vincent geheimakte van gogh - bücher.de · vangogh_v5.indd 2 09.07.10 17:32. 2010 lieber theo,...
TRANSCRIPT
VINCENT◊ GEHEIMAKTE ◊
VAN GOGHVON RALPH ERDENBERGER
vangogh_v5.indd 1 09.07.10 17:31
vangogh_v5.indd 02 09.07.10 17:31
MÜNCHEN ∙ BERLIN ∙ LONDON ∙ NEW YORK
Prestel
VINCENT◊ GEHEIMAKTE ◊
VAN GOGHVON RALPH ERDENBERGER
vangogh_v5.indd 03 09.07.10 17:32
vangogh_v5.indd 2 09.07.10 17:32
München, den 25. August 2010
Lieber Theo,
hier kommt Hilfe! Dein Lehrer hat Recht. Es gab diesen Maler wirklich.
Sein Name: Vincent van Gogh. Er lebte von 1853 bis 1890, war arm,
verzweifelt und hat sich tatsächlich ums Leben gebracht. Heute gilt
er als einer der bedeutendsten Künstler der Welt und für seine Werke
werden Millionenbeträge bezahlt. Wer Vincent wirklich war und was
er genau geschaffen hat, erfährst du in dieser Akte. Sie enthält neben
einem Steckbrief und Augenzeugenberichten die Protokolle meiner
eigenen Spurensuche, darunter: - die wichtigsten Orte in van Goghs Leben - berühmte Kunstwerke unter der Lupe - Landkarten der Aufbewahrungsorte berühmter Gemälde Folgende Fragen haben mich bei meiner Fahndung geleitet:
- Wie glücklich war die Kindheit des Künstlers?
- An welcher Krankheit hat er gelitten?- Hat er sich sein Ohr abgeschnitten? - Wo und wie ist Vincent van Gogh gestorben?- Warum gibt es zwei Gräber, die seinen Namen tragen?
- Gibt es lebende Nachfahren des Künstlers?Vielleicht kannst du die offenen Rätsel des „Vincent-Code“ lösen und
die Lösungsbuchstaben zu einem Codewort zusammensetzen. Damit kannst
du dann im Internet exklusive Geheiminformationen abrufen.Viel Erfolg bei deinem Referat!!!XYKunst-Detektiv
P.S.: Mit „Lieber Theo“ fangen übrigens auch die über 600 Briefe an,
die Vincent seinem Bruder geschrieben hat.
Kunst-Detektei XY Prinzregentenstr. 102 • 81677 München
vangogh_v5_rl.indd 3 20.07.10 18:43
vangogh_v5_rl.indd 4 20.07.10 18:43
KUNSTAKTENZEICHEN
VVG / 2010
Der Fall Vincent van Gogh
Totenschädel mit brennender Zigarette, 1885/86
vangogh_v5.indd 5 09.07.10 17:32
27. Juli
28. Juli
29. Juli
30. Juli
31. Juli
01. August
02. August
03. August
04. August
05. August
06. August
Untersuchung des Tatorts
Besichtigung Auberge Ravoux
S. 10-25
Wo und wie ist Vincent gestorben?
Wie ist Vincent aufgewachsen?
Wo hat Vincent
die “Kartoffelesser” gemalt?
Besichtigung Van-Gogh-Haus
S. 26-37
Interview mit Martien de Groot
S. 38-47
Das Nest von Zundert
Tod in Auvers-sur-Oise
Das Meisterwerk von Nuenen
Inhalt
vangogh_v5.indd 6 09.07.10 17:32
Besichtigung Haus Dr. Gachet
S. 92-101
07. August
08. August
09. August
10. August
11. August
12. August
13. August
14. August
15. August
16. August
Was hat Vincent in Paris gelernt?
Fremd in Paris
Was hatte es mit Vincents Ohr auf sich?
Was passierte in den letzten
Tagen vor seinem Tod?
Besichtigung Saint-Paul-de-Mausole
S. 78-91
Wie hat Vincent in der
Nervenheilanstalt gelebt?
09. August
10. August
11. August
12. August
13. August
14. August
15. August
16. August
Aufbruch in den Süden
S. 56-77
Gefangen in Saint-Rémy
Die Krähe von Auvers-sur-Oise
Recherchen in der Künstlermetropole
S. 48-55
Codewort S. 103 / Lösungen S. 104 / Auf den Spuren von Vincent van Gogh S. 105-109
Die Van-Gogh-Kartei S. 110-111
vangogh_v5_rl.indd 7 20.07.10 18:43
Selbstporträt, 1885
Steckbrief: Vincent van Gogh
HAARFARBE: rot
AUGENFARBE: grün-blau
NATIONALITÄT: Niederländer
STERNZEICHEN: Widder
VATER: Pfarrer
MUTTER: Hausfrau
GESCHWISTER: 5
BERUF: Kunsthändler, Prediger, Maler
CHARAKTER: naturverbunden, nachdenklich, impulsiv,
melancholisch, sensibel, arbeitssüchtig
HOBBYS: KEINE
TEUERSTES WERK: Bildnis des Dr. Gachet (82,5 Mio. Dollar)
WICHTIGE STATIONEN: Nuenen, Paris, Arles, Saint-Rémy,
Auvers-sur-Oise
KENNZEICHEN: Verletzung am linken Ohr
UNTERSCHRIFT:
30. März 1853
in Zundert (Niederlande)
29. Juli 1890
in Auvers-sur-Oise (Frankreich)
8
vangogh_v5.indd 8 09.07.10 17:33
Vincent im Alter
von etwa 13 Jahren
Im Spiegel von Augenzeugen
„Mehr breit von Gestalt als lang, den Rücken
leicht gekrümmt durch die Angewohnheit, den Kopf
gebeugt zu halten. Das rotblonde Haar – kurz ge-
schnitten – unter dem Strohhut, der ein abweisendes
Gesicht beschattete. Gar kein Jungengesicht. Die
Stirn schon leicht gerunzelt, die Augenbrauen
unter der hochgewölbten Stirn in tiefer Nachdenk-
lichkeit zusammengezogen über einem Augenpaar,
klein und tiefliegend. Mal blau, dann wieder von
grüner Farbe, je nach dem Eindruck, den irgend-
etwas in seiner Umgebung in ihm hervorrief und
ihn beschäftigte…“
Elizabeth, Schwester von Vincent
„Da stand er vor uns, dieser kleine,
kantige Mann, der von den Bauern ‚der
kleine Malerkollege‘ genannt wurde.
Sein sonnengebranntes, wettergegerb-
tes Gesicht wurde von einem roten und
struppigen Bart eingerahmt. Seine Augen
waren leicht entzündet, wahrscheinlich
von seinem Malen in der Sonne. Während
er über seine Arbeit redete, hielt er
seine Arme meist vor seiner Brust ver-schränkt.“
Sohn eines Druckers in NuenenVincent im Alter von etwa 24 Jahren
9
vangogh_v5_rl.indd 9 20.07.10 18:44
TOD IN
AUVERS-SUR-OISE
vangogh_v5.indd 10 09.07.10 17:33
vangogh_v5.indd 11 09.07.10 17:33
So steht es im ersten Zeitungsartikel, der über den Tod von Vincent van Gogh
berichtet hat. Er ist elf Tage nach der Tat im Lokalblatt „L’Écho Pontoisien“
erschienen. Ich habe die kleine Notiz im örtlichen Archiv aufgespürt, kopiert
und in meine Brusttasche gesteckt. Ich bin auf Spurensuche – auf den Tag
genau 120 Jahre nachdem sich Vincent van Gogh mit einer Pistole tödlich
verwundet haben soll.
Eine erste Spur
“Am Sonntag, den 27. Juli, hat sich ein gewisser Van Gogh – 37 Jahre alt, niederländischer
Maler auf Durchreise in Auvers – in den Feldern mit einem Revolver angeschossen.
Verwundet ist er auf sein Zimmer zurückgekehrt, wo er am übernächsten Tag verstarb.”
vangogh_v5.indd 12 09.07.10 17:33
13
In dieser kleinen französischen Stadt soll
es passiert sein: 30 Kilometer nordwest-
lich von Paris. Ein altes Schloss, ein
funkelnder Fluss, kleine Steinhäuser an
den Hängen, blühende Gärten – ein
malerisches Paradies! Hier hat Vincent
die letzten 70 Tage seines Lebens ver-
bracht und über 80 Bilder geschaffen.
Die meisten von ihnen: sonnig, leicht
und farbenfroh. Auch der Tag seiner
düsteren Tat war heiter. So steht es in
alten Wetterberichten.
Hat auch Vincent van Gogh damals diesen Weg ge-
nommen? Etwa mit seiner Staffelei? Wenn er malen
ging, dann schnallte er sich sein Malgerät immer auf
den Rücken. Die Vincent-Statue unten im Park hat es
mir verraten. Mindestens 14 Kilo soll sein kreatives
Gepäck gewogen haben. Vincent muss gut in Form
gewesen sein.
Dann endlich: die Ebene – Kornfelder bis zum Horizont.
Die Sonne brennt hier oben heißer, der Schweiß rinnt
schneller, Grillen zirpen ihr monotones Liebeslied.
Durchbrochen wird es nur vom Krächzen einer Krähen-
Bande, die irgendwo im Feld Körner raubt. Am
Wegesrand plötzlich: eine Tafel. Darauf eines der
letzten Gemälde von van Gogh: „Kornfeld mit Krähen“.
Er hat es in den letzten drei Wochen seines
Lebens gemalt. Hier an diesem Ort? Möglich,
auch wenn hinter der Tafel in diesem Jahr
nicht Weizen, sondern Mais angebaut wird.
Ist das Bild eine gemalte Todesahnung?
Einige Kunstkenner sind der Meinung. Hat
dieses Kornfeld etwas mit den Ereignissen
vom 27. Juli 1890 zu tun?
Ich kneife die Augen zusammen und nehme
das Bild genauer unter die Lupe. Meine
Fantasie versucht, den Tathergang zu
rekonstruieren…
AUVERS-SUR-OISE, 27. JULI 2010
Vincent-Statue
Kornfeld mit Van-Gogh-Tafel
Was hat den Meister der lebendigen
Farben so verzweifeln lassen, dass er an
einem Sommertag im Jahr 1890 keine
Hoffnung mehr für sich sah?
Vielleicht kann der Tatort noch Antwort
geben. In der Zeitungsnotiz ist von
„Feldern“ die Rede. Ein Einheimischer
schickt mich einen bewaldeten Hang
hinauf. Der steile Anstieg raubt mir
schnell den Atem.
vangogh_v5.indd 13 09.07.10 17:33
14
EIN FELD AUS GOLD
UNTER BLAUEM HIMMEL
Weich wiegt der Wind den Weizen. In
langen Wellen bewegt er dieses weite
Meer aus Getreide. Sanft, fast zärtlich.
Die trockenen Halme rauschen, flüs-
tern das Wiegenlied des Sommers. Ihre
üppigen Ähren sind reif. Würzig, strohig,
beinah süßlich duften sie in der Hitze
dieses Sommertages... Bald nun wird die
Sense kommen und reiche Ernte holen.
Da fällt der Schuss. Zerfetzt den stillen
Tag. Krähen schießen aus dem Feld,
flattern in den metallischen Himmel
und verdunkeln die Sonne. Das heisere
Geschrei des schwarzen Schwarms gellt
über die endlose Ebene.
Zurück im Feld bleibt ein einsamer
Mann. Flammende Haare, roter Bart.
Durch sein grobes Hemd sickert Blut.
Er liegt auf dem Rücken, die Arme vor
dem Bauch verschränkt, als wolle er
sich selbst umarmen. Wind kommt auf,
schüttelt das schutzlose Korn. Schmerz-
verzerrt blickt der Schwerverwundete
Ein Schuss im Kornfeld
Kornfeld mit Krähen, 1890
in einen turbulenten Himmel. Dunkle
Wolken türmen sich. Oder ist es die
anrollende Ohnmacht?
Gegen Abend kehrt eine Krähe zurück.
Sie landet am linken Ohr des Mannes.
Es ist verstümmelt, vernarbt – eine alte
Wunde! Diesmal hat es den Brustkorb
erwischt. Es sieht aus, als nähere sich
der aasfressende Vogel seiner Beute.
Doch das blauschwarze Gefieder streift
nur die Wange, streichelt sie.
Da erwacht der Mann. Seine grün-
blauen Augen blicken in die Pupillen
der Krähe wie in rabenschwarze Nacht.
Wo ist er? Dann spürt sein Körper, wie
kühle Abendluft in seine brennenden
Lungen strömt. Er fühlt, dass er lebt.
Immer noch! Er stöhnt. Dann bewegt
er sich. Und die Krähe? Flieht. Unter
Qualen richtet sich der kräftige Maler
auf und setzt fast mechanisch einen Fuß
vor den anderen. Langsam macht sich
Vincent van Gogh auf den Weg hinaus
aus diesem tödlichen Kornfeld. Er geht
nach Hause, um zu sterben.
vangogh_v5_rl.indd 14 20.07.10 18:44
15
DER HIMMEL
Die Gewitterwolken wirken bedrohlich.
Gleich werden sich Wind und Regen über
das schutzlose Korn hermachen. Ein Bild
vom Untergang? Stürmisches Wetter hat
van Gogh schon immer fasziniert. Er hatte
großen Respekt vor den Kräften der Natur.
Darin sah er aber auch Möglichkeiten. So
schreibt er im Mai 1888 an seinen Bruder
Theo: „Ein Pilot kann einen Sturm erfolg-
reich benutzen, um vorwärts zu kommen –
anstatt von ihm zerschmettert zu werden.“
Kann das Bild helfen, die Geschehnisse vom 27. Juli 1890 zu verstehen?
Hat Vincent van Gogh sogar verschlüsselte Botschaften hineingemalt?
DER WEG
Der grün-braune Weg beginnt an einer
Weggabel. Der mittlere Pfad verliert sich
im Nichts. Er könnte ein Symbol sein für
den Lebensweg. Auch dessen Anfang
und Ende kennen wir nicht. Führt der
Weg uns in eine Sackgasse oder zu neuen
Horizonten?
DIE KRÄHEN
Ein ganzer Schwarm von Krähen fliegt
über das Feld. Überfallen sie den Maler,
begleiten sie ihn oder fliegen sie weg?
Als Aasfresser gelten sie als Vorboten
von Unheil und Tod. Mit schwarzen
Strichen hat Vincent die unheimlich
kreischenden Vögel angedeutet. An
einigen Stellen lösen sich ihre Konturen
im düsteren Himmel auf.
vangogh_v5.indd 15 09.07.10 17:33
16
AUVERS-SUR-OISE, 27. JULI 2010
Ich verlasse die sengende Hitze der
Felder und suche Abkühlung im Touris-
musbüro im Herzen der Stadt. Dort über-
schwemmt mich eine bunte Welle von
Van-Gogh-Souvenirs: Postkarten, Poster,
T-Shirts, Tassen und sogar Radier-
gummis.
Ein Gemälde, das etwas abseits hängt,
stammt allerdings nicht von van Gogh.
Sein Titel macht mich stutzig: „Der Ort,
an dem sich Vincent umgebracht hat.“
Seltsam! Das Bild zeigt nicht das Korn-
feld, sondern einen anderen Ort, einen
abschüssigen Weg zwischen Lehm-
häusern und einer Mauer. Gemalt hat
es ein gewisser Louis van Ryssel im Jahr
1904, 14 Jahre nach der Tat. Wer war
dieser Maler?
„Louis van Ryssel war der Sohn des
Arztes, der van Gogh zuletzt behan-
delt hat“, klärt mich die Frau vom
Tourismusbüro auf. „Eigentlich hieß er
Paul Gachet. Sein Vater war dabei, als
van Gogh an seiner Schussverletzung
gestorben ist.“ Später, als dieser Dr.
Gachet selbst auf dem Sterbebett lag,
habe er seinem Sohn seine Erinnerungen
diktiert.
Tatsächlich! In der kleinen Bibliothek im
hinteren Teil des Tourismusbüros ist es
nachzulesen:
Tourismusbüro von Auvers
Louis van Ryssel, Der Ort, an dem sich Vincent
umgebracht hat, 1904
Der mutmaßliche
Tatort heute
Selbstbildnis, 1889
„Zwischen sieben und halb acht Uhr
abends hat Vincent sich auf der Ebene
hinter dem Schlosspark mit einem Revol-
ver in der Nähe des Herzens angeschos-
sen. Er ist in die ungefähr 800 Meter
entfernte Herberge zur Familie Ravoux
zurückgekehrt.“
Auch Wirtstocher Adeline Ravoux gab
zu Protokoll:
„Vincent ist in die Weizenfelder hinter
dem Schloss gegangen. Es war einen
halben Kilometer von uns entfernt. Im
Verlauf des Nachmittags – so hat mein
Vater verstanden – hat er sich auf der
Straße hinter der Schlossmauer ange-
schossen und ist ohnmächtig geworden.“
Der wahre Tatort?
vangogh_v5.indd 16 09.07.10 17:34
X
X
17
Hinter der Schlossmauer? Neugierig nehme ich die neue Spur auf. Mit einem
Stadtplan suche ich den mutmaßlichen Tatort. Die Lehmhütten und Felder sind
verschwunden. Stattdessen finde ich dort Einfamilienhäuser und eine geteerte
Straße. Der historische Ort ist planiert. Immerhin – die alte Schlossmauer kann
ich identifizieren. Auch hier ist eine Tafel angebracht: mit dem letzten Selbst-
bildnis von Vincent van Gogh. Es sei, so lese ich, an dem Ort aufgestellt worden,
an dem sich Vincent die Kugel gab, die ihn erst zwei Tage später töten sollte.
Wie weit ist es von hier bis zur Pension
der Familie Ravoux? 800 Meter? Gespannt
schreite ich die Straße ab. Nach fast 1000
Schritten erreiche ich das Haus, in dem
Vincent gestorben ist…
Kornfeld mit Krähen, 1890Plan von Auvers-sur-Oise
Tatort A
Tatort B
vangogh_v5_rl.indd 17 20.07.10 18:44
18
AUVERS-SUR-OISE, 28. JULI 2010
Das alte Holz ächzt unter dem Gewicht meiner Schritte. Die ausgetretene Treppe
der Auberge Ravoux ist steil. Wie viel Kraft muss es erst Vincent van Gogh gekostet
haben, sich mit einer Kugel im Leib in den zweiten Stock zu schleppen!
Die Kammer des Todes
Die Auberge Ravoux heute
Die Auberge Ravoux 1890
„Er war ein starker Mann“,
sagt Anne-Claire mit Bewun-
derung in der Stimme. Die
junge, rothaarige Angestellte
des Van-Gogh-Hauses geht
mit mir den letzten, schwe-
ren Weg des Malers. „Er ist
an jenem Abend allein zurückgekommen aus den
Feldern hinter dem Schloss.“ Seine Gastgeber – die
Familie Ravoux – warteten noch mit dem Abendessen
auf ihn. Normalerweise verpasste Vincent nie eine
Mahlzeit. An den Abend erinnert sich die Tochter des
Wirtes, Adeline, später so:
„Wir standen vor der Haustür,
um ein wenig frische Luft zu
schöpfen. Als wir Monsieur
Vincent wiederkommen
sahen, muss es etwa neun
Uhr abends gewesen sein.
Er ging gebeugt, hielt sich
den Magen und übertrieb
seine Gewohnheit, eine
Schulter höher zu ziehen als
die andere. Meine Mutter
sagte zu ihm: ‚Monsieur Vincent, wir haben uns Sorgen gemacht. Ist etwas Schlim-
mes passiert?‘ Er antwortete mit leidender Stimme: ‚Nein, aber ich hab mich...‘“
Dann soll Vincent die Stufen hinaufgeklettert sein zu seiner letzten Zuflucht.
Meine Begleiterin erzählt: „Er hatte sich dieses Zimmer ausgesucht, weil es das
preiswerteste im Ort war.“ Die Tür knarrt auf und gibt den Blick frei in einen Raum,
der nicht größer ist als eine Abstellkammer. Anne-Claire lächelt: „Glücklicherweise
war es ein Selbstmord!“ Glücklicherweise? Ich sehe sie bestürzt an.
vangogh_v5.indd 18 09.07.10 17:35
19
Die Stiege zu Vincents Kammer
Vincents Kammer
„Deshalb ist dieses Zimmer nicht wieder
vermietet worden. Man dachte, das brin-
ge Unglück für die anderen Gäste. Alles
ist so geblieben, wie es damals war.“
Die Kammer ist spärlich möbliert: ein
wackeliger Stuhl und ein kleiner Ein-
bauschrank. Die Wände sind rissig und
schmutzig, durch eine fast blinde Dach-
luke fällt etwas Tageslicht. Vincents
letzte Aussicht!
Ich trete heran und… zucke zusammen.
Da sitzt ein dunkler Schatten auf dem
Dach. Hockt dort ein gefiederter Geist?
Schon ist er auf dem Glas über meinem
Kopf und pickt mit spitzem Schnabel
dagegen. Anne-Claire lacht auf französ-
isch: „Schräge Vögel, diese Krähen!“
Die Vögel sind nicht die einzigen Schau-
lustigen. „Die ganze Welt kommt, um
diese sieben Quadratmeter zu sehen.
Dabei gibt es hier nichts“, gesteht Anne-
Claire. „Und doch ist der Raum voll mit
Gefühlen.“ Das Sterbebett hinter der
Tür fehlt. Dort muss Vincent gelegen
haben. Wie hat die Wirtstochter den
Moment beschrieben, als das Unglück
klar wurde?
„Mein Vater ging nach oben und er
fand Monsieur Vincent kauernd auf dem
Eisenbett. ‚Was ist los?‘, fragte mein
Vater. ‚Haben Sie sich etwas angetan?‘
Vincent hob sein Hemd und zeigte ihm
eine Wunde in der Nähe des Herzens.
Mein Vater schrie ihn an: ‚Sie Unglück-
licher! Was haben Sie getan!‘ – ‚Ich
habe versucht, mich zu erschießen – und
dieses Mal habe ich es hoffentlich nicht
vermasselt.‘“Vincents KammerVi t K
vangogh_v5.indd 19 09.07.10 17:35
20
27. JULI 1890, GEGEN 21 UHR
Arthur Ravoux, Vater von Adeline, schickt den Zimmer-
nachbarn, den niederländischen Maler Tom Hirschig,
einen Arzt zu holen. Vincent verlangt nach seiner
Pfeife, raucht und starrt vor sich hin.
Die letzten Stunden
Arthur Ravoux
Adeline Ravoux
Dr. Gachet
27. JULI 1890, GEGEN 21 UHR 30
Dr. Gachet und sein Sohn Paul treffen in der Herberge
ein. Sie stellen fest, dass die Kugel das Herz verfehlt
hat und noch im Brustkorb steckt. Angesichts des
schlechten Gesundheitszustands entscheiden sich die
beiden gegen eine Operation. Ihre Verordnung: eine
Nachtwache und absolute Ruhe.
28. JULI 1890, FRÜHER MORGEN
„Sind Sie derjenige, der sich umbringen wollte?“ Zwei
Polizisten stehen an Vincents Bett. Er antwortet: „Ich
glaube ja.“ – „Sie wissen, dass Sie kein Recht dazu
haben?“ Darauf Vincent in weichem Ton: „Mein Körper
gehört mir und ich kann damit tun und lassen, was ich
will.“ – „Und wo ist die Pistole?“ Keine Antwort.
vangogh_v5.indd 20 09.07.10 17:35
21
28. JULI 1890, FRÜHER NACHMITTAG
Bruder Theo trifft in Auvers-sur-Oise ein
und begrüßt Vincent mit einem Kuss. Er
hält ihm die Hand, sie sprechen ihre Mutter-
sprache: Niederländisch. „Ich fand ihn in
einem besseren Zustand vor als ich dachte“,
schreibt Theo später an seine Frau. „Er war
froh, dass ich kam und wir die ganze Zeit
zusammen waren. Armer Kerl, so wenig
Glück war ihm beschieden, und er hat keine
Träume mehr. Die Last wird manchmal zu
schwer, er fühlt sich dann so allein. Oh,
wenn wir ihm nur neuen Lebensmut geben
könnten!“ Dennoch erkennt Theo den Ernst
der Lage. „Aber du sollst wissen, Liebling,
dass sein Leben in Gefahr ist.“
29. JULI 1890, 1 UHR 30
Vincent van Gogh ist tot. Bruder Theo
schreibt: „Einer seiner letzten Sätze war:
‚Ich wünschte, ich könnte auf die Weise
gehen‘ – und sein Wunsch wurde erfüllt.
Eine große Ruhe kam über ihn, von der er
nicht wieder ins Leben zurückkehrte. Er
hat nun die Ruhe, die er auf Erden nicht
finden konnte.“
29. JULI 1890, VORMITTAG
Theo van Gogh, Arthur Ravoux und
Dr. Gachet geben die offizielle Todesanzeige
auf. Die Tatwaffe bleibt verschwunden.
Theo van Gogh
Sterbeurkunde
vangogh_v5.indd 21 09.07.10 17:35
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Ralph Erdenberger
Geheimakte Vincent van Gogh
Gebundenes Buch, Pappband, 112 Seiten, 16,0 x 23,5 cm220 farbige AbbildungenISBN: 978-3-7913-7016-3
Prestel
Erscheinungstermin: Oktober 2010
Der Fall Vincent van Gogh Vincent van Gogh: War er verrückt oder ein Genie? Oder gar beides? Wie schaffte er es in zehnJahren über 800 Bilder zu malen? Das geheime Dossier des Kunstdetektivs erzählt Kindernanhand von Materialen, Bildern, Dokumenten vom Leben und Werk des einsamen KünstlersVincent van Gogh, der zeitlebens kaum ein Bild verkaufte und dessen Gemälde heute zu denteuersten der Welt zählen.