virtual waterway“, · 2018. 12. 19. · virtual waterway“, eine simulationsumgebung fu¨r...
TRANSCRIPT
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”Virtual Waterway“,eine Simulationsumgebung für Verkehrsabl̈aufe auf
Binnenwasserstraßen
Von der Fakulẗat
Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik
der Universiẗat Stuttgart
zur Erlangung der Ẅurde eines Doktor-Ingenieurs (Dr.-Ing.)
genehmigte Abhandlung
Vorgelegt von
Jörn Beschnidt
aus Schwedt
Hauptberichter: Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. mult. E.D. Gilles
Mitberichter: Prof. Dr.-Ing. Achim Kienle
Tag der Einreichung: 15. M̈arz 2010
Tag der m̈undlichen Pr̈ufung: 22. Dezember 2010
Institut für Systemdynamik (ISYS)
der Universiẗat Stuttgart
2010
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Institut für Systemdynamik und Regelungstechnik der Universität Stuttgart.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. mult. E. D. Gilles für die Ermöglichung
und Förderung dieser Arbeit und für die Freiheiten bei derUmsetzung dieser Aufgabenstellung.
Ebenso möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr.-Ing. A. Kienle f¨ur das Interesse an meiner Arbeit
und die freundlichëUbernahme des Mitberichts bedanken.
Besonders danken möchte ich ebenfalls den Dres.-Ing. T. Gern, R. Zimmermann, M. Sandler
und A. Driescher für die wertvollen Anregungen zu meiner Arbeit. Für die Durchsicht des
Manuskripts bedanke ich mich bei Dr.-Ing. A. Lutz und Dipl.-Ing. A. Lachmeyer.
Allen Kolleginnen und Kollegen des Instituts danke ich herzlich für das freundliche und moti-
vierende Arbeitsklima und die immer vorhandene Bereitschaft zur Diskussion und gegenseiti-
gen Unterstützung. Speziell gebührt mein Dank den momentanen und ehemaligen Mitarbeitern
und Studenten der”Schiffsgruppe“ des Instituts und des Max-Planck-Instituts in Magdeburg für
die stets gute Zusammenarbeit. Im Besonderen danke ich dabei V. Adam, R. Barthel, M. Hetzin-
ger, M. Junge, A. Lachmeyer, A. Lutz, V. Schlecht und T. Ziegler, die im Rahmen von Studien-
und Diplomarbeiten Anwendungen für die Simulationsumgebung entwickelt und so zum Ge-
lingen dieser Arbeit beigetragen haben.
Die Versuchsfahrten auf dem Peilschiff”Neckar“ werden mir stets in Erinnerung bleiben. Hier
möchte ich mich bei den Herren Schiffsführern Tibi und Heusch für ihre Aufgeschlossenheit
und sachliche Kritik bedanken. Die Erprobung des Simulators an der Wasserschutzpolizei-
Schule Hamburg stellt ebenfalls eine wichtigen Meilenstein dieser Arbeit dar. In diesem Zusam-
menhang möchte ich mich bei den Herren EPHK J. Kämereit undB. Bahnsen für die wertvollen
fachkundigen Hinweise bedanken.
Nicht zuletzt danke ich herzlich meiner Familie und ganz besonders meiner Frau Dagmar für
die Geduld und die stete Unterstützung bei der Fertigstellung dieser Arbeit.
Reutlingen, Dezember 2010 Jörn Beschnidt
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Inhaltsverzeichnis
Kurzfassung viii
Abstract xi
1 Einleitung 1
1.1 Das ’Integrierte Navigationssystem’ . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . 1
1.2 Erprobung in Simulation und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 3
1.3 Zielsetzung und Gliederung dieser Arbeit . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . 5
2 Simulation von Verkehrsabläufen 6
2.1 Simulation der Fahrzeugdynamik im Straßenverkehr . . . .. . . . . . . . . . . . 6
2.1.1 Beispiele für Simulationswerkzeuge . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 8
2.1.2 Übertragbarkeit auf den Verkehr auf Binnenwasserstraßen .. . . . . . . 10
2.2 Simulation des Schienenverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . 11
2.3 Simulation von Binnenwasserstraßen . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . 12
2.3.1 Projekte im Bereich Verkehrsmanagement und Verkehrssimulation . . . 13
2.3.2 Einordnung der”Virtuellen Wasserstraße“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3 Systemstruktur der Simulationsumgebung 16
3.1 Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 17
3.1.1 Topografische und geografische Informationen . . . . . . .. . . . . . . . 17
3.1.2 Navigationsinformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 19
3.1.3 Muster für Simulationsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 20
3.1.4 Verhaltensbeschreibungen und Bewegungsmodelle . . .. . . . . . . . . . 21
3.1.5 Modelle für Sensoren und Aktoren . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 22
3.1.6 Kommunikationsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 22
3.1.7 Implementierung und Erweiterbarkeit . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 23
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vi INHALTSVERZEICHNIS
3.2 Administrator (Simulationsmodul) . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 28
3.2.1 Simulationsobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 28
3.2.2 Simulationssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 30
3.2.3 Kommunikationsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 32
3.2.4 Implementierung und Erweiterbarkeit . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 33
3.3 Schnittstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 35
3.3.1 Schnittstellen zu externen Systemen . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 35
3.3.2 Benutzerinteraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 37
3.3.3 Konfigurationsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 38
3.4 Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 38
4 Modellierung der Schiffsdynamik 39
4.1 Schnittstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 42
4.2 Schiffsaktorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 43
4.2.1 Eigenschaften realer Stellglieder . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 44
4.2.2 Modellierung der Stellglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 47
4.2.3 Implementierung der Aktorik im Simulator . . . . . . . . . .. . . . . . . 52
4.2.4 Modellierung realer Stellglieder . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 64
4.3 Modelle für das Schiffsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . 68
4.3.1 Modellstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 68
4.3.2 Modellierung der Längsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 69
4.3.3 Modellierung der Rotationsdynamik nach Nomoto . . . . .. . . . . . . . 71
4.3.4 Modellierung der Querdynamik (Physikalischer Ansatz) . . . . . . . . . 71
4.3.5 Modellierung der Rotationsdynamik (PhysikalischerAnsatz) . . . . . . . 72
4.3.6 Physikalisches Modell für Flachwasser . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 73
4.3.7 Implementierung der Modelle im Simulator . . . . . . . . . .. . . . . . . 74
4.3.8 Modellierung realer Schiffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 79
4.4 Verhaltensbeschreibungen für das geregelte Schiff . .. . . . . . . . . . . . . . . . 84
4.4.1 Einfacher Bahnfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 84
4.4.2 Dynamischer Bahnfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 85
4.4.3 Drehratenregler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 86
4.4.4 Kursfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88
4.4.5 Objektfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 88
4.5 Berücksichtigung von Umwelteinflüssen . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . 90
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INHALTSVERZEICHNIS vii
5 Sensorik 91
5.1 Radar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .94
5.1.1 Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 94
5.1.2 Simulation des Radarsensors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 97
5.1.3 Fehlermodell für den Radarsensor . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 99
5.1.4 Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 107
5.2 GPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5.2.1 Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 113
5.2.2 Simulation und Fehlermodell des GPS-Sensors . . . . . . .. . . . . . . . 116
5.2.3 Implementierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 119
5.3 Sonstige Sensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 120
5.4 Hinzufügen weiterer Sensoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 123
6 Anwendungen 124
6.1 Erprobung von Navigationssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 124
6.1.1 Konfliktanalyse und automatische Leitlinienplanung. . . . . . . . . . . . 124
6.1.2 Erprobung neuer Schiffssensorik . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 131
6.2 Simulation von Einzelschiffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 135
6.2.1 Radarsimulator der Hamburger Wasserschutzpolizei .. . . . . . . . . . . 135
6.3 Simulation weiträumiger Verkehrsabläufe . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 137
6.3.1 Landgestützte Küstenüberwachung in Estland und Portugal . . . . . . . . 139
6.3.2 VTS-Anlagen in den Häfen von Antwerpen und Oostende .. . . . . . . 140
6.3.3 Trainer für Flugsicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 141
7 Zusammenfassung und Ausblick 142
A Beispielschiffsdaten 144
A.1 Hochseeschiffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 144
A.1.1 Dimensionierung von Bugstrahlrudern . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 146
A.2 Binnenschiffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 147
B Formelzeichen 148
Literaturverzeichnis 153
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Kurzfassung
Die vorliegende Arbeit stellt Aufbau, Funktionsweise und Anwendungen einer virtuellen Navi-
gationsumgebung für die Simulation von Verkehrsvorgängen auf Binnenwasserstraßen und Küs-
tengewässern vor. Schwerpunkt der Simulationsumgebung ist die Modellierung der Dynamik
von Schiffen in strömenden Gewässern sowie die wirklichkeitsgetreue Nachbildung von Sen-
sormessungen, wie Radar und GPS. Durch Kopplung mit externen Sensordatenverarbeitungs-
und Steuerungssystemen (z. B. Navigations- oder Verkehrs¨uberwachungssysteme) können de-
ren Funktionen unter realitätsnahen Bedingungen umfassend und gefahrlos erprobt werden.
—
Die Entwicklung und der erfolgreiche Einsatz des am Institut für Systemdynamik und Rege-
lungstechnik der Universität Stuttgart entstandenen integrierten Navigationssystems für Bin-
nenschiffe wären undenkbar ohne eine umfassende Erprobung unter wirklichkeitsnahen Be-
dingungen. Insbesondere bei der Untersuchung neuer Verfahren und Komponenten kann ein
bedeutender Anteil der kostspieligen und unter Umständensogar gefährlichen Versuchsfahr-
ten vermieden und durch Simulationen mit einem geeigneten Werkzeug ersetzt werden. Die in
dieser Arbeit vorgestellte Simulationsumgebung dient diesem Zweck. Sie erlaubt die Echtzeit-
simulation der relevanten Aspekte der realen Welt und ermöglicht so die Erprobung sämtlicher
Funktionen des Navigationssystems unter realistischen Bedingungen. Für ein simuliertes Schiff
kann die gesamte Bandbreite an Messsignalen und Informationen generiert werden, die in der
Realität entsprechende Hardwarekomponenten an Bord liefern würden. Außerdem reagiert das
virtuelle Schiff auf die Steuersignale des Navigationssystems durchÄnderung seines Bewe-
gungszustandes, wobei sowohl die Eigendynamik des Schiffes als auch der Einfluss der Umge-
bung berücksichtigt werden. Für das Navigationssystem ist es im Idealfall nicht erkennbar, ob
es ein reales oder virtuelles Schiff steuert.
Neben der Erprobung von Navigationssystemen erlaubt die Simulationsumgebung auch die
Nachbildung von weitläufigeren Verkehrsvorgängen auf Wasserstraßen, wie z. B. die Darstel-
lung von makroskopischen Verkehrsabläufen in Häfen, Küsten- oder Binnengewässern. Hierbei
spielt die exakte Modellierung der Schiffsdynamik eher eine untergeordnete Rolle, viel mehr
werden Verhaltensmuster für Schiffsführer und Bedienpersonal verwendet sowie Funktions-
abläufe und Kommunikationswege nachgestellt.
Die Simulation basiert auf einer digitalen Nachbildung derWasserstraße in Form einer ’elektro-
nischen Karte’. Diese kann eine Gruppe von Flüssen oder auch die Küstenregion eines Meeres
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abdecken. Die Karte liefert die statischen Daten zur Topographie der Wasserstraße, wie Ufer-
linien, Brücken, Tiefen- und Strömungsprofile, außerdemwichtige Navigationsdaten, zum Bei-
spiel den Verlauf von Fahrrinne und Idealkurs sowie Verkehrsvorschriften. Die Karte dient nicht
nur als Datenbank sondern ermöglicht letztlich auch die grafische Darstellung der Navigations-
umgebung der simulierten Schiffe. Grundlage für die elektronische Karte bildet ein auf dem
maritimen ECDIS-Standard basierendes Kartenwerk der europäischen Binnen- und Küsten-
gewässer, welches um Strömungs- und Verkehrsinformationen ergänzt wurde. Um zusätzlich
die für die Binnennavigation relevanten Elemente zu unterstützen, wurde auch die relativ neue
Inland-ECDIS-Erweiterung des Standards berücksichtigt.
Kern des Simulationsmoduls ist der sog. Administrator, derdie simulierten Objekte verwaltet
und den Zeittakt der Simulation bestimmt. Die zeitliche Beschleunigung der Simulation kann
je nach Aufgabe beliebig vorgegeben werden; bei Anbindung an ein Navigationssystem ist man
jedoch auf Echtzeitsimulation festgelegt.
Das Simulationsmodul unterscheidet zwischen statischen und dynamischen Simulationsobjek-
ten.Statische Objektesind ortsfest und verfügen über eine Verhaltens- und Zustandsbeschrei-
bung. Zu dieser Gruppe zählen vor allem Einrichtungen entlang der Wasserstraße, wie Schleu-
sen, landgestützte Radaranlagen oder AIS-Basisstationen. Dynamische Objektëandern im Ver-
lauf der Simulation ihren Bewegungszustand. Sie erforderndeshalb neben dem Verhaltens-
muster ein dynamisches Modell, welches den Bewegungsvorgang und die Reaktion auf Stell-
eingriffe beschreibt. Wichtigster Vertreter dieser Gruppe sind die simulierten Schiffe.
Ohne Nutzereingriff werden die Schiffe entsprechend einergewählten Verhaltensbeschreibung
z. B. auf einer typischen Kurslinie geführt. Dieser Automatik-Modus dient vor allem dazu, Ver-
kehrssituationen nachzustellen, in denen die Schiffe eigenständig agieren. Alternativ kann das
Schiff auch per Hand über eine Bedienkonsole oder durch einexternes System gesteuert wer-
den. In diesem Fall kommt ein Aktor- und Bewegungsmodell zumEinsatz, um die Reaktion des
Schiffes auf die Steuersignale zu berechnen. Zur Simulation der Schiffsaktorik werden verschie-
dene Kombinationen aus Propellern, Ruderanlagen und Querstrahlrudern bereitgestellt. Die ver-
wendeten Differentialgleichungen zur Beschreibung der Schiffsdynamik basieren auf Erweite-
rungen des sog.Nomoto-Modellsund physikalischen Modellen, die die auf den Schiffskörper
wirkenden hydrodynamischen Kräfte und Momente nachbilden. Die Beschreibung der Aktor-
und Bewegungsmodelle der Simulationsumgebung bildet einen Schwerpunkt dieser Arbeit.
Auf fließenden Gewässern wird zusätzlich zur Dynamik des Schiffes der ortsabhängige Vek-
tor der Strömung berücksichtigt. Da der Strömungsverlauf von vielen Faktoren abhängt, ist
die Berechnung von realistischen Strömungsprofilen mit einem hohen numerischen Aufwand
verbunden. Zur Simulation der Strömung wird deshalb bei Flüssen vereinfachend ein paralle-
ler Verlauf zur Flussachse angenommen. Alternativ kann einStrömungsfeld a-priori über ein
beliebig feines Gitternetz von Einzelvektoren definiert werden.
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Als Ergebnis der Bewegungsberechnung liefert das Modell den exakten Zustand (Position, Ge-
schwindigkeit, Drehbewegung) des Schiffes innerhalb der Simulation. In der Realität stehen
diese Zustandsdaten jedoch nicht zur Verfügung, sondern müssen gemessen werden. Jede reale
Messung ist wiederum mit Fehlern behaftet, so dass der wahreBewegungszustand des Schiffes
nur näherungsweise bestimmt werden kann. In einem integrierten Navigationssystem erfolgt
dies z. B. durch Verarbeitung aller Sensorsignale in einem erweiterten Kalman-Filter, welcher
die stochastischen Eigenschaften der Sensormessungen unddie Dynamik des Schiffes model-
liert. Um diese Sensorverarbeitung umfassend zu testen, erfolgt in der Simulation eine realitäts-
nahe Sensormodellierung mitsamt Fehlermodellen und Ausfallerscheinungen. Die Simulations-
umgebung stellt zu diesem Zweck eine Auswahl der wichtigsten Sensoren an Bord von Schiffen
zur Verfügung: Bordradar, GPS (Standard, PDGPS, CPDGPS, Winkel-GPS), Ruderlagegeber,
Wendeanzeiger, Kreiselkompass, Drehzahlmesser, Dopplerlog, Tiefenecholot und Anemometer
sowie Exoten, wie Laserscanner- und Ultraschall-Abstandssensoren. Da Radar und GPS inner-
halb der Sensorverarbeitung eine Sonderstellung einnehmen, wurde ihrer Modellierung beson-
dere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Beschreibung ihrer Umsetzung ist ein weiterer Schwer-
punkt dieser Arbeit.
Der Nachrichtenaustausch zwischen den Schiffen wird überein Kommunikationsmodul nach-
gebildet. Dieses Modul ermöglicht z. B. die Simulation vonAIS-Transpondern, Positionslich-
tern und Sprechfunk.
Die Simulationsumgebung wird gegenwärtig für unterschiedliche Aufgaben eingesetzt. Zum
einen dient sie im Rahmen der Weiterentwicklung des Navigationssystems als Testumgebung
für neue Module und Algorithmen. Neben den aktuellen Themen, wie der automatischen Leit-
linienplanung und der Untersuchung neuer dynamischer Schiffsmodelle, standen hier in der
Vergangenheit die Einbindung neuer Sensoren, wie Echolot oder Ultraschall, sowie Regelungs-
algorithmen für Anlege- und Kolonnenfahrtmanöver im Vordergrund.
Durch die Möglichkeit, eine große Zahl von Schiffen in die Simulation einzubeziehen, las-
sen sich auch komplexe Verkehrssituationen nachstellen und untersuchen. Deshalb wird die
Simulationsumgebung zum anderen auch bei der Entwicklung und Erprobung moderner Multi-
sensorsysteme für die Küstenüberwachung eingesetzt. Bei derartigen Systemen werden die
Radarbilder einer Kette von Küstenradaranlagen in einer Revierzentrale erfasst und einander
überlagert, um so ein Gesamtabbild des Verkehrsgeschehens zu erzeugen. Während der Ent-
wicklung des Systems erfolgt die Verkehrssimulation und Radarbildgenerierung in der Simula-
tionsumgebung. Neben dem Einsatz als Testumgebung wird derSimulator auch für Trainings-
und Demonstrationszwecke verwendet. So findet er Anwendungals Sensor-Emulator im Rah-
men der Schulung von Schiffsführern an Navigationsradaren und wurde im Rahmen einer Wei-
terentwicklung auf die Modellierung von Flugzeugen und Flugmanövern ausgedehnt, um den
Einsatz in der Ausbildung von Fluglotsen zu ermöglichen.
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Abstract
This thesis presents the structure, functionality and applications of a virtual navigation environ-
ment for the simulation of traffic on inland and coastal waterways. The simulation is focused
on realistically modelling the dynamics of vessels in waterand on generating typical sensor
measurements such as radar or GPS. Simulated objects react according to internal behaviour
descriptions or external control signals. Due to the ability to simulate a large number of vessels
and objects, even complex traffic scenarios can be created. The simulator can be linked to ex-
ternal units or systems – such as radar processing systems, on-board navigation equipment, or
vessel traffic service (VTS) and coastal surveillance systems – thereby allowing to extensively
and safely test and validate their functionalities under real-time and close-to real-life conditions.
—
Development and installation of modern on-board navigation equipment and complex vessel
traffic surveillance systems would be nearly impossible without extensive validation under rea-
listic conditions. Specifically, if new technologies or components are introduced to the system,
a major part of expensive and time consuming real-life testscan be avoided if initial testing can
be performed using a suitable simulation tool. The simulation environment presented in this
thesis serves this purpose. It allows the real time simulation of all relevant aspects of modern
vessel traffic and provides various means to extensively test and verify the sensor processing
functions of the navigation or surveillance system under development.
For a simulated entity – which can be a vessel, an aircraft or ashore-based station – the entire
range of movement data and sensor signals – which in reality would be provided by the respecti-
ve installed hardware components – can be generated and passed to the connected system under
test for processing. In return, the simulated entity reactsto the control signals generated by the
connected system by adjusting its movement and component state, taking into account its own
dynamic properties as well as the influence of the navigational environment. Ideally, the system
under test is unaware of whether it is processing real or simulated data.
In order to test traffic management systems however, it is less important to accurately simulate
the movement of a single vessel. Instead it is vital to produce traffic data from a large number of
vessels operating in a harbour or coastal area. In this case,the simulation is focused on providing
an adequate automatic behaviour for all entities, like route keeping or site operation, as well as
typical communication channels and wide area sensor coverage.
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The simulator uses a set of digital charts to create its internal representation of the waterway.
These charts are derived from the maritime ECDIS (Electronic Chart Display and Information
System) standard which has been extended by elements relevant for inland navigation (Inland-
ECDIS). ECDIS charts may comprise a group of rivers or the coastal region of a sea or ocean.
They provide the static data on the topography of the waterway, such as river banks, shore lines,
bridges, depth and current profiles; furthermore, important navigational data, like the location
of the fairway, way points or traffic regulations. The chartsare not only used as a database
but also to display the navigational environment during thesimulation. Apart from the digital
chart, the database of the simulator maintains various libraries providing object and component
templates, which are used to create and equip the simulated objects.
The simulation module distinguishes between static and dynamic simulation objects.Static ob-
jects are immobile and are controlled by a behaviour description.This group comprises the
shore-based stations along the waterway and the coast line,such as control centers, locks, or
signal and surveillance sites (radar sites, AIS base stations).Dynamic objects, on the other hand,
change their state of movement in the course of the simulation. Thus, apart from the behaviour
description they require dynamic models, which describe the reaction to control signals and
the movement dynamics. The most prominent representativesof this group are the simulated
vessels.
Without user interaction the vessels are guided according to their behaviour description along a
typical traffic route. This mode is useful to build traffic scenarios in which vessels operate auto-
nomously. Alternatively, vessels can be controlled manually via a control panel or by an external
system, such as a navigation system connected to the simulator. In this case, the models for the
dynamics of the actuators and the movement of the object are used to calculate the reaction of
the vessel to the control signals and various external influences. To simulate the actuating ele-
ments, an assortment of rudder, propeller and engine configurations is provided. The differential
equations used to describe the vessel dynamics are derived from the well-established movement
model proposed by Nomoto [99]. Alternatively, physical models based on the evaluation of
the effective hydrodynamic forces and moments can be used tocompute the movement of the
vessel. The detailed description of the various models for actuators, movement dynamics and
general vessel behaviour constitute a central portion of this work.
Output of the model-based computation is an update of the vessel’s dynamic state, comprising
values for position, velocity and rotational movement of the vessel in the simulation. In prac-
tice, these values can only be obtained using measurements.Each measurement introduces an
error to the measured state value, thus, the true value can only be obtained in approximation. A
typical sensor processing system would use methods like averaging or Kalman filtering to cope
with the stochastic properties of the measurements. To validate the sensor processing functi-
ons of such a system under realistic conditions, the simulation closely emulates the properties
of sensors, including their error and failure behaviours. To facilitate such tests, the simulation
environment provides a set of common navigation sensors, which can be equipped to the si-
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mulated vessels, including Radar, GPS, Rate gyro, Gyro compass, Log and Depth sounder as
well as communication equipment, like radio, typhon and AIStransponder. Furthermore, the
state of the actuators can be measurend using components, like rudder position indicator and
tachometer. Since Radar and GPS hold an exceptional position among navigation sensors, their
emulation will be discussed in detail.
Specifically the radar simulation emulates the properties of the radar sensor as closely as possi-
ble. The radar video data is generated using a modified ray tracing algorithm, scanning all radar
reflecting objects present in the digital chart and the surrounding traffic. To create a realistic
radar image, the calculated echo areas are filled with patterns obtained from radar video recor-
dings containing situations with similar reflection properties. Finally the generated echoes are
collected in rays and provided as a digital polar radar imageto the external sensor processing
system. In addition to the basic scanning process, the simulated radar emulates the non-ideal
behaviour of the sensor. Apart from the properties inherentin the physical principle of scanning
with focussed electromagnetic beams, such as beam aperture, reflectivity dependence, and fini-
te duration of the radar pulse, a series of disturbances and artefacts are considered during the
generation of radar data, like clutter, radar shadows, attenuation by rain, multipath reflections,
side lobe effects, multi radar interference, refraction and superrefraction. The resulting synthetic
radar image provides a highly realistic representation of the actual video signal.
Currently, the simulation environment is used for a varietyof tasks. Beside the test and vali-
dation of sensor processing systems, such as VTS, ATM and coastal surveillance systems as
well as onboard navigation systems, it is used as a training environment for bridge and traffic
management systems. To facilitate the use as a training tool, the simulator features a multi-user
mode and an AIS-fed mode. In multi-user mode, the simulationcan be controlled by two se-
parate workstations allowing the trainers to cooperatively handle a large group of trainees. In
AIS mode, the simulator is connected to an external AIS data source, like an AIS base station
or a data logger. The AIS reports are incorporated in the simulation, i.e. simulation objects are
created and positioned according to the received data. Thisway, real and virtual objects can be
used in the same traffic scenario, making the simulation highly realistic.
Finally, the simulator is used as a research and prototypingtool at the University of Stuttgart and
the Max Planck Institute for Dynamics of Complex Technical Systems in Magdeburg. Due to the
flexible, component based configuration of simulated objects, new algorithms and technologies
can easily be integrated in the simulation. Current research areas are for instance route planning
and improved dynamic models for automatic control of a vessel.
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1 Einleitung
Die numerische Simulation realer Prozesse ist seit dem Aufkommen der Rechentechnik eines
ihrer wichtigsten und anspruchsvollsten Einsatzgebiete.Während viele andere Anwendungen
gemäßigte Anforderungen an Rechenleistung und Ressourcen stellen, sind Simulationspro-
gramme meist verbunden mit modernster Hardware und Hochleistungscomputern. Ein Grund
dafür ist sicherlich die oft hohe Komplexität der nachgebildeten Systeme, seien es Wetter- und
Klimaentwicklung, Entwürfe für Maschinenteile oder elektronische Schaltkreise, biologische
und chemische Prozesse oder auch militärische Anwendungen. Die Komplexität bedingt sich
dadurch, dass eine Simulation wertlos ist, solange das zugrunde liegende Modell die Realität
nicht in allen relevanten Aspekten mit ausreichender Genauigkeit abbildet. Die Vorteile von
Simulationen und damit die Rechtfertigung für den betriebenen Aufwand liegen auf der Hand:
Einsparungen an Entwicklungszeit und -kosten, die Reduktion von Entwicklungsrisiken und die
Möglichkeit, realitätsnahe Tests unter sicheren Laborbedingungen durchzuführen und Progno-
sen über das Langzeitverhalten des Systems zu erstellen.
Mit der zunehmenden Verfügbarkeit preiswerter, performanter Rechentechnik und leistungs-
fähiger, flexibel einsetzbarer Modellierungs- und Simulationsumgebungen wachsen Bedeutung
und Anwendungsfälle von Simulationen auch in solchen Bereichen, in denen traditionell eher
konservative Methoden, wie statistische Untersuchungen oder Modellversuche, zum Einsatz
kommen. Ein solcher Bereich ist die Simulation von Verkehrsabläufen auf Binnenwasserstraßen.
Die Zielstellungen reichen hier von der Nachbildung der Logistik von Transportketten oder der
Optimierung des Durchsatzes an Engstellen bis hin zur Simulation von Strömungs- und Abla-
gerungsprozessen in der Wasserstraße und von hydrodynamischen Effekten auf Schiffskörper.
Zur letztgenannten Gruppe gehört auch die detaillierte Modellierung der Bewegung eines Schif-
fes im strömenden Wasser. Mögliche Anwendungen einer solchen Simulation liegen im Be-
reich der Nachbildung mikroskopischer Verkehrsvorgänge, zum Beispiel Schiffsmanöver beim
Begegnen und̈Uberholen, der Auslegung von Antriebskomponenten oder aber auch in der Er-
probung eines Navigationssystems für ein Binnenschiff.
1.1 Das ’Integrierte Navigationssystem’
Eines der beständigsten Forschungsprojekte am Institut für Systemdynamik und Regelungstech-
nik der Universität Stuttgart und am Max-Planck-Institutfür Dynamik komplexer technischer
Systeme in Magdeburg ist die Entwicklung eines integrierten Navigationssystems für die Bin-
1
-
2 KAPITEL 1. EINLEITUNG
nenschifffahrt [44, 46, 110, 133]. Ziel dieses Forschungsvorhabens ist die automatische und aut-
arke Führung eines Schiffes auf Binnenwasserstraßen. Dieautomatische Schiffsführung verbes-
sert die Arbeitsbedingungen an Bord und erhöht die Verkehrssicherheit auf den Wasserwegen.
Der Schiffsführer wird von Routineaufgaben befreit und durch vielfältige Zusatzinformationen
in schwierigen Situationen unterstützt.
Kernpunkt des Navigationssystems ist die gemeinsame,integrierteVerarbeitung von Informa-
tionen, die einerseits aus den Messdaten verschiedener Sensoren und andererseits aus vorhan-
denem a-priori Wissen in Form digitaler Karten der befahrenen Wasserstraßen und Modellen
für die Bewegungsdynamik des Schiffes gewonnen werden. ImRahmen einer modellgestützten
Datenanalyse werden die verschiedenen Informationsquellen kombiniert, um zu einem umfas-
senden Bild des Bewegungsverhaltens des eigenen Schiffes sowie des Verkehrsgeschehens in
der Navigationsumgebung zu gelangen. Durch die koordinierte Verarbeitung der zum Teil re-
dundanten Sensorsignale unter Berücksichtigung der statischen Informationen über die Topo-
graphie der Navigationsumgebung werden die Schwächen undAusfälle eines einzelnen Sensors
durch andere Informationsquellen kompensiert. Das Gesamtsystem besitzt somit eine höhere
Verfügbarkeit und Genauigkeit als dessen Einzelkomponenten.
Abbildung 1.1: Komponenten des integrierten Navigationssystems
Bild 1.1 zeigt schematisch Struktur und Aufbau des Navigationssystems. In der typischen Kon-
figuration verwendet das System die Signale von Bordradar, GPS, Ruderlagegeber und Wende-
anzeiger. Die Messsignale der einzelnen Sensoren werden durch eine an die jeweilige Signal-
form angepasste Schnittstellenelektronik aufbereitet, digitalisiert und anschließend dem Navi-
gationsrechner zugeführt. Das System verarbeitet die eingehenden Messdaten und bestimmt
-
1.2. ERPROBUNG IN SIMULATION UND PRAXIS 3
daraus den aktuellen Bewegungszustand des Schiffes. Aus der Abweichung der Bewegungs-
daten von einer vorgegebenen Leitlinie wird anschließend der neue Sollruderwinkel und ggf.
die Solldrehzahl berechnet und an die Stellorgane des Schiffes übergeben.̈Uber Monitor und
Bedienelemente wird dem Schiffsführer die Möglichkeit gegeben, die Funktion des Systems zu
überwachen und zu steuern. Zur Erleichterung dieser Aufgabe wird die elektronische Karte der
Navigationsumgebung, überlagert mit dem aktuellen Radarbild und allen wichtigen Navigati-
onsdaten, auf dem Monitor dargestellt. Im Radarbild erkannte Objekte, wie Bojen oder fremde
Schiffe, werden markiert und mit einem Geschwindigkeitsvektor versehen. Der Schiffsführer
kann, unabhängig von den herrschenden Witterungsbedingungen, das aktuelle Verkehrsgesche-
hen sicher und unmittelbar einschätzen und auf diese Weisedrohende Gefahrensituationen
rechtzeitig erkennen.
Im Rahmen von Forschungs- und Kooperationsprojekten wurdedas Navigationssystem bereits
auf mehreren kommerziellen Binnenschiffen installiert und erfolgreich in Betrieb genommen
[14, 18]. Die FirmaIN – Innovative Navigation GmbHvermarktet in enger Kooperation mit
den genannten Instituten eine Variante des Systems unter dem NamenRADARpilot 720°. Die
ständig wachsende Zahl an Radarpilot-Installationen aufeuropäischen Binnenschiffen belegen
die Akzeptanz und Marktreife des Navigationssystems.
1.2 Erprobung in Simulation und Praxis
Die Entwicklung und der erfolgreiche Einsatz des Navigationssystems wären undenkbar ohne
eine umfassende Erprobung unter realitätsnahen Bedingungen. Derartige Testfahrten finden in
der Regel auf den institutseigenen Versuchsschiffen’Falke’ und ’Friedrich List’ , oder, in einer
späteren Phase, auf den Großschiffen der Kooperationspartner statt (Bilder 1.3 und 1.2). Die
Erfahrungen aus diesen Fahrten und die Rückmeldungen und Einschätzungen der beteiligten
Projektpartner fließen in den Entwicklungsprozess ein und sind unersetzlich bei der Schaffung
eines letztlich praxistauglichen Systems.
Abbildung 1.2: Forschungsboot ’Falke’ Abbildung 1.3: Schubverband ’Lehnkering L16’
-
4 KAPITEL 1. EINLEITUNG
Gerade während der Entwicklung neuer Verfahren und Komponenten ist es jedoch immer von
Vorteil, den Versuchsfahrten in der Praxis ausgiebige Probeläufe in einer geeigneten ’virtuel-
len Navigationsumgebung’ voranzustellen. Dadurch lässtsich nicht nur ein bedeutender Anteil
der kostspieligen und unter Umständen sogar gefährlichen ’frühzeitigen’ Versuchsfahrten ver-
meiden, es lassen sich auch problemlos Testszenarien und Extremsituationen erzeugen, die aus
Sicherheits- und logistischen Gründen in der Praxis nichtnachgestellt werden können.
Ferner bietet die Simulation die Möglichkeit, Tests unteridentischen Bedingungen beliebig oft
zu wiederholen, um z. B. die Auswirkung alternativer Parametersätze objektiv bewerten oder ein
Fehlverhalten reproduzieren zu können. Nicht zuletzt istman in der Simulation unabhängig von
den Unannehmlichkeiten der Praxis, wie der momentanen Verfügbarkeit der Versuchsschiffe,
den aktuellen Wasserstands- und Witterungsbedingungen oder der Befähigung des Entwicklers,
ein Binnenschiff zu führen.
Aus diesen Gründen gab es bisher parallel zum Navigationssystem immer auch Werkzeuge
und Verfahren, mit denen dessen Komponenten getestet werden konnten. Eine wichtige Funkti-
on des Navigationssystems erlaubt es so beispielsweise, w¨ahrend einer Fahrt alle eingehenden
Messdaten mitzuprotokollieren. Ein solchermaßen erstelltes Protokoll kann später im Labor
erneut zeitgesteuert in das System eingelesen und absimuliert werden. Das Navigationssystem
verarbeitet die Protokolldaten in gleicher Weise wie in derPraxis, der Ablauf der Fahrt wird also
identisch reproduziert. Hauptanwendung für diese Art vonSimulationsverfahren ist die Suche
nach Fehlerursachen.
Weiterhin gibt es Module für die SimulationsspracheMatlab/ Simulink, mit denen das Bewe-
gungsverhalten von Schiffen nachgebildet werden kann. Mitdiesen Modulen lassen sich auf
einfache Weise Regelalgorithmen erproben, es existiert jedoch keine direkte Anbindung an das
Navigationssystem.
Eine Hardwarekomponente, der sog.’Radar-Simulator’, dient dazu, eine fest programmierte
Radarbildsequenz in das System einzuspeisen, um vor allem die Komponenten zur analogen
Radarbilderfassung und -verarbeitung zu testen.
In der Vergangenheit bestand zudem die Möglichkeit, mehrere Navigationssysteme zusammen-
zuschalten und einfache Verkehrssituationen nachzustellen [105, 63, 66]. Diese Variante diente
vor allem zum Test der Objekterkennung innerhalb der Radarbildverarbeitung sowie der darauf
aufbauenden Module, wie Leitlinienplanung und Schiff-Schiff-Kommunikation. Aufgrund des
Umstiegs auf eine andere Systemplattform wurde die Entwicklung dieser Variante jedoch ein-
gestellt.Überdies war diese Variante aufgrund der starken Verflechtung mit den Strukturen des
veralteten Navigationssystems zu unflexibel, um an aktuellere Aufgabenstellungen angepasst
zu werden. Eine Portierung wurde deshalb nicht in Angriff genommen.
Stattdessen wurde mit’Virtual Waterway’ eine neuartige Simulationsumgebung für Verkehrs-
abläufe auf Binnenwasserstraßen konzipiert und erstellt, die auch sämtlichen anderen Simulati-
onsanforderungen im Rahmen der Entwicklung des Navigationssystems gerecht werden sollte.
-
1.3. ZIELSETZUNG UND GLIEDERUNG DIESER ARBEIT 5
1.3 Zielsetzung und Gliederung dieser Arbeit
Die Simulationsumgebung’Virtuelle Wasserstraße’/ ’Virtual Waterway’ erlaubt die Echtzeit-
simulation aller relevanten Elemente der realen Navigationsumgebung eines Schiffes und er-
möglicht so die Erprobung sämtlicher Funktionen eines Navigationssystems unter realistischen
Bedingungen. Für ein simuliertes Schiff kann die gesamte Bandbreite an Messsignalen und
Informationen generiert werden, die in der Realität entsprechende Hardwarekomponenten an
Bord liefern würden. Das virtuelle Schiff reagiert fernerauf die Steuersignale des Naviga-
tionssystems durcḧAnderung seines Bewegungszustandes, wobei sowohl die Eigendynamik
des Schiffes als auch der Einfluss der Umgebung berücksichtigt werden. Für ein Navigations-
system ist es in diesem detaillierten Simulationsmodus im Idealfall nicht erkennbar, ob es ein
reales oder virtuelles Schiff steuert.
Neben der Erprobung von Navigationssystemen erlaubt die Simulationsumgebung auch die
Nachbildung von weitläufigeren Verkehrsvorgängen auf Wasserstraßen. Hierbei spielt die exak-
te Modellierung der Schiffsdynamik eher eine untergeordnete Rolle, viel mehr steht die Nach-
bildung von komplexen Systemen und Netzwerken mit unterschiedlichsten Funktionsabläufen
und Kommunikationsdaten im Vordergrund.
Um eine langfristige Einsetzbarkeit der Simulationsumgebung zu garantieren, wurde außerdem
darauf geachtet, das System durch flexible und erweiterbareStrukturen und Schnittstellen an
wechselnde und neue Aufgabenstellungen anpassbar zu gestalten. Die vorhandenen Funktio-
nalitäten sind skalierbar angelegt und damit leicht erweiterbar, die Portierbarkeit auf unter-
schiedliche Systemplattformen ist ebenfalls gewährleistet.
Die vorliegende Arbeit stellt diese Simulationsumgebung vor und gliedert sich wie folgt:
Zunächst wird einÜberblick über den Stand der Forschungsaktivitäten im Bereich der Simu-
lation von Verkehrsabläufen – sowohl im Straßen-, Schienen- als auch im Schiffsverkehr –
gegeben, mit dem Ziel, die Simulationsumgebung einzuordnen und inhaltlich zu positionieren.
Anschließend wird kurz auf die Architektur der Simulationsumgebung eingegangen, um die
Grundstruktur, das Komponentenkonzept und die Erweiterungsmöglichkeiten darzulegen.
Im Schwerpunktkapitel 4 werden detailliert die verwendeten Modelle für Aktorik und Bewe-
gungsdynamik der Schiffe sowie die Verhaltensbeschreibungen für deren automatische Steue-
rung vorgestellt. Hier werden auch Verfahren erläutert, wie sich bereits aus wenigen Basisdaten
über die Eigenschaften eines Schiffes geeignete Modellparameter für eine hinreichend genaue
Beschreibung der Schiffsbewegung ableiten lassen.
Das darauf folgende Kapitel geht auf die verschiedenen Sensornachbildungen ein und legt dabei
besonderes Augenmerk auf die Erörterung der Emulation vonRadar und GPS.
Im letzten Kapitel wird schließlich ein̈Uberblick über verschiedene Anwendungsbeispiele ge-
geben, um Relevanz und Einsatzreife der Simulationsumgebung zu belegen.
-
2 Simulation von Verkehrsabl̈aufen
In diesem Kapitel wird ein kurzer̈Uberblick über Ansätze und konkrete Anwendungen von
Modellierungsverfahren und Simulationsumgebungen im Bereich der Verkehrstechnik gege-
ben. Dabei wird kurz auf die Besonderheiten der einzelnen Verkehrsträger, Straßen- und Schie-
nenverkehr sowie Binnenschifffahrt, eingegangen. Anschließend wird die Eignung der vorge-
stellten Verfahren und Werkzeuge für die angestrebte Simulationsumgebung für Binnenschiffe
diskutiert.
2.1 Simulation der Fahrzeug- und Verkehrsdynamik im
Straßenverkehr
Das angesichts einer ständig steigenden Verkehrsdichte und zunehmender Umweltprobleme
wachsende Bewusstsein über die Grenzen der Mobilität hatdazu geführt, dass die Erforschung
der Phänomene des Straßenverkehrs schon seit geraumer Zeit ein Schwerpunkt von Verkehrssi-
mulationen ist.
Wichtige Ziele der Modellierung von Fahrzeugen und Verkehrsabläufen sind z. B. :
• die Optimierung des Verkehrsflusses zur besseren Nutzung der vorhandenen Infrastruktur,
• die Entwicklung und Steuerung intelligenter Verkehrsinformations- und -leitsysteme mit
modellgestützter Zustandsüberwachung und Störungserkennung (z. B. [72, 83]),
• die Verkehrssimulation zur Erstellung von Prognosen fürdie Planung neuer Streckenab-
schnitte oder zur die Einschätzung der Verkehrsbehinderung durch geplante Baustellen,
• die Simulation im Rahmen von logistischen Anwendungen, wie dynamische Routenpla-
nung oder Transportzeitprognosen,
• die Entwicklung detaillierter dynamischer Modelle für Einzelfahrzeuge, um z. B.
Entwürfe für Fahrzeugkomponenten (Getriebe, Antriebsstrang usw.) im Verkehrskontext
zu simulieren [30] oder die Funktionalität von intelligenten, autonom mobilen Fahrzeu-
gen zu erproben (z. B. [50, 73]),
6
-
2.1. SIMULATION DER FAHRZEUGDYNAMIK IM STRASSENVERKEHR 7
• die Entwicklung von Fahrerassistenzsystemen zur Stabilisierung und Führung des Fahr-
zeuges, wie z. B. einer adaptiven Abstandsregelung für automatische Kolonnenfahrzeuge
[33, 41, 42], bis hin zur
• Konzeption von autonomen Verkehrssystemen (Autonomous Highway Systems), bei de-
nen auf entsprechend präparierten Streckenabschnitten Fahrzeuge ausschließlich durch
eine zentrale Instanz oder vollständig autonom gesteuertwerden [80, 34].
Zahlreiche, zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze werden verfolgt, um die Abläufe im
Straßenverkehr zu verstehen und zu modellieren. Einen ausführlichenÜberblick geben z. B.
[47, 52, 53, 76]. Grundsätzlich lassen sich zwei Herangehensweisen unterscheiden.Mikrosko-
pischeSimulationen versuchen, das Verhalten von individuellen Fahrer-Fahrzeug-Einheiten
und deren Wechselwirkungen nachzubilden, in dem neben den Fahrzeugeigenschaften z. B.
auch sozialwissenschaftliche Beschreibungen für unterschiedliche Fahrerstereotypen (aggres-
siv, zurückhaltend, ...) in entsprechende Bewegungsabl¨aufe umgesetzt werden. Typische Simu-
lationszeitschritte liegen im Millisekunden-Bereich. Mikroskopische Modelle eignen sich damit
vor allem zur detaillierten Nachbildung von lokalen Verkehrsphänomenen.
MakroskopischeAnsätze betrachten den Verlauf gemittelter (aggregierter) Größen wie Ver-
kehrsdichte oder Durchschnittsgeschwindigkeit bei Fahrzeugkollektiven. Mit typischen Zeit-
schritten im Sekundenbereich liegt der Vorteil der makroskopischen Modelle in der hohen Si-
mulationsgeschwindigkeit. Aufgrund der im Vergleich zu mikroskopischen Modellen geringe-
ren Komplexität der Modellgleichungen erlauben makroskopische Ansätze die Anwendung eta-
blierter analytischer Verfahren auf die modellgestützteZustandsbeschreibung, wie Beobachter-
und Reglerentwurf oder Stabilitätsuntersuchungen.
Eine Kombination aus beiden Ansätzen stellenmesoskopischeVerkehrsflussmodelle dar. Hier
wird der Bewegungsablauf einzelner Fahrzeuge mit Hilfe makroskopischer Gesetzmäßigkeiten
berechnet.
Im Bereich der mikroskopischen Simulationen werden in der Literatur unterschiedliche Model-
lierungsansätze genannt. Einige wichtige sind:
• Fahrzeugfolge-Modelle (Follow the Leader) zur Untersuchung der Stabilität von Fahr-
zeugkolonnen [55, 104]
• sog. ’psycho-physische’ Fahrer-Fahrzeug-Modelle zur Nachbildung von individuel-
len Wahrnehmungsschwellen bei beeinflusstem und unbeeinflusstem Fahren sowie
Spurwechsel-Manövern und ’Reißverschluss’-Verhalten [128, 53]
• diskretisierte Modelle (z. B. zelluläre Automaten) zur optimierten Simulation von mikro-
skopischen Ansätzen [89, 28]
• kontinuierliche Modelle mit Sollgeschwindigkeitsvorgabe [24]
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8 KAPITEL 2. SIMULATION VON VERKEHRSABLÄUFEN
• kontinuierliche Modelle mit detaillierter Bewegungsdynamik (sub-mikroskopische Simu-
lation) [58, 38]
Auf der makroskopischen Seite findet man hauptsächlich Modelle erster und zweiter Ordnung
zur Bestimmung aggregierter Kenngrößen, wie Verkehrsdichte, Durchschnittsgeschwindigkeit,
mittlere Fahrzeit, Treibstoffverbrauch oder Emissionsbelastung. Bei diesem Modellierungsan-
satz werden zum Teil Parallelen zur Dynamik von Fluiden hergestellt, in dem für die Dichte-
und Geschwindigkeitsverteilungen gaskinetische Gleichungen aus der Physik herangezogen
werden, in der Regel basierend auf den Ansätzen in [77, 107]. Vereinzelt werden auch ge-
netische Algorithmen [68] und neuronale Netze [130] eingesetzt. Der Vorteil der makroskopi-
schen Herangehensweise liegt in der Möglichkeit, Echtzeitsimulationen auch in größeren Ver-
kehrszusammenhängen durchzuführen. Durch die Möglichkeit, Standardentwurfsverfahren für
Beobachter und Regler anzuwenden, eignen sie sich besonders für intelligente Verkehrsleitsy-
steme, die in der Art eines Zustandsschätzers die Daten vonMessstellen entlang der Straße
mit einem internen Verkehrsmodell abgleichen, um anhand der Simulationsergebnisse den Ver-
kehrsstrom durch Geschwindigkeitsvorgabe oder gezielte Umleitungsmaßnahmen zu optimie-
ren. Problematisch an der makroskopischen Sichtweise ist die prinzipbedingte Mittelung, die
zu einer weitgehenden Vernachlässigung lokaler Effekte,wie örtlicher Fluktuationen oder rich-
tungsabhängiger Fahrzeuginteraktionen, führt.
2.1.1 Beispiele für Simulationswerkzeuge
PELOPS
Die Verkehrssimulation PELOPS [32] wurde am Institut für Kraftfahrwesen der RWTH Aachen
in Kooperation mit der BMW AG entwickelt. Sie kombiniert detaillierte sub-mikroskopische
Fahrzeugmodelle mit einem taktischen Modell für den Fahrer. PELOPS erlaubt damit Unter-
suchungen sowohl zur Bewegungsdynamik des Fahrzeuges als auch zum Ablauf des Verkehrs
und berücksichtigt dabei die Wechselwirkungen zwischen Fahrer, Fahrzeug und Verkehrsge-
schehen. Der Straßenverlauf wird horizontal als Kurvenzugund vertikal als Höhenprofil erfasst,
mehrspurige Fahrbahnen werden ebenso berücksichtigt wieFahrbahnbreite, Verkehrszeichen,
Kreuzungen und Wetterbedingungen.
Das Fahrermodell gliedert sich in eine Entscheidungs- und eine Führungsebene. Die Entschei-
dungsebene bestimmt basierend auf den aktuellen Verkehrsbedingungen und einem fahrerab-
hängigen Wahrnehmungsfilter ein Fahrvorhaben, bestehendaus Vorgaben für Beschleunigung,
Gang und Fahrspur und übergeordneten Strategien, z. B. für das Verhalten an einer Kreuzung.
Auf der Führungsebene wird das Fahrvorhaben in entsprechende Stellbefehle an das Fahr-
zeug umgesetzt.̈Uber das Modell für die Fahrzeugdynamik werden schließlich die eigentlichen
Bewegungsabläufe (unter Vernachlässigung der Querdynamik) berechnet. Das Fahrmodell ist
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2.1. SIMULATION DER FAHRZEUGDYNAMIK IM STRASSENVERKEHR 9
weitgehend parametrierbar bezüglich typischer Merkmale, wie Reaktionszeit, Aufmerksamkeit
oder Sicherheitsbedürfnis. Dabei werden vier Hauptszenarien unterschieden: ungestörtes Fah-
ren, Hinterherfahren, Annäherung an Kreuzungen oder Staus und Notbremsung. Ferner existie-
ren taktische Modelle für Standardmanöver, wie Fahrspurwechsel,Überholen oder ’Einfädeln’
vor Engstellen.
SIMONE, AZTEK und METANET
SIMONE (Simulation of Motorway Networks, [84, 74]) ist ein Programmpaket zur Simulation
von makroskopischen Verkehrsflüssen und wurde an der Technischen Universität Hamburg-
Harburg entwickelt. Die Simulation beruht auf dem Verkehrsflussmodell von H. J. Payne und
M. Cremer [27]. Das Modell liefert die Kenngrößen Verkehrsdichte, mittlere Geschwindigkeit
und Verkehrsstärke für alle Verkehrszustände zwischenfreier Fahrt und Stau, sowie wichti-
ge globale Gütekriterien, wie Gesamtverkehrsleistung oder Gesamtverlustzeit. Mit SIMONE
können beliebige Schnellstraßennetze nachgebildet werden, inklusive Autobahndreiecken und
-kreuzen. Zur Modellierung von Wechselwegweisungen können Teilströme abgezweigt und
wieder eingeflochten werden. Haupteinsatzgebiet von SIMONE ist die Validierung und Wirk-
samkeitsanalyse von Verkehrsbeeinflussungssystemen.
Aufbauend auf dem Verkehrsmodell von Payne und Cremer wurdean der Technischen Uni-
versität Hamburg-Harburg und am Institut für Systemdynamik und Regelungstechnik der Uni-
versität Stuttgart mit AZTEK [83] ein Werkzeug zur automatischen zeitlich-räumlichen De-
tektion von Verkehrsstörungen auf Schnellstraßen realisiert. Hauptanwendung von AZTEK ist
die rechtzeitige Erkennung von Verkehrsstockungen und dieOrtsbestimmung des entgegen der
Fahrtrichtung wandernden Endes eines Staus. AZTEK nutzt eine messdatengestütze Verkehrs-
zustandsschätzung, um den Verkehrsfluss in Form aggregierter Kenngrößen zu modellieren.
Zur frühzeitigen Detektion von Störungen enthält die Zustandsbeschreibung ein zusätzliches
Störungsmodell, welches Verminderungen der Streckenkapazität, wie sie beispielsweise durch
Fahrbahneinengungen an Unfallstellen entstehen, nachbildet.
Eine weitere Simulationsumgebung für den Schnellstraßenverkehr mit rein makroskopischem
Modellierungsansatz ist METANET [85]. Die Funktionalität ist mit der von SIMONE vergleich-
bar. Zusätzlich bietet METANET durch sog. ’store-and-forward’-Elemente die Möglichkeit, in-
termodale Verkehrsströme zu modellieren.
ARTIST
Ein Simulator, der sowohl auf makro- als auch auf mikroskopischer Ebene arbeiten kann, ist das
bei der Firma Bosch entwickelte Simulationssystem ARTIST [70]. Der Verkehrsweg wird in-
klusive Infrastruktur detailliert modelliert. Einzelne Straßenzüge können mit Hilfe von Knoten
zu Straßennetzen verbunden werden. Die dynamischen Elemente der Simulation werden hier
-
10 KAPITEL 2. SIMULATION VON VERKEHRSABLÄUFEN
als Komponenten bezeichnet und umfassen neben den eigentlichen Fahrzeugen auch Messstel-
len, Protokollstationen und Fahrzeugquellen. Komponenten lassen sich miteinander zu neuen
Komposit-Komponenten kombinieren. So besteht die Fahrzeug-Komponente aus einem Fahrer-
und einem Fahrzeug-Modell. Eine nahezu freie Kombinierbarkeit der Komponenten ermöglicht
den einfachen Austausch von Teilmodellen. Die Simulation erfolgt im Wesentlichen ereignisge-
steuert. Zeitkontinuierliche Prozesse werden durch diskrete Zeitschritte mit problemabhängiger
Zykluszeit modelliert.
Wichtigste Anwendung ist die Auslegung und Validierung vonFahrzeugkomponenten als Er-
gänzung zum Bau von Prototypen und der Durchführung von Feldversuchen. So wurden z. B.
die Auswirkung der Ausstattung von Fahrzeugen mit ACC (Adaptive Cruise Control) auf den
Verkehrsfluss und den Treibstoffverbrauch unter Verwendung mikroskopischer Modelle simu-
liert. Eine weitere Anwendung von ARTIST ist die Auslegung von Steuerungsalgorithmen für
Verkehrsleitsysteme. Hierbei kommen makro- und mesoskopische Modelle zum Einsatz.
Simulation mit Modellkopplung
Ein Nachteil der bisher vorgestellten Simulationsumgebungen ist die strikte Trennung in makro-
und mikroskopische Modellierung. Im realen Straßenverkehr gibt es jedoch vielfältige Wech-
selwirkungen zwischen den makro- und mikroskopischen Kenngrößen, die durch eine einseitige
Simulation vernachlässigt oder nur abgeschätzt werden.Außerdem lassen sich Verkehrsknoten-
punkte üblicherweise nur durch mikroskopische Simulationen in einer hinreichenden Genauig-
keit nachbilden, während diese Modellierungsform mit zunehmender Berücksichtigung größe-
rer Straßennetze zu einem nicht mehr vertretbaren Rechenaufwand führt. Zur Aufrechterhaltung
einer gleichmäßig hohen Simulationsgüte bei gleichzeitig moderatem Rechenzeitbedarf ist es
deshalb sinnvoll, Straßenabschnitte mit der jeweils für sie optimalen Modellierungsform zu si-
mulieren, homogene Abschnitte also mit einer geringen (makroskopisch) und Knotenpunkte
mit einer feineren Auflösung (mikroskopisch) nachzubilden. Diese Forderung wird durch eine
Kopplung von Verkehrsflussmodellen unterschiedlichen Detaillierungsgrades erfüllt. Der Ent-
wurf einer Simulationsumgebung, die diese Verkopplung durch Kombination der Werkzeuge
PELOPS und SIMONE realisiert, wird in [74] vorgestellt. EinBeispielszenario wurde für das
Autobahnkreuz München Nord implementiert.
2.1.2 Übertragbarkeit auf den Verkehr auf Binnenwasserstraßen
Die Anforderungen der geplanten Simulationsumgebung fürden Schiffsverkehr entsprechen
am ehesten den mikroskopischen und sub-mikroskopischen Ansätzen der Straßenverkehrssi-
mulation. Makroskopische Modellierungsmethoden sind hingegen nicht anwendbar, da die für
diese Ansätze typische Mittelung über Fahrzeugkollektive bei dem üblicherweise eher geringen
Verkehrsaufkommen auf Binnenwasserstraßen zu unbrauchbaren Ergebnissen führen würde.
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2.2. SIMULATION DES SCHIENENVERKEHRS 11
(Sub-)mikroskopische Ansätze bieten als wichtige Voraussetzung für eine detaillierte Nach-
bildung der Binnenschifffahrt ein dynamisches Modell fürdie Bewegung des Fahrzeugs, eine
Verhaltensbeschreibung für den Fahrzeugführer sowie eine detaillierte Repräsentation der stati-
schen und dynamischen Fahrzeugumgebung.
In Detailfragen sind jedoch deutliche Abweichungen zu verzeichnen. Die Modellierungsverfah-
ren für den Straßenverkehr sind mittlerweile stark auf dieBesonderheiten dieses Verkehrsträgers
zugeschnitten und zu spezialisiert, um auf die Gegebenheiten auf einer Binnenwasserstraße an-
gepasst zu werden. Dies betrifft z. B. die Bewegungsdynamikdes Fahrzeuges. Während die
Querdynamik eines Schiffes ausschlaggebend für dessen Bewegungsverlauf ist [99], wird sie
in der mikroskopischen Simulation von Straßenfahrzeugen typischerweise vernachlässigt [32].
Ferner verfügt ein Fahrzeug im Vergleich zum Schiff über ein ungleich größeres Potential, sei-
nen Bewegungsablauf direkt und unmittelbar zu beeinflussen. Es unterliegt auch nicht in ver-
gleichbarer Weise dem Einfluss der Umgebung, wie dies auf derWasserstraße durch Strömung
und Windrichtung gegeben ist.
Diese und ähnliche Faktoren werden in den Modellansätzender Straßenverkehrssimulation
nicht berücksichtigt, so dass sich die vorhanden Werkzeuge und Methoden nicht für die Si-
mulation der Binnenschifffahrt verwenden bzw. anpassen lassen.
2.2 Simulation des Schienenverkehrs
Die Modellierung des Schienenverkehrs ist aufgrund der Gleisführung (nur ein Freiheitsgrad)
einfacher als die des Straßenverkehrs. Zielstellung von Simulationen sind häufig Analyse- und
Optimierungsprobleme, z. B. die Belegung von Ausweichstellen bei einspurigen Strecken [82],
der Beschleunigungs- und Bremsverlauf für ein möglichstenergie- und zeitsparendes Fahren
[39], die Untersuchung von innerstädtischen Netzwerken [86] oder ganz allgemein der Entwurf
von Fahrplänen. Simulationswerkzeuge verwenden z. B. Petri-Netze, Warte-Bedien-Systeme
oder zelluläre Automaten, da sich Streckenabschnitte vorteilhaft als Elemente eines ereignis-
diskreten Netzwerks modellieren lassen.
Durch die meist stark vereinfachenden Ansätze eignen sichdiese Werkzeuge beïUbertragung
auf die Binnenschifffahrt nur für die Simulation globalerer Verkehrsvorgänge (z. B. in [90]).
Die Modellierung des Schienenverkehrs kann im Rahmen der Planung und Steuerung von inter-
modalen Transportketten, also Gütertransporten, die nacheinander verschiedene Verkehrsträger
verwenden, in einer übergreifenden Simulationsumgebungvon Bedeutung sein. Ein solches
Werkzeug wird z. B. im Rahmen desWABIS-Projektes erstellt [13].
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12 KAPITEL 2. SIMULATION VON VERKEHRSABLÄUFEN
2.3 Simulation von Binnenwasserstraßen
Der Verkehrsträger Binnenschifffahrt erbringt in Deutschland einen wesentlichen Anteil der
Transportleistung. Auf ca. 7 000 km Wasserstraßen werden ca. 20 % des binnenländischen Gü-
terfernverkehrs abgewickelt. Der im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern sehr niedrige Ener-
giebedarf pro transportierter Gütereinheit und die gleichermaßen geringere Landschaftsbeein-
trächtigung machen die Binnenschifffahrt zu einer wichtigen Alternative zum Güterverkehr auf
Straße und Schiene. Um jedoch die vorhandenen Kapazitätsreserven nutzen zu können, muss
die Attraktivität und Wirtschaftlichkeit der Binnenschifffahrt gesteigert werden. Dies erfordert
zum einen eine weitreichende Modernisierung der Verkehrsabläufe auf der Wasserstraße durch
Ausbau der telematischen und navigationstechnischen Unterstützung für die Schiffsführer, zum
anderen eine Verbesserung der logistischen Anbindung an andere Verkehrsträger.
Ausbauprozesse im Bereich der Binnenwasserstraßen sind inder Regel sehr kostspielig und
haben überwiegend langfristige, zum Teil irreversible und schwer kalkulierbare Auswirkungen.
Um die beabsichtigte Wirkung von Modernisierungsmaßnahmen sicherzustellen, ist demzu-
folge eine gründliche Planungsphase erforderlich. In dieser Phase ist die Simulation der Ver-
kehrsabläufe auf der Wasserstraße ein effektives Mittel zur Gewinnung fundierter Daten und
Aussagen über die Wirksamkeit und Nebeneffekte der geplanten Maßnahmen. Die Zielsetzun-
gen vorhandener Simulationswerkzeuge und -verfahren lassen sich grob in folgende Gruppen
einteilen
• globale Simulation des Schiffsverkehrs unter logistischen und verkehrsflussorientierten
Aspekten (z. B. MOVES und WABIS)
• lokale Simulation des Schiffsverkehrs unter wasserbaulichen und telematischen Gesichts-
punkten (z. B. SIBI)
• Simulation der Dynamik und Funktionalität eines Einzelschiffes zu Ausbildungszwecken,
sog.Brückensimulatoren(z. B. Ship Handling Simulator des MSCW, Warnemünde)
• Simulation der hydrodynamischen Vorgänge innerhalb derWasserstraße (z. B. Arbeiten
an der Bundesanstalt für Wasserbau, Karlsruhe und am Franzius-Institut, Hannover)
Weiterhin wird versucht, im Rahmen von Pilotprojekten Prototypen zu entwickeln, um Funk-
tionsumfang und -fähigkeit neuartiger Telematik- und Navigationsanwendungen zu überprüfen
und zu demonstrieren (z. B. INDRIS bzw. COMPRIS, ARGO und RINAC [129, 125]). Im Fol-
genden soll ein kurzer̈Uberblick über den Schwerpunkt einiger dieser Projekte gegeben werden,
um die in dieser Arbeit vorgestellte Simulationsumgebung inhaltlich in dieses Forschungsgebiet
einzuordnen.
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2.3. SIMULATION VON BINNENWASSERSTRASSEN 13
2.3.1 Europ̈aische und deutsche Projekte im Bereich des Verkehrsmana-
gements und der Verkehrssimulation
Die effizientere, intensivere und sicherere Nutzung des Transportweges Wasserstraße war und
ist Thema vieler, von deutschen und europäischen Behörden geleiteten und geförderten For-
schungsprojekten [96, 125]. Die hier vorgestellten Projekte sollen einen Einblick in den Ent-
wicklungsstand und die Forschungsschwerpunkte in diesem Sektor geben.
INCATS
Ziel der unter dem INCATS zusammengefassten EU-Projekte war es, die Wettbewerbsfähigkeit
der Binnenschifffahrt zu verbessern und die Integration der Wasserstraßen in das europäische
intermodale Transportnetz auszubauen. Wichtige Teilprojekte waren unter anderem INCAR-
NATION und RINAC, bei denen es darum ging, den Schiffsführer mit nautischen Zusatzdaten
in Form eines bordeigenen Flussinformationssystems (RIS)zu versorgen. Datenlieferant sind
Leitzentralen an Land. Bereitgestellt werden neben allgemeinen Daten wie Schifffahrtsbedin-
gungen und Schleusenbelegung unter anderem sog.tactical traffic images(TTI), die aus Radar-
und Transpondersignalen generiert werden und die Verkehrssituation in der Umgebung des ei-
genen Schiffes wiedergeben.
INDRIS, COMPRIS und ARGO
INDRIS und das Nachfolgeprojekt COMPRIS bauen auf den Ergebnissen von INCATS auf.
Zielstellung ist die Standardisierung der europäischen Flussinformationssysteme und die Ent-
wicklung eines Prototypsystems [95]. Während INDRIS und COMPRIS den landgestützten
Ansatz verfolgen und damit auf eine landseitig vorhandene Infrastruktur angewiesen sind, wur-
de mit ARGO basierend auf Funktionen des Integrierten Navigationssystems (siehe 1.1) ein
vollkommen autarkes Pilotsystem geschaffen und erfolgreich demonstriert [97].
MOVES
Ziel von MOVES (Mosel Verkehrserfassungssystem) ist die Optimierung des Schleusenbetrie-
bes an der Mosel. Die Moselschleusen sind untereinander vernetzt und informieren sich gegen-
seitig über auf der Mosel verkehrende Schiffe. Dadurch kann der Schleusenzulauf und die Kam-
merbelegung nicht nur wie bisher von Schleuse zu Schleuse, sondern über mehrere Haltungen
hinweg organisiert werden. Schiffsführer erhalten auf Basis einer extrapolierenden Verkehrssi-
mulation Informationen zur optimalen Geschwindigkeit undvoraussichtlichen Wartezeit. Eine
Erweiterung des Systems um eine elektronische Anmeldung f¨ur aus dem Rhein kommende
Schiffe ist in der Planung.
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14 KAPITEL 2. SIMULATION VON VERKEHRSABLÄUFEN
Eine weitere Simulationsumgebung, die sich mit der Modellierung von Schleusungsvorgängen
mittels adaptierter Petri-Netze beschäftigt, wurde an der Universität Kaiserslautern entwickelt
[54, 102].
WABIS
Zielstellung von WABIS (Wasserstraßenbetriebs- und Informationssystem) ist die Verwaltung
und Disposition von Binnenschifftransporten mit Anschluss an intermodale Transportketten.
Das System richtet sich durch eine speziell angepasste Client-Software an unterschiedliche
Endnutzer: neben einer Oberfläche für Binnenschiffer existiert eine Variante für die Schiffs-
und Ladungsverfolgung durch den Reeder und eine weitere für die Verkehrsüberwachung durch
Sicherheitsbehörden und Leitzentralen.
Im Kern von WABIS arbeitet eine Verkehrssimulation, die in Abhängigkeit von der Verkehrs-
situation auf der Wasserstraße (Schiffspositionen, Schleusenbelegung usw.) eine Prognose über
die Laufzeit der einzelnen Schiffe abgibt und so neben kurzfristigen Fahrtempfehlungen für den
Schiffsführer Auskunft über die voraussichtliche Ankunftszeit geben kann. WABIS modelliert
die Wasserstraße als Netzwerk von Graphen mit Schleusen, H¨afen und Wasserstraßenkreuzen
als Knoten. Die möglichen Fahrspuren innerhalb der Fahrrinne werden in der Art eines zel-
lulären Automaten diskretisiert. Die Schiffsbewegung wird durch Regeln gesteuert, sie erfolgt
von Zelle zu Zelle, ohne Dynamikmodellierung. Ausweich- und Überholsituationen werden
anhand der Zellenbelegung erkannt und berücksichtigt [13].
SIBI
Die an der Hochschule Wismar geplante SimulationsumgebungSIBI (Simulation von Bin-
nenschiffsverkehr mit telematischerÜberdeckung) setzt sich zum Ziel, das Gesamtsystem des
Binnenschiffsverkehrs in einem Simulationsmodell, bestehend aus den Elementen Fahrzeugdy-
namik, Fahrwassereigenschaften und Verkehrssteuerung, nachzubilden. Als Ergebnis der Ent-
wicklung soll ein Planungstool zur Unterstützung von wasserbaulichen Maßnahmen entstehen.
Brückensimulatoren
Der Ship Handling Simulator (SHS) am Maritimen Simulationszentrum Warnemünde (MSCW)
ist ein Beispiel für Schiffsführungs- und Brückensimulatoren für die Ausbildung von Schiffs-
offizieren [9, 10, 11]. Derartige Simulatoren ermöglichendie Nachbildung des Fahr- und Ma-
növrierverhaltens verschiedenster Schiffstypen und -größen, vorwiegend für den See-Bereich.
Neben der hochgenauen Modellierung der Schiffsdynamik verfügen sie über Nachbildungen
sämtlicher Bedien- und Anzeigeelemente konventionellerSchiffsbrücken. Aufbauend auf einer
Verkehrssimulation wird die Navigationsumgebung als virtuelle 3D-Landschaft oder als Radar-
bild präsentiert.
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2.3. SIMULATION VON BINNENWASSERSTRASSEN 15
Hydrodynamische Simulationen
Hydrodynamik und Morphologie von freifließenden Wasserstraßen sowie hydrodynamische
Wechselwirkungen zwischen Schiffskörpern und Wasserstraße sind Gegenstand von Untersu-
chungen bei staatlichen Einrichtungen wie der Bundesanstalt für Wasserbau (BAW) oder dem
Franzius Institut. Aufgrund der hohen Komplexität dieserProblemstellungen kommen in der
Simulation neben numerischen Modellen auch experimentelle – in Form verkleinerter Nach-
bauten der Originalstrecken – zum Einsatz. Relevant für die geplante Schiffssimulation sind
vor allem Ergebnisse bezüglich hydrodynamischer Effektezwischen aneinander vorbeifahren-
den Schiffen und Messungen zur Drift eines Schiffes bei Kurvenfahrt, wie sie z. B. in [93]
wiedergegeben werden.
2.3.2 Einordnung der”Virtuellen Wasserstraße“
Nach der Zielsetzung beurteilt, ist die in dieser Arbeit vorgestellte Simulationsumgebung
zwischen globalen Verkehrssimulationen, wie sie z. B. in den Projekten MOVES und WABIS
realisiert wurden, und den Einzelschiffsimulationen von Brückensimulatoren einzuordnen.
Schwerpunkt von”Virtual Waterway“ ist die Betrachtung des lokalen Verkehrsgeschehens auf
der Binnenwasserstraße. Die Topographie der Wasserstraßemit Uferkonturen und Uferbauwer-
ken wird detailliert nachgebildet, Strömungsvektoren und Fahrwassertiefen werden ebenfalls
modelliert. Es können beliebig viele Schiffe gleichzeitig simuliert werden. Die Bewegung eines
Schiffes wird dabei nicht wie bei den vorgestellten globaleren Simulationen auf Basis abstrakter
Regelsätze oder räumlich diskretisiert berechnet, sondern unter Nutzung dynamischer Modelle
und Verhaltensbeschreibungen. Die landseitige Infrastruktur (Schleusen, Radaranlagen, AIS-
Basisstationen) wird über einfache Verhaltensbeschreibungen sowie Sensor- und Kommunika-
tionskomponenten nachgebildet. Schiffe interagieren untereinander und mit den Einrichtungen
an Land über typische Kommunikationskanäle, wie AIS, Funk-, Schall- und optische Signale.
Die Bordausrüstung der Schiffe mit Sensorik, Aktorik und Bedienelementen wird realitätsnah
durch Komponenten- und Fehlermodelle nachgebildet.
Diese Einordnung wird auch durch den momentanen Einsatzschwerpunkt des Simulators be-
stätigt. Hauptanwendung der”Virtuellen Wasserstraße“ ist zurzeit die Erprobung des Integrier-
ten Navigationssystems sowie – in der Ausprägung als Brückensimulator – die Ausbildung von
Schiffsführern an Navigationssystemen und Radargeräten (siehe Kapitel 6). Außerdem wird der
Simulator intensiv als Test- und Schulungswerkzeug für Multiradar- und Multisensorsysteme
im Bereich der Schiffsverkehrsüberwachung eingesetzt.
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3 Systemstruktur der Simulationsumgebung
Wie in den einführenden Kapiteln bereits vorgestellt wurde, besteht die primäre Aufgabe der
Simulationsumgebung in der detaillierten Nachbildung eines auf einem Fließgewässer navigie-
renden Binnenschiffes. Sie hat zum Ziel, angeschlossene Navigationssysteme unter realitäts-
nahen Bedingungen zu testen und Untersuchungen zu Verkehrsabläufen auf Binnenwasser-
straßen und Küstengewässern durchzuführen. Aufgrund der zu erwartenden großen Bandbreite
an möglichen Aufgabenstellungen muss die Simulationsumgebung über ein modulares, leicht
konfigurier- und erweiterbares Architekturkonzept verfügen. Das folgende Kapitel stellt dieses
Konzept vor und gibt einen̈Uberblick über die wichtigsten strukturellen Komponenten.
Die Struktur der Simulationsumgebung lässt sich in die HauptkomponentenDatenbasis, Admi-
nistratorund Interfaceunterteilen (Abb. 3.1).
Virtual Waterway
Administrator
Interfaces
Navigationssystem im Test
Hardware-Schnittstelle
(Interface-Server)
Schiff
Anwender
SchiffSchiff / Simulationsobjekt
Aktoren-Modell
Bewegungs-Modell Sensor-
Modell
Sensor-Modell
Sensor-Modell
Hardware-Schnittstelle
(Interface-Server)
Navigationssystem im Test
Datenbasis
Kommunikations-verwaltung
Simulations-steuerung
Bildgenerierung
Objekt-verwaltung
Benutzer-Schnittstelle
Objekt-Bibliothek
Topografische Bibliothek
Konfigurations-verwaltung
Ausgänge
MessungenStellwerte
Protokollierung
ExterneBedienkonsole
Karten Leitlinien
Geografie
Geometrien Modelle
Sensoren Aktoren
Infrastruktur
ControllerKommuni-
katoren
Kommu-nikator
Kommu-nikator
Kommuni-kator
Zustandsbeschreibung
Verhaltensbeschreibung
Manual Controller
Eingänge
Abbildung 3.1: Struktur und Komponenten der Simulationsumgebung
16
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3.1. DATENBASIS 17
Die Datenbasis verwaltet sämtliche im Simulationskontext als statisch betrachteten Informatio-
nen. Dies sind zum einen Informationen über die Topografie der Navigationsumgebung, zum
anderen Daten über die Eigenschaften der in der Simulationverwendeten Objektklassen. Der
Administrator verwaltet die Simulationsobjekte und steuert als zentrale Instanz den Simulati-
onsablauf und die Kommunikationsvorgänge. Die Interface-Komponente stellt die Schnittstel-
len bereit, die zum einen die Konfiguration und Bedienung derApplikation durch den Benutzer
und zum anderen die Ankopplung von externen Systemen, wie dem Navigationssystem, er-
laubt.
3.1 Datenbasis
Die Datenbasis der Simulationsumgebung umfasst die folgenden Informationen:
• Topografische Informationen zur Wasserstraße
• Geografische Informationen
• Navigationsinformationen
• Muster und Modelle für Simulationsobjekte
• Ausrüstung für Simulationsobjekte
3.1.1 Topografische und geografische Informationen
Die Simulation verwendet als ’virtuelle Navigationsumgebung’ eine digitale Nachbildung der
Wasserstraße in Form einer ’elektronischen Karte’1. Diese kann eine Gruppe von Flüssen oder
auch die Küstenregion eines Meeres abdecken. Die Kartenbasis liefert die statischen Daten zur
Topographie der Wasserstraße, wie Uferlinien, Brücken, Tiefenprofile, außerdem wichtige Na-
vigationsdaten, zum Beispiel den Verlauf der Fahrrinne undVerkehrsvorschriften. Die Karten-
informationen dienen nicht nur als Datenbank sondern ermöglichen letztlich auch die grafische
Darstellung der Navigationsumgebung der simulierten Schiffe (siehe Abb. 3.2).
Als Grundlage für die topografischen Informationen der Kartenbasis dient ein auf dem mariti-
men ECDIS-Standard2 basierendes Kartenwerk der europäischen Binnen- und Küstengewässer,
welches im Rahmen der Inland-ECDIS-Erweiterung [98, 134] um die für die Binnennavigation
relevanten Elemente ergänzt wurde. Im Gegensatz zu herkömmlichen Rasterkarten hat diese
Kartenbasis eine flexible, objektorientierte Struktur. Jedem Kartenelement ist eine vektoriel-
le Geometriebeschreibung und ein Attributsatz zugeordnet. Die Geometrie definiert Lage und
1ENC = Electronic Nautical Chart, Elektronische bzw. Digitale Seekarte2Electronic Chart Display and Information System [12, 61, 60]
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18 KAPITEL 3. SYSTEMSTRUKTUR DER SIMULATIONSUMGEBUNG
Abbildung 3.2: Verkehrssimulation auf dem Rhein bei Speyer
Ausdehnung des topografischen Objektes in der Karte, während über die Attribute die Eigen-
schaften des Objektes festgelegt werden. Geometrie- und Attributsätze können bei Bedarf belie-
big erweitert und modifiziert werden. So ist es zum Beispiel möglich, eine geänderte Betonnung
des Fahrwassers oder den gemessenen Verlauf von Tiefenprofilen durch ein inkrementelles Up-
date in die vorhandene Karte aufzunehmen. Das Kartenmaterial wird in der Regel durch die na-
tionalen Wasser- und Schifffahrtsbehörden erstellt, zertifiziert und in regelmäßigen Intervallen
aktualisiert, so dass es mit ausreichender Genauigkeit dieörtlichen Gegebenheiten der Wasser-
straße wiedergibt.
Um eine Ergänzung der bestehenden Kartenbasis um zusätzliche Informationen und eine Er-
weiterbarkeit um anwendungsspezifische Karten zu ermöglichen, verfügt die Simulationsum-
gebung außerdem über ein eigenes Kartenformat. Dieses unterstützt sowohl den Einsatz von
Raster-Karten, wie sie z. B. beim Scannen von Papierkarten entstehen, als auch die Verwen-
dung objektorientierter Strukturen in analoger Weise zu ECDIS. Der Informationsgehalt dieses
Formats konzentriert sich auf simulationsrelevante Objekte und verzichtet auf navigationsspe-
zifische Details. ECDIS-Karten können durch einen eingebauten Konverter in das simulatorei-
gene Format überführt werden.
Zusätzlich zu den Informationen aus der Kartenbibliothekumfasst die geografische Datenba-
sis Angaben zu weiteren simulationsrelevanten Details, wie z. B. Kilometrierung, Fließrichtung
und -geschwindigkeit der Wasserstraße. Soweit verfügbarlassen sich auch Strömungs- und Tie-
fenprofile einbinden.
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3.1. DATENBASIS 19
3.1.2 Navigationsinformationen
Unter Navigationsinformationen werden generell Daten verstanden, die für das Führen von
Schiffen entlang der Wasserstraße erforderlich sind. Konkret sind dies Leitlinien, Verkehrs-
regeln sowie die Position und Funktionalität von verkehrsbeeinflussenden Einrichtungen, wie
Schleusen, Leiteinrichtungen, Knotenpunkten oder Engstellen. Zu den den Verkehrsfluss beein-
flussenden Faktoren gehört auch die regionale bzw. lokale Verfügbarkeit von Kommunikations-
und Informationsmedien.
Im Simulator werden aus dieser Liste bisher nur Leitlinien berücksichtigt. Leitlinien sind ideale
Kurslinien, denen das Schiff unter normalen Umständen, d.h. bei freier Fahrt, folgen soll. In
der Regel streben sie eine möglichst sichere und wirtschaftliche Fahrweise an und sind somit
für Berg- und Talfahrer unterschiedlich. Ein Talfahrer wird nach Möglichkeit die Strömung
ausnutzen und im tiefen Wasser bzw. im Außenbereich von Kurven fahren. Ein Bergfahrer
hingegen bevorzugt für gewöhnlich Routen mit geringer Strömung, muss sich aber in seiner
Routenwahl dem vorfahrtberechtigten Talfahrer unterordnen.
In der Simulationsumgebung lassen sich generell beliebigeLeitlinien anlegen. Das beschrie-
bene Verhalten wird dabei auf zwei Arten berücksichtigt. Zum einen können für einen Fluss
Leitlinien angelegt werden, die einen bestimmten Abstand zum Fahrwasserrand oder zur Was-
serachse einhalten (siehe Abb. 3.3). Schiffe können diesen Leitlinien folgen und nach Bedarf
zwischen ihnen wechseln, um Begegnungs- undÜberholmanöver durchzuführen.
Abbildung 3.3: Parallel zur Wasserachse des
Rheins generierter Leitliniensatz
Abbildung 3.4: Durch Testfahrten ermittelte
Berg- und Tal-Leitlinien am Rhein
Zum anderen lassen sich in der Simulation die gleichen Leitlinienverläufe verwenden, die auch
im Navigationssystem als Vorgabe für den Bahnregler zum Einsatz kommen (siehe Abb. 3.4).
Diese Linien wurden in Absprache mit Schiffsführern entworfen und im Rahmen von Erpro-
bungsfahrten getestet und optimiert.
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20 KAPITEL 3. SYSTEMSTRUKTUR DER SIMULATIONSUMGEBUNG
3.1.3 Muster für Simulationsobjekte
Unter dem BegriffSimulationsobjektwerden alle zeitvarianten Elemente der Simulationsum-
gebung verstanden, die Gegenstand der Simulation sind. Im Normalfall sind das die beteiligten
’virtuellen’ Schiffe und Infrastruktur-Einrichtungen. Simulationsobjekte werden im Abschnitt
3.2 näher erläutert.
Die Datenbasis stellt eine Auswahl von Prototypen für Simulationsobjekte bereit, die auf ver-
schiedene Aufgabenstellungen zugeschnitten sind. Ein solcher Prototyp setzt sich im Wesentli-
chen aus zwei Teilen zusammen: derGeometrieund derKomponentenliste.
Die Geometrie eines Simulationsobjektes legt zum einen dasErscheinungsbild und die Größe
des Objektes, zum anderen die relative Lage von Bezugs- und Fußpunkten in einem objekteige-
nen kartesischen Koordinatensystem fest. Abbildung 3.5 zeigt dafür ein Beispiel.
SchwerpunktFußpunkt Radar
Fußpunkt GPS Objekt-Referenzpunkt
xS
yS
Abbildung 3.5: Beispiel für eine Schiffsgeometrie (Draufsicht) mit Bezugspunkten
Durch das Erscheinungsbild wird die räumliche Ausdehnungdes Objektes beschrieben. Es dient
damit als Basis für alle Berechnungen, in die der Umriss desObjektes eingeht, wie die Bestim-
mung von Abständen oder die Generierung des synthetischenRadarbildes. Ferner bestimmt es
die grafische Darstellung des Objektes in der simulierten Navigationsumgebung.
Bezugspunkte beschreiben die Position von objekteigenen Koordinaten, wie Schwerpunkt und
Objekt-Referenzpunkt. Der Schwerpunkt ist der Punkt innerhalb des Objektes, um den es sich
unter dem Einfluß der wirkenden Kräfte und Momente drehen w¨urde. Analog zum Bewegungs-
ablauf in realen fließenden Gewässern verschiebt sich allerdings in der Simulation der effektive
Drehpunkt durch die Wirkung von Strömung und Drift (siehe Abschnitt 4.5).
Der Objekt-Referenzpunkt ist der zentrale Bezugspunkt eines Objektes. Auf diesen beziehen
sich alle Simulationsberechnungen und Positionsangaben.Schwerpunkt und Objekt-Referenz-
punkt können durchaus identisch sein.
Fußpunkte legen die Position von Komponenten fest. Dies sind im überwiegenden Fall Senso-
ren, deren Messwert von ihrer Position relativ zum Simulationsobjekt abhängt, wie beispiels-
weise Radar, GPS oder Ultraschall-Abstandssensoren.
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3.1. DATENBASIS 21
Bei Aktoren wird von einer typischen Anordnung (z. B. am Heckdes Schiffes) ausgegangen,
so dass die Definition eines Fusspunktes in der Regel nicht erforderlich ist. Gegebenenfalls
kann es jedoch notwendig werden, die Lage von Aktoren genauer zu beschreiben, falls diese
eine vom Normalzustand abweichende Wirkung auf das Objekt haben. Bei Schiffen wären dies
zum Beispiel Antriebe, die nicht auf das Heck wirken, wie Bugstrahler oder Bugruder, oder der
Austrittspunkt der Ankerkette.
Die Komponentenliste beschreibt die Auswahl an Sensoren, Aktoren, Kommunikationsmitteln,
Bewegungsmodellen und Bewegungsregeln, über die ein Simulationsobjekt verfügen kann.
Im Allg. ist diese Liste abhängig von der Objektklasse: Schiffe verfügen über einen anderen
Satz an Komponenten als Landstationen. Für bestimmte Anwendungen, wie die Simulation von
weitläufigen Verkehrsvorgängen mit vielen beteiligten Objekten, ist es sinnvoll, die Komponen-
tenliste einzuschränken, da hier die Simulation eines Einzelobjektes in geringerer Detailtiefe
zulässig und erwünscht ist.
3.1.4 Verhaltensbeschreibungen und Bewegungsmodelle
Verhalten und Bewegungsablauf von Simulationsobjekten wird über dynamische Modelle und
Verhaltensbeschreibungen festgelegt.
Dynamische Modelle dienen zur Simulation von komplexeren Bewegungsabläufen, wie sie z. B.
von Schiffen im strömenden Wasser durchgeführt werden. Ein solches Modell basiert beispiels-
weise auf einem Differentialgleichungssystem, welches sich durch Parameter an das zu model-
lierende Verhalten anpassen lässt. Es greift über eine definierte Schnittstelle auf die Zustands-
beschreibung des Simulationsobjekts zu. Für die verschiedenen Aufgabenstellungen der Simu-
lationsumgebung stehen unterschiedlich komplexe Modellezur Verfügung, welche detailliert
in Abschnitt 4.3 beschrieben werden. Eine Erweiterung der vorhandenen Modellfunktionalität
ist wie in 3.1.7 dargelegt durch Anpassung der vorhandenen Modelle oder Hinzufügen neuer
Klassen möglich.
Verhaltensbeschreibungen (sog.Controller) dienen dazu, eine einfache Ablaufsteuerung für Si-
mulationsobjekte festzulegen. Dies können zum einen Bewegungsabläufe sein, wie das Ab-
fahren einer Leitlinie, zum anderen aber auch ereignisdiskrete Vorgänge, wie Abläufe an ei-
ner Schleuse. Das Objekt bzw. Schiff wird dabei als selbständiges Ganzes bzw. als geregelte
Strecke betrachtet. Verhaltensbeschreibungen kommen immer dann zum Einsatz, wenn eine
detaillierte Simulation mittels dynamischer Modelle nicht erforderlich ist, wie beispielsweise
bei der Nachbildung großräumiger Verkehrsabläufe mit einer Vielzahl autonom agierender Ver-
kehrsteilnehmer. Analog zur Modellbibliothek existierenfür die verschiedenen Anwendungen
diverse Implementierungen, auf die in Abschnitt 4.4 nähereingegangen wird. Eine Erweiterung
um zusätzliche Verhaltensbeschreibungen ist unter Verwendung der vorgegebenen Klassenhier-
archie möglich.
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22 KAPITEL 3. SYSTEMSTRUKTUR DER SIMULATIONSUMGEBUNG
3.1.5 Modelle für Sensoren und Aktoren
Sensoren und Aktoren implementieren Modelle, die das Verhalten realer Messgeräte und Stell-
glieder nachbilden.
Sensoren leiten aus den physikalischen Größen, die den Zustand eines Simulationsobjektes be-
schreiben, Messgrößen ab, die mit sensorspezifischem Rauschen behaftet sind und sensortypi-
sche Ausfallerscheinungen aufweisen. Die Simulationsumgebung stellt eine große Bandbreite
an Sensoren zur Verfügung, die ausführlich in Kapitel 5 beschrieben werden. Sie werden inner-
halb der Datenbasis durch eine Sensor-Bibliothek verwaltet. Für Simulationsobjekte kann auf
Basis ihrer Ausstattungsliste eine spezifische Sensorausrüstung zusammengestellt werden, um
die Messbarkeit ihrer Objektzustände realistischer zu gestalten.Üblicherweise wird für detail-
liert nachgebildete Simulationsobjekte auch eine umfangreiche Sensorausstattung vorgesehen,
während für Objekte, die nur ein Verkehrsaufkommen erzeugen sollen, eine reduzierte Sensorik
zum Einsatz kommt. Weitere Sensoren können unter Nutzung der in Abschnitt 3.1.7 vorgestell-
ten Klassenhierarchie erstellt und eingebunden werden.
In ähnlicher Weise setzen Aktoren vorgegebene Stellgröße