"texte" januar 2013
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Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse und therapeutische ArbeitTRANSCRIPT
1 «texte» Januar 2013
«texte»
Foto ©Alois Altenweger
Das Online-Magazin für psychologische Themen, Schicksalsanalyse
und therapeutische Arbeit
Herausgeber: Alois Altenweger, www.psychologieforum.ch und Szondi-Institut Zürich
2 «texte» Januar 2013
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Das Online-Magazin
für psychologische Themen,
Schicksalsanalyse
und therapeutische Arbeit
Januar 2013
Szondi-Institut Zürich
Die Verantwortung für den Inhalt der Texte, die vertretenen Ansichten und Schlussfolgerungen liegt bei den Autoren bzw. den zitierten Quellen.
Szondi-Institut, Krähbühlstrasse 30, 8044 Zürich, www.szondi.ch, [email protected], Tel. 044 252 46 55
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Inhalt
Artikel
- Die Sache mit den Ahnen
Alois Altenweger
- Die zwei Gesichter des Selbst
Friederike Gerstenberg und Manfred Schmitt
Medizin und Gesundheit Roboter in der Gesundheitsversorgung
Wenn das Gehirn Fehler macht
Probleme im Alter
Alternative Medizin: Hauptsache, es geht besser
Bücher
Wie wir vor lauter kommunizieren unser Leben verpassen
Rezension: Sudhir Kakar – ein indischer Psychoanalytiker erzählt
Über den Tellerrand hinaus
Der Effekt von Verhaltenstherapie auf das Gehirn
Online Therapie-Behandlung
Mitteilungen
Tagung: Familie – Schicksal oder Wahl
Zu guter Letzt
Ewigkeiten
Paul Celan
Fotos: ©Alois Altenweger
4 «texte» Januar 2013
__Artikel
Schicksalsanalyse
Die Sache mit den Ahnen
Alois Altenweger
Szondi postuliert den über Generationen wirkenden Einfluss der Ahnen aus deren
Verwurzelung in den Genen, die von Generation zu Generation Wiederholung und
Sicherung* ihrer Existenz betreiben. Damit sorgen sie nach Szondi für die permanente
Präsenz der Ahnen und deren Manifestationen. Die Frage stellt sich, ob ausschliesslich die
Gene als Ahnenträger funktionieren oder ob es noch andere «Ahnenvermittler» gibt, denn
unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Selektion müssten nach wenigen Generationen
zumindest die negativen Ahnenforderungen schon lange ausgemerzt worden sein.
Ahnen können verblüffen. Ahnenansprüche und ihr hartnäckiger Wiederholungsdrang sowie ihre sehr spezifisch an
individuellen Mustern («pattern of behaviour» nach Szondi) orientierten Aktivitäten nutzen
die Triebbedürfnisse, um sich im Menschen zu realisieren. Das heisst umgekehrt, dass die
Muster von Krankheiten, Lebensformen und Aktivitäten der Vorfahren in den Genen als
Information gespeichert worden sind und dort «begierig» auf eine Wiederholung, ja
gewissermassen auf eine Auferstehung warten. Darum auch der szondische Ausdruck vom
familiären Unbewussten als «Warteraum» der Ahnen. Das ganze Konglomerat von sog.
Ahnenansprüchen wird in Form von Triebbedürfnissen der rezessiven Gene darin
beherbergt. Eine gentheoretische Annahme, die zwar plausibel erscheinen mag, aber in
wissenschaftlicher Beziehung nicht hinreichend belegt ist und faktisch erst in jüngster Zeit
durch Erkenntnisse epigenetischer Forschung wieder Substanz gewonnen hat.
Nichtsdestotrotz bleibt die genetische Beweislage für die Ahnenansprüche dünn, und so
stellen sich die Fragen, ob es genetisch geprägte Ahnenmanifestationen überhaupt gibt, wie
sie genetisch verankert sind und ob daraus ein Wiederholungsdrang und -zwang (für einige
Generationen oder für immer?) abgeleitet werden und wie sich die Prägung der Gene durch
eine höchst individuelle und spezifische Aktivität eines Urahns vollziehen kann. Die
entsprechend anzunehmende bio-physische Kommunikation – der Prägungsvorgang
sozusagen – ist völlig ungeklärt. Ergänzend wäre noch die Annahme Szondis zu prüfen, ob
das familiäre Unbewusste wirklich der Ahnenraum ist und sonst – ausser den Kontaktstellen
zum darunter oder daneben gelagerten individuellen und kollektiven Unbewussten – nichts
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enthält. Zu den sich stellenden Fragen gehören weiter das Konzept des Unbewussten und die
Überprüfung seiner Lokalität und Konsistenz.
Die Wirksamkeit der Ahnen wird bei Szondi empirisch belegt. So konnte er zweifelsfrei bei
zahlreichen Klienten, Familien und ganzen Familiengruppen psychische Störungen,
Krankheiten, kriminelle Verhaltensweisen und zugleich entsprechende Sozialisierungen,
Berufswahlen und Wiederholungen von Lebensart und «Zwangswahl» feststellen, die sich im
Stammbaum und Genogramm als Vererbung zeigten. Dabei ist «Zwangswahl» eher eine
Konklusion, die sich aus offenkundigem Verhalten erschliessen lässt und also keine Wahl
darstellt, sondern eine vorgespurte Form, fast eine Vorbestimmung oder sogar Prädestination.
Szondi spricht in diesem Zusammenhang von einem Lebensplan, der in den Genen festgelegt
sei. Da sich die aufgezählten Eigenschaften und Merkmale als Vererbung präsentieren, sind
sie nach Szondi «vererbte Existenzmöglichkeiten als Ahnenansprüche». Die Logik, die sich
aus der Tatsache der Vererbung ergibt, deutet auf die Gene als Träger des Erbes und damit
Sitz der Ahnenfiguren hin, die «als Lebensmöglichkeiten, als ‹pattern of behaviour›, für sein
[des Einzelnen] eigenes Schicksal in seinem Unbewussten vorhanden sein müssen, und zwar
im Kern der Zellen, d.h. in den Genen der Chromosomen. Die im Erbgut mitgebrachten
Ahnen streben alle zur Manifestation. Psychologisch drückt man diesen Manifestationsdrang
als ‹Ahnenanspruch› aus. Da diese Ahnenansprüche zwar dynamisch, doch völlig unbewusst
sind, spricht man – tiefenpsychologisch – von einem ‹familiären Unbewussten›» (Szondi,
Freiheit und Zwang, 1968,20).
Ahnen können uns seltsam vertraut sein, aber mit einem unguten Gefühl.
Aber irgendwie will es nicht einleuchten, dass die Ahnensünden der Vergangenheit mittels
eines genetischen Mechanismus von Generation zu Generation weitergereicht werden, ohne
dass darin ein Sinn ersichtlich wäre. Beflügelt es den «élan vital»? Nein. Erhöht es die
Lebensqualität? Nein. Trägt es zur besseren Lebensbewältigung bei? Nein. Denn wenn es u.a.
eine Aufgabe der Gene ist, den Organismus funktionell zu optimieren und solcherart zu
reproduzieren, dann wäre es absurd, schädigendes Verhalten aus dem Ahnenerbe
fortzupflanzen und dafür die Gene zu bemühen. Die häufig in der Wissenschaft postulierte
natürliche Selektion des Erbguts hätte dann rasch dafür gesorgt, dass «schlechte» Gene
wegselektioniert worden wären.
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Genreiche und genarme Regionen auf menschlichen Chromosomen. Auf
Metaphasechromosomen aus einem menschlichen weiblichen Lymphozyten wurden durch
Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung die Alu-Sequenzen markiert (grün). Diese Sequenzen sind
in genreichen Abschnitten der Chromosomen besonders häufig. DNA ist rot eingefärbt, so
dass auch genarme Regionen sichtbar sind. (Quelle: Wikipedia)
Da stellt sich die Frage, ob Ahnenansprüche nicht wirksam werden können, also als vererbt
erscheinen, ohne den biologischen Erbgang durchlaufen zu haben? Vielleicht brauchen die
Ahnenansprüche gar keinen Sitzplatz auf den Genen? Wie steht es dann beispielsweise mit
der Vererbungsthese im Falle der transgenerationalen Erscheinungen, wie sie die
Psychoanalytikerin Anne Ancelin Schützenberger beschreibt und in ihrem Buch «Oh, meine
Ahnen! Wie das Leben unserer Vorfahren in uns wiederkehrt» die Weitergabe von
Ahnenmanifestationen in Krankheit, Wahl und Lebensart nachdrücklich dokumentiert und
dafür eine therapeutische Behandlungsmethode aufgebaut hat? Unter anderem spielt bei der
therapeutischen Arbeit von Schützenberger das Genosoziogramm als Aufklärungs- und
Deutungsinstrument eine zentrale Rolle und kommt dabei der schicksalsanalytischen
Stammbaumforschung sehr nahe. Die Lebensgeschichte der Familie und der Anverwandten
wird dabei akribisch aufgearbeitet und untersucht. Lebensweise, Ehe und Beziehungen, Beruf
und familiäre Verpflichtungen werden als unbewusstes Netzwerk beschrieben, um so aus der
Herkunftsgeschichte einen Kontext zur aktuellen Lebensart zu entschlüsseln. Unter anderem
lehnt sich Ancelin Schützenberger an das Konzept der familiären (Ahnen)verpflichtungen von
Boszormeny-Nagy an. Boszormeny-Nagy postuliert, dass eine auf einer Familie seit
Generationen lastende Schuld als Verpflichtung zu bestimmten Lebensentscheidungen und
Lebensweisen unbewusst und unreflektiert weitergegeben wird, was bei Szondi eindeutig dem
Zwangsschicksal zugeordnet wird. Häufig geschehe dies in ritualisierten Formen als
Familienloyalität, ohne dass das prägende Urerlebnis bewusstes Wissen sei. Dazu Ancelin
Schützenberger:
«Um eine Person oder ein Individuum gut zu verstehen, muss man den Umfang seiner
Bedürfnisse, seiner Verpflichtungen, seines Engagements und seiner
Verantwortlichkeiten im Beziehungsfeld der Familie über mehrere Generationen
hinweg bestimmen» (2007,44). «Die transgenerationalen Weitergaben werden nicht
ausgesprochen, sind Geheimnisse, ungesagte, verschwiegene, verheimlichte Dinge, die
manchmal sogar zu denken verboten sind, undenkbar sind. Sie gehen von einer
Generation zur nächsten, ohne dass sie bedacht oder «verdaut», assimiliert würden.
Und dann sieht man Traumata auftreten, Krankheiten, körperliche oder psychische
Phänomene, die oft verschwinden, wenn man sie [die verheimlichten Dinge] wieder
«durcharbeitet», indem man über sie spricht [aber zuerst aufdeckt!], über sie weint,
sie hinausschreit» (2007,136).
Nahe an der Schicksalsanalyse ist Ancelin Schützenberger dann, wenn sie von einem
«Lebensskript» spricht, «das Krankheit und Tod, viele Unfälle und Misserfolg vorsieht»,
analog zum «Lebensplan» von Szondi, ein Lebensplan, der als Leitmotiv das Ahnendiktat
enthält. Nun ist Ancelin Schützenberger der Ansicht – und darin sieht sie ihre therapeutische
Aufgabe –, dass das «Lebensskript» in ein «positives Skript» umgewandelt werden kann.
«Der Klient wird – wird wieder – ein handelndes Subjekt und wird seine Wahl treffen – und
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endlich leben» (2007,179f.). Das trifft sich nun schon fast passgenau mit Szondis Konzept der
Zwangs- und Freiheitswahl. Doch lassen wir Ancelin Schützenberger (2007,74f.) mittels eines
Falles – dem «Schmetterlingsjäger» ihres Kollegen Nicolas Abraham – zu Worte kommen:
«Nicolas Abraham, ein ungarisch-französischer Psychoanalytiker, erzählt die
Geschichte eines Mannes (Abraham 1978), der gar nichts von der Vergangenheit
seines Grossvaters wusste. Dieser Patient ist Amateurgeologe. Jeden Sonntag geht er
Steine suchen, sammelt sie und zertrümmert sie. Er macht auch noch Jagd auf
Schmetterlinge, fängt sie und legt sie in ein Glas mit Zyanid. Ganz banal. Dieser
Mann fühlt sich sehr schlecht und sucht eine Therapie. Er macht verschiedene
Therapien, unter anderem eine Analyse – aber ohne grossen Erfolg. Er fühlte sich
einfach nicht wohl in seinem Leben. Er wendet sich an Nicolas Abraham, der die Idee
hat, ihn in seiner Familie Nachforschungen anstellen zu lassen, er solle mehrere
Generationen zurückgehen [Für einen Schicksalsanalytiker selbstverständlich] Der
Mann erfährt, dass er einen Grossvater hat, der Vater der Mutter, von dem niemand
spricht. Da gibt es ein Geheimnis. Der Therapeut rät seinem Klienten, die Familie des
Grossvaters zu besuchen. Dabei entdeckt dieser, dass sein Grossvater Dinge getan
hat, die nicht eingestanden werden können: Er hatte eine Bank ausgeraubt und
vermutlich noch schlimmere Verbrechen begangen. Dafür war er in ein Straflager
nach Afrika geschickt worden, zur Zwangsarbeit, zum «Steineklopfen». Er war dann
exekutiert worden in einer Gaskammer; von all dem wusste sein Enkel nichts.
Womit aber verbringt dieser Enkel seine Wochenenden? Als Amateurgeologe geht er
Steine klopfen, und als Schmetterlingsjäger fängt er Schmetterlinge und legt sie in ein
Glas mit Zyanid (Abraham 1978). Der symbolische Kreis ist geschlossen, und er
bringt das Geheimnis, «das innere Objekt seiner Mutter», zum Ausdruck, ein
Geheimnis, das er gar nicht kennt.
In einer gewissen Anzahl von Fällen sind die Freizeitbeschäftigungen, die sich von
Familiengeheimnissen herleiten, mit einem erstaunlichen Sinngehalt aufgeladen. In
diesen Fällen sind die Psychoanalyse und die individuelle Psychotherapie, die sich
nur mit der symbolischen Vergangenheit und den Traumata im individuellen Leben
beschäftigen, nicht ausreichend. Die transgenerationale Methode lässt das Individuum
seine Familiengeheimnisse, seine vollständige Genealogie und seine Geschichte in
ihrem wirklichen Zusammenhang spüren. Wenn man seine Geheimnisse und die
vorher bestimmten Enthüllungen findet, verschwinden bestimmte Gefühle eines
schwierigen Lebens, schädliche Wiederholungen und Traumata.
In der transpersonalen Sicht leidet die Person, die an dem «Phantom» [bei Szondi die
Ahnen, A.A.] leidet, «das aus seiner Gruft herausgekommen ist», in Wirklichkeit an
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einer «Familiengenealogie-Krankheit», an einer unbewussten Familienloyalität, an
den Folgen von etwas Ungesagtem, das zum Geheimnis geworden ist.
Vom psychoanalytischen Standpunkt aus sehen Abraham und Török darin eine
«Bildung des dynamischen Unbewussten. Sie liegt vor, nicht weil das Subjekt selber
etwas verdrängt hätte, sondern wegen seiner direkten Empathie in Bezug auf ein
unbewusstes und verleugnetes elterliches Subjekt». Man könnte vielleicht von einem
teleskopartigen Zusammenschieben der Generationen und der Zeit sprechen, von
einem time collapse.
[…] Ein seltsames Verhalten, Krankheit oder Delirium sind oft Verkörperungen für
dieses «Phantom» und inszenieren in verbaler oder handelnder Agitation
[Zwangswahl bei Szondi, A.A.] das lebendig im väterlichen oder grossväterlichen
Unbewussten [im familiären Unbewussten] begrabene Geheimnis.
Die Frage bleibt unbeantwortet, auf welche Weise die Familiengeheimnisse im
alltäglichen Leben, wenn die Dinge nicht benannt werden, weitergegeben werden.»
(Hervorhebungen durch A.A.)
Auf dieses Problem ist auch Szondi gestossen, dass die genetische Weitergabe aus
irgendwelchen Gründen oft nicht plausibel ist. So bemerkt er in einem von ihm als
Genverwandtschaft diagnostizierten Fall: «In diesem Fall lässt sich die Genverwandtschaft
nicht notwendig auf Grund der Mendel‘schen Gesetze ableiten, doch wird sie durch die
paranoiden Merkmale, die in den Familien der Ehepartner symmetrisch auftreten, sehr
wahrscheinlich gemacht» (Szondi 1944, 1987,108f). Indirekt räumt Szondi damit ein, dass die
Möglichkeit der transgenerationalen Weitergabe von psychischen Merkmalen besteht, ohne
dass für ihn eine genetisch bedingte Vererbung offenkundig wäre.
Wissenschaftlich gesehen ist es nun so, dass – wenn auch nur in einem Fall – diese
genetische Hypothese nicht zutreffen, die genetische Übertragung von Ahnenmanifestationen
nicht als strikte Gesetzmässigkeit gelten kann. Mit anderen Worten heisst dies, dass eine
«zweite Schiene» der Übertragung von «Ahnenansprüchen» gesucht werden muss.
Dies legt nahe, die Ahneninformationen nicht in der genetischen Struktur, sondern – als
Hypothese – in den energetischen Kraft- und Informationsfeldern des Organismus und in
deren Verkopplung mit anderen Informationsfeldern der Umwelt zu suchen. Dabei ist die
Annahme von Kraftfeldern dem schicksalsanalytischen Konzept nicht fremd, beruht doch die
szondische Trieblehre auf dem Prinzip polarisierter Spannungs- und Kraftfelder, die je nach
Spannungsdichte, Frequenz und Impulsfolge rezessiv oder dominant wirksam werden können,
sich überlagern und somit verstärken oder auslöschen. Eine Hypothese, sicher, aber warum im
konkreten Fall Dominanz oder Rezessivität bei den vom Gen ausgelösten Merkmalen
herrscht, wird von der Genetik zum heutigen Zeitpunkt nicht beantwortet. Zu beachten wäre
noch die Tatsache, dass nicht Gene, sondern die von ihnen zur Produktion freigegebenen
Proteine die vererbte Disposition in konkrete Wirkung und Gestaltung umsetzen. Gene sitzen
übrigens nicht als Globuli auf der DNA, sondern sind mehr oder weniger lange, schwierig
abzugrenzende DNA-Stücke.
Gesetzt den Fall, die Arbeitshypothese gilt, dass wir in einer Informationen-Cloud
unvorstellbaren Ausmasses leben – quasi in einem Informations-Äther –, die sowohl Behälter
als auch Quelle der Reproduktion von Ahnenexistenzen, -wissen und -ansprüchen sein
könnte, so wäre eine weitere, sich daraus ergebende Hypothese die, dass uns eine Cloud
permanent umgibt und wir unbewusst Informationen mit ihr austauschen, sie also sozusagen
unser unbewusster, externer, alle Vergangenheit bewahrender Datenspeicher darstellt. Das
Ausmass und die Auslese der Informationen sowie die Insistenz, in dem spezielle
Ahneninformationen aktiviert werden, um in unser aktuelles Leben einzugreifen, sind noch
völlig offen. Wie sich diese Daten materialisieren – als Krankheiten, Begabungen, spirituelle
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Und wie lange haben diese Ahnen schon gewartet?
Fähigkeiten, psychische Störungen und dergleichen –, ist in den Studien und Materialien
Szondis umfassend und detailliert belegt. In Computeranalogien gesprochen, ist unser Gehirn
die Festplatte mit Arbeitsspeicher, während wir unsere persönlichen Dateien («Kopien»
unseres Wissens, unseres Erlebens und unserer Erfahrungen) in eine kosmische Cloud
auslagern. Eher unbewusst als bewusst können wir mit den dort gelagerten Dateien der
Ahnen und anderer Menschen kommunizieren, so wie wir im Computerbereich mit den
entsprechenden Passwörtern und dem Zugangscode in der Cloud der Computerwelt
Informationen, die andere dort gelagert haben, abrufen können. Träger und Transporteure der
Informationen sind Biophotonen, ein Teilchen, dessen Wesen, Struktur, Erscheinungsweise
und Stellenwert als Informationsvehikel in einem späteren Text beleuchtet wird.
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Wir arbeiten ständig an unserer Informationen-Cloud
Zum Schluss ein Wort zur Epigenetik als momentaner Highflyer der genetischen Forschung:
Eine wesentliche Rolle spielen epigenetische Vorgänge (d.h. DNA-Moleküle werden ein-
oder ausgeschaltet, also auch solche Moleküle, die Funktionsbestandteil eines Gens sind) bei
Anpassungen von Anlagen und Dispositionen des Menschen an sich verändernde
Umweltbedingungen. Diese epigenetische Aktivität ermöglicht die Einfügung von
Erfahrungen (positive und negative!) des Individuums in spezifische DNA-Funktionsweisen
und damit – Stand der Forschung – die Weitergabe mittels Vererbung. Genetische
Forschungen im Rahmen einer Studie an der Universität Zürich haben u.a. gezeigt, «dass
chronischer schwerer Stress oder traumatische Erlebnisse während der Kindheit
verschiedene psychische Spätfolgen hervorrufen [können], unter anderem Borderline-
Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen», und dass dies mittels epigenetischer
«Programmierung» geschieht. Ferner heisst es in einer weiteren jüngeren Publikation von
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Bernhard Kegel (2009,242): «Mit Hilfe der Epigenetik gelingt es zum ersten Mal, eine Brücke
zwischen sozialen Erfahrungen über Hirnfunktionen bis hin zu molekularen Vorgängen in den
Zellen zu schlagen […] Schon relativ milde Formen von umweltinduziertem Stress sorgen
[…] für das Erscheinen neuer Phänotypen.» Damit haben wir neben den Genen einen
weiteren «Täter» im genetischen Wirkungsfeld, der auf den Phänotyp des Menschen einwirkt.
Nur, die Kernfrage bleibt: Wie vollzieht sich die Einwirkung? Welche Mittel werden vom Ich
eingesetzt, um das Erleben einer Umweltsituation in den Code einer biologischen Weisung
umzuschreiben (epigenetische Markierung), die via Gehirn eine Methylgruppe (sozusagen
eine frei in der Zelle schwadernde mobile DNA-Taskforce) in Marsch setzt und diese DNA-
Taskforce «selbstorganisierend» an die genetisch relevanten Abschnitte der
Desoxyribonukleinsäure (DNA) andockt und dort weisungsgemäss Schalter betätigt? Wie
wird eigentlich der ganze Ablauf gesteuert?
Ein Sprung zurück zur Psychologie: Könnte es nicht sein, dass die Vernetzung des Selbst (des
Pontifex oppositorum Szondis) mit dem kollektiv-kosmischen Unbewussten diesem Selbst
den Zugriff zu einem umfassenden «Schalt- und Steuerungsplan» des Organismus in der
bereits erwähnten Informationen-Cloud öffnet? Die Diskussion über diese Thesen ist eröffnet.
Wir werden das Thema in weiteren Artikeln vertiefen.
* Weiterführende Literatur
Dawkins, Richard: Das egoistische Gen. Springer Akademischer Verlag 2010.
Quellen
Kegel, Bernhard: Epigenetik. Wie die Erfahrungen vererbt werden. DuMont 2009.
Szondi, Leopold: Schicksalsanalyse. Schwabe 1996, 4. unveränderte Auflage.
Ancelin Schützenberger, Anne: Oh , meine Ahnen! Wie das Leben unserer Vorfahren in uns
wiederkehrt. Carl-Auer Verlag 2007, 5. Auflage, ISBN 978-3-89670-502-0.
Zit. bei Ancelin Schützenberger: Abraham, Nicolas: L’écorce et le noyau. Aubier-Flammarion
1978,393–474
Biographisches
Anne Ancelin Schützenberger ist emeritierte Professorin für Psychologie an der Universität
Nizza und Mitbegründerin der International Society of Group Psychotherapy. Als
Psychotherapeutin arbeitet sie mit psychoanalytischen Methoden unter Einbezug der
Erkenntnisse von Moreno, Nicolas Abraham und Boszormeny-Nagy. Bei Moreno erhielt sie
das Rüstzeug zum gruppentherapeutischen Arbeiten und zum Psychodrama, bei Boszormeny-
Nagy vertiefte sie sich in familientherapeutisches Arbeiten und lernte die transgenerationalen
Aspekte der familiären Bindungen und Schuldzuweisungen kennen.
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Die zwei Gesichter des Selbst
Friederike Gerstenberg und Manfred Schmitt
Persönlichkeitsforscher entwickeln Methoden, die unbewusste Eigenarten von Menschen
entschlüsseln helfen sollen. Ein Ausschnitt aus einem Text der Zeitschrift „Gehirn&Geist“
Nr.9/2012.
Menschen sagen oft das eine, tun aber das andere. Da ist der Freund, der die Trennung von
seiner Ex angeblich schon verkraftet hat und sich trotzdem jeden Abend in den Schlaf weint.
Da ist die Schwester, die eigentlich eine Diät macht, aber in unbeobachteten Momenten
Pralinen nascht. Da ist der Arbeitskollege, der sich für ganz besonders schlau hält, doch leider
lassen seine Leistungen zu wünschen übrig. Und da ist die Bekannte, die trotz herausragender
Fähigkeiten ständig in Sorge ist, dümmer zu sein als die anderen.
Solche Beispiele lehren uns, lieber einmal abzuwarten und zu schauen, ob die
Selbstbeschreibungen der Menschen in unserer Umgebung auch wirklich zutreffen. Doch
warum erzählt jemand etwa nach dem Scheitern seiner Beziehung nicht, wie es ihm wirklich
geht? Viele Gründe sind dafür denkbar. Vielleicht schämt er sich und will nicht zugeben, dass
er immer noch an seiner Verflossenen hängt; vielleicht erwarten seine Freunde, dass er den
Beziehungscrash nach ein paar Wochen überwunden hat. Auch mangelnde Selbstreflexion
mag mitunter eine Rolle spielen: Die Bekannte, die sagt, sie sei dümmer als ihre Kolleginnen,
kann ihre Fähigkeiten vielleicht nur nicht angemessen einschätzen. Möglicherweise vergleicht
sie sich mit einem allzu perfektionistischen Standard.
Auf Grund unseres Gesundheitsbewusstseins planen wir beispielsweise, künftig weniger
Süßigkeiten zu essen. Diesem Vorsatz mögen wir dann auch meistens treu sein – aber längst
nicht immer. Schuld daran ist der Theorie zufolge die unbewusste Ebene. Auf ihr drängen
sich zuweilen andere Motive und Bedürfnisse als in unseren Gedanken. Wir kennen sie zwar
nicht, dennoch lenken sie unser Verhalten.
Zugang mit Umwegen
Das klingt plausibel, wissenschaftlich gesehen steht und fällt die Idee jedoch mit der
Messbarkeit des Unbewussten. Freud sah in Träumen und Versprechern (den berühmten
"freudschen Fehlleistungen") ein Fenster zum unbekannten Innern der Menschen. Einige
seiner Überlegungen mündeten in die Entwicklung so genannter projektiver Tests. Bei
ihnen müssen Probanden mehrdeutige oder gänzlich abstrakte Bilder interpretieren. Was sie
aus den Formen herauslesen, soll Aufschluss über ihre unbewussten Motive, Gefühle und
Einstellungen geben.
13 «texte» Januar 2013
Tintenkleckserei nach Rorschach
Wissenschaftler streiten allerdings bis heute über die Aussagekraft dieser Verfahren. So ist
zum Beispiel unklar, was dabei überhaupt erfasst wird. In den letzten 15 Jahren haben
Forscher deshalb eine Reihe weiterer "indirekter Verfahren" vorgeschlagen, um unbewusste
Persönlichkeitsmerkmale sichtbar zu machen. Als bekanntestes unter ihnen gilt der Implizite
Assoziationstest (IAT, siehe auch Gehirn&Geist 9/2007, S. 30). Ein Team um den
Psychologen Anthony Greenwald von der University of Washington in Seattle entwickelte
diese Methode 1998. Der Test basiert auf der Annahme, dass sich unbewusste Ansichten in
der Schnelligkeit niederschlagen, mit der wir auf bestimmte Reize reagieren.
Seine Probanden mussten zunächst lernen, auf zwei auf dem Computerbildschirm
erscheinende Wörter unterschiedlich zu reagieren: Bei angenehmen Begriffen wie "Glück",
"Freude" oder "gut" sollten sie die Taste "e" drücken, bei unangenehmen wie "Pech",
"schlecht" oder "böse" die Taste "i". Nach diesem Übungsdurchgang ging es ans
Eingemachte: Jetzt tauchten nicht nur positive und negative Wörter auf dem Monitor auf,
sondern dazwischen auch Fotos von Gesichtern schwarzer und weißer Personen.
Zunächst galt es, bei Weißen wie auf die guten Wörter mit dem Tastendruck "e" zu reagieren;
bei Schwarzen wie auf die unangenehmen Wörter dagegen mit "i". Der Clou: Im nächsten
Durchgang änderte sich die Tastenbelegung. Jetzt mussten die Probanden für positive
Begriffe und schwarze Gesichter die Taste "e" bedienen; für negative Wörter und weiße
Gesichter drückten sie nun "i".
Rückschluss aufs Unbewusste
Während dieser Prozedur wurden die Reaktionszeiten registriert. Wenn ein Proband im
Durchgang "weiß und gut; schwarz und schlecht" schneller reagierte als bei der
Tastenkombination "weiß und schlecht; schwarz und gut", dann sprach das laut Greenwald
dafür, dass im Gedächtnis des Teilnehmers Menschen weißer Hautfarbe eher mit guten
Eigenschaften, Schwarze dagegen eher mit schlechten assoziiert sind. Studien zufolge gilt
genau das für drei Viertel der weißen Amerikaner. Für IAT-Befürworter sind diese
(impliziten) Assoziationen gleichbedeutend mit unbewussten Einstellungen.
Clever hinters Licht geführt
Neben dem IAT gibt es noch eine Reihe anderer, trickreicher Verfahren, die unbewusste
Anteile der Persönlichkeit registrieren sollen. Eine Forschergruppe um den Sozialpsychologen
Keith Payne ersann 2005 beispielsweise die Affective Misattribution Procedure (AMP).
Dieser Test erfasst keine Reaktionszeiten, sondern Bedeutungen und Bewertungen, die
Menschen mit bestimmten Objekten und Ereignissen verbinden. Die Versuchsperson sieht auf
einem Bildschirm ihr unbekannte chinesische Schriftzeichen und muss raten, welche
Bedeutung das Zeichen hat. Steht es für etwas Gutes oder Schlechtes, etwas Interessantes oder
14 «texte» Januar 2013
Langweiliges, etwas Bedrohliches oder Beruhigendes? Der Kniff an der Sache: Kurz vor dem
chinesischen Symbol erscheint ein Bild oder ein Wort. Da die Person die Bedeutung des
chinesischen Zeichens nicht kennt, überträgt sie die Bedeutung des Bilds oder Worts auf das
Schriftzeichen, so Paynes Annahme. Blendet man zum Beispiel Kürzel politischer Parteien
(CDU, SPD, FDP) ein, so bewerten CDU-Wähler chinesische Lettern, die auf "CDU" folgen,
im Schnitt besser als solche, die nach "SPD" erscheinen.
Entscheidend für die Erfassung unbewusster Einstellungen ist nun, dass das Verfahren auch
funktioniert, wenn die Bilder oder Wörter nur subliminal dargeboten werden – also so kurz,
dass wir sie nicht bewusst wahrnehmen. Trotzdem wirken sie unterschwellig auf uns und
beeinflussen, wie wir das folgende Schriftzeichen bewerten.
Diskrepanzen zwischen bewusst und unbewusst
Grundsätzlich können dabei zwei Formen von Diskrepanzen auftreten: Der explizite
(bewusste) Selbstwert kann höher oder niedriger sein als der implizite (unbewusste). Die erste
dieser beiden Diskrepanzen rücken viele Wissenschaftler in die Nähe des Narzissmus.
Dahinter steckt der Gedanke, dass Narzissten unbewusst versuchen, nach außen großes
Selbstbewusstsein auszustrahlen, weil unbewusst ausgeprägte Zweifel an ihnen nagen.
Sigmund Freud war der Auffassung, dass wir nur durch eine langwierige Psychoanalyse und
mit Hilfe eines ausgebildeten Therapeuten Zugang zu unseren unbewussten Motiven erlangen
können. Weniger aufwändig und prinzipiell möglich wäre es, im Internet einen IAT zu
absolvieren. So könnte man etwa erfahren, ob man Ausländern gegenüber wirklich so tolerant
ist, wie man glaubt. Allerdings gibt es nicht für jedes psychologische Merkmal einen IAT.
Außerdem können wir nicht wissen, in welchen Bereichen unseres Selbst Ungereimtheiten
bestehen. Wir müssten also sehr viele IATs oder AMPs durchführen, um unseren
Selbstdiskrepanzen auf die Schliche zu kommen.
Vielleicht aber können Menschen mit einem unausgewogenen Ich von denen lernen, deren
Selbst auf beiden Ebenen miteinander in Einklang steht. Viele unserer Mitmenschen haben im
Lauf ihres Lebens offenbar recht gut gelernt, ihre Fähigkeiten, Motive, Einstellungen sowie
ihre Persönlichkeit realistisch einzuschätzen. Wie gelingt es ihnen, die unbewussten und
bewussten Teile ihres Selbst aufeinander abzustimmen?
Es scheint, als gäbe es neben Psychoanalyse und der Durchführung vieler IATs eine weitere
Möglichkeit, sein bewusstes und sein unbewusstes Selbst einander anzunähern: Vermutlich
reicht es auch, ab und an eine Einschätzung von außen einzuholen und einen Menschen in
seinem persönlichen Umfeld zu fragen, was er eigentlich über einen denkt und wie er einen
sieht. Man muss sich dafür ja nicht gleich filmen lassen. © Spektrum.de
15 «texte» Januar 2013
__Gesundheit und Medizin
Roboter in der Gesundheitsversorgung (nur) als Gehilfen erwünscht
Claudia Gähwiler
Roboter könnten Gesundheitsfachkräfte künftig entlasten und die Versorgung und Betreuung
von Patientinnen und Patienten verbessern, zeigen Forschende der ZHAW Zürcher
Hochschule für Angewandte Wissenschaften in einer Studie von TA-SWISS (Zentrum für
Technologiefolgen-Abschätzung). Risiken sind fehlende zwischenmenschliche Kontakte und
Regelungen sowie steigende Gesundheitskosten.
Die alternde Gesellschaft, fehlendes Gesundheitspersonal und steigende Gesundheitskosten
bringen Roboter als mögliche Alternativen ins Spiel. Werden wir künftig von Maschinen
gepflegt? Ein interdisziplinäres ZHAW-Forscherteam aus den Bereichen Gesundheit,
Ökonomie und Mechatronik entwickelte Szenarien für das Zentrum für Technologiefolgen-
Abschätzung TA-SWISS, die beschreiben, wie Roboter im Gesundheitswesen bis 2025
eingesetzt werden könnten. Neben einer umfassenden Literaturstudie befragten die
Forschenden Akteure wie Patienten, Spitalmanagerinnen, Pfleger oder Ärztinnen und liessen
die Ergebnisse von Experten diskutieren.
Gehilfen, keine Gefährten In der Industrie sind Roboter längst präsent. Fortschritte in der künstlichen Intelligenz und der
Produktion berührungsfreundlicher Materialien machen sie auch fürs Gesundheitswesen
interessant. Neben der technischen Machbarkeit und den Kosten spielt jedoch die Akzeptanz
potenzieller Anwender eine zentrale Rolle. Diese nimmt bei zunehmender Interaktivität der Geräte ab. Sie ist also bei sozial interagierenden Robotern, die Patienten als Gefährten
unterstützen, am tiefsten. «Viele Befragte befürchten, dass der zwischenmenschliche Kontakt
verloren gehen könnte. Zudem fehlt Robotern auch die umfassende und flexible Sicht auf
Patienten und Situationen», so Projektleiterin Heidrun Becker vom Departement Gesundheit
der ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Pflegefachkräfte fürchten
zudem, dass sie aus Spargründen von Robotern ersetzt werden könnten. Allerdings begrüssen
sie mechanische Assistenten als Gehilfen, um sie von schweren Arbeiten wie das Heben oder
Tragen von Patienten zu entlasten.
Die Betroffenen selbst erhoffen sich von Robotern vor allem einen unabhängigeren Alltag mit
smarten Rollstühlen, intelligenten Gehilfen oder Servicerobotern für den Haushalt. Zukünftige
Generationen älterer Menschen wachsen mit viel mehr Technik als früher auf und werden
daher offener im Umgang mit Robotern im Gesundheitswesen sein. Telepräsenzroboter,
welche beispielsweise per Videogespräch die persönliche Anwesenheit einer Pflegekraft oder
Ärztin ersetzen, könnten Senioren sozusagen als «digitale Nabelschnur gegen die
Vereinsamung» dienen. Allerdings geht laut den befragten Experten mit der gewonnenen
Selbstständigkeit eine gewisse Abhängigkeit von Maschinen einher. Zum Beispiel könnte ein
Stromausfall dazu führen, dass lebenswichtige Medikamente nicht verabreicht werden. Wenn
Pflegeroboter also Zuhause eingesetzt werden, übernehmen Patienten und Angehörige
automatisch mehr Verantwortung. «Umstritten ist bei Experten, ob das Pflegepersonal mit
Robotern so entlastet wird, dass ihm mehr Zeit für die direkten Begegnungen mit den
Patienten bleibt», so Becker. Einig sind sich die Experten jedoch, dass die mechanischen
Geräte nur als Ergänzung zu menschlichen Kontakten eingesetzt werden sollten und die
Gesundheitskosten wahrscheinlich eher steigen als senken werden: Die Anschaffung ist teuer,
16 «texte» Januar 2013
zudem entwickelt sich die Technik rasch und zwingt, sie immer wieder zu ersetzen.
Unzureichende Regelungen Bereits für die Testphase von mechanischen Assistenten reicht die heutige Rechtslage nicht
aus. Wer haftet bei Schäden? Roboter sind zudem auf digitale Patientendaten angewiesen.
Oftmals erheben Telepräsenz- oder Assistenzroboter auch noch gesundheitsbezogene Daten
aus der Umgebung der Patienten und des Gesundheitspersonals. «Regelungen im
Haftungsrecht, im Datenschutz und in der Ethik sollten deshalb überprüft werden», so die
ZHAW-Forscherin. «Es ist wichtig, dass die Entwicklungen proaktiv begleitet werden. So
können Chancen genutzt und Risiken kontrolliert werden.» Zudem empfehlen die Autorinnen
der TA-SWISS-Studie, bei Forschungsprojekten frühzeitig die späteren Nutzer und
Betroffenen einzubeziehen, damit die Entwicklung nicht an ihren Bedürfnissen vorbei zielt.
Robotertypen in der Gesundheitsversorgung
Die Studie von TA-SWISS ordnet die Geräte drei verschiedenen Typen zu. In die Gruppe der
Trainingsgeräte und Hilfsmittel fallen Arm-
und Beintrainer in der Rehabilitation, mit
elektronischen Sensoren ausgestattete
«schlaue» Greif- und Gehhilfen oder
navigierende Rollstühle. Daneben gibt es
aber auch Telepräsenz- und Assistenzroboter,
welche die persönliche Anwesenheit einer
Pflegekraft, eines Therapeuten oder einer
Ärztin ersetzen oder bestimmte
Arbeitsschritte wie zum Beispiel den
Transport unterstützen. Die dritte Kategorie
bilden sozial interagierende Roboter, die als
Begleiter und Gefährten dienen. Hier steht
die unmittelbare Beziehung zwischen
Roboter und Mensch im Vordergrund.
Quelle: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, 21.12.2012
Fachinformationen: Prof. Dr. Heidrun Karin Becker, Telefon 0041 58 934 64 77,
17 «texte» Januar 2013
Schlüsselmoleküle für die Entwicklung des auditorischen Systems:
Wenn das Gehirn Fehler macht
Dr. Corinna Dahm-Brey
Etwa zwei bis drei Prozent aller Kinder und zehn bis zwanzig Prozent der älteren
Erwachsenen leiden unter Hörproblemen, die auf neurologische Verarbeitungsstörungen
zurückzuführen sind. Obwohl ihr Innenohr voll funktionsfähig ist, interpretiert ihr Gehirn die
akustischen Signale fehlerhaft. Eine solche Hörstörung wird häufig in Zusammenhang mit
Dyslexie (Lesen und Verstehen von Wörtern und Texten) und Autismus gebracht.
Die Arbeitsgruppe Neurogenetik an der Universität Oldenburg unter Leitung von Prof. Dr.
Hans Gerd Nothwang hat nun zusammen mit WissenschaftlerInnen der Universität Tel Aviv
neue Schlüsselmoleküle für die fehlerfreie Interpretation von akustischen Signalen
identifiziert.
Ihre Forschungsergebnisse haben die ExpertInnen kürzlich in der international renommierten
Online-Fachzeitschrift der Public Library of Science PLOS ONE 2012 vorgestellt.
Auditorische Verarbeitungsstörungen treten bei Jungen doppelt so häufig auf wie bei
Mädchen. „Das verweist auf einen genetischen Hintergrund“, betont Nothwang. Um die
genetischen Ursachen der Entwicklungsstörungen der Hörbahn zu identifizieren, versucht er
mit seiner Arbeitsgruppe die Faktoren aufzuspüren, die maßgeblich an der Ausbildung der
Hörbahn beteiligt sind.
„Erst seit wenigen Jahren kennt man die so genannten microRNAs – also kleine
Nukleinsäuren – die bei der Genregulation eine wichtige Rolle spielen. Zu ihrer Produktion in
der Zelle ist das Enzym Dicer erforderlich“, erklärt der Neurobiologe. Dieses Enzym haben
die WissenschaftlerInnen aus Oldenburg und Tel Aviv mit einem speziellen Verfahren bei
Mäusen lokal ausgeschaltet und damit unterbunden, dass zelluläre microRNAs in der
Hörbahn hergestellt werden. Das Ausschalten von Dicer im embryonalen Stadium hatte
drastische Folge: Ein Teil der Hörbahn entwickelte sich überhaupt nicht, ein weiterer Bereich
war erheblich beeinträchtigt. „Diese Befunde ließen erstmals den Schluss zu, dass die Klasse
von kleinen regulatorischen Nukleinsäuren als Schlüsselmoleküle für die korrekte Ausbildung
der Hörbahn sorgen“, so Nothwang. Durch weitere genetische Analysen sei es außerdem
gelungen, das kritische Zeitfenster für das Wirken von Dicer und damit von microRNAs auf
die frühe embryonale Entwicklung einzugrenzen.
Künftig wollen die WissenschaftlerInnen noch einen Schritt weitergehen und die
entscheidenden microRNAs und ihre genauen Funktionen identifizieren. „Genetische
Störungen wie beispielsweise Mutationen in den microRNAs führen sehr wahrscheinlich zu
Fehlentwicklungen in der Hörbahn. Damit könnten sie zu auditorischen
Verarbeitungsstörungen beitragen“, so der Neurobiologe. Auch für diese Untersuchungen
werde die erfolgreiche Kooperation mit der israelischen Arbeitsgruppe fortgesetzt.
ForscherInnengruppe: Elena Rosengauer, Heiner Hartwich, Anna Maria Hartmann, Anya Rudnicki,
Somisetty Venkata Satheesh, Karen B. Avraham, Hans Gerd Nothwang
Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg
10.12.2012
Fachkontakt: Prof. Dr. Hans Gerd Nothwang, Institut für Biologie und Umweltwissenschaften, Tel.:
0441/798-3932, E-Mail: [email protected]
18 «texte» Januar 2013
Probleme im Alter
Menschen in der zweiten Lebenshälfte sind meist erfahren genug, um entscheiden zu können,
was für sie wichtig und unwichtig ist. Sie müssen sich nicht mehr andauernd beweisen, und
die Prioritäten im Leben haben sich etwas verschoben. Doch selbst das Leben von erfahrenen
Älteren hält manchmal Krisen bereit.
Psychologisches Institut der Universität Zürich – Psychotherapeutisches Zentrum
Häufige Herausforderungen älterer Menschen sind:
Zunehmende körperliche Beeinträchtigungen und Krankheiten
Die mit dem Alter einhergehenden körperlichen Abbauprozesse können einem sehr zu
schaffen machen. Wenn die Sehkraft, das Gehör und die Bewegungsfähigkeit nachlässt, ist
das gewohnte Leben sehr herausgefordert. Schwere Krankheiten wie ein Herzinfarkt,
Schlaganfall oder Krebs erfordern auch häufig eine Anpassung an die neue Situation. Und
manchmal scheint es so, als ob das Leben sich nicht mehr lohnt.
Zunehmende Gedächtnisprobleme und Gedächtnisstörungen
Mit dem Alter nimmt die Vergesslichkeit zu. Je häufiger man etwas vergisst oder Schlüssel
verlegt, desto belastender kann das sein. Möglicherweise wurde eine Gedächtnisstörung oder
Demenz diagnostiziert. Ängste, wie das weitergehen soll, Mutlosigkeit und Rückzug aus den
Kontakten mit anderen Leuten führen aber meist zu einer Verschlimmerung der
Gedächtnisprobleme.
Depression, Trauer, Ängste und Schlafstörungen
Verschiedene andere Erlebnisse können dazu beitragen, dass ein älterer Mensch sehr traurig
(depressiv) oder ängstlich wird. Verluste von Menschen werden betrauert. Konflikte mit
nahen Angehörigen können sehr belasten. Trennung und Scheidung sind andere Beispiele.
Schlafprobleme sind nicht selten nach solchen Ereignissen. Diese Gefühle wie Trauer,
Traurigkeit und Angst sind keine Krankheit. Aber dauert die ständige Niedergeschlagenheit
und Angst mehrere Monate an, kann es sich um eine ernstzunehmende Krankheit handeln wie
Depression, Angststörungen und Schlafstörungen. Nicht alle Probleme und Krisen im Alter
erfordern eine Psychotherapie. Manchmal entwickeln sich Krisen aber dramatisch, so dass sie
kaum mehr aus eigener Kraft zu bewältigen sind. Dann kann eine Psychotherapie hilfreich
sein. Eine Psychotherapie kann helfen, die belastenden Gefühle zu bewältigen. Eine
Psychotherapie kann stärken, mit Krisen besser klar zu kommen. Eine Psychotherapie bietet
auch die Chance, sich besser kennen zu lernen und neu zu orientieren. ∞
Kontakt: http://www.psychologie.uzh.ch/institut/pz/contact.html
19 «texte» Januar 2013
Alternative Medizin:
"Hauptsache, es geht mir besser"
Die klassische Medizin hat bei vielen einen schlechten Ruf: Sie suchen nach alternativen
Behandlungsverfahren, von denen sie sich mehr versprechen, obwohl ihre Wirksamkeit höchst
umstritten ist. Die Argumente für ihre Entscheidung sind vielfältig.
Ulrike Gebhardt
"Gibt es da auch etwas Homöopathisches?" Eine häufige Frage bei Arzt und Apotheker:
Alternative Heilmethoden sind beliebt. Fast zwei Drittel der erwachsenen Deutschen hätten
mindestens einmal eine Alternative oder Ergänzung zur klassischen Medizin genutzt, so das
Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die kürzlich 1700 Personen dazu befragt
hatte. Die Anzahl der Nutzer von Naturheilverfahren hat sich damit in den letzten Jahren auf
hohem Niveau stabilisiert.
Was ist Alternativmedizin?
Eine allgemein gültige Definition der Begriffe "Alternativmedizin" oder
"Komplementärmedizin" (im englischsprachigen Raum kurz "CAM") gibt es nicht. Synonym
werden häufig auch die Begriffe Erfahrungsmedizin, Ganzheitsmedizin, Naturheilkunde oder
Traditionelle Medizin gebraucht. Im Allgemeinen versteht man darunter eine Vielzahl
verschiedener medizinischer Praktiken, die genutzt werden, um die körperliche und geistige
Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern, Erkrankungen vorzubeugen, zu diagnostizieren
oder zu heilen. Allen Verfahren gemein ist, dass sie sich abgrenzen wollen von der
klassischen "Schulmedizin". Doch auch hier sind die Grenzen fließend. Was mancherorts als
Alternativmedizin gilt, wie etwa einige Anwendungen der Pflanzenheilkunde, fällt woanders
unter die schulmedizinische Behandlung. Zu den alternativen Heilmethoden werden bei uns
zum Beispiel gezählt: Akupunktur, anthroposophische Medizin, Pflanzenheilkunde,
Homöopathie, manuelle Therapien (Chiropraktik, Osteopathie, Massage), Naturheilkunde
(Aromatherapie, Kräutermedizin, Ernährung, Nahrungsergänzung) und die Traditionelle
Chinesische Medizin.
Dabei ist die Wirksamkeit vieler dieser Heilverfahren mindestens umstritten, wenn nicht
sogar widerlegt. "In einigen Kreisen herrscht Unverständnis darüber, wie man sich trotz der
Errungenschaften der Aufklärung so 'dumm' verhalten könne, Methoden in Anspruch zu
nehmen, deren Wirksamkeit sich im Rahmen des gängigen wissenschaftlichen Denkens nicht
erklären lasse", erklärt Stefan Schmidt von der Abteilung für Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg. Der Spruch "Wer heilt, hat Recht" weise
denn auch den Weg zurück ins Mittelalter, sagte Edzard Ernst, emeritierter Professor für
Alternativmedizin der Universität Exeter kürzlich in einem Interview mit Medscape
Deutschland.
Eine Frage, viele Antworten
Warum aber setzen so viele, gar nicht mittelalterlich denkende Menschen ihre Hoffnung auf
alternative Therapien? Fallen sie dabei lediglich auf die Werbetricks von fragwürdigen
Heilversprechern herein? "Eine einfache Antwort auf die Frage des 'Warum' gibt es nicht",
sagt Wolfgang Weidenhammer vom Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und
20 «texte» Januar 2013
Naturheilkunde an der TU München. "Der Patient, der sich selbst wegen einer banalen
Angelegenheit behandelt, wird andere Gründe haben als derjenige mit einer
Krebserkrankung."
Trotz des komplexen Bilds kristallisierten sich aus Patientenbefragungen drei Motivationen
heraus: Viele legten Wert auf ein persönliches Arzt-Patienten-Verhältnis, in dem es um den
Menschen und nicht allein um das kranke Organ gehe, sagt Weidenhammer. In der
Komplementärmedizin würde mehr auf dieses Verhältnis geachtet. Zum anderen seien
Patienten heutzutage informierter, wollten häufig einfach eine Zweitmeinung einholen und
aktiv das Behandlungsspektrum erweitern. Der dritte Grund: Menschen suchen nach
Behandlungsformen mit weniger Nebenwirkungen. "Die alternative Medizin gilt hier als
'sanft'. Dabei greifen einige Methoden, wie es etwa die Erfahrung mit der chinesischen
Arzneitherapie zeigt, massiv in den Organismus ein", sagt Wolfgang Weidenhammer.
John Astin von der Standford University School of Medicine versuchte vor fast 15 Jahren zu
der Frage, warum Patienten auf alternative Heilverfahren vertrauen, zum ersten Mal einen
theoretischen Unterbau zu liefern [1]. Er befragte 1035 US-Amerikaner zu ihrem
Gesundheitszustand, ihrer Einstellung zur klassischen Medizin, ihren religiösen
Überzeugungen und Werteinstellungen. 40 Prozent der Befragten hatten im vorangehenden
Jahr alternative Medizin wie etwa Akupunktur, Chiropraktik, Pflanzenheilkunde oder
Homöopathie in Anspruch genommen. Dabei tendierten solche Personen stärker zu
alternativen Behandlungen, die im Vergleich einen höheren Bildungsstatus angaben, größere
Gesundheitsprobleme hatten, über ein "Transformationserlebnis" berichteten, das ihre
Weltsicht verändert hatte, und an Angststörungen, Rückenproblemen oder chronischen
Schmerzen litten.
Auf das "Warum" ihrer Therapiewahl hin befragt, gaben die Personen an, nach der
alternativen Behandlung sei es ihnen besser gegangen, Schmerzen und andere Symptome
hätten abgenommen, und die Behandlung funktioniere besser für das persönliche
Gesundheitsproblem als Verfahren der klassischen Medizin. Die Befragten nutzten die
alternativen Heilverfahren überwiegend nicht aus Enttäuschung über die klassische Medizin,
sondern weil sie stimmiger mit den eigenen Überzeugungen, Werten und religiösen
Einstellungen waren.
Weltbild und Wirksamkeit
Was dabei im Kopf der Menschen vor sich geht, versucht der Psychologe Stefan Schmidt zu
erklären: "Wenn ich mich für eine Therapie entscheide, die für mich stimmig ist und in mein
Weltbild passt, kommt der Therapie eine positive Bedeutung zu, die schließlich zu einem
positiven Gesamterlebnis führt." Sprich: Es geht mir besser – auch wenn die spezifische
Wirksamkeit der Methode laut naturwissenschaftlicher Analyse unklar ist.
Wie mächtig die eigene Gedankenwelt, die Sinnkonstruktion dabei sei, zeigen
Untersuchungen wie von J. Bruce Moseley zur Wirksamkeit der Gelenkspülung bei Patienten
mit einer Kniearthrose [2]: Die Spülung allein oder in Verbindung mit der Entfernung
lockerer Knorpelteilchen reduzierte die Schmerzen der Behandelten über den
Beobachtungszeitraum von zwei Jahren deutlich. Genauso verbesserte sich der Zustand aber
auch bei den Patienten, die eine "Scheinoperation" erhielten, bei denen also bis auf zwei
kleine Hautschnitte nichts am Knie gemacht worden war. "Der beobachtete Effekt war also
unspezifisch und nur auf das eigene Erklärungsmodell 'wenn abgenutzte Knorpelteilchen
21 «texte» Januar 2013
weggespült werden, kann ich das Knie wieder besser bewegen' zurückzuführen", sagt
Schmidt.
Ähnlich sehen die Ergebnisse von Studien aus, in denen Migränepatienten homöopathisch
behandelt wurden. Tatsächlich berichteten die Betroffenen von einer Besserung ihrer
Symptome, weniger Schmerztagen und weniger Medikamentengebrauch – im selben Umfang
wie in der Kontrollgruppe, die Placebos erhalten hatte [3,4]. Auch zur Anwendung von
Akupunktur, TCM und anderen alternativen Behandlungsverfahren lassen sich vergleichbare
Resultate finden, die gern als Beweis für die Wirksamkeit alternativer Heilverfahren
angeführt werden. Kritiker allerdings zitieren sie ebenso: als Beleg, dass diese Methoden eben
nicht mehr sind als Placebos und womöglich sogar negative Folgen haben, falls sie
beispielsweise eine wissenschaftlich erwiesen wirksame Therapie verzögern oder ganz
verdrängen. Zumal es auch zahlreiche weitere Studien gibt, die keinerlei Besserung der
Untersuchten bei alternativen Verfahren finden.
Evidenz kontra Placebo oder Gesamtwirksamkeit?
An dieser Stelle zeigt sich der Unterschied zwischen der wissenschaftlichen
Herangehensweise an den Nutzen und/oder Schaden von Alternativmedizin und dem, was
ihre Anwender bewegt, sie zu verwenden: Sie erleben einen Effekt – was dahintersteckt,
interessiert, wenn überhaupt, erst an zweiter Stelle: "Wenn ich ein Schmerzmittel einnehme,
ist es mir weniger wichtig, was der Effekt des Wirkstoffs und was derjenige des Placebos ist.
Hauptsache, es geht mir besser", sagt Stefan Schmidt. Inzwischen wisse man, dass Placebo
und Wirkstoff zusammenarbeiten und eine scharfe Trennung der beiden, so wie stets
gefordert, keinen Sinn mache, da sich beide Größen nachweislich gegenseitig beeinflussten.
"Placebo sollte als Behandlungsoption aufgefasst werden und nicht als Störgröße", meint der
Psychologe weiter. Davon, Behandlungsmöglichkeiten generell wegzulassen, weil der
spezifische Wirknachweis fehle, hält der Freiburger Forscher deshalb nichts.
Auch die Bundesärztekammer hat sich des Placeboeffekts angenommen. So ist in einer
Abhandlung darüber zu lesen: "… der Nutzen einer Behandlung setzt sich für den Patienten
aus dem Verum-(Wirkstoff) und dem Placeboanteil zusammen; je nach Krankheit und
Behandlung können die Anteile unterschiedlich groß sein" [5]. Edzard Ernst sieht das deutlich
kritischer: "Um bei meinem Patienten einen Placeboeffekt hervorzurufen, brauche ich kein
Placebo. Wenn ich ihm eine wirksame Therapie gebe und dies mit Empathie und Verständnis
tue – so wie ein guter Arzt das eben macht –, dann profitiert mein Patient sowohl von einem
Placeboeffekt wie auch von dem spezifischen Effekt meiner Therapie. Mit anderen Worten:
Die alleinige Gabe eines Placebos, beispielsweise in Form eines Homöopathikums, enthält
meinem Patienten etwas vor, das ihm eigentlich zusteht."
Ganz unabhängig von der persönlichen Entscheidung, auf alternative Behandlungsverfahren
zu setzen, ist die offene Diskussion um deren Anwendung ebenso wirtschaftsgetrieben. Denn
natürlich geht es auch um Geld. Um viel Geld: Für schätzungsweise sechs Milliarden Euro
wanderten in Europa allein im Jahr 2010 pflanzliche Arzneimittel über den Ladentisch.
Homöopathische Produkte machen inzwischen rund 0,7 Prozent des europäischen
Pharmamarkts aus, was im Jahr 2010 rund einer Milliarde Euro entsprach. "In einer Zeit, in
der die finanziellen Ressourcen knapper werden, kämpfen die klassische und die alternative
Medizin um ihre Anteile", erklärt Stefan Schmidt. Und dieser Kampf tobt vor allem um eine
Zielgruppe, so Edzard Ernst: "Alle Daten zeigen einhellig, dass vor allem diejenigen
Menschen sich der Alternativmedizin zuwenden, die genug Geld in der Tasche haben."
22 «texte» Januar 2013
Wolfgang Weidenhammer, der Koordinator des gerade abgeschlossenen EU-Projekts
"CAMbrella" (Complementary and Alternative Medicine), sieht angesichts des Interesses und
des verbreiteten Einsatzes alternativer Heilverfahren dringenden Forschungsbedarf: "Die
Menschen brauchen vertrauenswürdige Informationen über deren Wirksamkeit, Sicherheit
und Kosten." In Europa sei die Erforschung der Komplementär- und Alternativmedizin stark
vernachlässigt worden, entsprechende Programme und Initiativen seien einzurichten, so
Empfehlungen von CAMbrella. Wo liegen die Chancen, wo die Risiken? Für Weidenhammer
ist dabei zentral:
"Die Bedürfnisse der Patienten sollten bei dieser Forschung die Schlüsselpriorität
haben."
© Spektrum.de
23 «texte» Januar 2013
__Bücher
Rezension der Autobiografie «Die Seele der Anderen»:
Sudhir Kakar – ein indischer Psychoanalytiker erzählt
Alois Altenweger
Die Geschichte: Ein indischer Ingenieur auf dem verschlungenen Weg zu Ausbildung und
Praxis als Psychoanalytiker. In der Art einer autobiographischen Erzählung schildert Sudhir
Kakar seine Jugend in einer «bunten» und vielfältigen indischen Grossfamilie, sein
widerwilliges Studium in Indien und Deutschland und das Ausleben seiner Spätpubertät in
Mainz. Als Erwachsener macht er die Bekanntschaft des deutsch-amerikanischen
Psychoanalytikers Erik H. Erikson, der ihm bei Mitscherlich in Frankfurt zum Einstieg in die
ersehnte psychoanalytische Ausbildung verhilft. Ein facettenreiches Leben in Indien,
verknüpft mit Lebenserfahrungen in den USA und Deutschland bildet den Stoff eines zuweilen
vergnüglich-selbstironischen Buches.
24 «texte» Januar 2013
Der Autor fährt nach seiner Trauung «zu einem herzhaften Brunch ins Royal Hawaiian Hotel,
den wir mit Pink Mai Tais». – Der abrupte Satzabbruch ist nicht etwa ein Fehler, sondern
Sudhir Kakar kündigt damit das nahe Ende der Lektüre an. Von der Erinnerung überwältigt,
verliess er uns mitten im Satz, der glücklich mit Katharina, «azurblaue Augen und langes
blondes Haar», einer Deutschen, Verheiratete. – Erst Google konnte die Köstlichkeit von Pink
Mai Tais erklären: es ist ein Rum-Cocktail, bestehend aus zwei Sorten Rum, Curaçaolikör,
Orangen- und Zitronensaft und seit 1953 eine Spezialität der Hotelbar des Royal Hawaiian.
Nun, Deutschland liefert auch die Schlüsselerlebnisse von Sudhir Kakar, einem indischen
Psychoanalytiker freudscher Richtung. Doch von vorne: Das Buch gliedert sich in Kindheit
und Jugendzeit in Indien, Studium und selbständig Leben lernen in Deutschland, einen
Aufenthalt in den USA und schliesslich ein Pendeln zwischen Europa und Indien, mit
verschiedenen Lehrverpflichtungen auf allen Kontinenten und garniert mit der Arbeit in der
eigenen psychoanalytischen Praxis in Indien. Im ersten Teil werden Leserinnen und Leser in
das Phänomen der indischen Grossfamilie eingeführt. Dabei legt Kakar den erzählerischen
Schwerpunkt auf die Schilderung der Geborgenheit in der Familie. Meilenweit entfernt von
der abgeschotteten, ja fast introvertierten Lebensart unserer mitteleuropäischen Klein- und
Kleinstfamilien wuchs Sudhir Kakar in der offenen Grossfamilie auf. So kann er später sagen,
dass «die Vorstellung eines unausweichlichen Generationenkonflikts immer noch als
Fremdimport des Westens» empfunden wird. Er lernte in der Grossfamilie spielerisch die
verschiedensten Charaktere und Lebensarten kennen und erhielt so risikolos
Anschauungsunterricht darüber, wie man sich mehr oder weniger glückhaft und geschickt
durchs Leben schlängelt. Die räumliche Nähe, das Zusammensein, vor allem das gemeinsame
Schlafen vieler Personen in einem Haus mit wenigen Zimmern, da waren «an jedem x-
beliebigen Tag zwischen 15 und 25 Erwachsene» anwesend, führten für Kakar zu einem
spannenden Hör-, Spür- und Anschauungsunterricht in Sachen Sexualität, Lebenskunst und
Liebe. Sex fasziniert Sudhir Kakar; Vorfreude, Freude und freudiger Nachklang – dies wird
beim Lesen spürbar und untermalt als sinnlicher Hintergrund das Buch. Der spätere
Psychoanalytiker wandelte schon in frühen Jahren unbewusst in Freuds Spuren. Davon zeugt
beispielsweise die minutiöse Wikipedia-würdige Schilderung indisch-traditioneller
Auffassung vom Geschehen beim Masturbieren und bei den pubertären Sexspielen im
Internat.
Das Leben in der Grossfamilie ermöglichte ihm, sich nicht auf die Eltern als
«Inspirationsquelle» verlassen zu müssen, sondern als junger Mann monatelang in den
Familien von Onkeln und Tanten zu hospitieren. Er zog schliesslich bei einer jüngeren,
selbstbewussten und eigenwilligen Tante namens Kamla ein, eine der damals noch seltenen
Business-Woman Indiens, und wählte sie nach eigenem Bekunden gewissermassen zur
Herzensfreundin und Lebensratgeberin. «Wir weihten uns gegenseitig in die intimsten Details
unseres Lebens ein. Während der schwierigen Zeit meiner ersten Ehe war Kamla die Person,
der ich an emotionalem Beistand und Ratschlägen am meisten verdanke.» Überhaupt kommt
die familiäre Verbundenheit, das Leben in und mit dem Clan und die weitläufige Vernetzung
von – ohne zu übertreiben – Hunderten von Verwandten und Bekannten, Angeheirateten,
deren Familien und zahlreichen zugewandten Haus-, Studien- und Geschäftsfreunden aufs
Lebendigste zur Darstellung. Diesen Aspekt indischen Lebens erzählt Kakar mit mäandernder
Leichtigkeit. Sowohl die beachtlichen Segnungen dieses Systems, nämlich innerhalb dieses
Verbundes von Verwandten ein eigenes Netz als materiellen Rückhalt aufzubauen, als auch
die Möglichkeit, sich bei einzelnen ausgewählten Personen für Monate niederzulassen, sich zu
erholen und einfach da zu sein, ohne grössere Leistungen vollbringen zu müssen, werden vom
Autor mit spürbarer Genugtuung ausgebreitet. Man könnte neidisch werden! Umgekehrt
vergisst Kakar nicht, den beachtlichen Einfluss der Grossfamilie auf persönliche
25 «texte» Januar 2013
Entscheidungen zu erwähnen. Berufswahl steht unter dem Diktat des Vaters und des
Grossvaters, die Frauen lassen im Hintergrund ihre «mütterlichen» Ambitionen spielen, und
die kommerziellen Kontakte werden zum Einstieg in das Berufsleben selbstverständlich
aktiviert. Die engere Familie entschied für Kakar die Berufswahl: «Ich erinnere mich, dass
wir damals zu einem Familienurlaub einen meiner Grossonkel in Srinagar besuchten. Ein
Familienrat, an dem ich nicht teilnehmen durfte, wurde (zur Behandlung meiner beruflichen
Zukunft) einberufen. Wenn eine Karriere im öffentlichen Dienst oder beim Militär nicht in
Frage kam, standen einem Mittelklassejungen nur noch zwei andere Berufsmöglichkeiten
offen: Ingenieur oder Arzt.» Nun war auch ein Medizinstudium ausgeschlossen, da der junge
Sudhir Kakar dazu neigte, beim Anblick von Blut in Ohnmacht zu fallen. Zum Bedauern
seines Grossvaters, der gut verdienender Chirurg war. Die bereits erwähnte Kamla bot sich
nun an, für eine Zulassung zum Ingenieurscollege in Ahmedabad besorgt zu sein und Kakar
während des Studiums bei ihr wohnen zu lassen. Damit war die Entscheidung gefallen, es
ging ins Ingenieurstudium, was der junge Sudhir zwar nicht begeistert, aber widerstandslos
akzeptierte. Ein einziges Aufmucken findet sich in einem Brief an seinen Vater, aus dem der
Autor folgende Stelle zitiert: «Hinsichtlich des Colleges bin ich sehr zufrieden. Ich
interessiere mich zwar nicht besonders fürs Ingenieurstudium, bemühe mich aber nach
Kräften, Interesse dafür zu entwickeln. […] Das Fach, das mich am meisten interessiert, ist
Psychologie. In meiner Freizeit kann ich sogar einschlägige Bücher lesen», zu denen die
Traumdeutung von Sigmund Freud gehörten.
Dem gelungenen Abschluss der Ausbildung in Indien schloss sich ein Praktikum in
Deutschland an. Der sechsmonatigen Arbeit in der Hamburger Schiffswerft «Howaldtswerke»
sollte eine Weiterbildung zum Wirtschaftsingenieur folgen; im Anschluss an das Studium war
die Übernahme «eines gut bezahlten Jobs in Indien als Ingenieur» vorgesehen. Doch es kam
anders: während der fünf Jahre in Deutschland absolvierte Kakar unter heftigen brieflichen
Auseinandersetzungen mit seinem Vater die von diesem noch geforderte
betriebswirtschaftliche Ausbildung, die er an der Universität von Mainz absolvierte. Dabei
entfaltete Kakar mit aller Intensität ein Liebes- und Sozialleben, letzteres in aufmüpfigen
linken Studentenkreisen, so dass ihm die Erinnerung blieb, seine Ausbildung habe er sich im
Wesentlichen abends in Kneipen bei angeregter Diskussion über Politik, besonders aber über
Literatur und Kunst geholt. «In jedem April demonstrierten wir unsere politische
Überzeugung durch Teilnahme am Ostermarsch gegen Atomwaffen. Die Märsche boten auch
Gelegenheit, in einer idealistischen, erregenden und zugleich intimen Atmosphäre Frauen
kennenzulernen.» Sicherlich führte dieses muntere Studentenleben, bei dessen Schilderung
das Deutschland der frühen 60er-Jahre gut skizziert wird, dazu, dass die Deutschkenntnisse
Kakars nahezu perfekt wurden, so dass er begann, Kurzgeschichten zu schreiben, die in der
Lokalzeitung Mannheimer Morgen veröffentlicht wurden. Für jede Geschichte bekam er 50
Mark, «für mich eine fürstliche Summe, mit der ich mir ein wenig Luxus leisten konnte wie
etwa Buchkäufe und mehr als eine Einkehr in ein Restaurant, wo ich mein Leibgericht
Rumpsteak mit Zwiebeln und Bratkartoffeln ass», denn das von der Familie geschickte
Studiengeld war äusserst knapp bemessen und eher auf die Verpflegung in der Mensa der Uni
ausgerichtet. Auch an das von ihm geschätzte Glas Wein dachte man in Indien bei der
Bemessung des monatlichen Checks sicher nicht. «Im Rückblick verstehe ich meine fünf
Jahre in Deutschland als das, was Erik H. Erikson als ‹psychosoziales Moratorium›
bezeichnet hat, eine freiwillig verlängerte Jugend und Pubertät.»
Am Namen Erikson eröffnet sich der dritte Teil der Autobiografie, der umwegreiche Einstieg
in die psychotherapeutische Ausbildung. In Indien wieder angelangt, bemächtigte sich Kakars
eine tiefe Unzufriedenheit, Wirrnis und Orientierungslosigkeit. Die Befreiung kam aus
unerwarteter Richtung, nämlich in Gestalt des Psychoanalytikers Erik H. Erikson, der das
26 «texte» Januar 2013
Haus von Kamla gemietet hatte, um in Indien Untersuchungen zu seinem Buch Gandhis
Wahrheit durchzuführen. Kakar wohnte zu dieser Zeit in einem Anbau des Hauses, und so
lernte er Erikson kennen. Grosse Hemmungen vor dem berühmten Psychoanalytiker hatte er
offenbar nicht, denn die Kontakte wurden rasch freundschaftlich und entwickelten sich zum
vertrauten Zusammensein: «Wir sassen dann draussen auf dem Balkon mit Blick auf den
Fluss Sabarmati. In einverständigem Schweigen schlürften wir Gin mit Tonic und genossen
den Anblick des uralten Lebens, das sich am Flussufer abspielte. […] Von der Sonne schwarz
gegerbte Wäscher mit Lendenschürzen schlugen unter lautem rhythmischen Gegrunze Stoffe
auf flache Steine; mit ihren dampfenden Kesseln über Holzfeuern übten Färber ihr altes
Handwerk aus; die frisch gefärbten, fünf Meter langen Saris hingen in bunter Farbenmischung
zum Trocknen zwischen Bambusstangen, während die Sonne langsam hinterm Horizont
versank und zinnoberroter Dunst sich zu Grau verdunkelte.» – Und wie war die damalige
psychische Verfassung Sudhir Kakars angesichts dieser postkartenwürdigen Schilderung?
«Ich war 26 Jahre alt, einsam, sehnte mich heftig danach, nach Europa zurückzukehren und
zugleich in Indien bleiben zu können, und war voller höchst hanebüchener Pläne für mein
Leben, wollte so viele Dinge zugleich tun, weil ich nicht wusste, was ich wirklich machen
wollte.» Mit einer rechten Portion Selbstironie – die im Übrigen das Buch locker durchzieht –
schildert dann Kakar, wie es ihm gelang, Erikson in allerletzter Minute vor dessen Abflug an
der Türe des Hotelzimmers «die frohe Kunde zu überbringen, dass ich ihn zu meinem Guru
erwählt hatte». Erikson nahm ihn als Schüler an, allerdings sollte Kakar noch seinen Doktor
in einem Wirtschaftsfach machen. Dies geschah «günstig» in Wien, ein Aufenthalt, den der
Autor mit viel Sympathie für die Wiener, für kauzige Originale, Kaffeehäuser und das Wiener
Leben schildert. Nach dem Doktorat gelangt Kakar auf Umwegen an die Harvard Universität
zu seinem «Guru» Erikson und beginnt als dessen Assistent parallel zu studieren und in
Seminaren Themen wie Organisationslehre zu unterrichten. Crux der Sache war aber, dass er
eigentlich Psychoanalytiker werden wollte, aber über die Tätigkeit an der Harvard Business
School immer weiter in die Managementlehre geriet. Einer psychoanalytischen Ausbildung in
den USA stand vorab die Bestimmung des US-Berufsverbandes im Wege, nur Ärzte zur
Ausbildung zu Psychoanalytikern zuzulassen. So kehrte er nach einem längeren Aufenthalt in
den USA wieder nach Indien an eine Ausbildungsstätte für Management zurück, heiratete und
arbeitete eher lustlos, bis unverhofft die Erlösung aus Deutschland in Form eines Briefes von
Alexander Mitscherlich eintraf, der ihn auf Empfehlung von Erik H. Erikson als
Ausbildungskandidaten für Psychoanalyse an das Sigmund Freud Institut in Frankfurt nehmen
wollte. Zugleich beschaffte ihm Mitscherlich den Kontakt zu einem Forschungsinstitut in
Deutschland, an dem Kakar eine Stelle annehmen konnte, wo er sich speziell mit
Zukunftsforschung und entsprechenden Gutachten und Prognosen für die Wirtschaft
beschäftigte. Daneben begann er bei einem Dozenten des Instituts von Mitscherlich seine
Lehranalyse. So war also Deutschland wieder an der Reihe, ein Land, zu dem er schon bei
seinem ersten Aufenthalt eine spürbare Verbundenheit entwickelte. Doch zurück zur
Psychoanalyse am Mitscherlich-Institut: Man erhält vom Autor auf wenigen Seiten ein gutes
Bild der Weiterentwicklung der Psychoanalyse zu einer Lehre, die weit über die freudsche
individualistische Zentrierung hinausgriff und kulturelle, soziale und gesellschaftspolitische
Bedingungen mit einbezog. Die Schilderung seines Erlebens in den psychoanalytischen
Sitzungen ist für therapeutisch Interessierte sehr aufschlussreich, kommt doch dabei u.a. zum
Ausdruck, dass die sog. Abstinenz des Analytikers – falls sie lege artis praktiziert wird – als
Mangel und eher als Unterdrückung von natürlicher Emotionalität denn als analytisch
bedingte Zurückhaltung des Therapeuten empfunden wird. «Mein Gurumodell verlangte auch,
dass der Analytiker sein Mitgefühl, sein Interesse, seine Wärme und Zuneigung viel offener
zum Ausdruck bringt, als das im psychoanalytischen Modell […] üblich oder gar möglich
war.» Den Unterschied zwischen seinem – sagen wir mal indisch-hinduistischen – Empfinden
und dem Konzept der Psychoanalyse beschreibt er wie folgt:
27 «texte» Januar 2013
«Später wurde mir klar, dass auf einer allgemeineren Ebene viele unserer
abweichenden Konzeptionen die Konsequenz einer tieferen Kluft zwischen unseren
Weltbildern war. Das psychoanalytische Weltbild entsteht durch eine Sichtweise auf
menschliche Erfahrung, die im Wesentlichen eine Kombination des Tragischen mit
dem Ironischen ist. Sie ist insofern tragisch, als sie die menschliche Erfahrung von
Zweideutigkeiten, Unsicherheiten und Absurditäten durchsetzt sieht, in der dem
Menschen kaum eine andere Wahl bleibt, als seine Last an unbeantwortbaren Fragen,
unausweichlichen Konflikten und unbegreiflichen Schicksalsschlägen zu tragen. […]
Dagegen ist die hinduistische Weltsicht im Wesentlichen romantisch. In den Launen
des Schicksals und dem, was als Lebenstragödie erscheint, sieht sie Masken, hinter
denen sich der eigentliche Kern der Person verbirgt, und das ist sat-chit-ananda, Sein,
Bewusstsein, Glückseligkeit. Das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist der
Versuch, diese Essenz zu realisieren.»
Diese Einsicht in die Verschiedenheit westlicher und indischer Anschauungen führte den
Autor, wie er schreibt, zu einem lebenslangen Suchen «nach den Ursprüngen der indischen
Identität im Vergleich oder Kontrast zur Identitätsentwicklung in westlichen Gesellschaften».
Kakar schloss seine Ausbildung am Mitscherlich-Institut ab und war nun berechtigt, sich
erstens Psychoanalytiker zu nennen und zweitens Behandlungen unter Supervision
durchzuführen. Allerdings erfährt man nichts über das Ende seiner Lehranalyse und das nicht
immer leichte Ablösen vom Analytiker und den diese Ablösung begleitenden Wellenschlag.
In Deutschland kommt es nicht zur Praxiseröffnung. Kommerzielle Schwierigkeiten beim
Institut für Zukunftsforschung führen zum Verlust seiner Stelle, er ist arbeitslos und
beschliesst, mit Frau und Kind nach Indien zurückzukehren, um in Delhi «in einem 10m2
kleinen Würfel mit Sperrholzwänden und einer niedrigen Holzdecke» seine Praxis zu
eröffnen. Eine Praxis, die nur spärlich Klienten und Klientinnen sah und sich des öfteren zur
schamanistischen Tätigkeit mit Geisteraustreibung entwickelte. Neben einer «Fehlerquote von
90%» vertiefte sich sein Wissen enorm darüber, wie psychische Störungen von seinen
Landsleuten wahrgenommen werden. Der Leser wird dabei zu einem Exkurs (siehe Anhang)
über die hinduistische Geisterwelt und ihre vielfältigen Einflüsse mitgenommen, die sehr
drastisch sein können. Aus dem Text geht nicht hervor, ob der Autor selbst an die
Geisterexistenz glaubt, behandelt hat er sie jedenfalls wie Realitäten. Immerhin stellt er fest,
dass er ständig über seine (indische) Kultur und die dazu widersprüchlichen Anforderungen
seiner psychoanalytischen Arbeit stolpere. Und beispielsweise die Einladungen zu einem
Essen im Familienkreis seiner Klienten ablehnte. Die Auseinandersetzung zwischen
traditionellen Erwartungen seiner Klientenschaft an einen Guru und den Aktivitäten eines
Psychoanalytikers und die Reflexionen des Autors über seine Zwickmühle zählt für
therapeutisch Interessierte zu den aufschlussreichen Seiten des Buches. Kurz gesagt:
Manches, was sich bei uns als allgemeingültige Wahrheiten der Psychoanalyse präsentiert,
stellt sich in Indien als lokale Betrachtungsweise eines Westeuropäers heraus. Sehr schön
wird dies vom Autor in der Schilderung der Analyse eines 26-jährigen Sozialarbeiters. Das
Zusammenwirken indischer Kultur, indischem Familienverständnis und Heilserwartungen
wird hier aufs Beste dargestellt. Vieles ist anders und manches verblüffend ähnlich. Die von
Kakar für viele indische Klienten diagnostizierte «mütterliche Bezauberung» ist kaum ein
spezifisch indisches Phänomen, sondern wurde schon von Freud unter dem Stichwort der
ödipalen Verführung abgehandelt, doch wenn man Kakar liest, gewinnt man den Eindruck, in
Indien sei die Verbandelung zwischen Mütter und Söhnen besonders intensiv. «In eine Welt
von Müttern eingebettet», umschreibt der Analytiker den Zustand eines Klienten. Die
Schilderung von Teilen dieser Analyse gehört sicher zu den eindringlicheren Passagen des
Buches und zeigt die ganze Tiefe und Vielfältigkeit sowohl des neurotisierenden
Hintergrundes des Klienten als auch die analytische Arbeit des Autors.
28 «texte» Januar 2013
Was bleibt nach der unterhaltsamen und nicht selten fesselnden Lektüre? Es stellt sich
jedoch die Frage, ob das ganze psychoanalytische Instrumentarium und der entsprechende
individualpsychologische Ansatz für indische Klienten und Klientinnen wirklich nützlich und
hilfreich sind. Sudhir Kakar zeigt deutlich, dass er in seiner psychoanalytischen Praxis eine
sehr eigene Arbeitsweise pflegt, «nicht als abstrakte, intellektuelle Übung», sondern als eine
Methode, in der Kultur, Überlieferungen, religiöser Hintergrund seiner Klientinnen und
Klienten und familiäre Bindungen eine wesentlich grössere Rolle spielen als in der
individualistisch zentrierten «westlichen» freudschen Psychoanalyse. So schreibt er denn
auch: «Ich empfand es als eine schwere Verarmung meines Innenlebens, ihnen [den
zahlreichen Familienmitgliedern] nur beiläufige Beachtung als unbedeutende Kleindarsteller
zu schenken oder sie in der analytischen Interpretation zu elterlichen Figuren zu reduzieren.»
Legt man das Buch beiseite und lässt den Inhalt Revue passieren, stellt man fest, dass im
Lichte der jüngsten Nachrichten aus Indien das Leben dort doch geschönt beschrieben wird,
wie auf einer Fotografie mit Unschärfen. Die sozialen Spannungen, die Schranken zwischen
den Kasten, die herrschende Ausgrenzung und die entwürdigende und verächtliche
Behandlung der nicht offensichtlich in der Familie geborgenen Frau in Indien, wie es die
jüngsten Meldungen aus diesem Land vor Augen führen, werden kaum gestreift, während der
Autor ausführlich auf die Kriegsgräuel im Ablösekrieg Pakistans von Indien eingeht, denn
davon war die Grossfamilie, aus der er stammt, direkt betroffen. Wie auch immer, das Buch
«Die Seele der Anderen» lohnt sich zu lesen.
Titel: Seele der Anderen. Mein Leben zwischen Indien und dem Westen.
Autor: Sudhir Kakar
Verlag: C.H. Beck München, 2012
ISBN: 978 3 406 64125 1
Preis: Fr. 36.90
Der Autor wurde 1938 geboren und lebt in Goa, Indien.
Ergänzende Literatur
Wer – knapp und trefflich geschrieben – mehr über das aktuelle Indien erfahren möchte, ist
mit dem Buch «Indien» von Urs Schoettli aus dem NZZ Verlag (2009) gut bedient.
Anhang
«Die bösartigen Geister, von denen ich hier spreche, sind allgemein als Bhuta-Preta bekannt,
obwohl die Hindu-Dämonologie zwischen verschiedenen Kategorien dieser übernatürlichen
Wesen unterscheidet. Zum Beispiel bildet sich der Bhuta aus den Seelen derjenigen, die früh
eines gewaltsamen Todes sterben, während ein Preta der Geist eines Kindes ist, das als
Kleinkind starb oder missgestaltet geboren wurde. Eine dritte Kategorie, die der Pishacha,
steigt aus der mentalen Verfassung einer toten Person auf; ein Pishacha ist zumeist der Geist
eines Mannes, der entweder verrückt, lasterhaft oder gewaltätig war. […] Die Bhuta-Preta
sollen in einem Zwischenreich zwischen der menschlichen Welt und der Welt der
Ahnengeister (Pitri-Lok) existieren. Bis über sie geurteilt ist und ihre karmischen Schulden
getilgt sind, um in die Welt der Ahnengeister eingehen zu können, sehnen sie sich nach einem
menschlichen Körper, in den sie hineinfahren und ihn mit ihrem schändlichen Tun arglistig
krank machen können» (S. 219).
29 «texte» Januar 2013
Wie wir vor lauter Kommunizieren unser Leben verpassen
Autorin: Nina Pauer
Verlag: Fischer (S.), Frankfurt, 2012. 233 S
ISBN: 9783100606303
Preis:
Noch nie haben wir auf so vielen Kanälen gleichzeitig kommuniziert. Vor allem Menschen
zwischen 15 und 35 haben ein zweites, ein virtuelles Ich im Internet, das ihr Leben prägt wie
nichts Vergleichbares zuvor. Wer nicht postet, ist nicht! Wer sich nicht einloggt, bleibt außen
vor. «Wir müssen dieses Ich im Auge behalten, wir müssen nach ihm schauen, wir müssen
erreichbar sein, reagieren können, wenn es etwas von uns will. Wir müssen es füttern,
permanent. Das alles tun wir schon lange nicht mehr ganz freiwillig. Wir haben es nicht mehr
unter Kontrolle. Wir könnten nicht mehr damit aufhören». Nina Pauer erzählt und erklärt
dieses neue Leben. Sie klagt nicht über Facebook & Co., sondern beschreibt die Wirkung
exzessiver und besonders virtueller Kommunikation bis tief in den analogen Alltag hinein.
Dabei trifft sie nicht nur den Nerv der Betroffenen, sondern bringt die seit Langem
einschneidendste Veränderung unserer Gesellschaft und unserer Gegenseitigkeit auf den
Punkt.
Die Autorin Nina Pauer, Jahrgang 1982, studierte Geschichte, Soziologie und Journalistik an
der Universität Hamburg und der Université Michel Montaigne in Bordeaux. Heute ist sie
Redaktorin im Feuilleton der ZEIT.
30 «texte» Januar 2013
__über den Tellerrand hinaus
Der Effekt von Psychotherapie auf das Gehirn
Dr. Susanne Igler
(Philipps-Universität Marburg)
In Deutschland erkranken rund ein Drittel der Menschen mindestens einmal im Leben an
einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung. Psychotherapie ist neben der
Pharmakotherapie eine effektive und weit verbreitet eingesetzte Methode zur Behandlung
dieser Erkrankungen. So tritt Panikstörung bei rund 3-5% auf und ist gekennzeichnet durch
plötzlich einsetzende panische Angst, Herzrasen, Schwitzen und dem Gedanken, sterben zu
müssen oder in Ohnmacht zu fallen.
Eine innovative Studie zum Einfluss von Psychotherapie auf Hirnprozesse bei Patienten mit
Panikstörung wurde unter Leitung von Professor Dr. Tilo Kircher und Dr. Benjamin Straube
federführend in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Philipps-Universität
Marburg überwacht und ausgewertet. Sie erschien unter dem Titel: „Effect of cognitive-
behavioral therapy on neural correlates of fear conditioning in panic disorder“am 1. Januar
2013 in der Zeitschrift „Biological Psychiatry“.
Die Ergebnisse dieser Studie zeigen die besondere Rolle des linken inferior frontalen Kortex
bei der Furchtkonditionierung bei Patienten mit Panikstörung. Patienten zeigen eine
Hyperaktivierung dieser Region vor Therapie im Vergleich zu Gesunden, die sich nach der
Teilnahme an der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) auf das Normal-Niveau reduziert
(Kircher et al., 2013). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass bei Patienten der linke inferior
frontale Gyrus eine erhöhte Verknüpfung (Konnektivität) zu Regionen der Furchtverarbeitung
(u.a., Amygdala, anterior zinguläre Kortex, Insula) aufweist, was auf einen erhöhten
Zusammenhang „kognitiver“ und „emotionaler“ Prozesse bei Patienten mit Panikstörung im
Vergleich zu Gesunden hinweist. Kirchers Studie ist damit die erste, die Effekte von
kognitiver Verhaltenstherapie auf neurale Korrelate der Furchtkonditionierung nachweisen
konnte. Kognitive Verhaltenstherapie scheint demnach nicht primär auf emotionale Prozesse,
sondern eher auf kognitive Prozesse verbunden mit dem linken inferior frontalen Gyrus, zu
wirken.
Diese Erkenntnis soll helfen, Therapieverfahren weiter zu optimieren, um Patienten mit
Panikstörung und deren Folgen (z.B., Agoraphobie) noch effizienter therapieren zu können.
Weitere Analysen dazu sollen zum Beispiel Aufschluss darüber geben, ob genetische
Prädispositionen der Patienten die beschriebenen neuralen Prozesse sowie den Erfolg der
Therapie beeinflussen (siehe Reif et al., im Druck). Andere Auswertestrategien fokussieren
hingegen eher auf Unterschiede in der neuralen Verarbeitung zwischen Patienten, die eine
bessere oder schlechtere Wirkung von kognitiver Verhaltenstherapie bereits vor der Therapie
vorhersagen. Weitere Informationen: Volltext auf www.psychologieforum.ch. Stichwort
Verhaltenstherapie.
Ansprechpartner: Prof. Dr. Tilo Kircher, E-Mail: [email protected]
31 «texte» Januar 2013
Online-Therapie Behandlung
Im Rahmen des Psychotherapeutischen Zentrums der Universität Zürich führen wir Internet-
basierte Therapien für
Trauma - Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Depression
Schwere Trauer
sind Therapien, die aus einer begrenzten Anzahl von 12 bis 16 Schreibsitzungen bestehen und
auf vorgegebene Behandlungsschritte beruhen. Jeder Behandlungsphase geht eine
ausführliche Einleitung voraus, die den Sinn einzelner Übungen erklärt. Die Aufgaben
bearbeitet der Klient zu den selbst festgelegten Terminen zweimal wöchentlich. Sie werden
vom Therapeuten innerhalb eines Arbeitstages beantwortet und kommentiert. Diese
Interaktion findet innerhalb eines passwortgeschützten Internetportals statt, das strengsten
Sicherheitsvorkehrungen genügt.
Es sind manualisierte, das heisst, strukturierte und auf Module aufbauende Therapien mit
kognitiv-verhaltenstherapeutischer Grundlage, die sich in verschiedenen Studien für die
Anwendung als Internet-Therapien als besonders geeignet erwiesen haben. Ziel der
kognitiven Verhaltenstherapie ist es, ein besseres Verständnis und Einblick in die Erkrankung
zu erhalten. Patienten werden ermutigt ihre problematischen Gedanken zu hinterfragen,
hinderliche Verhaltensmuster zu erkennen und bessere Strategien zu erarbeiten um mit
schwierigen Lebenssituationen umzugehen. Der Therapeut unterstützt den Klienten darin,
korrektive, positive Lebenserfahrungen zu machen, wichtige Lebensziele wiederzufinden,
sowie Massnahmen zu planen und durchzuführen.
Internet-Therapie von Trauma - Posttraumatischer Belastungsstörung
Diese Behandlung richtet sich an Menschen, die eine traumatische Erfahrung vor mindestens
drei Monaten hatten, worunter sie immer noch leiden.
Sie bearbeiten wöchentlich zwei Schreibaufgaben zu 45 Minuten mit festen Schreibterminen,
die Sie vorher mit Ihrem Therapeuten vereinbart haben. Die Behandlung besteht aus
insgesamt 12 Schreibaufgaben. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Wirkung des
Schreibens besonders verstärkt wird, wenn auf bestimmte Weise und in bestimmter
Reihenfolge über diese Erfahrungen geschrieben wird. Aufgrund dessen wird die Behandlung
in drei Phasen unterteilt:
1. Selbstkonfrontation Selbstkonfrontation mit den schmerzhaften Erinnerungen, Gedanken und Gefühlen bezüglich
des traumatischen Ereignisses. Sie werden gebeten, vier mal die schlimmsten Momente, ohne
Rücksicht auf Grammatik und chronologische Reihenfolge zu schildern. Diese ersten Texte
haben an sich schon eine heilende Wirkung.
2. Kognitive Umstrukturierung
Auch in der zweiten Phase werden vier Texte geschrieben. Sie arbeiten Ihre Erfahrungen
nochmals in Form eines unterstützenden Briefes an einen fiktiven Freund auf, dem das
32 «texte» Januar 2013
gleiche widerfahren ist wie Ihnen. Sie entwickeln sich auf diese Weise vom Opfer zum
Berater.
3. Schicksal teilen
In der letzten Phase werden zwei Texte geschrieben, die zusammen einen Brief bilden. Dieser
kann (muss aber nicht) nach Beendigung der Behandlung abgeschickt werden. Sinn und
Zweck ist es, die Vergangenheit in einem würdigen Dokument festzuhalten. Mit dem
Verschliessen des Briefes wird auch mit einem Teil der Vergangenheit abgeschlossen. Die
Vergangenheit ist damit nicht vergessen oder zur Seite geschoben, sondern hat einen eigenen
Platz bekommen und hat dadurch weniger Einfluss auf die Gegenwart.
Internet-Therapie von Depression
Die Behandlung richtet sich an Menschen, die an depressiver Stimmung leiden. Die
Grundlage für diese Internet-Therapie ist die kognitive Verhaltenstherapie, welche in der
normalen Sprechzimmertherapie eine wissenschaftlich überprüfte Therapie ist, die eine hohe
Wirksamkeit aufweist. Der Klient bearbeitet wöchentlich zwei Schreibaufgaben zu 45
Minuten mit festen Schreibterminen, die vorher mit dem Therapeuten vereinbart werden. Die
Behandlung besteht aus insgesamt 16 Schreibaufgaben, aufgeteilt in fünf Therapiephasen:
1. In welchen Situationen bin ich depressiv? Hier werden Lebensphasen betrachtet, in welchen depressive Stimmungen auftreten und
welchen Einfluss diese auf das Leben nehmen.
2. Aufbau positiver Aktivitäten Depressive Menschen haben häufig wenig Struktur in ihrem Alltag und wissen nicht so
richtig, wohin es gehen soll in ihrem Leben. In dieser Phase erarbeiten Sie mit ihrem
Therapeuten neue Lebensziele und Alltagsstrukturen.
3. Bewusstwerdung und Veränderung von negativen und automatischen Gedanken Depressive Menschen neigen gehäuft zu negativen Gedanken, wie beispielsweise
Schuldgefühle oder selbstabwertendem Denken. Mit Hilfe dieses Therapiemodules sollen
diese oft automatischen Gedanken erkannt werden und alternative, hilfreichere Gedanken
gelernt werden.
4. Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen Depressive Menschen haben häufig Schwierigkeiten Grenzen zu setzen, Nein zu sagen,
Kontakte zu knüpfen, aber auch positive Gefühle zu äussern. Hier werden Sie ermutigt, neue
Erfahrungen in Konfliktsituationen zu machen und neu erlernte Verhaltensweisen einzuüben.
5. Rückfallprävention In dieser Phase soll ein "Notfallkoffer" mit den Erfahrungen aus der Therapie erstellt werden.
Internet-Therapie von anhaltender schwerer Trauer
Diese Behandlung richtet sich an Menschen, die einen traumatischen Verlust erlitten haben
und nach sechs oder mehr Monaten noch darunter leiden. Diese Menschen erleben den
schweren Verlust als ein persönliches Trauma. Aus Studien wissen wir, dass sich
Verlusterlebnisse / Schwere Trauer auf die gleiche Art und Weise behandeln lassen wie die
Posttraumatische Belastungsstörung. Aus diesem Grunde besteht diese Internet-Therapie aus
denselben Schritten und Behandlungsphasen wie sie weiter oben beschrieben wurden.
http://www.psychologie.uzh.ch/fachrichtungen/psypath/Psychotherapie1/Onlintherapie.html
33 «texte» Januar 2013
__Mitteilungen
FAMILIE
– SCHICKSAL ODER WAHL
Samstag, 16. März 2013 • 9.30 – 17.00 Uhr
ISAPZURICH • Hochstrasse 38, 8044 Zürich
(Nähe Universitätsquartier)
VORTRÄGE, WORKSHOPS, PODIUMSGESPRÄCH
Moderation: Dr. phil. Paul Brutsche
Dr. phil. Kathrin Asper
lic. phil. Marco della Chiesa
lic. phil. Ursula Kübler
Prof. Dr. phil. Urs Mehlin
Dr. phil. Isabelle Meier
Dipl.-Psych. Dafnea Sorgedrager
Jeder Mensch hat eine Familie – eine Mutter, einen Vater, Vorfahren, Verwandte… ob er sie
kennt oder nicht. Die Familie – anwesend oder abwesend – ist bestimmend für unsere
körperliche und psychische Identität. Aber nicht nur unsere bluts- und angeheiratete
Verwandtschaft prägt uns. Wir sind auch Teil zahlreicher ideeller und sozialer Systeme mit
familienähnlichen Funktionen.
Eltern, Geschwister und Kinder zu haben sind menschliche Ur-erfahrungen, archetpiysche
beziehungsformen. Auch wer ohne leibliche Eltern aufgewachsen ist, kann einer Mutter, einem
Vater in der Aussenwelt und in sich selber begegnen; in einem Menschen, einer Gruppe, einer
Idee, im Traum, in der Natur….
Wer zur Familie gezählt wird und welche Rolle jedes einzelne Familienmitglied spielt, ist jedoch
in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich, eine Tatsache, die gerade in unserer
multikulturellen Gesellschaft von Bedeutung ist.
Eintritt inklusive Café, Gipfeli, kleiner Mittagslunch
Verbindliche Anmeldung bis zum 2. März 2013 Siehe Rückseite
Kontakte
[email protected] Tel. +41 (0)76 380 34 43 www.isapzurich.com
34 «texte» Januar 2013
PROGRAMM MĂRZTAGUNG 2013 FAMILIE - SCHICKSAL ODER WAHL
9.30 – 10.00 Türöffnung, Kasse, Café und Gipfeli
10.00 – 10.15 Dr.phil. Paul Brutsche – Einleitung und Vorstellung der Workshops
10.15 – 11.15 Dipl.- Psych. Dafnea Sorgedrager
Familienerbe – Ressourcen und Belastungen
11.15 – 11.30 Pause und Einschreibung in Workshops
11.30 – 12.30 Dr. phil. Isabelle Meier
Archetypische Dimensionen der Grosseltern-Enkelkind-Beziehung
Jungscher Blickwinkel auf Geburt, Identität und Tod hinsichtlich der Grosseltern-Elternkind-Beziehung. Mit Beispielen aus Kultur und klinischer Praxis.
12.30 – 13.15 Kleiner Mittagslunch, danach Workshops
13.15 – 15.15 WORKSHOPS
Dr. phil Kathrin Asper
Wohl und Weh in der Familie
Wir befassen uns mit einschlägigen Familienthemen, wobei sich alle TeilnehmerInnen einbringen können. Dazu begleiten uns Märchentexte, welche auf die ewig menschliche Note dieser Thematik aufmerksam machen.
lic. phil. Ursula Kübler
Migrantenfamilien: Probleme, Belastung, Bereicherung?
Was beobachten wir, wenn wir mit Migrantenfamilien therapeutisch arbeiten? Gestaltet sich die Arbeit anders? Traditionelle schweizerisch-europäische Wertvorstellungen begegnen anderen Kulturen, Traditionen und können eine Auseinandersetzung in uns auslösen, sei dies in uns persönlich, in unserer Identität als Mensch wie auch in unserer Identität als PsychotherapeutIn. Wie hilfreich ist dabei die analytische Psychologie mit ihrem Konzept der Archetypen und des kollektiven Unbewussten?
35 «texte» Januar 2013
lic. phil Marco Della Chiesa
„Wenn dein Stammbaum sprechen könnte“ – Ahnendrama
Im Ahnendrama versuchen wir die Ahnen psychodramatisch zu verlebendigen. Wir können unser Genogramm, unseren Stammbaum oder Teile davon aufstellen und mit den Figuren in einen Dialog treten. Auch wenn wir unsere Grosseltern nicht gekannt haben, können wir mit ihnen, bzw. mit unseren inneren Repräsentationen dieser Figuren in Kontakt oder in einen Rollenwechsel treten.
Prof. Dr. phil. Urs Mehlin
Der Beitrag des Vaters
Archetypische ebenso wie persönliche Funktionen des Vaters sollen angesprochen und diskutiert werden. Besonders interessieren uns dabei die möglichen Folgen tyrannischer, schwacher oder abwesender Väter für deren Familien.
15.15-15.30 Pause
15.30-17.00 PODIUMSGESPRÄCH
REFERENTINNEN UND REFERENTEN
Kathrin Asper, Dr. phil. Psychotherapeutin in eigener Praxis in Meilen. Dozentin,
Lehranalytikerin und Supervisorin am ISAPZURICH. Buchautorin und Vortragstätigkeit mit
Schwerpunktthemen: Selbstwertstörungen, psychotherapeutische Fragen, Kunst, Literatur.
Brutsche Paul, Dr. phil. Nach Schulen in Basel Ausbildung in Philosophie und Theologie in
Freiburg, Paris und Innsbruck. Später Studium der Psychologie an der Universität Zürich und
am C.G. Jung Institut. Früherer Präsident der Schweiz. Gesellschaft für Analytische
Psychologie, sowie des C.G. Jung-Instituts Zürich und des ISAPZURICH. Lehr- und
Supervisionsanalytiker. Vortragstätigkeit mit den thematischen Akzenten Kunst, Kreativität
und Bilderdeutung.
Della Chiesa Marco, lic. phil. Psychotherapeut ASP. Psychodrama-Ausbildung am Moreno
Institut Stuttgart; Analytische Ausbildung am C.G. Jung-Institut Zürich. Psycho-
therapeutische Arbeit mit Gruppen in psychiatrischen Kliniken (Hohenegg) und im
Suchtbereich. Professor emerit. für Psychologie, Soziologie und Kommunikation an der
Fachhochschule Nordwestschweiz. Eigene Praxis für Psychotherapie und Supervision in
Zürich.
Ursula Kübler, lic.phil., Studium der Psychologie und Religionsethnologie an der
Universität Zürich. Analytische Grundausbildung, Weiterbildung in Traumatherapie.
Vorstandsfrau und Redakteurin der internen Zeitschrift der schweizerischen
Märchengesellschaft (SMG). Arbeitet selbständig und angestellt als Psychotherapeutin für
Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Dozentin und Lehranalytikerin am ISAP Zürich.
Mehlin Urs H., Prof. Dr. phil. Studium in Germanistik, französischer Literaturwissenschaft
und Psychologie an Uni Basel. Tätigkeit am Institut für Angewandte Psychologie und am
36 «texte» Januar 2013
Oberseminar des Kt. Zürich als Dozent für Pädagogik und Psychologie, Musiktheater sowie
Lehrtätigkeit an der Universität Zürich. Seit Diplomierung 1980 am C.G. Jung-Institut
regelmässige Unterrichtstätigkeit an Seminarien und mit Vorlesungen in den Bereichen
Märchen, Entwicklung, Erziehung. Kunst, Literatur, Film und Psychologie.
Isabelle Meier, Dr. phil. Ausbildung am C.G.Jung-Institut Zürich. Sie arbeitet in freier
Praxis in Zürich. Sie bildete sich auch als Therapeutin für Katathymes Bilderleben aus. Sie ist
Lehranalytikerin und Supervisorin am ISAPZURICH und dessen gegenwärtige Co-
Präsidentin. Mitherausgeberin des Buches „Seele und Forschung“ (Bern: Karger Verlag,
2006) und Schweizer Verantwortliche für die Fachzeitschrift ‚Analytische Psychologie’.
Sorgedrager Dafnea, Dipl.-Psych., Studium der Psychologie, Diplom in Tiefenpsychologie
und Familientherapie. Psychotherapeutische Praxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Ausbildnerin und Supervisorin für Kinder- und Erwachsenentherapeuten. Seminare und
Vortragstätigkeit v.a. im Bereich traumatischer Auswirkungen der Vorfahren auf die
Nachkommen. Autorin von „Familienwahrheiten – Spurensuche in uns“ (2007).
ANMELDUNG MÄRZTAGUNG 2013 • Familie – Schicksal oder Wahl
Samstag, 16. März 2013 • 9.30 – 17.00 Uhr
ISAPZURICH • Hochstrasse 38, 8044 Zürich (Nähe Universitätsquartier)
Verbindliche Anmeldung bis 2. März 2013
Per Post ISAPZURICH Hochstrasse 38, CH-8044 Zürich
Fax +41 (0)43 268 56 19
Email [email protected]
Name Email Vorname Tel
Adresse Fax
Eintritt CHF Allgemein 120.- AHV/IV 80.-
Studierende 30.- ISAP-Studierende und Fakultät 20.-
Eintritt inklusiv Café, Gipfeli und
kleiner Mittagslunch
Zahlung in bar an der
Tageskasse
Unterschrift
37 «texte» Januar 2013
__Zu guter Letzt
DIE EWIGKEITEN fuhren
ihm ins Gesicht und drüber
hinaus.
langsam löschte ein Brand
alles Gekerzte,
ein Grün, nicht von hier,
umflaumte das Kinn
des Steins, den die Waisen
begruben und wieder
begruben.
Paul Celan
Aus „Lichtzwang“ Suhrkamp, 1970