verletzungsspuren an mÄnnlichen und weirlichen...

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Anthrop. Közi. 18. (1974) 65—68. VERLETZUNGSSPUREN AN MÄNNLICHEN UND WEIRLICHEN MENSCHENRESTEN UND IHRE REZIEIIUNG ZUM GEGENWÄRTIGEN SEXUALDIMORPHISMUS DES SKELETTS von H. G rimm (Bereich Anthropologie des Museum für Naturkunde an der Humboldt-Universität, Berlin) Die Geschlechtsdiagnose an menschlichen Skelettresten aus urgeschichtli- chen oder historischen Zeitabschnitten geschieht, von spezifischen Form- qualitäten des Beckens abgesehen, vorwiegend nach dem robusteren, relief- reicheren Charakter männlicher Knochen bzw. dem grazileren, weniger „Muskelmarken“ aufweisenden Charakter weiblicher Knochen. Sie erfolgt im anthropologischen oder gerichtsmedizinischen Gutachten möglichst objektiv nach einer immer erneut durchgeprüften, heute auch die Diskriminanzanalyse biometrischer Daten heranziehenden Methodik (A csádi —N emeskéri 1970, K rogmán 1962). Die für den individuellen Rest immer notwendige Alternativ- entscheidung „männlich oder weiblich“ bzw. „eher männlich als weiblich” oder „eher weiblich als männlich“ (falls nicht „Geschlecht unbestimmbar“ notiert werden muß) kann bei Kenntnis der populationsspezifischen Ausprägung der Sexualcharaktere sogar als „Sexualisationsgrad“ semi-quantitativ ausgedrückt werden. Wir verdanken J. N emeskéri sowohl eine Anleitung zur Ermittlung des Sexualisationsgrades wie auch Beispiele der unterschiedlichen Sexualisation in zeitlich oder räumlich getrennten Populationen. Die Zuteilung zu einem der beiden Geschlechter wird oft auch durch den archäologischen Befund (Bestattungsform, Beigaben usw.) erleichtert. Man kann also die Häufigkeit von Knochenalterationen als Resultat von Gewalt- einwirkungen auf den menschlichen Körper (Unfall oder Aggression) getrennt für beide Geschlechter untersuchen (methodenkritische Erörterungen hierzu siehe bei G rimm — im Druck b), Wären nun Festigkeitseigenschaften allein maßgebend, so müßten sich solche Spuren traumatischen Geschehens an den weiblichen (grazileren) Skelettresten häufiger finden. Neben dem im Vergleich zum Mann geringeren Knochenquerschnitt ist das geringere Trägheitsmoment (moment of inertia bzw. polar moment of inertia) in Festigkeitsuntersuchungen an Knochen auch experimentell nachgewiesen (für die Unterschenkelknochen z. B. von K imura 1971). In einer vorangehenden Mitteilung (G rimm —Mohr -S iedentopf 1970) wurde aber an 199 geschlechtsdiagnostizierten Fällen gezeigt, daß bei Reihung nach kulturgeschichtlichen Perioden ein absteigender Trend für die Häufigkeit von Knochenalterationen an weiblichen Skelettresten seit dem Neolithikum nachweisbar ist. Wenn der gesellschaftliche Faktor der Arbeitsteilung der Geschlechter eine Rolle spielt, bedurfte das Skelett der Frau immer weniger einer hohen Festigkeit gegenüber traumatisierenden Einwirkungen. Es unter- lag jedenfalls weniger einer darauf gerichteten Selektion. Der fortpflanzungs- biologisch bedingte Sexualdimorphismus am menschlichen Skelett mag dem- nach durch die Arbeitsteilung akzentuiert worden sein. 5 Anthropologiai Közlemények 18 65

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A n th ro p . Közi. 18. (1974) 65— 68.

VERLETZUNGSSPUREN AN MÄNNLICHEN UND WEIRLICHEN MENSCHENRESTEN

UND IHRE REZIEIIUNG ZUM GEGENWÄRTIGEN SEXUALDIMORPHISMUS DES SKELETTS

v o n H . G rim m

(B ereich A nthropo log ie des M useum fü r N a tu rk u n d e an der H u m b o ld t-U n iv e rs itä t, B erlin )

Die Geschlechtsdiagnose an m enschlichen Skele t tres ten aus urgeschichtli- chen oder his torischen Z e itabschn it ten geschieht, von spezifischen F o rm ­q u a l i tä te n des Beckens abgesehen, vorw iegend nach dem robus te ren , relief­re icheren C h arak te r m ännlicher K nochen bzw. dem grazileren, weniger „M u sk e lm ark en “ aufweisenden C ha rak te r weiblicher K nochen . Sie erfolgt im an th ropo log ischen oder gerichtsm edizin ischen G u tach ten möglichst ob jek tiv nach einer im m er e rneu t du rchgep rü ften , h eu te auch die D isk r im inanzana lyse b iom etr ischer D a te n heranziehenden M ethodik (A csádi— N e m e s k é r i 1970, K rogmán 1962). Die für den individuellen R est im m er notw endige A l te rn a t iv ­en tsche idung „m än n lich oder w eiblich“ bzw. „eher m ännlich als w eiblich” oder „ehe r weiblich als m änn lich“ (falls n ich t „Geschlecht u n b e s t im m b a r“ no t ie r t w erden m uß) k an n bei K enn tn is der populationsspezif ischen A usp rägung der Sexua lcha rak te re sogar als „S exu a l isa t io n sg rad “ sem i-q u an t i ta t iv ausged rück t w erden . W ir v e rd an k en J . N e m e sk é r i sowohl eine A nleitung zur E rm i t t lu n g des Sexualisa tionsgrades wie auch Beispiele der untersch ied lichen Sexualisation in zeitlich oder räum lich g e trenn ten Popu la t ionen .

Die Zu te ilung zu einem der beiden Geschlechter wird oft auch du rch den archäologischen B efund (B es ta t tu n g sfo rm , Beigaben usw.) e rle ich te rt . Man kann also die H äufigke it von K n o ch en a l te ra t io n en als R e su l ta t von G ew alt­e inw irkungen au f den m enschlichen K örper (Unfall oder Aggression) getrennt für beide Geschlechter un te rsuchen (m ethodenkri t ische E rö r te ru n g e n hierzu siehe bei Grimm — im D ruck b), W ären n u n Festigkeitse igenschaften allein m aßgebend , so m ü ß te n sich solche Spuren t ra u m a tisc h e n Geschehens an den weiblichen (grazileren) Skele ttresten häufiger f inden. Neben dem im Vergleich zum M ann geringeren K nochen q u ersch n i t t ist das geringere T räg h e i tsm o m en t (m om ent of iner t ia bzw. polar m om en t of inertia) in F es t igke itsun te rsuchungen an K nochen auch experim entell nachgewiesen (für die U nte rschenke lknochen z. B. von K im ura 1971).

In e iner v o rangehenden M itte ilung (Grim m — Mohr-S i e d e n t o p f 1970) w urde aber an 199 geschlechtsdiagnostiz ierten Fällen gezeigt, d aß bei R e ihung nach ku ltu rgesch ich tlichen Perioden ein absteigender T rend für die H äufigke it von K n o ch en a lte ra t ionen an weiblichen S ke le t tres ten seit dem N eoli th ikum nachw eisba r ist. W enn der gesellschaftliche F a k to r der A rbe its te i lung der G eschlechter eine Rolle spielt, bedu rf te das Skele tt der F ra u im m er weniger einer hohen Festigkeit gegenüber t r au m a tis ie ren d en E inw irkungen . Es u n te r ­lag jedenfalls weniger einer d a ra u f ger ich te ten Selektion. Der fo r tp f lan zu n g s ­biologisch bed ingte Sexua ld im orphism us am menschlichen Skele tt m ag d e m ­nach du rch die A rbe its te ilung akzen tu ie r t w orden sein.

5 Anthropologiai Közlemények 18 65

Mohr konnte die 199 geschlech tsd iagnostiz ierten Fälle einem von ihr zu- sa m m engestellten „ F ra k tu re n k a ta lo g “ m it insgesam t 647 N um m ern en tnehm en . Als das M aterial aus allen K u ltu rpe r ioden vom A ltpa läo li th ikum his zur frühen Neuzeit a u f ru n d 1000 N u m m ern angew achsen war, befanden sich u n te r ihnen 427 geschlechtsdiagnostiz ierte Fälle (inzwischen ist unser K a ta lo g der in der L i te ra tu r beschriebenen F ra k tu re n und Läsionen a u f über 1600 N um m ern angew achsen). Die in der M itte ls te inzeit beg innende Divergenz in der H äufigkeit von T rau m a tism en kann n u n m e h r m it erhöh ter S icherheit nachgewiesen w erden , in der A bbildung sind die nach W e b e r (1967) e rm i t te l ­ten K onfidenzgrenzen für eine I r r tum sw ahrsche in lichke it von 1% als obere und un te re Grenze des schraffierten Feldes wiedergegeben: Der Anteil der V erle tzungsspuren bei M ännern füh rt ( tro tz größerer R obusthe it der m ä n n ­lichen K nochen bzw. des männlichen K örperbaus!) seit dem M esolith ikum weit da rüber h inaus (Abb. 1, Tab. 1).

Die A bbildung 1 b r ing t im Säulendiagram am rech ten R an d auch einen Vergleich aus der G egenw artsbevölkerung (nach M ö r l 1956), w onach die geringere Zahl der K nochenverle tzungen bei der F ra u am Beispiel der Schädel­f rak tu ren auch in der hoch industr ia lis ierten Gesellschaftsform w eite rbes teh t .

Soweit in der L i te ra tu r auch bei den ohnehin seltener aufgefundenen und u n te rsu ch ten R esten von Jugend lichen und K in d ern schon eine G eschlechts­diagnose gewagt w urde , scheint das G esch lech terverhältn is anzudeu ten , d a ß die von uns v e rm u te te unterschiedliche E xposit ion schon im K indesa lte r v o r ­lag (G rimm 1972). U n te r 39 Fällen aus dem Kindes- und Jug en d a l te r , die unse r K a ta log je tz t e n th ä l t , ergeben sich 10 als m änn lich u n d nu r 4 als weiblich

Tabelle 1

Ü bersicht über 427 geschlechtsdiagnostizierte m enschliche Skelettreste m it trau m atisch en V eränderungen (Sam m elstatistik aus der L ite ra tu r)

1. táblázat. Á ttek in tés 427 sérülési e lváltozásokat m u ta tó , m eg h a táro zo tt nem ű em beri cson t­m aradványró l (irodalm i ad a tg y ű jtés)

P erio d enK orszakok

V erle tzu n g ssp u ren

an weibli-a n m än n lich en ! chen

K onfidenzgrenzen fü r den w eib lichen A n te il fü r

l x = 1%A nők részesedésének

konfidencia határa la = 1%.

S k eletten S"T ülésnyomok

fé r f i női

( sont vázakon

Paleolith ikum 10 (40.0% ) 15 44,0— 93,1%M esolithikum 6 (66,7% ) 3 O

i Ul © \0

N eolithikum 48 (78 7 % ) 13 10,2— 38,6%A eneolithikum u. B ronzezeit. Aeneolitkorszak

és bronzkor 31 (73,8% ) 11 11.9— 45,7%

Frühe Eisenzeit. K orai vaskor 16 (69 ,6% ) 7 11,1— 59,3%

Röm ische K aiserzeit. R óm ai császárkor 43 (87,8% ) 6 3,7— 28,6%

V ölkerw anderungszeit. Népvándorláskora 25 (89,3) 3 1,6— 32,5%Frühe M itte lälter. Koraközépkor 138 (81,2% ) 32 16,3— 32,4%

Spätes M ittelalter. Késoközépkor 18 (90,0% ) 2 23,3— 76,7%

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Abb. 1. — 1. ábra

diagnostiz ierte Fälle (G rimm — im Druck a). E rs t be i E inbeziehung von w eite­ren zwei „eh e r m änn lichen“ Fällen und bei E in rä u m u n g einer I r r tu m sw a h r ­scheinlichkeit von 5 % w ürde sich ein schwach gesicherter U nterschied zwischen der G efährdung von M ädchen und K n ab en ergeben. Die p rozen tua len Konfi- denzgrenzen liegen für die weiblichen In d iv id u en zwischen 10,5 und 49 ,9% , für die m ännlichen zwischen 50,1 u n d 89 ,5% . Die M ateria lsam m lung wird w eitergeführt .

L IT E R A T U R

A csädi , Gy .— N e m e s k é r i J . (1970): H isto ry of h u m an life sp an and m o rta lity . — A kadém iai K iadó , B u d ap est.

Grim m , H. (1972): Die G efäh rdung der K inder und Ju g en d lich en du rch U nfälle u n d A ggres­sion in ur- u n d frü h g esch ich tlich e r Zeit. — A rztl. Ju g d k d e 63; 372 — 380.

- (Im D ruck a ): U nfa ll u n d A ggression als B edrohung des Lebens im K indes- u n d Ju g e n d ­a lte r n ach A ussagen der u rgesch ich tlichen u n d h is to risch en S k ele ttreste . — F estsch rif t V a l s i k .

— (Im D ruck 6): N eue E rgebnisse über G esch lech tsun tersch iede in der H äu fig k eit von K noch en v erle tzu n g en in u rgesch ich tlichem und h is to risch em S kele ttm a teria l. — Bio- m etr. Z.

Grimm , H .— Mo h r -S i e d e n t o p f , A. (1970): G eschlechtsspezifische H äufigkeitsun tersch iede von T rau m en am S k e le tt ur- u n d frü h g esch ich tlich e r M enschen u n d ihre B edeu tung fü r den Sexuald im orph ism us der M enschen. — Biol. R u n d sc h a u 8; 194— 195.

K im ura , T. (1971): C ross-section of hu m an low er leg bones view ed from s tre n g th of m ateria ls. — J . A n th ro p . Soc. N ippon 79; 323 — 336.K rogman , W. M. (1962): The h u m an skeleton in forensic m edicine. — Springfield, Illinois. Mörl , F . (1956): Die allgem eine L ehre von den F ra k tu re n u n d L ux atio n en . — B erlin . — zit.

n. B ü r g e r , M. (1958): G eschlecht und K ran k h e it. — M ünchen, p. 407—408.W e b e r , E . (1967): G ru n d riß der biologischen S ta tis tik . 6. A ufl. — Fischer, Jen a . Taf. 8, S.

611.

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S É R Ü L É S I NY OM O K F É R F I É S N Ő I CSO N TM A R A D V Á N Y O K O N ÉS K A PC SO L A T U K A CSONTVÁZ JE L E N K O R I N E M I D IM O R FIZ M U SÁ H O Z

I r ta : G rim m , H ans

(Ö sszefoglalás)

Az em beri c so n tv ázm arad v án y o k o n észle lhető tö rések e t és sérü léseket az ő sk ő k orszak tó l kezdve egészen a későközépkorig az irodalom ból m ár ö sszeállíto tták . A m in teg y 1000 szám ot ta r ta lm a z ó k a ta ló g u s 436 esetben ad nem i d iagnózist. A női cson tváz fokozódó gracilizálódása fo ly tán sz ilárdsági szem pontbó l a női cso n to k o n tö b b sérülésnek kellene lennie. E n n ek éppen az ellenkezője ta p a s z ta lh a tó ! A m ezo lith ik u m tó l kezdve a leányok és asszonyok cson tsérü lései­nek g y akorisága csökkenő tre n d e t m u ta t. E lv b e n hasonló a he lyzet k o ru n k b a n p é ld áu l a kopo­n y a tö ré sek terén . A nem ek m u n k am eg o sztása valószínű leg a női nem nél k o n trasze lek c ió t e red­m én y eze tt a ro b u sz tic itá ssal szem ben. Ily m ódon a szaporodásbio lógiá tó l függő nem i dim or- iizm u s az em beri cson tvázon h an g sú ly o zo ttan je len tk eze tt.

A szerző címe: A nschr. d. Verf.:

P r o f . D r . D r . H. GrimmB ereich A nthropologieD D R-104 B erlin , F ried rich str. 133 /IIL

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