SonderbeitragDas Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg

Auch wenn die Entscheidung des Aus-schusses in einer Individualbeschwerde keine unmittelbare völkerrechtliche Verbindlichkeit hat, so hat sie aber politische Wirkkraft. Denn Vertragsstaaten wie Deutschland haben sich der Konvention und der Individualbeschwerde unterworfen, und es ist daher zu erwarten, dass die Feststellung einer Verletzung des Übereinkommens von der Bundesregierung angenommen und die daraus folgenden Empfehlungen ernsthaft geprüft und umge-setzt werden. Deshalb kommt dem hier nach der Entscheidung stattfindenden Verfahren einen wesentliche Bedeutung zu. In diesem so genannten Follow up Verfahren geht es nun für den TBB als Beschwerdeführer dar-um, die Entscheidung des Ausschusses durch Öffentlichkeitsarbeit und politische Lobby-arbeit zu verbreiten und mit den angesprochenen Regierungsebenen im Dialog zu bleiben, damit die Empfehlungen des Ausschusses umgesetzt werden. In diesem Zusammenhang macht der TBB weiterhin auch Stellungnahmen an den Ausschuss, um den weiteren Verlauf im Sinne der Umsetzung zu begleiten und zu befördern und so beispielsweise auch auf die bisher mangelnde Umsetzung der Empfehlungen hinzuweisen. Der TBB wird auch weiter-hin aktiv bleiben und sich dafür einsetzen, dass diese Entscheidung auch tatsächlich zu den strukturellen Veränderungen führt, die Deutschland braucht, damit rassistische Diskriminierung erkannt und geächtet wird. Das Individualbeschwerdeverfahren zum UN-Anti-Rassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen ist daher eine weitere zu be-denkende Möglichkeit in der Auseinander-setzung mit rassistischer Diskriminierung und stellt ein politisches Instrument dar, um sich auf internationaler menschenrecht-licher Ebene für diese Anliegen und Ziele ein-zusetzen.

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ZusammenfassungRassismus und Justiz

In den insgesamt sechs Workshops der Veranstaltungsreihe «Rassismus und Justiz» wurden un-terschiedliche Ideen, Vorschläge und Ansätze präsentiert bzw. herausgearbeitet, um mit der ras-sistischen Diskriminierung im deutschen Justizsystem umzugehen. Diese können in vier Themen-bereichen zusammengefasst werden.

1. Die Rolle der Polizei 2. Sensibilisierungsarbeit 3. «Rassismus in der Justiz greifbar machen» sowie damit zusammenhängende theoretische Ansätze und 4. konkrete Handlungsstrategien, um gegen Rassismus in der Justiz vorzugehen

Ein Fazit, welches aus allen Workshops gezogen werden kann, ist die Erkenntnis, dass ein gesamtgesellschaftliches Umdenken hinsichtlich Rassismus stattfinden muss, damit sich auch auf der Ebene der Justiz etwas ändert. Um jedoch von dieser allgemeineren Ebene wieder auf das Spezifische zurückzukommen, wäre es notwendig zu fragen, wo Rassismus in der Justiz anfängt, wo mensch also ansetzen muss, um tatsächlich dem Rassismus in der Justiz nachhaltig entgegenwirken zu können. Ein sicherlich sinnvoller Ansatz, der innerhalb der Reihe geäußert wurde, war, bei der Ein-ordnung einer Straftat als rassistisch oder nicht rassistisch motiviert zu beginnen. Hier ist es wichtig zu erreichen, dass Straftaten als ideologisch motiviert anerkannt werden, ohne dass die Täter_in-nen notwendigerweise in der rechten Szene bekannt oder politisch organisiert sein müssen. Maria Portugal von ReachOut sprach in diesem Zusammenhang sehr treffend von «gewaltbereiten All-tagsrassisten». Rassistisch motivierte Gewalttaten werden also nicht zwingend von organisierten «Neonazis» verübt, weshalb auch nicht nur in diese Richtung ermittelt werden darf. Hier stellt sich die Frage, wie einer Straftat eine rassistische Motivation nachgewiesen werden kann, wenn dieser beispielsweise keine verbalen rassistischen Attacken vorausgegangen sind.

Die Rolle der Polizei

In diesem Kontext wären die Ermittlungsmethoden der Polizei anzusprechen, die sehr häufig ras-sistisch ablaufen. Nicht selten kommt es zu einer Täter_innen-Opfer-Umkehrung. D.h., dass (auch post-NSU) bei den Geschädigten eine Mitschuld an der Tat vermutet und entsprechend ermittelt wird; oder die rassistische Motivation des Übergriffs wird schlichtweg ignoriert oder geleugnet. Handlungsvorschläge bzw. Überlegungen, die in diesem Zusammenhang in den Diskussionsrun-den der Workshops geäußert wurden, waren u.a:

– Ein verstärkter Schutz der Geschädigten durch bessere Kontrollen der Polizeiarbeit, z.B. durch eine Dokumentationspflicht, mit deren Hilfe zurückverfolgt werden kann, ob und aus welchen Gründen eine rassistische Motivation bei einer Strafftat ausgeschlossen wurde, aber auch- eine bessere Dokumentation von Ermittlungsverfahren allgemein durch Video- oder Audioaufnahmen, um auch hier rassistisches Vorgehen möglichst zu verhindern bzw. fest-halten zu können. Dieser Vorschlag wurde bereits im Abschlussbericht des Untersuchungs-ausschusses des Bundestags zur NSU-Affäre vorgelegt.

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Problematisch bleibt hierbei die Tatsache, dass als rassistisch und somit als politisch motiviert eingestufte Straftaten zwar an das Landeskriminalamt übergeben werden und somit gewährleistet sein sollte, dass in eine bestimmte Richtung ermittelt wird, dies jedoch trotzdem keine Garan-tie für eine Rechtsprechung im Sinne der Geschädigten ist. Denn wie am Ende tatsächlich ent-schieden wird, hängt von den entsprechenden Richter_innen ab, die in Deutschland in der Regel aus der weißen Mittel- bzw. Oberschicht stammen und meist (wenn auch teilweise unbewusst) deren bestehende, von Rassismus geprägte Denk- und Verhaltensmuster teilen. Allerdings wäre die klare Einstufung einer Tat als rassistisch motiviert ein erster Schritt, der insbesondere für die «Opfer» rassistischer Gewalttaten in psychologischer, aber auch in praktischer Hinsicht, z.B. bei der Beantragung von Entschädigungszahlungen, wichtig sein kann.

Sensibilisierung

In nahezu allen Workshops wurde die Notwendigkeit einer Sensibilisierung von Polizei, Richter_innenschaft, Anwält_innen etc. in Hinblick auf rassismusrelevante Themen geäußert. Diese Sensibilisierungsarbeit findet vornehmlich in Form von sogenannten Diversity- oder interkulturellen Trainings statt. Diese Art Sensibilisierungsarbeit ist nicht immer eindeutig positiv, weil damit das Prob-lem nicht unbedingt an der Wurzel gepackt wird, sondern dieses Training in einigen Fällen sogar eher dazu beitragen kann, die Tatsache zu verschleiern, dass es sich um strukturellen Rassismus handelt, der nicht auf Individuen beschränkt ist, sondern sich institutionell manifestiert, da er im System verankert ist. Darüber hinaus findet diese Art Training in der Regel auf freiwilliger Basis statt und wird zudem häufig in der Öffentlichkeit als «Freifahrschein» benutzt, um sich vor Rassismus-Vorwürfen zu schützen, etwa nach dem Motto: «Ich habe an einem Training teilgenommen, also kann mir kein rassistisches Vorgehen vorgeworfen werden.» Ein Beispiel hierfür wäre die Aussage des Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, der in einem Taz-Interview auf die Frage, ob es der Polizei an «interkultureller Kompetenz» mangele, reflexartig auf interkulturelle Trainings verweist und im gleichen Atemzug mit einem Beispiel zu Polizeieinsätzen bei «häuslicher Gewalt» Rassismus reproduziert.1 Derartige Äußerungen von Polizeibeamten zeigen, dass durch solche Trainings nicht etwa einer zugrundeliegenden Einstellung entgegengewirkt, sondern vielmehr Methoden, um Rassis-mus-Vorwürfen entgehen zu können, vermittelt werden. «Wie verhalte ich mich, was sage ich, damit mir kein Rassismus vorgeworfen werden kann…»

1«Sie können sicher sein, dass Menschenrechtsbildung, Rassismusforschung und interkulturelle Kompetenz bei der Polizeiausbildung schon jetzt ganz oben stehen. Sonst könnten sie doch heute manchen Einsatz, etwa bei häuslicher Gewalt, gar nicht mehr bewältigen»: Bax, Daniel, «Igittigitt, das ist Rassismus» in: taz, die tageszeitung, 27.10.2013, S. 3.

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Ein weiterer Vorschlag, der nicht explizit in den Workshops genannt, aber häufig in diesem Kontext geäußert wird, ist der, mehr Schwarze Menschen, People of Color (PoC) bzw. Migrant_innen im gesamten Justizsystem zu beschäftigen. Dieser Vorschlag ist jedoch ebenfalls ambivalent insofern, als es sich hierbei oft um «Quotenmigrant_innen» handelt, die selbst der Gefahr unterliegen, inner-halb des Justizsystems im Berufsfeld/von Kolleg_innen etc. rassistisch diskriminiert bzw. gemobbt zu werden und sich aus diesem Grund bestimmten Verhaltenskodices und -weisen anpassen. Diese Maßnahmen können somit nicht zu einer nachhaltigen Veränderung führen. Darüber hinaus wird auch hier der Kern der Problematik nicht bedacht, welcher in einer rassistischen Grundhaltung begründet ist. Hierbei ist auch zu fragen, in wie weit von Rassismus betroffenen Menschen nicht bereits sehr früh eine juristische Laufbahn verschlossen bleibt, da ihnen häufig schon in der Grund-schule durch eine diskriminierende Aussortierung entlang rassistischer Kategorien der Zugang zu höherer Bildung erschwert wird. Dies bestätigt unsere obige Einschätzung, dass die Grundursache für die bemängelten Situationen und Verhaltensweisen in strukturellem bzw. institutionellem Rassismus zu suchen ist.

Rassismus in der Justiz greifbar machen

Eine grundlegende Frage, welche in nahezu allen Workshops auftauchte, war: Wie können wir Rassismus in der Justiz greifbarer machen? In Gesetzestexten finden sich keine explizit rassistischen Formulierungen wieder. Wie Nadija Samour beim 3. Workshop erläutert hat, ist in Gesetzestexten meist nur ein latenter Rassismus zu finden, der zwar bei Personen mit einem Bewusstsein für Rassismus bestimmte Assoziationsketten auslösen, aber nicht als explizit rassistisch definiert werden kann. Ein weiterer kritischer Punkt wäre in diesem Zusammenhang der Nachweis einer zugrunde-liegenden rassistischen Motivation bei einer Straftat sowie der Nachweis einer rassistischen Grund-haltung der Richter_innenschaft, die sich in der Rechtsprechung widerspiegelt. Dies bringt uns zu der theoretischen Ebene, auf der wir zwei Hauptaspekte unterscheiden können.

1) Zunächst besteht die Schwierigkeit einer mangelnden Kodifizierung von Rassismen in der Justiz, was zum einen die Handlungsmöglichkeiten von Personen, die rassistisch diskriminiert wurden, einschränkt, und zum anderen Auswirkungen auf die Strafzumessung bei bestimmten Straftaten hat. Wir haben zwar das AGG, aber hier bleibt offen, wie es tatsächlich in der Praxis gehandhabt wird. Das AGG ist zudem auf die individuelle Ebene beschränkt und spricht Ras-sismus nicht als gesamtgesellschaftliches Problem an. Ein solches Gesetz kann zudem nicht effektiv sein, wenn seitens der Jurist_innen und Richter_innen kein Bewusstsein für Rassismus vorhanden ist. Cristina Martín führte bzgl. «Hasskriminalität» das Beispiel der Gesetzgebung in Spanien an. Dort existiert zwar seit längerem ein sogenanntes «anti-rassistisches Gesetz», was Auswirkungen auf die Rechtsprechung und vor allem auf die Strafzumessung haben sollte, dies aber in der Praxis nicht tut.

2) Problematisch ist hierbei auch, wie der Reproduktion von Rassismen in diesem Fall vorge-beugt werden kann. Wie ist eine klare Benennung von Rassifizierung möglich, um dagegen vorgehen zu können, ohne sie dabei jedoch gleichzeitig wieder festzuschreiben?

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Hierbei muss vor allem klar herausgestellt werden, dass Rassifizierung zwar ein soziales Konstrukt ist, aber dennoch auf der alltäglichen Ebene praktische Auswirkungen hat: Es bedeutet für sehr viele Menschen Diskriminierung, Gewalttätigkeit, Ausschluss etc. Deshalb ist es notwendig, Rassifizierungen zunächst als gegeben anzunehmen, um sie dann zu dekonstruieren. Farbenblind-heit ist nicht effektiv. Hier kommen wir zu einem weiteren wichtigen Aspekt, der aus den Diskussionen der ver-schiedenen Workshops vor allem im Hinblick auf die theoretische Dimension extrahiert werden kann: der Nutzen, der darin läge, für Deutschland eine Critical Race Theory (CRT) zu entwickeln.

Critical Race Theory

Die CRT entstand als akademische Disziplin in den 1980ern in den USA. Ihr Ansatz, die Heraus-arbeitung der Schnittstellen von Rasse, Recht und Macht, fehlt bisher in Deutschland: Basierend auf der Kritischen Theorie wendet sie diese auf die genannten Schnittstellen an. Sie setzt voraus, dass institutioneller Rassismus als Machtinstrument und Machtbasis für die Vorherrschaft der weißen Mehrheitsgesellschaft existiert. Er findet sich darum auch und gerade im Justizwesen. Diese Macht stützt sich auf die Marginalisierung von Schwarzen Menschen, PoC und Migrant_innen. Die CRT prüft den Beitrag der Justiz zur Aufrechterhaltung dieser Vorherrschaft. Sie unterstellt, dass Justitia gerade nicht neutral und farbenblind ist – hiermit wäre eine Abkehr von der in Deutschland immer noch vorherrschenden Vorstellung verbunden, die Justiz sei neutral und normenlos. Derzeit besteht in der BRD immer noch großes Vertrauen in die Justiz. Ein Bewusstsein für strukturimmanenten Rassismus ist in der weißen Mehrheitsgesellschaft sowie im Justizwesen kaum vorhanden. Die CRT betrachtet trotz ihrer Kritik am bestehenden Recht das Konzept Recht als Emanzipations-instrument. Ihr Ansatz ist intersektional; im Fokus steht Mehrfachdiskriminierung, also Schnittstellen, Wechselwirkungen und das Zusammenspiel von Rassismus mit anderen Diskriminierungserfahrungen (Gender, Klasse, sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit, Re-ligion). Die CRT entwickelte sich teilweise aus der Kritik an den Critical Legal Studies, deren univer-salistischen Anspruch und colorblind (farbenblinden) Ansatz sie ablehnte. Diese universalistische Herangehensweise kann nur für einen kleinen homogenen Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft gelten; der Anspruch wird aber explizit auf die Gesamtgesellschaft ausgedehnt. Die CRT hält es für notwendig, Rassifizierungen zunächst als gegeben anzunehmen und zu benennen. Nur dadurch können diese aufgebrochen und dekonstruiert werden. Ein weiterer Kernaspekt der CRT ist der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit, die Verbindung von Theorie und Praxis, von akademischen Bestrebungen und Aktivismus, um gegen existierende Machtstrukturen vorzugehen.

Konkrete Handlungstrategien/Ideen bis jetzt

– Wünschenswert sind fundierte wissenschaftliche Studien zu den oben skizzierten Problemen, die breitangelegte quantitative sowie qualitative Analysen von Gesetzestexten, aber auch von Verfahrensabläufen und entsprechenden Urteilen vornehmen, z.B. in Form von Dissertationen oder Habilitationsschriften. Ein gravierendes Problem hierbei ist die Finanzierung solcher Vorhaben.

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Finanzielles Backup ist essentiell wichtig, aber gerade daran mangelt es häufig. Auch ist in diesem Kontext zu fragen, wer solche Studien durchführen soll/kann. Prof. Attia wies beim 4. Workshop zum Thema antimuslimischer Rassismus darauf hin, dass auch bei der Vergabe von Stipendien oft rassistische Kriterien angewandt werden. Ohne diese oder eine andere en-tsprechende Finanzierung ist es jedoch heutzutage kaum möglich, eine akademische Karriere einzuschlagen.– Ein weiterer Vorschlag betraf die Gründung einer Prozessbeobachtungs-AG in Zusammen-arbeit mit der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Hier soll es um die regelmäßige Beobachtung und Dokumentation von Verfahren gehen, die potenziell die Gefahr rassistischer Diskriminierung bergen, um somit im Nachgang zu fundierten Aussagen zu Rassismus in der Justiz gelangen zu können.– Mbolo Yufanyi verwies im letzten Workshop auf Strategien aus aktivistischer Perspektive: Präsenz zeigen, skandalisieren, öffentlich machen, Bündnisse schließen.

Ein letzter Punkt beleuchtet das Thema Rassismus im Hinblick auf die Justiz von einer anderen Perspektive und wurde in unterschiedlichen Workshops wiederholt thematisiert: die Rolle der Medien bei der (Re-) Produktion von Rassismus. Diese wird deutlich beim Beschneidungsurteil oder beim «Label Neukölln», aber auch bei der Diskussion zu Rassismus in den letzten zwan-zig Jahren wie bspw. in «Asyl-Debatten». Die Mediendiskussion illustriert die Prämisse der CRT, dass Rassismus in der Justiz auf dem Zusammenspiel verschiedener Faktoren basiert und das Problem daher holistisch und horizontal angegangen werden muss. Partikulare Ansätze sind weder effektiv noch nachhaltig. Was deutlich geworden sein sollte, ist, dass Rassismus ein gesamtgesell-schaftliches Problem ist, weshalb Bemühungen in Richtung einer rassismusfreien Justiz Hand in Hand mit einer starken antirassistischen Bewegung gehen müssen.

Auf theoretischer Ebene heißt das, postkoloniale Theorien und kritische Weißseinsforschung müssen auf Analysen von Rassismus in der Justiz angewendet und dementsprechende Hand-lungsstrategien formuliert werden. Praktisch gehören dazu: Prozessbeobachtung, Dokumentation, Skandalisierung und ein bewusstes Sich-Widersetzen gegen justizinterne diskriminierende Maß-nahmen. Offen bleibt die Frage, inwieweit der Weg durch die Institutionen wirklich sinnvoll sein kann. Können wir, wie Yufanyi Mbolo zur Diskussion stellte, das System mit dem System bekämpfen? Betrachten wir die Reaktionen auf die Empfehlungen zum Landesaktionsplan gegen Rassismus von Seiten der Zivilgesellschaft von 2011 (LAPgR), eröffnet sich hier eine eher düstere Perspektive.2

Iris Rajanayagam

2 Die Empfehlungen des LAPgR zuRassismus in der Justiz wurden von Seiten der Verwaltung durchweg ab gelehnt. Mehr zum LAPgR unter: http://www.migrationsrat.de/dokumente/projekte/haertefall/LAPgR_Final_MRBB.pdf oder in: Institutioneller Rassismus - Ein Plädoyer für deutschlandweite Aktionspläne gegen Rassismus und ethnische Diskriminierung. Hrsg. MRBB, 2011.

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Autor_innen Rassismus und Justiz

l Eva Maria Andrades Vazquez ist seit 2008 beim Antidiskriminierungsnetzwerk des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg beschäftigt, seit 2013 als Projektleiterin. Sie hat für den TBB dessen erfolgreiche Beschwerde gegen Deutschland zum UN-Antirassismus-Ausschuss begleitet.

l Iman Attia ist Professorin für Diversity Studies/Rassismus und Migration an der Alica Salomon Hochschule Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Orientalismus und anti-muslimischer Kulturrassismus sowie historisch-politische Bildung. In ihrer Tätigkeit als Dozentin liegt ihr Fokus unter anderem auf Theorien und Empirie zu Rassismus und Migration, Interdependenzen machtförmiger Differenzierungen und Diskriminierung, sowie Migration und Flucht. 2009 erschien im Transcript Verlag ihre Monographie Die «westliche Kultur» und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem Rassismus.

l Valentin Babuska ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Strafrecht. Er arbeitet unter anderem mit der Kampagne für Opfer rassistischer Polizei Gewalt zusammen. Er ist außerdem in der Ausbildung der Berliner Referendare tätig.

l Biplab Basu ist kritischer Marxist und Mitbegründer von ReachOut Berlin und der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt. Seit den 80er Jahren ist er in verschieden anti-rassistischen zusammenhängen aktiv.

l Sanchita Basu ist Bildungsreferentin bei ReachOut Berlin. Seit 25 Jahren ist sie in verschieden Zusammenhängen gegen strukturellen und institutionellen Rassismus aktiv und in einer Vielzahl von anti-rassistsichen Gruppen organisiert.

l Elena Brandalise war von 2006-2012 Migranti_nnenvertreterin im Berliner Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen. Sie beteiligte sich an der AG-Partizipation zur Erstellung des PartInG und an der AG-Antidiskriminierung. Sie hatte für den MRBB die Gesamtkoordination zur Erstellung des LAPgR seitens der Zivilgesellschaft von 2009-2012 inne.

l Zülfukar Çetin promovierte am Institut für Soziologie der Freien Universität in Berlin. Zu seinen Schwerpunkten gehören u.a. Queer Politik und Theorie, Heteronormativität, Intersektionalität, Diskriminierung, Antidiskriminierung, Rassismus, Antirassismus sowie kritische Migrationsforschung. Derzeit lehrt er an der Alice-Salomon - und der Evangelischen Hochschule in Berlin.

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l Tahir Della Jahrgang 1962 ist seit 1986 in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland aktiv. Seine Schwerpunkte in der ISD sind die Vernetzung innerhalb der Schwarzen Communitiy, Unterstützung der zahlreichen Projekte und Kampagnen der ISD und anderer Gruppen und die Öffentlichkeitsarbeit und Ansprechperson der ISD für Presse und Medien. Das Sichtbar machen des in der deutschen Gesellschaft verankerten Rassismus und sein Abbau sind jedoch das zentrale Anliegen.

l Sebastian Friedrich (Berlin/Duisburg) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS), aktiv bei der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP) und Redakteur bei kritisch-lesen.de.

l A.v.K. ist seit Februar 2013 bei der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt aktiv.

l Mbolo Yufanyi Movuh (The Voice Refugee Forum). Parallel zu seiner akademischen Arbeit ist Mbolo Yufanyi aktives Mitglied des The Voice Refugee Forum Netzwerks und des African/Black Community Netzwerks. Er ist aktiv im Bereich Menschenrechte und Antirassismus-Arbeit tätig und beschäftigt sich mit der kritischen Analyse globaler postkolonialer Machtdynamiken.

l Maria Portugal ist Mitarbeiterin von ReachOut, berät Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.

l Iris-Sylvia Rajanayagam war für die Gesamtkoordination der Veranstaltungsreihe «Rassismus und Justiz» verantwortlich. Sie ist u.a. aktiv bei der Karawane und bei The Voice Refugee Forum. Gegenwärtig beschäftigt sie sich schwerpunktmässig mit postkolonialen Perspektiven auf die deutsche Migrations-, Flüchtlings- und Asylpolitik und erforscht Möglichkeiten und Grenzen transnationaler Bündnisse in der (anti)Rassismus- und Empowerment-Arbeit. Sie lebt mit ihrem Partner und Sohn in Berlin.

l Nadija Samour (Berlin) ist Juristin mit strafrechtlichem Schwerpunkt. Als Dozentin in der Gefangenenschule der JVA Lichtenberg beschäftigt sie sich mit den negativen Auswirkungen des Strafvollzugs auf Jugendliche. Darüber hinaus betätigt sie sich in repressionskritischen Gruppen, und ist auch im Palästina Netzwerk Berlin (PNB) aktiv.

l Eberhard Schulz ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkten Strafrecht und Menschenrechte. Er ist außerdem Gründer und Vorstandsvorsitzender der Eberhard-Schultz-Stiftung für soziale Menschenrechte und Partizipation, Berlin sowie Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte. Neben seiner Tätigkeit als Anwalt, ist er ferner als Referent und Schriftsteller aktiv.

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l Salih Alexander Wolter engagiert sich aktivistisch und publizistisch für eine linke Queerpolitik und gegen Rassismus und Antisemitismus. Zuletzt verfasste er mit Koray Yılmaz-Günay den Essay Pink Washing Germany? Der deutsche Homonationalismus und die «jüdische Karte» für den Sammelband Wer MACHT Demo_kratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen, hg. von Duygu Gürsel, Zülfukar Çetin und Allmende e. V. (Edition Assemblage 2013), und veröffentlichte gemeinsam mit Heinz-Jürgen Voß das Buch Queer und (Anti-) Kapitalismus (Schmetterling Verlag 2013).

l Anna-Esther Younes Doktorantin in Genf am IHEID zum Thema «The Figure of the Jew and The New Europe». Wissenschaftlerin. Aktivistin. Moderatorin. Journalistin. Neben ihren vielen Aktivitäten macht sie eine Ausbildung zur Yogalehrerin, isst Avocados und kämpft sich bei jedem Katzenwetter mit ihrem Hund durch Berlin.

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