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Cher M. Le Premier Ministre verum schreibt an Jean-Marc Ayrault Überwindet das Misstrauen! Zu keiner Zeit haben Franzosen und Deutsche so harmonisch miteinander gelebt wie heute. Gesellschaft und Wirtschaft beider Staaten sind aufs Engste zusammengewachsen. Frankreich und Deutschland sind das Herz der EU und der Motor der europäischen Einigung. Doch mit Ausbruch der weltweiten Finanzkrise hat sich ein Graben des Misstrauens zwischen den Regierenden im Elysée-Palast und dem Kanzleramt geöffnet. Präsident Hollande vertraut auf Staatsdirigismus à la Colbert und auf Keynes, während Kanzlerin Merkel Sparanstrengung mit Augenmaß und mehr Marktwirtschaft anmahnt. Mit ernstem Willen und einer guten Portion gegenseitigen Vertrauens lassen sich diese unterschiedlichen Politikansätze verbinden. Andernfalls heizt man die Euro-Krise wieder an und spielt den Extremisten in Südeuropa in die Hände. Lesen Sie unseren Brief an den französischen Premierminister Jean-Marc Ayrault. Seite 10 verum Magazin für Wirtschaft, Politik, Kultur, Gesellschaft Nr. 2, MAI 2013

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Page 1: verum no 2

CherM. LePremierMinistreverum schreibt an Jean-Marc Ayrault

Überwindet das Misstrauen!Zu keiner Zeit haben Franzosen und Deutsche so harmonisch miteinander gelebt wie heute. Gesellschaft und Wirtschaft beider Staaten sind aufs Engste zusammengewachsen.Frankreich und Deutschland sind das Herz der EU und der Motor der europäischen Einigung.Doch mit Ausbruch der weltweiten Finanzkrise hat sich ein Graben des Misstrauens zwischen den Regierenden im Elysée-Palast und dem Kanzleramt geöffnet. Präsident Hollande vertraut auf Staatsdirigismus à la Colbert und auf Keynes, während Kanzlerin Merkel Sparanstrengung mit Augenmaß und mehr Marktwirtschaft anmahnt. Mit ernstem Willen und einer guten Portion gegenseitigen Vertrauens lassen sich diese unterschiedlichen Politikansätze verbinden. Andernfalls heizt man die Euro-Krise wieder an und spielt den Extremisten in Südeuropa in die Hände. Lesen Sie unseren Brief an den französischen Premierminister Jean-Marc Ayrault. Seite 10

verumMagazin für Wirtschaft, Politik, Kultur, Gesellschaft

Nr. 2, MAI 2013

Page 2: verum no 2

Der Big Bang wird überhörtController und Personaljuristen treiben Deutschlands Unternehmen in die Sackgasse

Cher Monsieur Le Premier MinistreOffener Brief an Jean-Marc Ayrault

HSH-NordbankFlammender Appel von Werner Marnette an Thomas Mirow

Der Nimbus verblasstDeutschlands Universitäten auf dem absteigenden Ast

LesermeinungDie ersten Reaktionen

Das Jahrhundert der HirnforschungMit Milliardenaufwand sind Wissenschaftler dem Ge-heimnis des Komplexesten unserer Organe auf die Spur

Schicksale zweier WeltunternehmenHoechst und Bayer vor 150 Jahren gegründet

Deutschlands Denker verlieren den ÜberblickDie zeitgenössische Philosophie gehorcht den Gesetzen des (Medien-)Markts

WandlungenKunststrecke: Die Berliner Malerin Christiane Lillge

verum erscheint am jeweils ersten Donnerstag eines Monats. Wir freuen uns über Leserbriefe, am liebsten per eMail an: [email protected]. Für unverlangt eingesandte Manuskripte übernehmen wir keine Haftung.

verum-magazin verlagPlanckstraße 13D-22765 HamburgTel. +49.40.28492860Fax +49.3212.5337724V.i.S.d.P.: Dr. Franz Wauschkuhn,Jochen DerschLayout: Monika van der Meulen

Unsere Anzeigenpreisliste erhalten Sie gern auf Anfrage; bitte kurze eMail an: [email protected]

IMPRESSUM

„Aber vergessen wir auch niemals, dass zu allem großen Geschehen Geduld gehört, und dass gerade wir Europäer, die wir ein vereintes Europa schaffen wollen, dieser

Geduld bedürfen.“

Konrad Adenauer, Bundeskanzler, Bad Godesberg 24.05.1963

ZITAT DES MONATS

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NHALT

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Der Big Bang wird überhörtController und Personaljuristen treiben

Deutschlands Unternehmen in die Sackgasse

A\ R\ B\ E\ I\ T\ S\ W\ E\ L\ T\

Foto

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taki

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„Ich bilde nicht mehr aus. Ich mag den ständigen Ärger nicht mehr.“ Seit 1987 hat der Schlachtermei-ster Lehrlinge und Gesellen aus-gebildet. Sein Familienbetrieb mit drei Filialgeschäften beliefert die besten Hotels von Sylt bis Esb-jerg. Als Innungsvorstand hatte der Schlachtermeister seine Kollegen bislang dringend gemahnt, betrieb-

lichen Nachwuchs heranzubilden. „Mürbe hat mich die zunehmende Disziplinlosigkeit vieler junger Leu-te gemacht. Erschwerend kommt hinzu, dass immer weniger Absol-venten unserer Hauptschulen über verlässliche Rechen- und Schreib-fertigkeiten verfügen. Früher war das selbstverständlich, heute nicht. Die unentschuldigten Fehlzeiten werden immer mehr und oben-drein noch das Übermaß staatlich verordneten Papierkrams.“

Womit unser Schlachter die Er-hebungen der OECD voll bestätigt, wonach ein Viertel aller Fünfzeh-nährigen in Deutschland nur auf Grundschulniveau lesen und rech-nen kann. Den Familienunterneh-mer in vierter Generation wun-dert es nicht, dass inzwischen fast jeder vierte Auszubildende seine Lehre vorzeitig abbricht. Realschü-ler für das Fleischerhandwerk zu gewinnen, ist inzwischen nahezu aussichtslos. So ist es kein Zufall, dass die Zahl mittelständischer Fleischereibetriebe bundesweit ständig im Sinkflug begriffen ist. Die Betriebe überaltern, die Meister finden keinen Nachfolger mehr. Den Deutschen geht’s nicht mehr um die Wurst.

Doch das lautlose Betriebsster-ben im Fleischerhandwerk dürfte bis 2020 sämtliche traditionellen Handwerksberufe erfasst haben. Schon heute können freie Klemp-nerstellen erst nach einer durch-schnittlichen Suchperiode von 110 Tagen neu besetzt werden, Ersatz für eine(n) Lokführer(in) zu fin-den, dauert bereits ein halbes Jahr. Aus lauter Frustration keine Lehr-stellenbewerber mehr zu finden,

bildet in den Neuen Bundeslän-dern nur noch jeder vierte Betrieb selbst aus. Demographisch geraten damit das Handwerk und die drei Millionen mittelständischen Unter-nehmen in Deutschland, die für 80 Prozent aller Arbeitsplätze gerade stehen, immer mehr in die Zange. Denn der Bevölkerungsanteil der unter 20-Jährigen schrumpft beäng-stigend. Lag er 2005 noch bei gut 20% wird er 2020 nur noch 16,9% betragen. „Im Jahr 2020 wird es deutschlandweit zwanzig Prozent weniger Schulabgänger geben als 2007, in Ostdeutschland sogar ein Drittel weniger“, warnt der Deut-sche Industrie- und Handelkam-mertag (DIHK).

Noch deutlicher wird der deutschnationale Schrumpfungs-prozess bei den Einschulungen: Gab es 2007 noch 803.000 Erstklässler,

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werden es 2020 nur noch 685.000 Schultütenträger(innen) sein. Mar-kus Biercher von der Agentur für Arbeit: „Junge Menschen werden zum knappen Gut.“ Lehrlinge für die Elektrohandwerke müssen be-reits mit der Lupe gesucht werden. Das Hotel- und Gastgewerbe, wo Berufsanfänger über drei Jahrzehnte vielfach mit Ignoranz und Brüllerei malträtiert wurden, hat bei Jugend-lichen inzwischen ein so katastro-phales Image, dass diese Stellen nur noch notdürftig von Fall zu Fall mit Hilfspersonal aus dem Ausland be-setzt werden können. Landhotels gelten als chancenlos.

Damit sie nicht in den Katastro-phenstrudel des Fachkräfteman-gels hinein gerissen werden, haben DAX-Unternehmen wie der größte Kupfer- und Edelmetallproduzent Europas, die Aurubis AG (ex Nord-

deutsche Affinerie AG) in Hamburg, schon seit der Jahrtausendwende massiv in Nachwuchsförderung vom Facharbeiter bis hin zum an-gehenden Ingenieur investiert. „Die Migrantenkinder müssen von der Straße und bei uns in die Lehre“, postulierte der damalige Vorstands-vorsitzende Werner Marnette. „Das mitarbeiterfreundliche Image wird in Zukunft überlebenswichtig“, heißt es im Bundesverband der Deut-schen Industrie (BDI). Doch selbst die so genannten Hidden Champi-ons des industriellen Mittelstands, der aktuell mit Maschinenexporten nach China glänzt, sind sich der lau-ernden Gefahr leider keineswegs voll bewusst.

„Die zentrale, und immerwäh-rende Herausforderung dieser Weltmeister besteht darin, dass sie immer weniger qualifizierte Mitar-beiter finden, mit denen sie ihren gegenwärtigen Erfolg absichern und den zukünftigen garantieren kön-nen“, sagt Roland Schatz vom Glo-bal Media Impact Center in Boston. Aber auch wenn Handwerk, Handel und Industrie sich zu einer umfas-senden Ausbildungsoffensive aufraf-fen sollten, bleibt der anhaltende Rückgang der Schulabsolventen das wichtigste Problem der deutschen Unternehmen.

Halbwahrheiten der Berliner Nomenklatura

Mittlerweile treibt alle Wirt-schaftsforschungsinstitute von Kiel bis München die Frage um: Welche ökonomischen Effekte zieht der de-mographische Wandel nach sich?

Zehn Jahre nach der Wieder-

vereinigung behaupteten namhafte Bundespolitiker, die zigtausend ver-lassenen Häuser und verödeten Plattenbausiedlungen in Mecklen-burg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt oder Thüringen seien ausschließ-lich die traurige, aber unvermeid-liche Konsequenz der deutschen Binnenwanderung nach Westen. Was jedoch wieder einmal eine Halbwahrheit der Berliner Par-

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tei- und Ministerial-Nomenklatura war. Denn wer 2001 aufmerksam durch Städte des Ruhrgebiets oder westdeutsche Kleinstädte ging, dem wurde schon damals drastisch vor Augen geführt, was sich hinter ver-dreckten Fassaden und verrauchten Gardinen anbahnte. Die menschen-leeren Marktplätze, räudigen In-nenstädte und Hausruinen eines sinnlosen Vandalismus sind heute keineswegs ausschließlich ein Ost-problem. Ehemals stolze Landstädte wie Wesselburen oder Lunden an der schleswig-holsteinischen West-küste sind heute Schatten ihrer

selbst. Rotten Burroughs (verfaulte Städtchen), wie man sie bislang nur aus der Geschichte Irlands und Mit-telenglands kannte, werden in Zu-kunft das Bild ganzer Landstriche von Dithmarschen im Westen bis Neubrandenburg im Osten prägen.

Die Abwärtsspirale wird sich be-schleunigen, da der fehlende Fach-kräftenachwuchs und die schwin-dende Kaufkraft in diesen ländlichen Regionen selbst die verbliebenen Betriebe in Kürze zur Abwande-rung in die Metropolregionen oder zur gänzlichen Aufgabe zwingt. Was bleibt, sind Maisplantagen und Bi-ogasanlagen, also das Paradies für Wildschweine. Ein Teufelskreis.

Fritz Goergen, über Jahrzehnte der strategische Kopf der FDP, schätzt, dass heute bereits 60.000 Ingenieure fehlen und sich der da-raus resultierende Schaden für die

60.000 Ingenieure

fehlen

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deutsche Wirtschaft schon auf gut 13 Milliarden Euro summiert. „Also müssen neue Wege her, die mit al-ten Hindernissen und Vorurteilen brechen. Es gibt jede Menge Fach-kräfte, die älter als 60 sind und ger-ne arbeiten würden. Doch immer noch stellt die Wirtschaft ebenso wie die öffentliche Hand schon Menschen über 50 so gut wie gar nicht ein. Geradezu pervers finden viele dieser Fachkräfte, dass die politische Klasse über Rente mit 65 oder 67 streitet, wo die Arbeits-fähigen und Arbeitswilligen über 45 sich vergeblich bewerben.“

Goergen sagt damit nichts an-deres, als dass die Personalge-waltigen der meisten deutschen Unternehmen noch immer nicht den demographischen Big Bang vernommen haben. Hier rächt sich bitter, dass das Personalwesen

während der vergangenen fünf Jahr-zehnte sowohl in mittelständischen als auch in (DAX-) Großunterneh-men Juristen überlassen wurde, die nichts Besseres zu tun wussten, als vor jungen Controllern zu katzbu-ckeln.

Der Controller sagte: „Warum beschäftigen wir so viele ältere Mitarbeiter? Die sind zu teuer. Wir bieten den Alten Frühverrentung an und stellen stattdessen junge Leute ein. Die kosten uns die Hälfte.“

So haben diese Mandarine sich – zusätzlich getrieben von Unterneh-mensberatern – fast ausschließlich auf das Thema Personalabbau fo-kussiert, in der bornierten Meinung, Fachkräfte seien jederzeit verfügbar. Dass zugleich wertvollster Wissen-stransfer systematisch unterbro-chen wurde, interessierte nicht. „In-genieure gibt’s wie Sand am Meer“,

tönte diese Managerspezies noch vor zehn Jahren von München bis Hamburg.

Der deutsche Akademikerexport

freut die Nachbarn

So wurden junge Diplomingenieure(„innen!“) ab Anfang der 90-er lausig bezahlt und suchten – wie aktuell die jungen deutschen Kran-kenhaus- und Landärzte(innen) – ihr Heil im Ausland. Großbritannien vertrieb / exportierte während der 60-er und 70-er Jahre des 20. Jahr-hunderts Zehntausende best aus-gebildeter, junger Ärzte (darunter spätere Nobelpreisträger) in die USA und nach Australien. Das wie-dervereinte Deutschland tat’s den Briten gleich - nur eben mit Inge-nieuren, Physikern und Chemikern.

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Eine Entwicklung übrigens, worü-ber sich der Schweizer Maschinen-bau und die Basler Pharmabranche noch heute die Hände reibt.

Den Titel „Diplomingenieur“, über 150 Jahre das weltberühmte Markenzeichen deutscher Tech-nikkompetenz, überantworteten diese Personaler und jene frühere CDU-Bildungsministerin namens Dr. Annette Schavan dem Unter-gang. Über die immensen volks-wirtschaftlichen Kosten dieses bald zwanzigjährigen „brain drain“, also des Verlusts an Intelligenz und Wis-sen in der Bundesrepublik, wird bemerkenswerterweise weder in den Wirtschaftsverbänden in der Bundeshauptstadt noch in den regi-onalen Industrie- und Handelskam-mern ernsthaft diskutiert, weil eben auch diese Kammern und Verbände sich fast ausnahmslos im Griff der „BGB-Mandarine“ befinden. Und welche Krähe hackt der anderen schon ein Auge aus?

Stattdessen erheben dieselben angeblichen Interessenvertreter der deutschen Wirtschaft ein mediales Geheul, als sei der Mangel an Fach-kräften wie eine göttliche Heimsu-chung aus azurblau heiterem Olymp hernieder gefahren. Wirklich er-heiternd sind diese bildungsfernen Lobbyisten aus Berlin Mitte, immer wenn sie in TV-Talkshows irrwitzig vom kommenden „Mangel an Tech-nologen“ bramarbasieren. Denn sie wissen nicht, dass die „Techno-logie“ (ho tes technes logos) aus dem Altgriechischen übersetzt die „Wissenschaft von der Technik“ ist und nicht die Technik selbst.

Ingenieure, die Spargel stechen

Wie viele Ärzte, Ingenieure, Gei-steswissenschafter und Facharbei-ter sich aber unter den 100.000 Asylbewerbern – zur Untätigkeit verurteilt – in Heimen und deut-

schen Notunterkünften befinden, darum hat sich die Mehrheit dieser Verbandslobbyisten bislang nicht wirklich ernsthaft gekümmert. „Da-bei kennt jeder in seinem Umfeld den Akademiker aus Osteuropa, der bei uns Spargel sticht, und die afri-kanische Ärztin, die kellnert“, sagt Goergen. Aber der explodierende Mangel an Fachkräftenachwuchs wird sämtliche Unternehmen (ob groß oder klein) und ihre Lobbies zu unkonventionellen Überlegungen zwingen.

Familien und Frauen haben keine Lobby

Christina Boll und Nora Reich vom Hamburger Weltwirtschafts-institut (HWWI) haben in ihrer jüngsten Analyse über die Arbeits-marktsituation der Länder des Ostseeraums enorme Arbeitskraft-potentiale identifiziert. So sind in Deutschland 45% der arbeiten-den Frauen nur teilzeitbeschäftigt – freiwillig oder unfreiwillig. Unter verbesserten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen könnten sie für Vollzeitarbeit gewonnen wer-den. Über die nicht erwerbstäti-gen Frauen sprechen lediglich das HWWI und die International Labor Organization (ILO). Folgt man der ILO-Statistik, sind über 45% der Frauen in Deutschland (Kohorte: 15 bis 74 Jahre) nicht erwerbstätig. In keinem anderen Land des Ostsee-raums ist der Anteil der beruflich inaktiven Frauen so hoch. Diese rie-sige, stille Arbeitskraftreserve, sagt Boll, gilt es zu mobilisieren, wenn Deutschland sich auch zukünftig in der Führungsgruppe der Industrie-nationen halten will. wau.

Kein anderes Land leistet sich 45 Prozent beruflich inaktive Frauen

Foto

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Kein anderes Land leistet sich 45 Prozent beruflich inaktive Frauen

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T\ I\ T\ E\ L\

persönlich sehen, als er auf dem Balkon des Hamburger Rathauses den Bürgern zuwinkte, eine Rede auf Deutsch hielt und sich im Jenisch-Haus über der Elbe von den Strapazen seines Besuchsprogramms erholte. Adenauer und de Gaulle Hand in Hand in Reims – dies Bild wird wohl kein Nachkriegsdeutscher ver-gessen. Sie wissen sicher, dass de Gaulle Adenauer oft mit einem deutschen Verb oder Substantiv aushalf, wenn der Altkanzler noch um eine Formulierung rang. De Gaulle hatte als junger Obrist während der Rheinlandbesetzung 1923 die deutsche Sprache erlernt.

Heute sagt man: „Warum so pathetisch?“ Wir meinen, in unserer Epoche des Fernsehens und des Internets brauchen die Menschen Bildsequenzen gegensei-tigen Verstehens und der wechselseitigen Sympathie unserer Staatsrepräsentan-ten mehr denn je. Präsident Mitterrand und Bundeskanzler Kohl gemeinsam in Verdun – dieses Sinnbild französisch-deutscher Gemeinsamkeit half in den 90-er Jahren vielen Bundesbürgern darüber hinweg, dass Mitterand – ähnlich wie Frau Thatcher - 1989 offensichtlich nicht viel von einer Wiedervereinigung des geteilten Deutschland gehalten hatte.

Manchmal hilft ja auch die kleine Geste. Präsident Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Schmidt waren Meister solcher Inszenierungen: Schmidt im Pullover empfängt Freund Valérie an der Gartenpfor-te seines Scheibenhauses in Hamburg-Langenhorn. Man plauscht und trinkt später im spießigen Partykeller. Die Hamburger haben sich damals köstlich amüsiert und Giscard d’Estaing bewundert/bedauert. Was die beiden Regierungschefs damit demonstrierten,

Sehr geehrter Herr Premierminister Ayrault,

mit großer Freude haben viele unserer privaten und journalistischen Freunde und Weggefähr-ten vor knapp einem Jahr Ihre Ernennung zum Premierminister Frankreichs begrüßt. Das geschah nicht nur, weil Sie der erste Premierminister Frankreichs sind, der Deutsch ebenso so gut wie Französisch parliert und die Bundesrepublik ganz schlicht per VW-Bus erkundet, son-dern auch, weil sie als Bürgermeister die Stadt Nantes aus ihrem langen Dornröschenschlaf erweckt haben. Nantes ist wieder eine jugendliche, pulsierende Großstadt geworden, die un-sere Frauen und unsere erwachsenen Kinder jeden Sommer gern besuchen. Wir fühlen uns an der französischen Atlantikküste bald ebenso zuhause wie an der Nordsee.

Anlass dieses Briefs an Sie ist die große Besorgnis vieler Deutscher über die ständig wach-sende Entfremdung zwischen den Regierungen in Paris und Berlin. Es ist sicherlich so, dass Sie, Herr Premierminister, angesichts Ihrer täglichen Arbeitsüberlastung diese Verschlechte-rung in ihrer Schärfe nicht wahrnehmen, aber das französisch-deutsche Zusammenleben ist ein viel zu kostbares Gut, als dass es durch Nachlässigkeit, Dummheit oder Antipathie der handelnden Personen verdorben wird.

Schon als Kinder erfuhren wir - bewusst seit 1953 durch einen Dozenten des Institut Fran-cais - sehr viel über Dien bien phu, die Inflation in Frankreich und den weisen, alten Herrn in Colombey. De Gaulle wurde für uns und viele Klassenkameraden zum politischen Heros. Nicht wenig trug dazu bei, mit welchen Argumenten de Gaulle den schrecklichen Algerien-krieg zu beenden wusste. Das war schlichte klare Logik. Als Jugendliche wollten wir ihn dann

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gesamten Mittelmeertourismus. Vielleicht nehmen Sie sich bitte einmal einige Minuten Zeit, um zu lesen, was in den Blogs und Internetforen zu lesen ist.

Sehr geehrter Herr Premier Ministre, im Bewusstsein der meisten Menschen, die wir kennen, sind Frankreich und Deutschland eins. Öko-nomisch sind unsere beiden Staaten so zusammengewachsen, dass jede Barriere/Trennung eine Wirtschaftskatastrophe für beide Länder zur Folge hätte – weit schlimmer als nach dem Ersten europäischen Bürgerkrieg 1914/1918.

Und menschlich? Die Zahl der Ehen von Frauen und Männern mit fran-zösischem oder deutschem Pass geht jährlich in die Zehntausende. Inzwi-schen beschenkt jeder von uns zum Geburtstag Kinder aus diesen Ehen. Sind es französische oder deutsche Kinder? Diese Frage stellt sich diesen Kindern nicht, sie fühlen sich zweisprachig in Kiel so heimisch wie in Brest.

Sehr geehrter Herr Ayrault. Ich glaube Sie sehen die Dinge ähnlich wie wir. Bitte tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht, damit nicht durch wech-

selseitige Antipathien in Paris und Berlin ein giftiger Spaltpilz ent-steht.

Hochachtungsvoll Ihre sehr ergebenen

Franz Wauschkuhn und Jochen Dersch

war die Selbstverständlichkeit französisch-deutscher Freundschaft. Und die ging in die Köpfe der Menschen.

Aktuell aber sehen wir lediglich einen misslaunigen (ich bitte um Verzeihung, wenn ich zu drastisch bin) Président Hollande und ein zickiges Lächeln unserer Frau Kanzlerin. Doch gerade jetzt, wo Währungskrieg gegen den Euro geführt wird, wirkt Disharmonie zwischen Ihrer Regierung und der Bundesregierung wie Öl im Feuer. Die Währungs-Trader der Groß-banken und Fonds sind in der Regel alles andere als diabolische, strategische Köpfe, sondern Durchschnittsmenschen, die sich in der Regel nur recht oberflächlich mit hoher Politik befas-sen. Auch ihr Handeln ist wesentlich bestimmt von den Bildern, die sie im TV oder in den Zeitungen sehen. Weshalb sehen wir Herrn Hollande und Frau Merkel nicht gemeinsam bei Herrn Draghi im Frankfurter EZB-Turm? Warum sieht man die beiden nicht im Kino bei den „Sch’tis“? Ein Film, der mehr zum wechselseitigen Verständnis von Nord- und Südeuropäern beigetragen hat als jedes Kunst-, Fußball- oder sonstiges Sportereignis! Übrigens: Jacques Tati erfreut sich in der Bundesrepublik nach wie vor größter Beliebtheit

Bedrückend ist jedoch, dass sich weder ein Herr Barroso für die EU-Kommission noch ein französischer Minister gegen die Renaissance des „German-Bashing“ ausgesprochen hat. Von den britischen Medien sind die Bundesrepublikaner dies seit Jahrzehnten gewohnt. Von Murdock ist auch nichts anderes zu erwarten. Doch die Fotos aus Athen und Nicosia haben die Menschen zwischen Basel und Cottbus in tiefe Verwirrung gestürzt. „Gibt es überhaupt Freunde in Europa?“ fragen sich die Menschen. Kann ich es wagen, den Urlaub mit meiner Familie in Südspanien, auf einer griechischen Insel oder am Strand von Zypern zu verbringen? Dass sich obendrein Politiker wie Berlusconi oder Grillo dazu hinreißen lassen, sich in jeder Hinsicht feindlich aggressiv über Deutschland und Deutsche zu äußern, ist verheerend für den

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F\ I\ N\ A\ N\ Z\ E\ N\

HSH Nordbank

Spät, aber nicht zu spät

Ein öffentlicher Aufruf von Werner Marnette

Link

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Hamburg, den 16. April 2013 - Die Lage der HSH Nordbank hat sich dramatisch zugespitzt. Die

Bank hängt am Tropf der Eigner Hamburg und Schles-wig-Holstein. Nur ihre Kapitalunterstützung sichert das Überleben der HSH – und ist von der Zustimmung der EU-Kommission abhängig. Zu diesem Ergebnis kommt der Bericht des Abschlussprüfers KPMG für 2012. Trotzdem scheut die HSH keine neuen Risiken. Noch in 2012 soll sie Kredite in Höhe 1.200 Mio. EURO nach Zypern vergeben haben. Da erscheint es wie eine Farce, wenn Constantin von Oesterreich, der Vorstandsvorsit-zende der HSH Nordbank, anlässlich der Bilanzpresse-konferenz am Donnerstag, den 11. April 2013 sagt: „Bis Ende 2014 wird die ,Bank für Unternehmer' ihre volle Ertragskraft entfaltet haben und in ihren Kernmärkten eine feste Größe darstellen. Unsere Altportfolien wer-den wir bis dahin soweit reduziert haben, dass die da-raus resultierenden Lasten die ,Bank für Unternehmer' in ihrer Entwicklung nicht mehr aufhalten können.“

Diese positiven Sprüche des HSH-Vorstands ken-nen die Bürger Hamburgs und Schleswig-Holsteins seit Jahren. Behauptungen, die durch die konkreten Zahlen auch im Jahresabschluss 2012 leicht zu wider-legen sind.

Die Ertragslage der Bank verschlechtert sich seit Jahren stetig. Trotzdem wird das Ergebnis durch Ein-malerträge und durch einen „Bilanzkniff“ geschönt. So wird die Ländergarantie bei der Risikovorsorge, die für das Ergebnis einer Bank eine entscheidende Grö-ße darstellt, gegengerechnet. Besonders krass erfolgte dies beim Jahresabschluss 2011, wie dies die Financial Times Deutschland am 23. März 2012 kommentierte: „Obwohl das Institut angesichts der schwierigen Schiffsmärkte 1.200 Millionen Euro neue Risikovor-sorge für faule Kredite bilden musste, buchte es dafür unter dem Strich sogar einen Ertrag von fast 400 Mio. Euro. Hintergrund: Die Mehrheitseigner Hamburg und Schleswig-Holstein übernehmen die Risikovorsorge

Herr Mirow, handeln Sie schnellstens im Interesse

der Bürger!

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mittels ihrer Zweitverlustgarantie.“ Statt eines tatsäch-lichen Verlustes in Höhe 1.100 Millionen Euro wies die HSH auf diese Weise in 2011 nur einen Verlust in Höhe 204 Mio. Euro aus.

Auch das in der vergangenen Woche vorgestellte Ergebnis 2012 ist durch diesen „Bilanzkniff“ geschönt. Hinzu kommen nach Aussagen der Bank „Einmalerträ-ge“ in Höhe 892 Millionen Euro, die aus der „erforder-lichen Neubewertung hybrider Finanzinstrumente“ und aus dem „Rückkauf von Nachranganleihen“ stammen. Offiziell ausgewiesen wird ein Verlust (vor Steuern) in Höhe 185 Millionen Euro. Der tatsächliche Verlust dürfte bei über 720 Millionen Euro und bei Nichtbe-rücksichtigung der „Einmalerträge“ sogar bei weit über 1.000 Millionen Euro liegen. Die Bank ist damit faktisch am Ende.

Den Vorstand der HSH kümmert dies alles nicht. Er stellt für 2014 sogar einen „Turnaround“ in Aussicht und kündet gleichzeitig die „Inanspruchnahme der Ländergarantie zwischen 2019 und 2025 in Höhe von 1.300 Millionen Euro“ in Aussicht. Widersprüchlicher geht es nicht, denn die Inanspruchnahme dürfte längst fällig sein. Offensichtlich kennt der HSH-Vorstand keine Beschränkungen. Sonst wäre die kürzliche Bekanntga-be der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS) nicht zu verstehen: „Die HSH Nordbank hat bis Ende

September 2012 Darlehen an Zypern in Höhe von ca. 1.600 Mio. EURO vergeben.“ Hauptsächlich sollen di-ese Kredite in die Schiffsbranche geflossen sein. Ein Irrsinn, auf den es keinen Hinweis im Geschäftsbericht 2012 der Bank gibt.

Auch im Jahresabschluss 2012 belastet die Bad-Bank (Restrukturierungseinheit) die gesamte Bank wie ein Krebsgeschwür mit 50.000 Mio. Euro. Für diese kann es nur eine gemeinsame und langfristige Lösung mit dem Bund geben. Zuvor muss sie von der Kernbank getrennt werden. Nur das verschafft Transparenz so-wie Vertrauen in die Kernbank und macht Bilanzmani-pulationen unmöglich. Der Bund wird die Hilfe nicht verweigern können, denn es gibt genügend Gründe, ihn mit in die Pflicht zu nehmen. Doch Kiel und Ham-burg sehen es offenbar anders. Nur so ist die Antwort des SoFFin-Chefs vom 3. April 2013 auf die Frage zu verstehen: „ Die HSH braucht erneut Hilfe der Eigen-tümer: Kein Fall für die Finanzmarktstabilisierung?“ Er antwortete: „Die Eigner haben sich zu ihrer Verant-wortung bekannt.“ Unfassbar in Anbetracht der Haus-haltslage beider Länder

Durch diese Fehlentwicklungen ist der Unterneh-menswert der Bank inzwischen erheblich abgestürzt. Der Fonds, der Anteile der beiden Bundesländer an der Bank hält, musste bereits Anfang 2012 fast 1.000

Spendenkonto 97 0 97Bank für Sozialwirtschaft��� 370 205 00

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DAUERSPENDE

Dr. Luana Lima behandelt Patienten im Flüchtlingslager Dadaab (Kenia), Juli 2011 © Brendan Bannon

Leben retten ist unser Dauerauftrag: 365 Tage im Jahr, 24 Stunden täglich, weltweit. Um in Kriegsgebieten oder nach Naturkatastrophen schnell handeln zu können, brauchen wir Ihre Hilfe. Unterstützen Sie uns langfristig. Werden Sie Dauerspender.

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Mio. Euro abschreiben. Ende 2012 mussten beide Bun-desländer den Unternehmenswert nochmals um insge-samt 1.000 Mio. Euro zurücknehmen. Der tatsächliche Abschreibungsbedarf dürfte noch viel höher liegen. Es ist kaum vorstellbar, dass bei einem Verkauf der Bank diese Verluste rückgängig gemacht werden können.

Doch die verantwortlichen Politiker in der Kieler Landesregierung und im Hamburger Senat schweigen dazu. Sie scheuen davor zurück, den Parlamenten und den Bürgern die Wahrheit zu sagen. Wohl wissend, dass die Bürger am Ende die Zeche bezahlen müssen. Un-verdrossen lassen der Senat und die Kieler Landesre-gierung bisher den Aufsichtsrat und den Vorstand der Bank „weiterwurschteln“ und setzen auf Zeit. Ein ge-fährliches Vabanquespiel. Denn die anhaltende Finanz-krise hat wiederholt gezeigt: Abwarten und auf Zeit spielen erhöht Risiken und macht Lösungen nur teurer. Dies gilt nicht nur für marode Staaten, sondern auch für marode Banken.

Ich setzte jetzt auf Senator a. D. Thomas Mirow als neuen Aufsichtsratsvorsitzenden der HSH. Ich kenne und schätze ihn als klar denkenden und verantwor-tungsvollen Politiker und Wirtschaftsexperten. Ich gehe davon aus, dass er nach sorgfältiger Analyse lösungsori-entiert und im Interesse der Bürger handeln wird. Ihm dürfte längst bewusst sein, dass die Landesregierungen

Werner Marnette ( Jahrgang 1945 ) ist seit 2009 selbständiger Unternehmensberat-er mit den Arbeitsschwerpunkten Energie, Rohstoffe, Wirtschaft und Innovation in Ham-burg. Von 1994 bis 2007 war er Vorstands-vorsitzender der Norddeutschen Affinerie AG (heute Aurubis AG). Ehrenamtlich war er in dieser Zeit u.a. als Präsidiumsmitglied des Bundesverbands der Deutschen Industrie, als Präsident der Wirtschaftsvereinigung Met-alle, als Vorsitzender des Industrieverbands Hamburg und als Vizepräses der Handels-kammer Hamburg tätig. Von 2008 bis 2009 war er Minister für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr in Schleswig-Holstein.

in Kiel und in Hamburg über kein Konzept verfügen und durch Untätigkeit und Fehlentscheidungen inzwi-schen ihre HSH-Unschuld verloren haben. Alleine die Idee, faule Kredite der HSH – und das noch auf Pump – aufkaufen zu wollen, wäre ein finanzpolitischer Skan-dal gewesen. Dies ist offenbar jetzt vom Tisch.

Noch sollte es für Thomas Mirow nicht zu spät sein, die überwiegende Zahl der Arbeitsplätze der HSH un-terhalb der Führungsetage zu sichern und eine Lösung für die überlebensfähigen Segmente der Bank (Kern-bank) zu finden. Deshalb muss der Vorstand sofort kla-re Leitlinien erhalten und gebremst werden, die Fehler des Jahres 2007 zu wiederholen. Konkret heißt dies heute: Kein Neugeschäft ohne entsprechenden Ertrag und kein Ausbau weiterer Risiken.

Mein Petitum: Thomas Mirow, nutzen Sie als neuer Aufsichtsratsvorsitzender das in Sie gesetzte Vertrau-en und beenden Sie schnellstmöglich diesen Betrug an den hamburgischen und schleswig-holsteinischen Bür-gern.

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„Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm

stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger.“

(Kurt Tucholsky)

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Deutschlands Universitäten: Der Nimbus verblasst

Büffeln statt studieren, Gelder generieren statt lehren – die wahre Aufgabe bleibt auf der Strecke

B\ I\ L\ D\ U\ N\ G\

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Als Bundeskanzlerin Merkel vor einigen Jahren eine „Bildungsoffensive“ für Deutschland ausrief, waren die Erwartungen groß. Sie wird, dachte man, ihren Aristoteles gelesen haben, der schon vor rund 2400 Jahren erkannt hatte: Das Schicksal eines Staates hängt wesentlich von der (Aus-)Bildung seiner Jugend ab. Doch Berlin ist nicht Athen und das Bundeskanzleramt nicht des Philosophen Lykeion.

Deutschland veranschlagte für 2012 rund 110,3 Milliarden Euro aus öf-fentlichen Mitteln für Bildung, 4,3 Milliarden mehr als im Jahr zuvor. Die jüngsten endgültigen Zahlen allerdings – sie stammen aus 2009 – beweisen, dass die Bundesrepu-blik mit diesen 5,3% des Bruttoin-landsprodukts im OECD-Vergleich weit abgeschlagen im letzten Fünftel liegt; der Durchschnitt beträgt 6,2 %. Auch der Anteil der Akademiker an der Gesamtbevölkerung hält sich mit nur 20 Prozent in Grenzen – das ist nur gut die Hälfte des Wertes in den 34 OECD-Ländern (37 %).

Das Armutszeugnis für ein immer noch so reiches Land weist weitere

Ruprecht-Karls-Universität

Heidelberg, die älteste auf

deutschem Gebiet, gegründet 1386

Foto: GNU

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schlechte Noten auf. Die Situation an den Universitäten ist inzwischen schier unerträglich. Nicht nur, weil die Zahl der Studierenden von 2001 (1,9 Millionen) um 27 Prozent auf rund 2,4 Millionen im Jahr 2011 stieg. Es ist die Qualität, die uns die Lehre bald mit zwei „ee“ schreiben lassen muss. Turbo-Abitur und Weg-fall der allgemeinen Wehrpflicht ha-

Jahr eingeräumt werden. Dazu gehö-ren also Vorlesungen, Seminare, Vor- und Nachbereitung und letztlich die Prüfungen. Und das unter teils we-nig lernfreundlichen Umständen: In den universitären Veranstaltungen sitzt man wie in einer Legebatterie, der Prof wirft Powerpoint-Folien an die Wand und rattert seinen Stoff herunter, den Rest kann sch jeder selbst zusammenreimen.

Warum sich ein Land mit einem weltweit anerkannten Hochschul-wesen und Ausbildungsstandard in-ternationalen Richtlinien anpassen soll, mag einer noch verstehen: Die gegenseitige Anerkennung akade-mischer Grade, die vereinfachten Arbeitschancen und damit der län-der- und kontinentübergreifende wissenschaftliche Austausch sollen gefördert werden. Doch warum sich immer am Mittelmaß orientie-ren? Noch 109 der insgesamt 421 deutschen Hochschulen nennen sich Universität, die anderen sind Fachhochschulen, theologische, Kunst- oder pädagogische Hoch-schulen. Von „universitas“ aber, der „universitas magistrorum et schola-rium“, das ist die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, leitet sich zwar der Begriff ab, entspricht

ben die Zahl um weitere 100.000 erhöht. Die Einführung der Bache-lor- und Master-Studiengänge erfor-dern ein weit intensivere Betreuung und Beratung der Studierenden, das hat selbst der Wissenschaftsrat erkannt. Doch zwischen 2008 und 2011 stieg die Zahl der von einer Lehrkraft zu betreuenden Studen-ten von 15,2 auf 15,9.

Eben diese Wandlung der Studi-engänge vom klassischen Diplom, Magister oder Staatsexamen hin zum Bachelor respektive Master ist das eigentliche Unheil.

Zwar soll der Bachelor der „er-ste akademische Grad und berufs-qualifizierende Abschluss eines mehrstufigen Studienmodells sein“, doch in der Realität heißt das: Pro Semester muss der Studierende durchschnittlich 30 Leistungspunk-te erwerben. Bei einem dreijährigen Bachelor-Studium muss er also auf 180 Punkte kommen. Die deut-sche Hochschulrektorenkonferenz (HRK) beschloss, für jeweils 30 Stunden einen Leistungspunkt (LP) zu vergeben. Das summiert sich auf eine Arbeitsbelastung von 40 Stun-den pro Woche für den Studenten, wobei ihm sechs Wochen Urlaub im Mehr Zeit zu Hause als in der Uni verbringen

Studierende Foto: vdm

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zu besuchen, wenn sie mitkommen

aber längst nicht mehr der Realität. Die Universität, die Deutschlands Ruf als Wissensnation seit dem 19. Jahrhundert zu Weltruhm ver-half, wurde abgeschafft. Sie machte einem System Platz, das mehr an Massentierhaltung, günstigerenfalls an seelenlose Bootcamps erinnert als an ihre eigentliche Aufgabe: die Studerenden nicht nur den wissen-schaftlichen Stoff zu lehren, sondern sie in ihrer Entwicklung zu frei den-kenden Persönlichkeiten und politi-schen Individuen im Sinne Platons zu unterstützen; das gehört nämlich auch zum „Fächer“-Kanon des hu-manistischen Bildungsideals.

Natürlich lässt sich das als roman-tische Vorstellung abtun, aber wäre sie heute noch Wirklichkeit, sie hät-te vielleicht sogar die Bankenpleiten und damit die weltweite Finanzkrise verhindern können; es gebe nämlich mehr verantwortungsvolle (bestens ausgebildete) Manager und nicht nur solche, die ein Unternehmen ausschließlich auf den eigenen Jah-resend-Bonus trimmten.

Die Universität 2013 ist in den allermeisten Fällen lediglich eine Fortführung der Schule in ihren we-niger positiven Aspekten. Gerade in den ersten Semestern wird Wissen

nicht mehr vermittelt, kann nicht mehr vermittelt werden, weil die Zahl der Lehrenden der der Lernen-den nicht angepasst wurde. Es darf gepaukt werden! Selbst in den Semi-naren ist keine eigentliche Seminar-arbeit mehr möglich, da die Räume brechend voll sind, die Professoren sich nicht mehr um den Einzelnen kümmern können, stattdessen den Stoff ins Internet stellen; sollen die Studenten doch zu Hause weiter

studieren. An vielen Unis sind durch die neuen Studiengänge, die oft aus obligatorischen zwei Hauptfächern bestehen, seitens der Lehrerschaft so unterbesetzt, dass zwei Semina-re zum selben Zeitpunkt angeboten werden müssen, obwohl in beiden Anwesenheitspflicht besteht.

Sprechstunden dienen nur noch der Verabredung von Formalitäten, schon Erstsemestern wird dringend ans Herz gelegt, abendliche Tutorien

Exzellenzstatus: Die Kölner Universität wurde 1388 gegründet, während der "Franzosenzeit" geschlossen und 1919 neu gegründet Fotos: GNU

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wollen – im Seminar bleibt für ent-scheidende Hinweise des Lehren-den, geschweige denn für ein Venti-lieren des Stoffs keine Zeit.

Wo die „Einheit der Lehre und Forschung in Freiheit“ bleibt? Auf der Strecke. Man muss sich das

wirklich einmal vorstellen: Ameri-kas Elite-Universitäten beziehen sich noch heute auf die Ideale der „Humboldtian Research Universi-ty“, nachzulesen im „International handbook of higher education“, herausgegeben von James J. F. Forest und Philip Geoffrey Altbac. Und wir, die Erfinder dieser so wundervollen Einrichtung, adaptieren Modelle, die nichts anderes sind als die miserable Fortführung überkommener Schu-len, die mit Ex-cathedra-Methoden Stoffe in die Studentenhirne häm-mern. Es darf auswendig gelernt, aber nicht hinterfragt, nicht disku-tiert werden.

Es geht nicht um Leistungsbereit-schaft und nicht um die Kontrolle derselben, es geht allein um das Verdrängen des universitären Ge-dankens. Selbstverständlich kann keine Universität der Welt heute noch die Gesamtheit allen Wis-

sens beziehungsweise alle ver-fügbaren Erkenntnisse sämtlicher Wissenschaftsbereiche vermitteln, die Zeiten sind seit dem Mittelal-ter endgültig vorbei; es muss aber erlaubt sein zu fragen, warum die Zahl der Studienabbrecher seit Einführung des Bachelor/Master-Systems in den naturwissenschaft-lichen Fächern so krass gestiegen ist, warum die Unzufriedenheit der Studierenden wächst und die der Lehrenden erst recht.

Und wie machen es die, denen wir uns in vorauseilendem Gehor-sam mal wieder angleichen wollen: Wer in Frankreich jemals einen

Top-Job ergattern will, ob in der Wirtschaft oder in Staatsdiensten, muss eben die „Grandes Ecoles“ absolviert haben. In den USA kann nur der die Elite-Uni Harvard besu-chen, der mehr als 50.000 Dollar im Jahr übrig hat, so hoch sind die Re-

gelstudiengebühren. Im englischen Oxford fallen immerhin noch rund 18.000 Euro an.

Wie in den Krankenhaus-Syste-men – auch einst ein deutscher Ex-portschlager – der Kaufmann dem Arzt die Fallzahlen vorschreibt und dabei natürlich jährlich nach oben korrigiert, so gilt heute der Profes-sor als besonders erfolgreich, der nicht nur viel forscht und publiziert, sondern vor allem Sponsorengel-der generiert. Die Lehre ist inzwi-schen höchstens zweitrangig. Ist das der propagierte Exzellenzclu-ster? Wie schrieb der Schriftsteller Malte Herwig: „Aus dem pädagogi-schen Eros von einst ist längst ein pädagogischer Porno geworden: schnell, schmutzig und auf Dauer nicht richtig befriedigend.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

So voll wie hier bei einer Erstsemester-Veran-statltung bleibt es während des Studiums, so lustig nicht mehr. Foto: Uni Heidelberg

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L\ E\ S\ E\ R\ M\ E\ I\ N\ U\ N\ G\

Zu: Interview mit Bernd Buchholz

Zunächst herzlichen Glückwunsch zum neuen Magazin; die thematische Bandbreite gefällt mir. Zum Interview mit Bernd Buchholz: Warum regt sich ein ehemaliger Manager und künftiger

Politiker darüber auf, dass sich „dank einer veränderten Medienlandschaft“ auch kleinere Gruppen so „lautstark“ zu Wort melden können? Das ist doch gerade auch ein Merkmal der Demokratie. Ich bin mit dem Internet aufgewachsen und kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es war, als einige wenige Chefredakteure der etablierten Medien der Bevölkerung vorschrieben, welche Nachricht wichtig war und warum. Sicher wird auch diese Möglichkeit, die uns die neuen digitalen Medien bieten, von dem einen oder anderen ausgenutzt, aber letztlich obliegt es doch den Rezipienten (Usern, Lesern, Hörern), was sie mit ihren so gewonnenen Informationen anfangen. In einer pluralistischen Gesellschaft – und als solche begreifen wir uns doch – muss es auch Minderheiten gestattet sein, sich Gehör zu verschaffen. Dass viel Unsinn verbreitet wird, ist jedem klar, aber der „mündige Bürger“ sollte in der Lage sein, das für ihn Wichtige zu finden und den Wahrheitsgehalt einigermaßen einzuschätzen. Bei den herkömmlichen Medien sind wir Nutzer doch auch auf die ethische (und journalistische) Kompetenz der Autoren angewiesen oder fände Herr Buchholz es gut, wenn wir alle nur blinde Konsumenten geblieben wären?

Mit „verum“ ist es doch genauso. Sie geben vor, mir „das Wahre“ – so der Titel Ihres Magazins (wenn ich mich recht an meinen Latein-Unterricht erinnere) – mitzuteilen und hoffen sicher, ich nehme Ihnen das ab.

Übrigens: Bei der Eingabe des Suchbegriffs „Meinungsfreiheit“ liefert die „google“-Suchmaschine 2,29 Millionen Treffer.

Viel Erfolg mit Ihrer Publikation!

Cornelius Heisenberg, Greifswaldvia Mail

Zu: Die (letale) Passion der Babette

Der Autor muss Schreckliches erlebt haben, auch wenn er noch ein Kind war und vieles sicher nicht verstanden hat, er wird die Tragweite der Situ-ation instinktiv geahnt haben.

Ich habe meine Eltern oft von dieser schlimmen Zeit erzählen hören. Sie gehörten zwar nicht zu den Verfolgten des Regimes, haben aber den-noch sehr gelitten: Ein Teil ihrer Freunde war von einen auf den anderen Tag verschwunden, und niemand traute sich, etwas dagegen zu unterneh-men.

Dass dann aber nach Kriegsende dieselben Schergen wieder in Lohn und Brot waren und wieder ihre vertrackte Untertanen-Mentalität (Hein-rich Mann) an der Bevölkerung auslebte, war auch für sie - meine Eltern - ein wahrer Kulturschock.

Es muss mehr solcher Bücher geben wie die von Wolf Levien, wir müssen uns nur ansehen, wie Roland Jahn, der Leiter der Stasi-Behörde, mit den Ewiggestrigen zu kämpfen hat!

Mit freundlichen GrüßenDr. Kathrin Antonissen, Hamburgvia Mail

Ihre Meinung ist uns wichtig.

Wenn Sie uns auch schreiben wollen: eine Mail genügt.

[email protected]

Unsere Postanschrift:verum

Planckstraße 13D-22765 Hamburg

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Von Michael Manns

Eine teigige Masse, honigmelo-nengroß, rund 1,4 Kilo schwer, unter Fett und Wasser endlos verästelt 100 Milliarden Ner-venzellen (soviel Galaxien gibt es im Universum), jede Ner-venzelle noch einmal mit bis zu 10.000 Verknüpfungen. Im toten Zustand ist sie grau.

Das ist das geheimnisvollste und komplexeste Organ im Kosmos: unser Hirn. Jene In-stanz, die über das All und sich selbst nachdenken kann, jene Instanz, in der das geheimnis-volle Ich aufscheint, eine In-stanz, der die eigene Endlich-keit bewusst ist.

Drei spannende For-schungsthemen hat die Wissenschaft unserer Zeit: Den Kosmos, die Gene und unser Gehirn. Und schon längstsind die Neurowissen-schaften zur Jahrhundert-wissenschaft avanciert. Jedes

Jahr erscheinen etwa 35.000 neurowissenschaftliche Arbei-ten. Immer genauer hat man das Organ untersucht, immer präziser kann man einzelnen Regionen bestimmte Denktä-tigkeiten zuordnen. Doch noch

ist vollkommen unklar: Wie ent-steht aus dem Feuer der Neuronen so etwas wie Bewusstsein? Das Ich, das uns von Tieren unterscheidet. Wie entsteht aus Materie Geist? Die alte Frage der klassischen Phi-losophie.

Think Big ist keineErfolgsgarantie

Zwei Megaprojekte sollen die Geheimnisse des Hirns entschlüs-seln. Da ist das europäische Human Brain Project. Die EU adelte es als wissenschaftliches Flaggschiffprojekt und will eine Millliarde Euro dafür spendieren (über zehn Jahre ver-teilt). Koordiniert wird das Projekt von dem Neurophysiologen Henry Markram von der TH in Lausanne. Er hatte 2005 das Blue Brain Project gestartet, eine Art Vorläufer. Das Ziel war ein Segment der Hirnrinde aus 10.000 Neuronen nachzubauen. Und da sind die USA. Präsident Ob-ama kündigte ein Projekt an, in dem Forscher eine Karte der gesamten Hirnaktivität eines Menschen er-stellen sollen. Drei Milliarden Dol-lar (ebenfalls auf zehn Jahre verteilt) sollen dafür locker gemacht wer-den. Zwei Projekte also, die von Optimisten als „Apollo-Projekte“ des Geistes bejubelt werden. Kriti-ker sprechen von Größenwahn.

Eine der vielen Fragen stellt sich nach dem Sinn von Großforschung in diesen Milliarden-Dimensionen. 1974 hat man den Kampf gegen den Krebs ausgerufen – man kämpft heute noch. Die Entzifferung des Genoms, ebenfalls zwei Großpro-jekte, führte ebenfalls zur Ernüchte-

rung. Die String-Forschung rechnet seit 30 Jahren vor sich hin und das Jahrhundert des Gehirns wurde vor 20 Jahren schon einmal ausgerufen. Big Science führt nicht automatisch zu epochalen Durchbrüchen.

Zweifellos hat die Neurowissen-schaft in den letzten Jahrzehnten beeindruckende Einzelergebnisse vorgelegt, vor allem durch die bild-gebenden Verfahren. Der Mainzer Neurophilosoph Thomas Metzinger sagt: „Wir stehen bei der Erfor-schung der Hirnfunktionen erst am Anfang... Es gibt trotzdem atembe-raubende Fortschritte. Wir wissen heute, wo Emotionen entstehen, wir kennen notwendige Bedingungen für Gefühle und viele andere Be-wusstseinsinhalte, die Menschen mit bestimmten Hirnläsionen nicht mehr haben können.“

Horrorszenario im Rattenlabor Schlaglichter der stürmischen

Neuro-Entwicklung aus der jüngsten Zeit:

• Ratten-Telepathie: zwei Tiere befanden sich in zwei verschiedenen Labors. Ihre Gehirne waren über Elektroden (Hirn-Hirn-Schnittstel-len) und Internet miteinander ver-

Das Jahrhundert der Hirnforschung

W\ I\ S\ S\ E\ N\ S\ C\ H\ A\ F\ T\

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bunden. Den Forschern gelang es, Signale des einen Rattenhirns auf das andere zu übertragen. Ratte zwei tat mit Zeitverzögerung das-selbe wie Ratte eins.

• An der Uni-Klinik Freiburg ge-lang es Ärzten, schwerst depressive Menschen mit der Tiefen-Hirnsti-mulation zu heilen. Dabei stimu-liert ein drei bis fünf Volt schwacher Strom (für die Kranken nicht wahr-nehmbar) ganze Verbände von Ner-venzellen.

• Große Fortschritte machen Versuche, Maschinen direkt mit Hirnströmen zu steuern. So können schon gelähmte Menschen Roboter-arme steuern (und sich Schokolade in den Mund stecken).

Aber man will mehr: Bahnbre-chende Erkenntnisse mit revolu-tionären neurotechnischen An-wendungen. Intelligenzverstärker, Gedächtnis- und Gefühlsverbesse-rer (oder auch -löschung), Gedan-kenleser, (hier gibt es schon Anfän-ge), Neurokosmetika, Gehirndoping und Gehirndesign, ungeahnte The-rapiemöglichkeiten (Gelähmte, die Rollstühle mit Gedankenkraft len-ken). Die Identifizierung der Ursa-chen von Autismus, Schizophrenie, Hyperaktivität und Depressionen, jenen schlimmen Krankheiten des Geistes. Die Generalstäbe haben die militärische Möglichkeiten im Fokus (Kampfjets, die mit Gedan-ken gesteuert werden).

Anz

eige

Mit Milliarden soll unser Denkorgan entschlüsselt und nachgebaut werden. Wer erhebt Einsprüche?

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Die Neurotechnik-Euphorie ist nicht zu überhören – doch wo bleibt die Ethik? Thomas Metzger und andere fordern seit langem den breiten Diskurs in der Gesellschaft. In den Gehirn-Labors wird schließ-lich nicht die Geschwindigkeit des Lichts gemessen oder das 450. Schmerzmittel zusammengeköchelt. Es geht um die Frage der Identität des Menschen. Welches Menschen-bild haben wir und welches wollen wir in Zukunft? Der Mainzer Philo-soph: „Die traditionelle Strategie in Deutschland ist es ja, so lange ange-strengt wegzugucken, wie es irgend geht, und dann voller Selbstmitleid auszurufen: Davon habe ich nichts gewusst!“

Der ehrgeizige amerikanische Neurophysiker Sebastian Seung, der eine Art viel beachtetes Manifest der Neurowissenschaften ver-fasst hat, meint, erst künftige Generationen würden in vollem Umfang be-greifen, welch eine wissenschaftliche R e v o l u t i o n sich da ge-rade voll-zieht.

N i c h t zum er-sten Mal in der abend l änd i schen

Geschichte erlebte die Gesellschaft eine dramatische Änderung ihres Menschenbildes (mit den dazugehö-rigen tiefen Kränkungen). Die erste

geht auf Galilei zurück. Die Menschheit musste aner-kennen, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Dann sorgte Darwin für die biologische Krän-

kung. Der Mensch ist ein natur-haftes Ergebnis der Evolution. Für die dritte Kränkung sorgte Freud. Er nahm dem Menschen auch noch seine innere Souveränität. Denn da ist das dunkle Unbewusste, das so viel Macht ausübt.

Droht uns jetzt die vierte Krän-kung durch ein Computer-Mo-dell des Geistes? Werden Gleichungen, die das Feu-ern von Neuronen be-rechnen, unser Ich nur noch als Fikti-on erscheinen lassen? Eb-nen den-kende Ma-

Mit Milliarden soll unser Denkorgan entschlüsselt und nachgebaut werden. Wer erhebt Einsprüche?

schinen den Unterschied zum homo sapiens ein?

Rüdiger Vaas hat in seiner „Schö-nen, neuen Neurowelt“ die Ge-fahren aufgezählt: Das Problem der Hybris (der Mensch will Gott spie-len), die Frankenstein-Ambitionen, da die Grenzen zwischen Mensch und Artefakt verwischt werden, eine neue Eugenik. Er warnte vor dem Weg zu einem Transhumanis-mus. Dieser könnte nämlich auch zu einem Ende unserer mensch-lichen Werte und Einstellungen, zu einem Ende der Menschlichkeit und zu einem Ende des Menschen füh-ren. Oder in Adornos Worten: „Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung

durch Wissen stürzen... den Men-schen die Furcht nehmen und

sie als Herren einsetzen. Aber die vollends auf-

geklärte Erde strahlt im Zeichen tri-

u m p h a l e n Unheils.“

Zei-nung: Lehrbildder Phre-nologie (1864)

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G\ L\ O\ S\ S\ E\

„Pfui, Schande über ihn. Steuerhin-terzieher, Wurstfabrikant, haltet ihn!“ So ganz, ganz stinksauer und echt empört waren sie alle über den Uli vom Tegernsee: der Sieg-mar, der Peer, die Andrea, der Jür-gen! Die ganze Berliner und Münch-ner Nomenklatura war krass auf Zinne. Nur eine hat diesmal leider echt gefehlt: die Claudia. Also die Claudia Roth, die hätte dem Uli eins eingeschenkt. Das kann die Claudia – so ganz instinktiv wie Brünhil-de, bebend vor femininer Wut. Und ganz schrill in ihrem pret-à-porter Walla-walla zur Tagesschau. Aber die Claudia ist leider verreist. Wie blöd. Dabei soll’s in der Toskana richtig doll regnen.

Der Jürgen, also unser grüner Molotow, der war gut drauf. Der schwarzen Angela und dem Wolf-gang hat er sofort die pure, reine Wahrheit um die Ohren geklatscht: Vom Bayern-Uli seien sie die Ma-fiapaten. - Kennste nicht det Foto, wie die Angela und der Uli auf der Promibank im Olympiastadion zu-sammenglucken? Is dat etwa keen Bewees! - Um den Uli, den Bayern-boss zu schützen, hätte Wolfgang so lausig mit der Schweiz verhan-delt. Der Peer und der Siegmar sind mit dem Jürgen gleich – als er das in der ARD von sich gegeben hat – sofort solidarisch gewesen. Sowie

damals 68 im Göttinger ASTA, als KPD/ML und der Sozialdemo-kratische Hochschulbund zusam-mengingen. Alle drei hatten das mit dem Uli und dem reichen Pro-mi-Pack schon ganz von Anfang an gewusst und deshalb das fiese Abkommen mit all den Finanzkapi-talisten vom Zürcher Paradeplatz scheitern lassen. Vorgeführt müs-sen die Superreichen werden, das weiß Molotow noch gut aus Göt-tinger Zeiten. Darum, nur darum geht’s und nicht um die paar Steu-erpiepen. „Na, wenn schon“, sagt der Molotow immer. „Schaden tut’s nur dem Wolfgang, wenn mit dem Scheitern des Abkommens nur fünf statt zehn Milliarden in die Bundes-kasse fließen.“

Übrigens Molotow, Peer und Sieg-mar sind auch darin solidarisch, dass sie es nach der Bundestags-wahl bei all den Reichen zwischen Kampen und Schliersee so richtig krachen lassen wollen. Nicht so doof wie der im Elysée. Der Hollan-de quakt immer von der Reichen-steuer. Unsere glorreichen Drei fan-gen das viel schlauer an: Sie sagen statt Reichensteuer ganz einfach Vermögenssteuer. Der Kirchhof, der Gerichtsheini, nennt eine Vermö-genssteuer zwar verfassungswid-rig: Nur im äußersten Krisen- und Notfall dürfe in der Bundesrepublik

Haltet den Uli!

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eine Vermögenssteuer erhoben werden. Papperlapapp! - Aber, mal ehrlich, Verträge und Verfassungen werden doch immer gebrochen. Das weiß doch echt jeder, der im Europa-Parlament oder im Bun-destag hockt. Denkt doch bloß mal eben an den ESM-Vertrag: Stütze sollten danach eigentlich nur sy-stemrelevante Banken bekommen. Aber jetzt kriegt die Zypern-Chose mit Zustimmung von Jürgen, Peer, Angela und Wolfgang zehn Milliar-den Euro und die ist so relevant wie die Hammelburger Volkssparkasse.

Ja, sicher, wenn Molotow, Peer und Siegmar diese Hartz IV-Ge-setze vom Schröder endlich in die Tonne treten, dann brauchen sie nicht nur das Geld von den Groß-kapitalisten. Das haben sie schon in ihre neuen Wahlprogramme ge-schrieben. Da muss mehr her: Wa-rum nicht die stille Steuerprogres-sion wieder voll aufleben lassen? Die kleinen Malocher kriegen das doch gar nicht mit!

Und das Familiensplitting? Das sind Relikte aus der patriarcha-lischen Feudalgesellschaft. Allein-erziehende können sich in Neukölln doch auch ohne Splittingtabelle pri-ma über Wasser halten. Das weiß doch jeder. Klar ist ja auch, dass die Pkw-Maut für die Autobahn endlich kommen muss. Es wird viel

zu viel CO 2 erzeugt. Na klar: Weni-ger Stinker auf der Autobahn – das ist ganz prima für die Umwelt. Was macht das schon, wenn in Wolfs-burg und Stuttgart ein paar Zehn-tausend Arbeitsplätze wegfallen? All die Leute nimmt der Frank Jür-gen Weise von der Bundesarbeits-agentur mit Kusshand und schickt sie alle zur Umschulung. Am besten in die Steuerverwaltung. Denn ein paar Hundert neue Steuergesetze und Ausführungsverordnungen brauchen ja auch mehr Steuerbe-amte, klaro! Und den Bayern-Uli, das wissen Molotow und Siegmar ganz genau, hätten mehr Steuerbe-amte schon längst zur Strecke ge-bracht.

Lasst den alten Kirchhof in Hei-delberg mosern: „Das deutsche Steuersystem ist ungerecht. Schon deswegen, weil niemand es mehr versteht. Was nicht als gerecht verstanden werden kann, kann auch nicht gerecht sein.“ – Also, das ist echt humanistische Spitz-findigkeit und Wortklauberei vom humanistischen Gymnasium. Und dessen vollständige Abschaffung haben Molotow, Siegmar und Peer ja längst ins Auge gefasst. Und der Bayern-Uli, der versteht sowieso nichts davon. wau

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U\ N\ T\ E\ R\ N\ E\ H\ M\ E\ N\

Schicksale zweier Weltunternehmen

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Schicksale zweier Weltunternehmen

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Sieben Männer waren es damals, eine Dampfmaschine mit drei PS und ein kleiner Dampfkessel. Das war Belegschaft und Ausrüstung einer Klitsche am Mainufer vor den Toren von Frankfurt/M. Gründung-stermin: Januar 1863. Die Männer bildeten die Urzelle des späteren Weltkonzerns Hoechst.

Die Schuhe und Arbeitskittel der Arbeiter trugen rote Spuren. Ursa-che war der Farbstoff, den sie her-stellten. Die Firma wurde im Volks-mund daher „Rotfabrik“ genannt.

Der Schlüssel zur Produktion von künstlichen Farben war im 19. Jah-rhundert die Destillation von Teer, deren chemisches Geheimnis erst mühsam dekodiert werden musste. Die ersten Farbenfirmen hießen da-her auch Teerfabriken.

Der Bedarf an synthetischen Far-

ben war enorm, denn die Naturfar-ben konnte sich die breite Masse nicht leisten. So kamen schnell weitere Farben hinzu. Deutschlands Farbenhersteller (nach Hoechst gab es schnell weitere Gründungen) exportierten 1902 allein 20 Mil-lionen Goldmark an Kunst-Indigo. Bereits 1877 kam die Hälfte aller in der Welt verbrauchten künstlichen Farbstoffe aus Deutschland.

Erst Farben, dannMedikamente

Die Farbenfirmen wuchsen und wuchsen. Biologen und Ärzte griffen in den 70-er und 80-er Jahren des 19. Jahrhunderts zu den synthetisch-en Farben, um Körpergewebe an-zufärben – so konnten sie es unter dem Mikroskop besser beobachten

und die Krankheitserreger iden-tifizieren. Nach der Synthese der Farben entwickelte sich so die Synthese der Medikamente. Es begann die Zusammenarbeit zwischen den Nobelpreisträgern Paul Ehrlich und Robert Koch. 1910 produzierte Hoechst (nach der Entdeckung durch Ehrlich) Salvarsan – damit wurde erst-mals die Behandlung von Syphilis möglich. Die Fabrik musste durch Stacheldraht geschützt werden. Kranke aus aller Welt kamen und wollten auf Biegen und Brechen an das Heilmittel. Mit einem Han-dels-U-Boot wurde Salvarsan im Ersten Weltkrieg sogar in die USA exportiert.

Neben der Säule Pharma ent-standen weitere Geschäftsfelder wie Kunststoffe, Düngemittel

Vor 150 Jahren wurden Bayer und Hoechst gegründet. Neben Glorie auch Tränen

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und Fasern. Aus Teerfabriken waren Chemie-Konzerne geworden.

Vom Bayer-Chef Carl Duisberg ging die Idee aus, die deutsche Großchemie zusammenzulegen (nach dem Beispiel der US-Trusts). So entstanden 1925 die IG Farben, die Farbwerke wurden integriert.

1952 wurden die IG Farben durch die Alliierten zerschlagen.

Doch kurze Zeit später stieg Hoechst wieder auf wie ein Phoenix aus der Asche. Zusammen mit Bayer und BASF bildete es das deutsche Chemie-Trio, alle spielten wieder in der Welt-Liga.

...und dann kam der Bad-Man desUnternehmens

1994 übernahm Jürgen Dor-mann, der erste Nicht-Chemiker, die Kommandobrücke. Jetzt be-gann das Sterbeglöcklein zu bim-meln. Zuerst wurden die Symbole Brücke und Turm am alten Haupt-gebäude abmontiert, dann die Chemie in alle Welt verkauft und die Pharma-Sparte mit dem fran-zösischen Konkurrenten Rhone-Poulenc fusioniert. Das nannte sich Aventis und wurde 2004 von Sanofi geschluckt – mit Unterstützung der französischen Regierung. Hoechst, ein Unternehmen mit 20 Milliarden

Euro Umsatz und 100 000 Mitarbe-itern, verschwand.

Die Belegschaft, die eine vorbild-liche Unternehmenskultur pflegte (die „Hoechst-Familie“) und treu zur Firma stand – gegen alle An-feindungen eines links-grünen Zeit-geistes - war fassungslos. Man sah alte „Rotfabrikker“ mit Tränen in den Augen. Christoph Wehnelt, ein Wirtschaftsjournalist, schrieb ein Buch und urteilte: Dormann sei eine „nur schwer begreifbare Un-ternehmerpersönlichkeit mit hoher Egozentrik, subversivem Macht-missbrauch und wenig Fortune“ gewesen. Wolfgang Hilger, ehema-liger Vorstandsvorsitzender: „Die Generation Dormann hat das in 50 Jahren aufgehäufte Vermögen ver-nichtet.“

Die Bayer AG dagegen kann die Champagnerkorken knallen las-sen. Voller Stolz feiert sie in diesen Monaten ihr 150. Jubiläum – welt-weit. Eine feine Kunstausstellung im Berliner Gropius-Bau (noch bis 9. Juni), eine Wanderausstellung durch die ganze Welt, eine Sonderbrief-marke und ein Luftschiff, auf dem das Bayer-Kreuz und die Mission groß zu lesen sind, steuert im Laufe dieses Jahres Ziele in vielen Teilen

der Welt an. Am Anfang (1863) stand auch

hier eine Männerfreundschaft, viel Forschergeist und zwei Küchen-herde. Auf denen experimenti-erten der Kaufmann Friedrich Bayer und der Färber Johann Friedrich Weskott – und fanden heraus, wie man den Farbstoff Fuchsin herstellt. Am 1. August 1863 gründeten sie in Wuppertal-Barmen die Firma „Friedr. Bayer et. comp.“

1866 wurden der Hauptsitz und die meisten Produktionsanla-gen auf ein größeres Gelände in Elberfeld verlegt. Hier wurde die Wirkung der Acetylsalicylsäure und der Sulfonamide entdeckt, die unter den Markennamen As-pirin und Prontosil auf den Markt gebracht wurden. Mit dem Sulfon-amid Prontosil führte Bayer das weltweit erste Chemotherapeuti-kum ein, das als Breitbandantibio-tikum eingesetzt werden konnte.

Carl Bosch protestiert bei Hitler

1883 kam der Chemiker Carl Duisberg zu Bayer und baute die chemische Forschung aus. Aufgr-und seiner jahrelangen Initiativen entstand dann der IG-Farben-Konzern mit BASF. Bayer und die Farbwerke Hoechst (mit Cassella

Bayer-Werk Leverkusen Foto: Linzenz GNU

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und Kalle), AGFA und anderen. Im Dritten Reich musste man die jü-dischen Arbeiter und Angestellten zwangsweise entlassen. Als Carl Bosch persönlich bei Hitler protes-tierte, dass man dadurch „um hun-dert Jahre zurückgeworfen“ werde, antwortete der: „Dann werden wir eben 100 Jahre ohne Chemie und Physik arbeiten“.

Nach dem zweiten Weltkrieg mussten sich 23 Leitende Ang-estellte der I.G. Farben im I.G.-Far-ben-Prozess unter anderem wegen Kriegsverbrechen verantworten.

Bayer heute: Die AG ist die Hold-ing-Gesellschaft des Konzerns, der aus über 350 Gesellschaften besteht. Schwerpunkt des Konzerns ist die chemische und pharmazeutische In-dustrie. Im Jahr 2012 erwirtschaftete Bayer bei einem Gesamterlös von rund 39,8 Milliarden Euro einen

Gewinn nach Steuern von 2,5 Mil-liarden Euro. Vorstandsvorsitzender Dr. Marijn Dekkers: “Was als kle-ine, aber innovative Farbenfabrik im heutigen Wuppertal-Barmen be-gann, ist heute ein Weltkonzern mit über 110 000 Mitarbeitern.”

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Hoechst Chemie-Park Knapsack Foto: Linzenz GNU

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P\ H\ I\ L\ 0\ S\ 0\ P\ H\ I\ E\

Deutschlands Denkerverlieren den Überblick

Von Jochen Dersch

Wer hätte das gedacht: Mindestens drei Dinge hat der Autor dieser Zeilen mit dem bekanntesten deutschen Philosophen gemein, und eines hat er ihm sogar voraus. Peter Sloterdijk, 1947 in Karlsruhe geboren, hatte eine aufgrund einer Rhesus-Inkompatibilität „komplizierte“ Geburt, „und auf die schwierige Geburt folgte eine schwere Gelbsucht. Seine Mutter...lernte seinen Vater...in den Nachkriegswirren kennen...“ So steht es, mit Zi-taten verifiziert, im Volkslexikon der Moderne, „Wiki-pedia“. Was der Autor Sloterdijk voraus hat: Im zarten Alter von sechs Wochen wurde er, dem man aufgrund derselben Diagnose keine Überlebenschancen ein-räumte, in der Uniklinik notgetauft. Ha!

Selbstverständlich ist das mitnichten interessant für den Leser. Es lässt aber die Deutung zu, dass der Ba-dener, der diese Angaben selbst getätigt hat, vor allem sein Image als Enfant terrible der deutschen Philoso-phie (sollte man besser sagen Philosopie-Szene?) pfle-

gen will. Ob er diese Sätze auch in das Dankschreiben an diejenigen geschrieben hat, die ihn 2001 zum Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe berufen haben, der er heute noch ist?

Sloterdijk steht für eine Neuordnung des Begriffs Philosophie, und das nicht, weil er diese „Königin der Wissenschaft“ in eine neue Dimension geführt hätte, sondern weil er sie und sich mit zeitgemäßen Mitteln präsentiert und vermarktet. Die Zahl seiner Werke ist Legion, er hat Grundlegendes verfasst, hat wichtige De-batten angestoßen und mehrere Preise – vor allem für seine Essays, aber auch für Architekturkritik und sein gesellschaftliches Engagement – abgeräumt. Aber hat er damit schon die Berufsbezeichnung „Philosoph“ ver-dient? Wir sind geneigt, die Frage zu bejahen, denn wer sonst, wenn nicht der uns allen den Spiegel vorhaltende und uns ständig daran, dass wir nicht alles im Griff ha-ben, erinnernde Zeitgenosse dürfte sich so nennen?

Hand aufs Herz: Kennen Sie außer Sloterdijk weitere zeitgenössische deutschsprachige Philosophen? Solche

Peter Sloterdijk, geb. 26. Juni 1947 in Karlsruhe, ist ein deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Buchautor. Seit 2001 ist er Professor für Philosophie

und Ästhetik und Rektor der HfG (Hochschule für Gestaltung) in Karlsruhe.

Seine Vita in Kürze: • 1968-74: Studium der Philo-sophie, Germanistik und Geschichte in München

• 1975 Promotion in Hamburg mit einer Studie zur Philosophie und Geschichte moderner autobiogra-

phischer Literatur • seit 1980 freier Schriftsteller, Veröffentlichung zahlreicher Arbeiten zu Fragen der

Zeitdiagnostik, Kultur- und Religionsphilosophie, Kunsttheorie und Psychologie • seit 1992 Professor

für Philosophie und Medientheorie an der Hoch-schule für Gestaltung Karlsruhe • seit 1993 Leitung

des Instituts für Kulturphilosophie an der Akademie der bildenden Künste in Wien • seit 2001 Rektor

der HfG • seit Januar 2002: Leiter der Sendung „Im Glashaus – Das Philosophische Quartett“, mit Rü-

diger Safranski, im ZDF • 1993 Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik • 2000 Friedrich Märker-Preis

für Essayistik • 2001 Christian-Kellerer-Preis für die Zukunft philosophischer Gedanken • 2005 Sigmund-

Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa • 2006 „Commandeur de l´Ordre des Arts et des Lettres“ der französischen Republik • Gastdozenturen am Bard College, New York, am Collège International

de Philosophie, Paris und an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, Zürich

Foto: Rainer Lück

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von Format oder besser solche, die über die Landes-grenzen hinaus bekannt sind?

Vorsicht: Die Träger großer Namen aus der jüngsten Geschichte diskutieren längst in einem, wenn es denn ein solches geben sollte, anderen Leben weiter. Jas-pers und Heidegger, die aus der Phänomenologie die Existenzphilosophie entwickelten starben 1969 bezie-hungsweise 1979, Adorno 1969; Ernst Bloch, der Phi-losoph der Hoffnung, ging 1977; der Sozialphilosoph

Jürgen Habermas 1993, also im selben Jahr wie Hans Jonas, dem es um die Verantwortung ging, ein Jahr da-nach der Erkenntnistheoretiker und Rationalist Karl R. Popper; zwei Jahre später folgte ihm der Wissenschafts-theoretiker Thomas. S. Kuhn; der Soziologe und Philo-soph Niklas Luhmann starb 1998; selbst Carl-Friedrich von Weizsäcker, der über die Physik zur Philosophie gekommen war, ist schon seit 2002 nicht mehr. Der einzige noch lebende ist Jürgen Habermas, der sicher zu dem meistgelesenen Philosophen der Welt gehört

und sich sein bisher 83 Jahre währendes Leben lang in die öffentliche Diskussion eingemischt oder sie gar angezettelt hat.

Sicher, gibt es einige, die zumindest Spuren hinter-lassen. Bernhard Waldenfels, der Bochumer Philosoph, der sich dem Phänomen des Fremden genähert hat, oder Ernst Tugendhat, dem wir profunde Schriften zur Sprachanalyse verdanken. Aber viel mehr gibt es nicht, wenn Bieri, Apel und Odo Marquard hier nicht genannt werden, möge man das verzeihen.

Das Problem mit den Philosophen ist das Problem der Diversifizierung – unserer Gesellschaft, des Berufs-lebens, der Forschung, des Denkens. Kann überhaupt heute noch ein Philosoph eine Bedeutung wie Fichte, Schopenhauer, Nietzsche Kant, Hegel erlangen? Da müsste sich einer um künstliche Intelligenz kümmern, um Theorien der Arbeit, um Steuern, Hartz IV, Neona-

zismus, künstlerische Installationen neuer Art, um elek-tronische Medien, die geistige Verarmung unserer Uni-versitäten, den Sinn oder Unsinn der Globalisierung, um rechtswidrige Einkäufe gestohlener Bankdatenträger durch den Staat, um die Gewinnung von Stammzellen, um den Zerfall bewährter Tugenden, um Phänomene wie die wuchernde Egomanie des Einzelnen, um die Er-pressermethoden einiger Gewerkschafter, den Einfluss der ungefilterten Informationsfluten auf den Menschen, um die unterschiedlichen Verurteilungen bei Vergehen gegen die Institution Staat und gegen das Individuum. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Liegt es also an der unüberschaubar gewordenen Vielfalt, in die sich die Philosophie aufgesplittet hat? Und falls ja: Warum hat sie sich denn in solch viele Bereiche zerfasert? Weil niemand mehr in der Lage ist, über sei-nen Tellerrand zu blicken? Angst vor dem Ungewissen,

Auch die „Königin der Wissenschaft“ passt sich den Gesetzen des Marktes an

Karls Jaspers Martin Heidegger Theodor Adorno Ernst Bloch Jürgen Habermas Hans Jonas Karl R. Popper Carl F. von Weizsäcker 1883 - 1969 1889 - 1976 1903 - 1969 1885 - 1977 geb. 1929 1903 - 1993 1902 - 1994 1912 - 2007

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das diese kleinkarierte Teilung offenbar mit sich bringt, haben zumindest die Jugendlichen, die vor der Frage der Studienwahl stehen: Die Zahl der Philosophie-Stu-denten sinkt stetig, in den letzten Zehn Jahren um fast die Hälfte auf rund 15.000. Dabei ist weder die Zahl der Lehrstühle (150) noch die der Professoren (330) gesunken. Für Prof. Carl Friedrich Gethmann ist die-se Tatsache allerdings kein Manko, sondern eher eine Katharsis; der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Philosophie meint nämlich, bis vor wenigen Jahren sei Philosophie ein beliebter Parkstudienplatz gewesen, damit sei seit Einführung von Studiengebühren und vor allem des Bachelor-Studiengangs Schluss. Manfred Meiner, Eigentümer des fast hundert Jahre alten Felix Meiner Verlags, sieht das anders. Der Umsatz philoso-phischer Bücher ist bei uns in wenigen Jahren um rund 20 Prozent geringer geworden. Für ihn ist genau die

Reform hin zum Bachelor-Studium der Grund dafür: Die Studenten lesen aufgrund der hohen zeitlichen Be-lastung nur noch das, was sie unbedingt müssen, aber nicht mehr, was sie vielleicht interessiert.

Wenn heute also laut Gethmann eher Themen- und Fragenbereiche wie „Lebenswelt und Wissenschaft“ angesagt sind und nicht mehr Logik, Ontologie oder Metaphysik – ist dies ein Zeichen mangelnden intel-

lektuellen „Fassungsvermögens“ oder Anpassung an die Bedürfnisse der Menschen? Oder ist Philosophie ohnehin nur noch ein Relikt aus der geisteswissen-schaftlichen Steinzeit? Dass aus Deutschland über 300 Jahre hinweg die wichtigsten philosophischen Denkan-stöße kamen, kann kein Grund sein, die (ehemalige?) „Königin der Wissenschaft“ künstlich am Leben zu er-halten. Wozu könnte die Paradedisziplin der deutschen Denker also heute noch dienen? Sie gibt „Orientierung darüber, was sinnvoll und sinnlos, ... angebracht oder verwerflich“, also gut und böse, ist, meint der Frank-furter Philosophie-Professor Martin Seel. In der „Zeit“ schrieb er: „Ohne den Kompass solcher Grundunter-scheidungen wüssten wir nicht, worin menschliches Gelingen und Scheitern besteht.“

Seel geht es um die Begriffe, die wir alle nahezu täg-

lich denken oder sprechen, auch und gerade mit ande-ren, und die wir in einem „oft stillschweigenden“ Kon-sens als gültig ansehen. Die Philosophie als praktische Lebenshilfe. So sieht es auch der Kulturstaatsminister a. D. Julian Nida-Rümelin: „Kein anderes Fach ist so dicht am Puls der Zeit.“

Er scheint recht zu haben. So wie schon einmal im 18. Jahrhundert, als bahnbrechende naturwissenschaftliche Erkenntnisse publiziert wurden und die Philosophie sich dieser neuen Themen annahm, ist es auch heute wieder. Ein kleiner Auszug aus den einzelnen Bereichen verdeutlicht das: Inzwischen gibt es Medien-, Umwelt- und Techniktheorie-Philosophie, Vertreter anderer Wissenschaftsbereiche – die Soziologie ist hier zuvör-derst zu nennen, aber auch die Biologie – werden zu Philosophen. Im Vorwort einer Antholo

Karls Jaspers Martin Heidegger Theodor Adorno Ernst Bloch Jürgen Habermas Hans Jonas Karl R. Popper Carl F. von Weizsäcker 1883 - 1969 1889 - 1976 1903 - 1969 1885 - 1977 geb. 1929 1903 - 1993 1902 - 1994 1912 - 2007

Alle Fotos auf diesen Seiten: Linzenz GNU

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gie schreibt Nida-Rümelin, die Philosophie habe kein „einigendes Selbstverständnis“ entwickelt. Geprägt sei sie vielmehr von „interdisziplinären Brückenschlägen“, ihn begeistert die „Phase des Austauschs und der Viel-falt“. Er versteigt sich gar zu der Vision, die Philosophie werde „künftig eine bedeutsamere Rolle spielen als die Lösung technischer Probleme“.

Gleichwohl mutet es seltsam an, dass Peter Sloter-dijk „nur“ auf Platz drei der meistgefragten Philosophen eines der wichtigsten Internet-Portale ist (nach Haber-mas und Bieri), im Bewusstsein der Öffentlichkeit aber führt er unangefochten die Hitparade an. Liegt es an

Gerhard Ernst: Fortschritt in der Philosophie?

(aus „Information Philosophie“, Heft 1/2013)

Im Big Typescript schreibt Ludwig Wittgenstein:

Ich lese „…. philosophers are no nearer to the meaning of ‚Reality’ than Plato got, ….“. Welche seltsame Sachlage. Wie sonderbar, dass Plato dann überhaupt so weit kommen konnte! Oder, dass wir dann nicht weiter kommen konnten! War es, weil Plato s o gescheit war? (Wittgenstein, BT, S. 424.)

Wittgenstein wirft hier eine beunruhigende Frage auf: die Frage nach dem Fortschritt und damit letztlich nach der Natur der Philosophie. Was ist das für eine seltsame wissenschaftliche Disziplin, in der es anscheinend überhaupt keinen Fortschritt gibt? Was machen wir Philosophen denn dann überhaupt? Warum schreiben wir Aufsätze und Bücher, anstatt Platon zu lesen und die Sache damit als erledigt zu betrachten? Aber wie sollte es andererseits möglich sein, dass ein Mensch die Sache der Philosophie mehr oder minder erledigen konnte? So gescheit war Platon ja wohl auch wieder nicht.

Ekkehard Martens: Philosophie in der Öffentlichkeit heute (Auszug aus einem Vortrag)

Wenn von „Philosophie in der Öffentlichkeit heute“ die Rede ist, denken die meisten von Ihnen vermutlich daran, welches Bild die akademische Philosophie heute in der Öffentlichkeit abgibt und wie man es verbessern könnte, auch um Absolventen der Philosophie Arbeitsplätze zu schaffen. Eine Möglichkeit von Philosophie in der Öffentlichkeit wären Vorlesungen für interessierte Laien. Den ersten derartigen Versuch machte Platon, indem er für seine AltersVorlesung „Über das Gute“ seine von ihm gegründete Forschungs und Lehrstätte der Akademie, die der heutigen akademischen Philosophie den Namen gegeben hat, die Öffentlichkeit zuließ. Wie dieser Versuch ausging, wissen wir aus einer Notiz von Aristoxenos, einem Schüler des AkademieAngehörigen Aristoteles. Aristoxenos berichtet: „Jeder nämlich sei gekommen in der Annahme, er werde etwas erlangen von dem, was man für die menschlichen Güter hält, z.B. Reichtum, Gesundheit, Kraft, überhaupt irgendeine wun-derbare Glücklichkeit. Als dann die Rede war (…), dass das Gute das Eine sei, da kam ihnen das, so glaube ich, höchst seltsam vor, und die einen verloren das Interesse an der Sache, die anderen kritisierten sie.“ Vermutlich brachten sie ähnliche Kritikpunkte wie heute vor: „Der redet völlig unverständlich! Das hat nichts mit unserem Leben zu tun!“ Meinte Platon, das Gute sei das eine, höchste Ziel unseres vielfältigen Strebens nach Glück? Was bedeutet dies genauer? Wir wissen es nicht, weil von Platons sogenannter „Ungeschriebenen Lehre“ nur wenige Fragmente überliefert sind.

dem Themen, mit denen sie sich beschäftigen? Wohl kaum: Der Schweizer Peter Bieri hirnt über das nach, was uns am wichtigsten sein sollte: die Freiheit. Viel-leicht hat ihm die übermächtige Medienpräsenz des ba-dischen Allrounders Sloterdijk den Schneid abgekauft. Statt sich wie dieser ständig im Fernsehen zu präsen-tieren und Essays über Juden/Christen/Moslems und die Steuern auszulassen, gab der Eidgenosse auf: Er zog sich aus der öffentlichen philosophischen Diskussion zurück und schreibt seither Romane.

Zitate zum Thema

AM ANFANG WAR DAS SCHIFF

w w w. ko ehler- b o ok s . d eGeorgsplatz 1 Tel.: 040/70 70 80-32320099 Hamburg Fax: 040/70 70 80-324

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Ein Buch über Professor Peter Tamm, den Stifter und Gründer des Internationalen Maritimen Museums, und seine eindrucksvolle Sammlung.

Mit einem sieben Zentimeter langen Modell eines Küstenmotorschiffs fi ng alles an. Die Sammlung von Professor Peter Tamm, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des Axel Springer Verlages, umfasst heute über 40.000 Miniaturschiffe und 1.000 Großmodelle, darunter Raritäten aus Gold, Silber und Bernstein, sowie die größte private Sammlung von Knochenschiffen weltweit. Hinzu kommen Ge-mälde, Globen, Seekarten, Kompasse und vieles mehr. Seit 2008 ist seine Sammlung zu 3.000 Jahren Schifffahrtsgeschichte in Hamburgs ältestem noch erhaltenen Speicherbauwerk, dem Kaispeicher B, auf neun Ausstellungsdecks zu bestaunen.

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Anz

eige

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Anz

eige

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Die Berliner Malerin Christiane Lillge hält sich gerne an Grenzen auf, die sie bezeichnet, um sie zu überschreiten: An der Grenze von der intuitiven Zeichnung zur strengen Komposition, an der Grenze von der Zeichnung zur Malerei, an der Grenze vom Realen zum Surrealen, an den Grenze vom Tanz zur Malerei, an den Grenzen der Kulturen.

Die Auflösung der Grenzen sucht die Malerin malend: Indem sie die träumende Hand den Weg aus dem Unbewussten

(vor-) zeichnen lässt, um ihm später mit dem Pinsel farbige Realität zu geben: Eine bewusst gebrochene Realität, die gern an der glatt polierten Oberfläche kratzt und hin und wieder tief schneidet, um Unbewusstes und Surreales frei zu legen. Mutig, sinnlich, vielschichtig, Kapriolen schlagend und augenzwinkernd.

Unter dem Titel Wandlungen ist eine Serie von 40 Pastellarbeiten entstanden. Was die Künstlerin dazu schreibt: nächste Seite.

Wandlungen Pastelle 2011-2012

K\ U\ N\ S\ T\

Feuers-brust

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Mein Modell steht selten ruhig und ist selten nackt. Sie hockt in einem Bot-tich, humpelt mit einem viel zu gro-ßen Gummistiefel durch den Raum oder stülpt sich eine Mülltüte über den Kopf. Aus der Beobachtung ihres skurrilen Spiels entstehen schnelle, spontane Vorzeichnungen, die später im Atelier ausgearbeitet werden.

Auf diese Art sind im letzten Jahr 40 Pastellbilder entstanden, die vom tänzerischen Spiel mit den Wand-lungsmöglichkeiten des weiblichen Körpers erzählen – und den maleri-schen Wandlungen darüber hinaus.

Kontakt: [email protected]

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Hänge - Matte (li) Kopfnuss (re)\41\

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Somnambule mit dem Stein der Leisen

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Antikörper\43\

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Taktiles Zentrum

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Page 45: verum no 2

Gut gerüstet

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Das nächste verum erscheint am 6. Juni 2013

Mailied

Wie herrlich leuchtetMir die Natur!Wie glänzt die Sonne,Wie lacht die Flur!

Es dringen BlütenAus jedem ZweigUnd tausend StimmenAus dem Gesträuch

Und Freud` und WonneAus jeder Brust.O Erd`, o Sonne!O Glück, o Lust!

O Lieb`, o Liebe!So golden schön,Wie MorgenwolkenAuf jenen Höh`n!

Du segnest herrlichDas frische Feld,Im BlütendampfeDie volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,Wie lieb` ich dich!Wie blickt dein Auge!Wie liebst du mich!

So liebt die LercheGesang und Luft,Und MorgenblumenDen Himmelsduft,

Weil ich dich liebeMit warmem Blut,Die du mir JugendUnd Freud` und Mut

Zu neuen LiedernUnd Tänzen gibst.Sei ewig glücklich,Wie du mich liebst!

(J. W. v. Goethe)

Ich bin im Mai idiotisch erotisch.Da leg ich ich immer gleich hin.Da wirkt alles Männliche auf mich hyp-notisch,wenn ich so erotisch bin.

Da sind meine Sinne total von Sinnen,da bin ich am ganzen Leib Weib.Da bringt mich der Anblick von Linnen zum Spinnen,o Trieb, du mein Zeitvertreib.

Um alle Hüften, da schwingt sich ein Bändchen,

mein Herz übt den Überschlag.Auf jede Rundung, da legt sich ein Händchenbei Nacht um am helllichten Tag.

Die alte Erde trägt junges Gemüse.Ein Früchtchen wird frühreif gepflückt.Es wiederbelebt sich die Hirnanhang-drüse,vom Zucken des Frühlings entzückt.

(Aus: Miriam Frances, So ist dasFranz Schneekluth Verlag, München)

Foto

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