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Nachspiel Jahr 32, Pharao Ramses (1156 vor Christus)

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Historischer Roman im alten Ägypten

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Page 1: Tage des Seth

NachspielJahr 32, Pharao Ramses

(1156 vor Christus)

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Zeit der Überschwemmungzweiter Monat, Tag 4

Schwer lastete die Dunkelheit auf der Totenstadt. Schwarze Wolken jagten über den Himmel und verhüllten das Funkeln der Sterne. Aus den Weiten der westlichen Wüste trieb ein Sturm hauchfeinen Sand durch die Schluchten des Hathorgebirges. Er heulte über die Ebene bis an die Ufer des Nils. Dattelpalmen bogen sich unter dem brau-senden Atem des Wüstengottes und neigten sich einem flachen Bin-senboot zu, das rasch auf die Anlegestelle zusteuerte. Bald schob es sich knirschend auf den Ufersand. Vier Männer sprangen heraus und zogen den Nachen mit je einer Hand weiter an Land, während sie unterdrückt fluchend mit der anderen die weiten Ärmel ihrer Hemden über Mund und Nase pressten.

Medjau waren sie alle vier, Polizeisoldaten aus dem Ostteil der Stadt Waset. Sie gehörten zu den Wachmannschaften der Ipet-Sut, des großen Amuntempels; als solche waren sie leicht auszumachen an den gelb-weißen Bändern um ihre Handgelenke.

„Bringt ihn an Land!“, befahl einer von ihnen, dessen ledernes Wams sowie der Brustschmuck aus Tonperlen ihn als Anführer der kleinen Grupe auswiesen. Mit der Peitsche in seiner Hand deutete er auf ein dunkles Bündel im Boot. Ein fünfter Mann lag dort, dessen Fuß- und Handgelenke miteinander verwachsen zu sein schienen, so straff waren sie mit Lederstreifen aneinander gebunden. „Und löst die Riemen, damit er aus eigener Kraft gehe und uns nicht mehr Mühe bereite als notwendig.“

Einer der Männer beugte sich in das Boot hinunter und durch-schnitt mit einem scharfen Messer aus Obsidian die Lederriemen. Stöhnen mischte sich in das Brausen des Windes. Man hatte den Körper des Gefangenen so lange in diese schmerzvolle Stellung ge-zwungen, dass er seine Glieder nicht gleich aufzubiegen vermochte. Die Medjau kümmerte das nicht.

Grob packten sie den Mann bei den Schultern und rissen ihn aus dem Boot. Seinen Schrei erstickte eine schwielige Hand, die sich ihm über den Mund legte, und ein Hieb gegen die Schläfe ließ ihn die Augen verdrehen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war.

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Dann stießen ihn die Männer auf den Boden, als sei er ein lebloser Gegenstand.

Dort lag er, das Gesicht nach unten in den Sand gedrückt, und bewegte sich nicht mehr.

„Ist er tot?“, fragte einer. „Kaha! Was sollen wir tun?“Der Angesprochene wies mit einer Kopfbewegung auf das Wasser

des Flusses.Ein harter Griff, ein Zerren und Schleifen über Sand, dann folgte

ein Platschen, als die Männer ihr Opfer mit Kopf und Oberkörper in das brackige Uferwasser drückten. Nur einen Augenblick dauerte es, bis der Unglückliche sich zu drehen und zu winden begann. Immer wieder gaben die Männer nach und rissen seinen Kopf nach oben, was ihm erlaubte, um Luft zu ringen, bis sie ihn wieder hinunter-stießen.

„Das genügt!“, verfügte der Medja namens Kaha nach einer Weile. „Dies ist nicht der Ort, da er zu dem gemacht wird, was nicht ist. Wir haben Befehle, von denen abzuweichen uns streng untersagt ist.“

Der Gefangene wurde auf die Beine gestellt. Die Männer stopften ihm einen Knebel aus Leinenstreifen in den Mund und banden die-sen mit Riemen um den Kopf fest. Seine Hände wurden auf dem Rücken zusammengeschnürt, wobei er, gleichsam nebenbei, noch etliche Faustschläge in die Rippen empfing. Mit zitternden Knien und tropfendem Haar stand er da, nur mühsam sich auf den Beinen haltend, die Augen weit aufgerissen vor Furcht.

Kaha beobachtete ihn und fragte sich, ob er wohl wusste, welches Schicksal ihm zugedacht war. Er würde sein Ende nicht als Heim-kommen nach langer Abwesenheit erleben. Auf ihn lauerte der Tod, ihn zu zerfleischen.

Mit einem Schauder wandte sich der Medja ab und spähte in die Ferne. Wo blieb der Bursche mit den Eseln? Wo blieben die Bewaff-neten? Warum waren sie nicht zur Stelle, wie es verabredet war mit den Großen der Palastwache? Die zehnte Stunde war bereits verstri-chen und um diese Zeit sollten sie die Ebene schon hinter sich ge-lassen haben. Doch da draußen war niemand, zumindest kein menschliches Wesen. Kaha war sich allerdings sicher, dass Geister von Toten in großer Zahl mit dem Sturm über ihre ureigene Stätte jagten, vielleicht sogar jene, die dem Gefangenen Freunde und Ver-bündete in jenen Tagen gewesen waren, da er Ma’at, die göttliche Ordnung, entweiht hatte mit seinem Sinnen und Trachten.

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Derlei Gedanken bewegten auch die Übrigen in ihren Herzen. Mit scheuen, sogar angstvollen Blicken suchten sie die Dunkelheit zu durchdringen, die schwarz und drohend sich ballte, wo der dünn flackernde Schein der Fackeln endete. Die Himmelsgöttin Nut hatte die Sterne an ihrem Leib mit dunklen Wolkenschleiern verhüllt, und Chons, der Herr des Mondes, schien diese Nacht zu meiden.

„Ohne Schutz gehe ich keinen Schritt ins Gebirge!“, sagte einer der Medjau, wobei er unwissentlich Kahas Angst genau benannte.

„Wir warten!“, erklärte dieser bündig. Neben der Gefahr durch Geister übelwollender Verblichener gab es in der Totenstadt noch andere Bedrohungen von weit handfesterer Art. Im heiligen Hathor-gebirge machten schon seit Jahren Räuberbanden die Wege unsicher, Männer ohne Anstand und Gewissen, die vor keiner Freveltat zurück-schreckten. Jedermann wusste, dass sie Gräber ausraubten und skru-pellos jedem die Kehle durchschnitten, der sie daran zu hindern suchte. Die Wachmannschaften der Totenstadt waren auf Befehl des Wesirs vor einigen Jahren fast verdoppelt worden, doch noch immer fand man in den Bergschluchten zwei, drei oder noch mehr Leich-name im Jahr, die deutlich Spuren eines gewaltsamen Todes trugen.

„Was für eine Nacht!“, murmelte einer der Wachmänner. „Genau richtig für einen wie den da!“ Er schlich um den Gefangenen herum. „Weißt du, was wir mit dir machen, he?“

„Bei Amun, dem Verborgenen selbst!“, grinste ein anderer. „Er hat keine Ahnung!“

„Hört auf damit!“, befahl Kaha ungeduldig und wies in die to-sende Dunkelheit. „Sie kommen.“

Ein Halbwüchsiger kämpfte sich, zwei Esel an Stricken ziehend, durch den Sturm. Dahinter tauchten Soldaten auf, die einen dunkel-gewandeten Mann halb verdeckten.

Zu seinem größten Unbehagen erkannte Kaha ihn sofort. „Es … es ist alles geschehen, wie du es befohlen hast!“, stammelte er. „Keine deiner Anweisungen wurde vernachlässigt! Wir sind gehorsam und gewissenhaft gewesen in allem, was du uns zu tun aufgegeben hast, ehrwürdiger …!“

Er wurde barsch unterbrochen. „Nenne keinen Namen! Sprich mit Vorsicht!“

Die Wachmänner ergriffen den Gefangenen und warfen ihn kur-zerhand auf einen der bereitstehenden Esel. Sein Wimmern ver-schluckte der Wind.

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Auf Kahas knappe Anweisungen hin ordnete sich der Zug. An seine Spitze setzten sich einer der Medjau und der Knabe, der den Packesel führte. Es folgte der Esel mit dem Gefesselten, bewacht durch zwei weitere Männer. Am Ende schritten Kaha und der Vor-nehme, dessen offensichtlicher Bedeutung und selbstverständlicher Führung sich alle ohne Zögern unterworfen hatten. Vier Soldaten begleiteten den Zug, jeweils zwei an beiden Seiten.

Gesenkten Hauptes kämpften sich die Männer durch Sturm und dahintreibende Sandschwaden. Sie durchquerten die Ebene auf den Pfaden, welche die Kanäle säumten, bis sie endlich an den beiden gewaltigen Sitzbildern eines längst verstorbenen Gottes vorüberka-men, dessen Tempel vor vielen Jahrzehnten in sich zusammenge-stürzt war. Noch immer ragten geborstene Mauern und zerbrochene Säulen in den nächtlichen Himmel.

Niemand begegnete ihnen auf ihrem beschwerlichen Weg, kein Bewohner der Totenstadt mochte bei einem solchen Unwetter seine Hütte verlassen. Nicht einmal die Wächterhäuschen waren besetzt und in den Millionenjahrhäusern der verstorbenen Könige fehlte in dieser Nacht das Fackellicht, das sonst während der Dunkelheit fla-ckernde Goldblitze und Schatten über Tortürme und durch Säulen-hallen jagte.

Als der Pfad eine scharfe Biegung nach Norden machte, ließ der dunkel Gewandete, der seinen Namen nicht hatte preisgeben wol-len, die kleine Gruppe anhalten. Der Sturm war deutlich schwä-cher geworden und Kaha ahnte, welche Bedenken den Mann beweg-ten.

„Wir werden nicht unbeobachtet bleiben“, bestätigte der andere seine Befürchtung. „Eile tut not! Ich ordne daher den Weg über das Gebirge an.“ Ein scharfer Blick flog zu dem Gefesselten, der sich seit einer Weile nicht mehr gerührt hatte. „Lebt er noch?“

Ein Medja riss den Kopf des Unglücklichen hoch. Stöhnen und Zucken waren die Folge, doch zu mehr war der Gefangene nicht in der Lage.

„Wir gehen den Pfad über Pa-Tíme! Sputet euch! Der Anbruch des Tages ist nicht mehr fern!“

Leise murrend nahm die Gruppe ihren Fußmarsch wieder auf. Obwohl die Strecke über das Grabbauerdorf kürzer war als die Wege weiter nördlich, war sie doch steiler, und der Esel würde den Gefan-genen nicht über alle Felsstufen tragen können.

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Endlos schien der Weg über die felsigen Pfade des Hathorgebirges. Das Heulen des Sturmes war leiser geworden, hatte sich in ein Flüs-tern, ein gefährliches Zischen verwandelt, das den Männern so we-nig geheuer war wie das Tosen zuvor. Geröll und Sand knirschten unter ihren Schritten und immer wieder polterten losgetretene Steine talwärts.

Nach ungefähr einer Stunde erreichten sie ein abgelegenes Seiten-tal. Es erstreckte sich westlich der Stätte der Ma’at, jenes seit Jahr-hunderten als heilig verehrten Ortes, wo verstorbene Könige ihre Häuser für die Ewigkeit bewohnten. Furchtsam blickten die Männer um sich. Wie Raubtiere, zum Sprung bereit, kauerten schwarze Felsen in der Schlucht. Der schwächer werdende Wind stöhnte über den Geröllhängen, während die kleine Karawane durch die Enge zog.

Ohne Worte zu verlieren, wies der Dunkle auf einen schmalen, kaum sichtbaren Spalt in der Felswand, die das Tal abschloss.

„Wir sind am Ziel!“, sagte Kaha und bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen. „Dort ist die Höhle. Handelt, wie euch be-fohlen wurde!“

Er trat zur Seite, zog sich fröstelnd sein Hemd fester um die Schul-tern und beobachtete, wie seine Medjau den Gefangenen vom Esel zerrten. Den Mann hatten Furcht und Entsetzen in eine Art Starre versetzt. Wie eine hölzerne Puppe ließ er sich vorwärts stoßen. Es schien, als habe er sich bereits von dieser Welt verabschiedet.

„Hier hinein!“, hörte Kaha den Vornehmen sagen. Die ausge-streckte Hand wies auf den Felsspalt, der so schmal war, dass ein Einzelner sich nur seitlich hineinzwängen konnte. Der Medja beob-achtete den dunkel Gewandeten und bewunderte, wie er es schon oft getan hatte, dessen kühle und überlegene Art, Befehle zu ertei-len, die keinen Widerspruch duldete.

„Gibt es weitere Aufgaben für uns?“, erkundigte sich Kaha leise, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht den Hauch unziemlicher Vertraulichkeit in seine Stimme zu legen.

Der andere schüttelte den Kopf. „Nimm deine Männer, den Kna-ben und die Esel, dann geh deiner Wege!“ Nach kurzem Zögern setzte er hinzu: „Ich brauche dich wohl kaum zu belehren, dass Verschwiegenheit deine Pflicht ist …“

„Das ist nicht notwendig!“, versicherte Kaha rasch. „Nichts ist geschehen, nichts geschieht. Niemand sieht es. Keiner hört es.“ Er vermied es, dem anderen in die Augen zu blicken, als wäre dies

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bereits ein zu deutliches Zeichen für seine Anwesenheit. Mit abge-wandtem Gesicht reichte er ihm ein mehrfach gefaltetes Schaffell, das er vom Rücken des Packesels gezogen hatte.

Der Gefangene schrie auf, als er rücksichtslos durch den Spalt gedrückt wurde. Scharf schnitten die Felskanten in Brust und Hüf-ten und der Kopf schlug hörbar an Stein. Der Mann stürzte ins Dunkel, ein dumpfer Schlag, einen Lidschlag lang herrschte Toten-stille. Dann setzte ein Schluchzen ein, so hoch und kläglich, als weinte ein Kind im Dunkeln nach der Mutter.

Betreten starrten die Medjau zu Boden und setzten sich erst auf den fast geflüsterten Befehl Kahas in Bewegung. Sie rafften Seile und Messer zusammen, unterdrücktes Fluchen – oder war es Be-ten? – begleitete ihre Schritte auf dem Geröllpfad talwärts. Bald wurden sie von der Dunkelheit verschluckt.

Der Vornehme schaute ihnen nach, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Auf einen Wink hin nahmen die vier Soldaten einige Ellen entfernt an der Felswand Aufstellung und blickten starr und ungerührt in die Nacht. Bis auf eine einzige waren alle Fackeln gelöscht worden. Der Mann wartete eine Weile, bis das Wimmern aus der Höhle schwächer wurde, dann entnahm er einem an seinem Gürtelband befestigten Beutel ein kleines irdenes Gefäß. Es war rund, kaum handtellergroß und mit einem festgedrehten Leinen-pfropfen verschlossen. Noch ein weiteres, etwas größeres Säckchen hing am Gürtel, von dessen Unversehrtheit er sich tastend über-zeugte. Dann begab er sich zum Felsspalt. Er blieb stehen und blickte prüfend um sich, während er das Töpfchen zwischen den Fingern drehte. Gern hätte er aufgeschoben, wozu er gekommen war. Da dies jedoch nicht sein konnte, nahm er die Fackel und zwängte sich durch den Felsspalt. Das Licht fiel auf die gekrümmte Gestalt auf dem Boden. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an, Zähne klapperten, der Körper des Gefangenen zuckte. Der Gestank nach Kot und Urin machte das Atmen in der Höhle zur Qual.

„Du weißt, aus welchem Grund ich gekommen bin“, sagte der Mann zu dem Daliegenden, wobei er die Fackel in die Höhe hielt, um besser sehen zu können.

Ein verschleierter Blick hob sich. Unvermitteltes Erkennen, dann ein Aufschrei: „Cheru-ef! Du bist es!“ Hände scharrten auf Fels und Sand im Bemühen, den Oberkörper aufzurichten. Vergeblich, der Gepeinigte war bereits zu schwach.

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Nach einer Weile sprach der Mann namens Cheru-ef: „Du wuss-test, was dich erwartet. Du musst dein Schicksal von Anfang an gekannt haben. Zumindest als Möglichkeit.“

Mit hörbarer Mühe presste der andere hervor: „Du weißt, warum ich es tat. Meine Absichten waren gut!“

„Mag die Absicht auch lauter gewesen sein, die Tat war frevelhaft. Dafür musst du die Folgen tragen.“ Cheru-ef klemmte die Fackel zwischen zwei Felsbrocken. Dann löste er rasch den Pfropfen von dem Gefäß, beugte sich über den Gefangenen und zwang durch den Druck von zwei Fingern dessen Unterkiefer nach unten. Ohne sich um das Stöhnen zu kümmern, goss er Flüssigkeit in den geöffneten Mund. Husten, Keuchen und Aufbäumen waren die Folge, dann endlich doch … Schlucken.

Cheru-ef trat zurück. Er wusste, was nun kommen würde. Den To-deskampf des Gefangenen ertragen zu müssen, nahm er gleichsam als Strafe an, als Vergeltung für etwas, das möglicherweise unge-rechtes Handeln war, für das Nichtwissen, was Gott für gut erachtete.

Er verschloss die Ohren vor den Schreien, er wandte sich ab, als das Gesicht des Sterbenden sich verzerrte und er Schleim erbrach, an dem er röchelnd und unter Krämpfen erstickte. Ein letztes Mal scharrten seine Füße und Finger über das Geröll, dann erschlaffte der Körper. Die Gesichtszüge des Toten entspannten sich jedoch nicht. Angst, Qual und Schmerzen hatten sich darin eingebrannt. Cheru-ef trat vor, entnahm seinem Beutel eine Handvoll Natronpul-ver und streute es über den Leichnam. Dann zog er einen Dechsel aus seinem Gürtel, beugte sich hinunter und berührte mit dem hei-ligen Gerät die verzerrten Lippen. „Dein Mund war geschlossen“, flüsterte er, „aber ich habe für dich gerichtet deinen Mund und deine Zähne. Ich öffne für dich deinen Mund, ich öffne für dich deine beiden Augen …“ Er handelte gegen den erklärten Willen des-jenigen, der das Land beherrschte. ‚Der große Verbrecher werde ver-scharrt und gemacht zu dem, was nicht ist!‘, hatte der Befehl gelau-tet. Aber Cheru-ef konnte nicht anders. Dieser Tote hatte getan, was er für das Richtige gehalten hatte. Den Willen der Ewigen hatte er zu erfüllen geglaubt und Cheru-ef hatte es während der Dauer der letzten verfluchten Mondumläufe für nicht ausgeschlossen gehal-ten, dass es so gewesen sei.

Er beendete die Gebete und wickelte den Toten in das mitge-brachte Schaffell. Dann ergriff er die Fackel und verließ die Höhle.

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Die vier Soldaten standen noch immer so unbeweglich, wie er sie verlassen hatte. Sie mussten die Todesschreie gehört haben, doch verrieten ihre Mienen keine Gefühlsregung. Cheru-ef hob den Kopf und schaute zum Himmel. Das Unwetter hatte sich gelegt und schon funkelten die ersten Sterne durch die Wolken. Wenn ich etwas Fal-sches getan habe, mein Vater Amun, betete er in Gedanken, dann vergib mir und entziehe mir nicht deinen Segen. „Die Aufgabe ist erfüllt“, sagte er zu den Soldaten. „Wir kehren heim.“

Raschen Schrittes folgte er dem Pfad hinunter in die Ebene. Am östlichen Horizont war bereits ein grauer Streifen zu erkennen. Nicht mehr lange und ein neuer Tag würde anbrechen. Einer von vielen guten, ruhigen Tagen, auf die man nun hoffen durfte. Die Zeit, da Seth, der Gott des Sturmes, der Wirrnis und der Gewalt, das Land in seinem Würgegriff gehalten hatte, war vorüber. Während vieler Mondumläufe hatte der Grausame dem Lande Kemet seine Prägung aufgedrückt, hatte Hass, Misstrauen und Tod gesät, doch das war nun zu Ende.

Cheru-ef blieb stehen. Sein Blick schweifte über die Geröllhänge des Hathorgebirges und die tiefschwarzen Umrisse der fernen Tem-pel, die sich an der Grenze zwischen Ödnis und Fruchtland reihten. Noch einmal flogen seine Gedanken zurück in die Zeit kurz vor dem heiligen Fest des Min, des Herrn der Fruchtbarkeit und Hüters der Lust, da Verwirrung und Gefahr ihren Anfang genommen, da Ma’at, die göttliche Ordnung, aus dem Geliebten Land zu verschwinden begann. Damals waren sie heraufgezogen: die Tage des Seth …

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Zeit der Ernteerster Monat, Tage 1–6

Am großen Strom

Es war ein Abend im zweiten Monat der Erntezeit im zweiunddrei-ßigsten Jahr des großen, aber greisen Gottes Ramses, als das Schick-sal für die Dienerin Achtaj eine Wendung nahm, die ihr Leben voll-ständig und unumkehrbar verändern sollte. Als sie der Sänfte ihrer Herrin, der Königlichen Nebenfrau Tija, durch die Straßen der alten ehrwürdigen Stadt des Nordens folgte, ahnte sie nichts von dem Grauen, das dem Zweifachen Land und ihr selbst bevorstand.

Men-nefer, die uralte Hauptstadt, hatte einen schönen Tag erlebt. Die Feierlichkeiten für Renenutet, die Göttin der Feldfrüchte und der guten Ernte, waren gerade zu Ende gegangen und die Menschen strömten in großer Zahl zum Hafen. Die meisten von ihnen standen dank reichlich genossener Rauschtrunke recht unsicher auf den Bei-nen. Die Sonne war bereits untergegangen, nur rotgelbe Streifen am westlichen Himmel erinnerten noch an die Barke des Gottes.

Silbern funkelte der Fluss, wo das Licht der vielen Fackeln am Ufer die Wellen traf, und leise plätschernd umfloss das Wasser die Landestege Perunefers, des großen Hafens, an denen Boote aus vie-len Ländern und in allen Größen vertäut lagen. Assyrische Kauf-fahrer, breite Kähne aus Ugarit mit ihren gedrechselten Schiffs-schnäbeln, dümpelten neben den schlanken Schnellseglern des Seevolks, das seit einiger Zeit an den Küsten Amurrus siedelte. An jenem Abend aber waren es die prunkvollen Schiffe der Vorneh-men mit ihren goldenen Schmuckleisten und den gestreiften Zelten auf den Vorderdecks, die den Bewohnern Men-nefers einen lang entbehrten Anblick boten. Selten waren die Anlässe geworden, da die alte Hauptstadt sich der Aufmerksamkeit und Prachtentfaltung der Großen des Landes erfreuen durfte. Lange schon hatte Pharao seine Tempelfestung in Waset, der Südlichen Stadt, nicht mehr ver-lassen.

Die Königliche Nebenfrau Tija bestieg den Tragstuhl, der sie zu ihrer Barke bringen sollte, und winkte Achtaj zu sich. „Sorge für Abgeschiedenheit auf dem Schiff“, sagte sie. „Ich erwarte wichtige Besucher, darunter Paiis, den Großen des Heeres. Sie werden nach

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Einbruch der Dunkelheit eintreffen, denn sie wollen nicht gesehen werden. Bereite Erfrischungen vor und sorge für reichlich Papyrus, Binsen und Tinte.“

Achtaj wunderte sich über Tijas Worte, denn diese hatte Paiis in den vergangenen Tagen mehrere Male gesehen. Sie hatte dem Heer-führer ihren Sohn, den Prinzen Pentawer, anvertraut, damit er das Soldatenhandwerk sowie die Fähigkeit zur Planung von Schlachten und Kriegen erlerne. Paiis hatte ihm den Oberbefehl über einen klei-nen Feldzug gegen aufständische Kanaaniter im Grenzgebiet zur Halbinsel Bija in Aussicht gestellt.

Auf der Barke angekommen, gab Achtaj die Anweisungen der Herrin weiter. Unterdessen hatten sich die Wachsoldaten in einem weiten Kreis um den Landungssteg aufgestellt und zu allseitigem Verdruss die Zuschauer zurückgedrängt. Die Menschen fühlten sich um ihr lang ersehntes Schauspiel betrogen. Fluchend und schimp-fend trollten sich die meisten.

Kurz darauf erschien Tija an Deck der Barke, die den Namen „Amaunet-im-Fest“ trug. Achtaj wies auf den Stapel Papyrusblätter, die Binsen und Farbtiegel auf dem niedrigen Tisch. Auf einem wei-teren standen Weinbecher, Brotfladen und Datteln. „Alles ist vorbe-reitet.“ Dann hockte sie sich nahe dem Eingang auf die Fersen und wartete.

Tija beobachtete sie aufmerksam. „Du bist verlässlich und hältst deine Zunge im Zaum“, meinte sie nach einer Weile. „Das hat mir von Anfang an gefallen. Seit du damals in meine Obhut gegeben wurdest, hast du mich in dieser Hinsicht nie enttäuscht.“

„Du warst stets gütig zu mir“, erwiderte Achtaj. „Das hat mir ge-holfen und hat mein Herz geglättet seit der Zeit, da ich mein Dorf verlassen musste.“

Tija warf einen Seitenblick auf die Wasseruhr auf dem Tisch. Ob-wohl durch das sanfte Schaukeln der Barke die Wasserhöhe nicht genau abzulesen war, sah sie doch, dass die elfte Stunde noch nicht gekommen war. Es blieb noch Zeit bis zum Eintreffen von Paiis und den anderen. „Deine Worte klingen traurig“, sagte sie endlich. „Ver-misst du Pa-Tíme noch immer?“

Achtaj schüttelte den Kopf. „Manchmal sehne ich mich nach mei-nem Vater. Nach dem Tod meiner Mutter war er mir sehr nahe. Dann hat er mich fortgegeben.“ Die letzten Worte waren kaum hör-bar.

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